Menschen und andere seltsame Wesen - Monika Loerchner - E-Book
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Menschen und andere seltsame Wesen E-Book

Monika Loerchner

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Beschreibung

„Wenn man sich nach langer Zeit in seinen vier Wänden wieder unter Menschen begibt, sieht die Welt manchmal merkwürdig aus.“ Die 22 verrücktesten und spannendsten Geschichten aus zwei Jahren intensiver Schreibkooperation haben Monika Loerchner und Nikodem Skrobisz in dieser Anthologie zusammengetragen. Das literarische Äquivalent von zwei schwarzen Löchern, die kollidieren und Raum und Zeit erschüttern. Ein Feuerwerk aus Spannung, Überraschung, Tiefgründigkeit und der erschreckend vielfältigen Ausprägung der menschlichen Psyche.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2022

 

Menschen und andere seltsame Wesen

 

© by Monika Loerchner, Leveret Pale

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Matti Laaksonen

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Monika Loerchner: Sabrinity

Autorenfoto: Leveret Pale: privat

 

Coverbild › Vollkommenheit‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Dämonenritt‹

© 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID:509859337 / Bildnachweis:D-Keine

Lizenzfreie Stockfoto Nummer: 2025647777 / Bildnachweis: FOTOKITA

Stock-Fotografie-ID:1181216754 / Bildnachweis: mputsylo

 

ISBN 978-3-96741-176-8

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Monika Loerchner, Leveret Pale

 

Menschen und andere seltsame Wesen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anthologie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich widme meinen Teil dieses Buches Ernst W. Heine,

der mich noch immer auf neue Geschichten hoffen lässt,

dessen Feuervogel, Taube und Raben alle paar Jahre mein Leben verändern,

der diese Widmung vermutlich weder lesen noch gutheißen wird und ohne dessen literarisches Wirken es viele dieser Geschichten zweifellos nie gegeben hätte.

 

Monika Loerchner

 

Unter Autoren

 

Nikodem: Also: was machen wir jetzt?

Monika: Der Plan war, dass wir das Vorwort wie ein Gespräch aufziehen…

Nikodem: Ich bin mir nicht sicher, ob das so gut funktioniert.

Monika: Wie würdest du denn ein normales Vorwort beginnen?

Nikodem: ›Unter Menschen. Wenn man sich nach langer Zeit in seinen vier Wänden wieder unter Menschen begibt, sieht die Welt manchmal merkwürdig aus…‹

Monika: Ich würde damit beginnen, wie sehr ich mich freue, dass ich dich zu diesem Projekt überreden konnte und dass wir beim Hybrid Verlag ein Zuhause für das Buch gefunden haben.

Nikodem: Das ist langweilig. Wenn wir ein Vorwort haben, dann sollte da irgendetwas für die Leser Interessantes und Relevantes drinstehen. Unsere Freude ist doch etwas zu offensichtlich …

Monika: Vielleicht, dass wir sehr konträr sind?

Nikodem: Sind wir das? Wir haben einige Schnittmengen. Wir schreiben beide Phantastik und haben einen ähnlich kruden Humor.

Monika: Deiner ist aber wesentlich kruder als meiner! Wenn ich da an ›Jenseits des Lichts‹ denke...

Nikodem: Ich bin einfach etwas jünger und radikaler. Aber zurück zum Thema. Was wollen wir mit dem Vorwort erreichen?

Monika: Leserin oder Leser nimmt das Buch in die Hand, schlägt es auf und liest das Vorwort. Grinst. Kauft das Buch, wir werden reich. Weltherrschaft.

Nikodem: Du hattest mich bei Weltherrschaft. Aber ein Dialog zwischen uns beiden? Ich weiß nicht, ob wir so interessant sind, schließlich sind wir quasi zwei Charaktere, zu denen die Leser keine emotionale Bindung haben.

Monika: Ja, aber jeder von uns repräsentiert eine ganze Menge: Du, der junge, wütende Student mit großen künstlerischen Ambitionen. Ich dagegen gehöre der Generation Y an - reicht das nicht? Du und ich leben in vollkommen unterschiedlichen Welten, selbst wenn wir bei Ingwer-Tee und Latte Macchiato nebeneinandersitzen. Du kommst auf Ideen, auf die ich nie käme, das finde ich mega-spannend! Meine Lieblingsgeschichte von dir ist übrigens ›Ein perverser Anschlag‹. Ich lache mich jedes Mal scheckig!

Nikodem: Ich glaube, der durchschnittliche Leser kann sich besser mit einem Serienkiller identifizieren als mit einem Autor. Denn jemanden umbringen wollte jeder schonmal, aber ein Buch schreiben, auf solche Ideen kommen wirklich nur Sonderlinge.

Monika: Hm, OK, dann lass uns doch kurz nachrechnen: wie viele Menschen werden in dem Buch gekillt?Ich komme auf sieben plus die in ›Sommerwind‹.

Nikodem: Warte, ich muss nachzählen. Ein paar offensichtlich allein in ›Die Erdbeersahnemorde‹. ›Jenseits des Lichts‹? Das könnten nun … vielleicht …

Monika: OK, belassen wir es dabei. Wie sieht es mit Romantik aus? Ach ja, ›Seine erste Liebe‹. Welche Geschichte ist eigentlich dein persönlicher Favorit?

Nikodem: ›Sommerwind‹ ist echt gut gelungen!

Monika: Jaaaa, finde ich auch! Vor allem (…)

Nikodem: Also falls das ein Dialog fürs Vorwort werden soll, dann hast du gerade gespoilert!

Monika: Wird ja noch poliert. Etwas mehr Vertrauen bitte!

Nikodem: Ich bin ein Paranoiker, ich vertraue niemanden.

Monika: Ich hatte ja kurz erwogen, unsere Namen unter den Geschichten weg zu lassen und die Leute raten zu lassen, wer was geschrieben hat. Doch dann dachte ich: ›Hilfe, nein! Hinterher liest mein Papa ›Jenseits des Lichts‹ und denkt, ich hätte das geschrieben!‹

Nikodem: Wir könnten auch einen Zitate-Dialog als Vorwort machen.

Monika: Klingt genial, aber nach viel Arbeit. Erwähnte ich schon, dass ich 1000 Jobs habe?

Nikodem: Erwähnte ich schon, dass ich drei Hausarbeiten und drei Klausuren in drei Wochen schreiben muss und deswegen seit Tagen das Sonnenlicht nicht gesehen habe?

Monika: OK, dann lass uns mal irgendwie zum Schluss kommen.

Nikodem: ›Wir haben beide wenig Zeit. Und trotzdem haben wir uns Zeit genommen, für euch, liebe Leser, diese großartige Anthologie zusammenzustellen. Mit den verrücktesten und spannendsten Geschichten aus zwei Jahren intensiver Schreibkooperation zwischen unseren beiden durchgeknallten Köpfen. Das ist das literarische Äquivalent von zwei schwarzen Löchern, die ineinander kollidieren und Raum und Zeit erschüttern!Die Geschichten auf den kommenden Seiten werden euch umhauen!‹

Monika: Verstören?

Nikodem: Nein, die meisten Leute wollen Spaß und Spannung! Deswegen sollten wir das eher als ›interessant, die spannenden und unerforschten Seiten der menschlichen Psyche beleuchtend‹ vermarkten.

Monika: OK. ›Spannende, überraschende, verblüffende Einblicke in das Leben von Menschen und manch anderen Kreaturen - phantastisch, dystopisch, aber auch in der Realität verhaftet‹?

Nikodem: Genau darum geht es!

Monika: Ich glaube, damit haben wir’s!

 

Inhaltsverzeichnis

Sommerwind

Delphys Mobil-Reisen

Ein perverser Anschlag

Der neue Chef

Heyyy

Unter Menschen

Raimund

Der Tag, an dem Jule Fischer

Fata scribunda

Der Zweifel

Die Lüge

Herr Horn und das große Warum

Die Erdbeersahnemorde

Das Erwachen

Im Wald

Seine erste Liebe

Am Fluss

Gülen hat es satt

Ein ganz normaler Tag in der Junkie-WG

Jenseits des Lichts

Ungebrochen — Von Drachen und Menschen

Herr Meier und die Große Leinwand

 

Sommerwind

 

Monika Loerchner und Leveret Pale

 

Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Der kleine, halboffene Verschlag war ein lausiges Versteck. Vor allem die Biotonnen rochen widerlich. Bei dem Gedanken an all die Maden, die sich zwischen den Essensresten wanden und fett fraßen, musste sie aufstoßen: Der säuerliche Geschmack von Magensäure zerging auf ihrer Zunge. Sie verzog angewidert das Gesicht. Es schüttelte sie, denn sie sah vor ihrem inneren Auge, dass sie auch bald so enden würde. Als Madenfutter, als faulendes, verwesendes Fleisch.

»Alyssa! Aaalyyyssaaa!«

Sie riefen wieder nach ihr. Ihre Mutter, der Doktor, ihre Nachbarn. Alyssa hielt sich die Ohren zu und biss sich auf die Lippen, bis sich zu der Säure der metallene Geschmack von Blut gesellte, nur um nicht zu schreien. Das hier war ein Albtraum, wie er schlimmer nicht sein konnte. Aber sie musste sich zusammenreißen. Das war ihre einzige Chance.

Robin wartete sicher schon auf sie. Sie schluckte und überprüfte zum hundertsten Mal, ob die Klinge des Messers, das Robin ihr gegeben hatte, auch wirklich auf Knopfdruck heraussprang. Sie schloss kurz die Augen, um die Erschöpfung, die sie zunehmend übermannte, mit einem Seufzer auszustoßen. Es war, als wäre sie in einem ewigen Albtraum gefangen, dabei war vor wenigen Stunden noch alles gut gewesen.

 

***

 

Der Tag hatte ganz normal angefangen. Ein Samstag wie jeder andere. Sie hatte bis Neun geschlafen, noch eine Stunde lang im Bett durch ihre Nachrichten gescrollt, sich durch Instagram getippt und danach die neusten Videos ihrer Lieblings-Youtuber angesehen. Sie hatte ihr Smartphone auf das Nachtschränkchen gelegt und zum Laden angeschlossen.

Dann war sie hinunter in die Küche gegangen. Ihre Mutter hatte am Tresen vorm offenen Fenster gestanden und Gemüse für den traditionellen Samstagssalat geschnippelt.

»Guten Morgen, mein Liebling! Hast du schön geschlafen?«

Alyssa hielt ihrer Mutter halbherzig die Wange hin, ließ den Kuss über sich ergehen und schlappte, noch immer in Schlafshirt und Jogginghose, zur Kaffeemaschine.

»Nichts mehr drin?«, brummte sie enttäuscht und schwenkte vorwurfsvoll die Kanne, in der sich nur noch ein klägliches Schlückchen des Wachmachers befand. »Und wieso ist das Fenster auf? Es stinkt hier drin nach Blumenwiese.«»Weil ich irgendwann lüften muss, mein Schatz!«, antwortete ihre Mutter in dem leidenschaftslosen Ton einer Stoikerin. »Gib mir noch fünf Minuten, dann bin ich mit dem Gemüse fertig und sauge.«

»Als ob das etwas nützen würde, bei dem Scheißwind heute und dem Beet direkt vor der Tür.

»Ja, dieses Jahr hat es Istvan wirklich etwas übertrieben.« Sie lachte. »Aber schön sehen sie aus, seine neuen Blumen, findest du nicht? Er sagt, sie sind sehr selten, er hat sie aus Afrika.«

Alyssa verdrehte die Augen. »Mann, Mama, Afrika ist ein Kontinent mit über zweihundert Ländern. Das ist rassistisch!«

»Rassistisch?« Ihre Mutter hob schmunzelnd die Augenbrauen, während sie die Hände wusch und abtrocknete. »Ist es jetzt auch schon Rassismus, wenn man sich nicht geographisch korrekt ausdrückt? Du weißt, er meint es nicht so. Hier«, ihre Mutter reichte ihr eine weiße Tablette, »nimm deine Medizin.«

»Ja, bevor ich zuschwelle.« Alyssa schluckte das Antiallergikum ohne Wasser. Scheißfrühling, Scheißpollen. Scheißnachbar Istvan, der noch mehr ejakulierende Blumen vor ihre Tür pflanzte. Immerhin halfen die Tabletten, sodass sie sich nicht mehr wie früher in einen schniefenden, aufgedunsenen Rollbraten verwandelte.

»Lass mich mal machen.« Ihre Mutter schob sie sanft zur Seite und setzte eine neue Kapsel in die Kaffeemaschine ein. »Und, was hast du heute Schönes vor, mein Liebling?«

Alyssa zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Mal schauen.«

»Na dann …« Ihre Mutter drückte auf den Startknopf der Maschine und mit einem Surren füllte sich die Kanne darunter mit dampfendem Kaffee. Ihre Mutter hielt inne und drehte sich zu Alyssa um. Ihre Lippen formten ein laszives Lächeln. »Ich überlege übrigens gerade, ob ich dir mit einem Fleischmesser die Kehle aufschlitzen soll, sodass dein Blut literweise aus dir heraustropft, oder ob ich dir lieber mit einem Brotmesser den Bauch aufschlitze, was meinst du?«

»Was?« Alyssa starrte ihre Mutter an, die sie nach wie vor anlächelte. »Mama, was … What the fuck?«

»Alyssa!«

»Du hast doch gerade gesagt …«

»Was denn?«

»Dass du mich umbringen willst?«

Ihre Mutter lächelte noch breiter. »Aber natürlich habe ich das, mein Schatz. Weil du kleine, blöde Ziege mir unfassbar auf den Zeiger gehst.« Alyssa wich einen Schritt zurück, ihre Mutter griff unter den Tresen, öffnete die Schublade mit den Messern und wühlte darin. »Also, glatte oder geriffelte Klinge?« Sie runzelte die Stirn. »Die geriffelte tut sicher mehr weh, dafür hältst du bei einem Schnitt durch die Kehle schneller deine dämliche Klappe.«

Alyssa stieß einen Schrei aus und rannte los. Bloß weg hier, bevor ihre Mutter tatsächlich mit dem Messer auf sie losging! Was war nur mit ihr passiert? Ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall? Konnte so etwas ein solches Verhalten bewirken? Tausend Ideen schossen Alyssa durch den Kopf, von diversen Drogen bis hin zu einem Hirntumor, während das Blut in ihren Schläfen mit jedem Schritt schneller pochte.

Sie hatte schon die Hand auf der Haustürklinke, als ihre Mutter nach ihr rief. »Kommst du wohl her?«, flötete sie.

Wie angewurzelte blieb Alyssa stehen. Das konnte doch nur ein Irrtum sein, das konnte …

»Du hast ja noch gar nicht deinen Kaffee getrunken!«, setzte ihre Mutter in mauligem Ton fort. »Und aufschlitzen wollte ich dich doch auch noch!«

Alyssa riss die Tür auf und stürmte hinaus und bevor sie sich bewusst war, was sie tat, steuerte sie auf die Praxis von Doktor Müller zu. Zwar war seine Praxis an dem Tag geschlossen, aber der Hausarzt wohnte mit seiner Frau direkt oben drüber. Er würde wissen, was zu tun war.

»Und die Männer mit den weißen Westen anrufen«, ging es ihr durch den Kopf.

 

»Doktor Müller, Doktor Müller!«

Sie klingelte und hämmerte gegen die Tür. Ein Stechen ging durch ihre Rippen, ihre Lunge pfiff.

Endlich bewegte sich die grünlackierte Holztür.»Mädchen, was ist los?«, fragte der junge Arzt, der in Turnschuhen und einem Fußballtrikot vor ihr stand.

»Sie müssen sofort mitkommen«, keuchte Alyssa. »Es ist was mit meiner Mutter. Sie wollte mich umbringen!«

»Dich umbringen?« Der Arzt runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher? Kleine, das ist kein Spaß!«

»Wenn ich es Ihnen doch sage!« Sie schluchzte auf. »Sie wollte mit einem Messer auf mich losgehen.«

Der Doktor drehte sich um und rief in die Wohnung: »Schatz, ich muss kurz weg, bei den Melzers gab es wohl einen Zwischenfall. Ich bin gleich wieder da.« Er wandte sich wieder an Alyssa und fragte: »Warst du gestern auf einer Party? Hast du etwas genommen?«

»Nein, natürlich nicht!«

»Oder hat sie etwas getrunken? Habt ihr gestritten?«

»Nein, nichts davon!«

Alyssa verspürte den seltsamen Drang zu lachen. Das war alles so surreal. Sie betete schon seit Jahren nicht mehr, aber jetzt schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel: Bitte, lieber Gott, mach, dass es nur ein Traum ist!

Doktor Müller fasste sie sanft an die Schulter und hob den Zeigefinger der anderen Hand. »Du wartest hier.«

Kurz darauf kam er mit einem schwarzen Notfallkoffer zurück und wies sie an, ihm den Weg zu zeigen. Während sie zügig gingen, spürte Alyssa immer wieder die Blicke des Arztes auf sich. Glaubte er ihr? Oder hielt er sie für einen hysterischen Teenager, der maßlos übertrieb? Aber egal, er würde sich ja selbst davon überzeugen können, dass sie recht hatte.

Als ihr Elternhaus in Sicht kam, stellten sich ihr sämtliche Härchen auf. »Da ist es«, flüsterte sie und zeigte auf das schmucke Einfamilienhaus. »Sie müssen vorsichtig sein, nicht, dass Mama Sie angreift!«

»Keine Sorge. Ich bin den Umgang mit schwierigen Patienten gewohnt«, erwiderte der Mann so ruhig, dass ein Teil des Schreckens von Alyssa abfiel. Endlich war sie die Verantwortung los. Ab hier würden erwachsene und dafür ausgebildete Menschen übernehmen. Sie würden Mama helfen und alles würde wieder gut werden!

 

Obwohl die Haustür noch immer offen stand, klingelte der Arzt. Alyssa zuckte zurück, als ihre Mutter lächelnd im Eingang erschien.

»Alyssa, da bist du ja, und guten Morgen, Doktor Müller. Was kann ich für Sie tun?«

»Dürfen wir hereinkommen?«

Ihre Mutter nickte. »Ja, aber natürlich … Ist etwas passiert?«

»Nein, nein, keine Sorge«, wiegelte der Arzt ab. »Ich würde Sie nur gern etwas fragen.«

»Bitte, folgen Sie mir einfach.« Ihre Mutter drehte sich um und ging voran in die Küche. Dem Duft nach zu urteilen, hatte sie bereits begonnen, Mandeln und Sonnenblumenkerne für den Salat zu rösten.

»Frau Melzer, ich bin hier, weil Ihre Tochter sich Sorgen um Sie macht«, begann der Arzt dort ohne Umschweife. »Wie geht es Ihnen?«

Sie lachte. »Alyssa macht sich Sorgen um mich? Aber es geht mir gut, Herr Doktor, es ist alles wunderbar. Ich wüsste nicht, wozu wir hier einen Arzt bräuchten.«

»Aber Mama«, protestierte Alyssa, die einige Meter hinter dem Arzt stehen geblieben war und misstrauisch die Küche musterte. »Weißt du denn nicht mehr, was du eben für scheußliche Sachen zu mir gesagt hast? Da!« Sie deutete auf die zwei Messer, die auf der Arbeitsplatte lagen. »Das Fleischmesser und das Brotmesser. Doktor Müller, die hat sie herausgeholt und wollte mich damit umbringen!«

»Aber, aber«, er schüttelte sachte den Kopf. Seine Stimme war tief und ruhig. »Mein liebes Kind, das ergibt doch nun wirklich keinen Sinn, meinst du nicht? Wie sollte dich deine Mutter denn auch mit gleich zwei Messern umbringen wollen, hm?«

»Ganz genau!«, erklärte ihre Mutter. »Hören Sie nicht hin, lieber Herr Doktor, natürlich wollte ich Lyssy nur mit einem Messer aufschlitzen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich nur für keins entscheiden!«

Alyssa war, als müsste sie schreien, aber aus ihrer Kehle drang lediglich ein Fiepen. Entsetzen kroch ihr die Adern empor und zog ihr Herz zusammen.

»Sehen Sie, Doktor Müller«, krächzte sie. »Sie ist verrückt geworden!«

»Na, na! Man ist doch nicht gleich verrückt, nur weil man sich nicht für ein Messer entscheiden kann!«

Der Arzt zwinkerte ihr zu. Dann beugte er sich vor und nahm die Klingen in Augenschein. »Das sind aber auch beides ganz ausgezeichnete Messer, Frau Melzer, da fällt die Wahl natürlich schwer. Ich hätte aber auch ein Skalpell dabei, haben Sie darüber schon mal nachgedacht?«

Alyssa wich einen weiteren Schritt zurück. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Oder spielte der Arzt das Spiel ihrer Mutter mit, um sie in Sicherheit zu wiegen?

Der Mann stellte den Arztkoffer auf den Tisch, ließ die Schnallen aufspringen und zog die Fächer auseinander. Alyssa verfolgte jeden Handgriff mit angehaltenem Atem. Jetzt gleich würde er sich irgendwie unauffällig eine Beruhigungsspritze in den Ärmel stecken und dann …

Doktor Müller zog ein Skalpell hervor. Ein seltsam träges Lächeln umspielte seinen Mund, während er es aus der Folie befreite.

»Hier, sehen Sie doch!« Der Arzt drehte die Klinge so, dass sich das Licht in ihr spiegelte. »Wunderschön, nicht wahr?«Er machte eine blitzschnelle Bewegung und in Alyssas Gesicht flammte Schmerz auf. Reflexartig fasste sie sich an die linke Wange.

»Wa… wa… was haben Sie getan?«, stotterte sie, während ihr das Blut zwischen die Finger rann. »Was haben Sie getan?«Doch der Arzt beachtete sie nicht weiter. »Frau Melzer, haben Sie gesehen, wie scharf die Klinge ist?« In der Stimme des Arztes klang unüberhörbar Stolz mit. »Ich meine, nichts gegen Ihre Messer, Teuerste, aber so ein Skalpell ist schon was ganz Feines!«

»Wirklich ganz wunderschön!«, hauchte Alyssas Mutter und streckte die Hand nach der Klinge aus.

Alyssa schrie, taumelte rückwärts, rannte in den Flur, fiel hin. Panisch sah sie über ihre Schulter. Ihre Mutter und der Arzt standen nur da und lächelten sie an. Sie rappelte sich auf und lief aus dem Haus.

 

Sie rannte und rannte. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, sprangen von einer wirren Idee zur nächsten, ohne einen Sinn oder eine Erklärung zu finden. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Wohl kaum; die brennende Schnittwunde in ihrer Wange war der beste Beweis dafür. Hatte ihre Mutter so etwas wie einen Gehirntumor? Das wäre möglich, aber wie passte dann der Arzt in diese Geschichte? Es war wohl kaum wahrscheinlich, dass der auch einen hatte. Aber was dann? Eine Krankheit? Etwas Ansteckendes? In diesem Fall wäre sie immun dagegen. Der Arzt war ja auch völlig normal gewesen — bis er in ihrer Küche gestanden hatte.

Der Gedanke ließ sie innehalten. Sowieso konnte sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Samstags um diese Uhrzeit lagen die meisten Menschen noch im Bett oder aßen gemeinsam ein spätes Frühstück. Trotzdem schaute sie sich erst nach allen Seiten um, bevor sie sich hinter einem Bushäuschen zu Boden sinken ließ. Sicher würden ihre Mutter und Doktor Müller sie über kurz oder lang suchen. Sie musste Hilfe finden, aber wie und wen? Ihr Handy lag in ihrem Zimmer. Sie würde irgendwo klingeln müssen.

Robin.

Er wohnte nur zwei Straßen weiter und war von Kindesbeinen an ihr Freund gewesen. Bevor der Altersunterschied von vier Jahren sie in zwei völlig fremde Welten katapultiert hatte. Doch noch immer grüßte er sie, wenn er mit seinen Kumpels an ihr vorbeifuhr. Außerdem wohnte er nur zwei Straßen weiter und damit viel näher als ihre Freundin Nicole.

Sie schaute vorsichtig auf die Straße. Nichts zu sehen. Dann mal los!

Im Rekordtempo erreichte sie das Haus, in dem Robin eine Wohnung gemietet hatte.

 

»Was ist denn los?«, kam es verschlafen aus der Gegensprechanlage.

»Ich bin es, Alyssa.« So sehr sie sich bemühte, ruhig zu bleiben, sie schaffte es einfach nicht aufzuhören zu zittern. »Lass mich rein, bitte, es ist dringend!«

Der Türsummer brummte. Erleichtert aufatmend betrat sie das Treppenhaus.

»Ganz oben!« Drei Stockwerke über ihr ragte ein verwuschelter Haarschopf über das Geländer. »Ich lasse dir die Tür auf.«

 

Bis Alyssa oben angekommen war, hatte Robin bereits Kaffee aufgesetzt.

»Wieso weckst du mich mitten in der Nacht?«, stöhnte er und fuhr sich über den Kopf. Seine Haare standen wild in alle Richtungen ab. Dann fiel sein Blick auf Alyssas Gesicht.

»Himmel, was ist denn mit dir passiert?«

Sie begann zu weinen.

»Hey!« Erschrocken hockte sich Robin vor sie hin. »Was ist passiert?«

Erst nach und nach schaffte sie es, ihm zu erzählen, was geschehen war.

»Wahnsinn«, flüsterte er schließlich und schüttelte den Kopf.

»Das muss ich mir mal ansehen!«

»Bist du verrückt geworden?« Alyssa riss die Augen auf. »Da bringen mich keine zehn Pferde hin. Ruf lieber die Polizei. Immerhin ist dieser Irre auf mich losgegangen!«

»Na ja, die Sache ist nur die …« Robin wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Wenn du die Polizei anrufen möchtest, dann sollten wir erst woanders hingehen. Du weißt schon.«

Trotz ihrer Angst musste Alyssa lachen. »Jetzt sag bloß nicht, du baust immer noch an?«

Er zuckte mit den Schultern und grinste schief. »Irgendwie muss ich ja die ganzen Bücher bezahlen!«

»Erzähl mir nichts. Du machst ein duales Studium, da verdienst du doch was.«

»Hast du mal die Spritpreise gesehen? Was meinst du, was mich jede Fahrt in die Firma kostet? Von der Uni mal ganz zu schweigen.«

Einen winzigen Moment lang war es wie früher. Als wäre all das Grauen nie passiert. Als könnte sie wieder normal atmen.

»Geh zu Nicole«, sagte er schließlich. »Ruf von dort aus die Polizei. Ich gehe zu eurem Haus und schaue mir deine Mutter und den Doc mal genauer an.«

»Wieso? Glaubst du mir nicht?«

»Doch. Aber erstens will ich sicher gehen, dass sie niemanden sonst angreifen. Wäre doch möglich, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Und zweitens scheinen sie ja irgendwas zu haben. Eine Krankheit oder eine Vergiftung, die psychotische Anfälle verursacht. Ich mache mir Sorgen, nicht, dass sie einen Herzinfarkt bekommen oder so was.«

Schon sah Alyssa ihre Mutter zuckend auf dem Boden liegen.

»Du hast recht. Aber bitte sei vorsichtig. Wir treffen uns dann bei Nicole?«

»Ja. Warte kurz.« Robin verschwand im Schlafzimmer und kam kurz darauf mit einem Handy in der Hand wieder. »Hier, nimm das. Du findest die Nummer meines Privathandys unter Onkel Bob.«

»Onkel Bob?«

Er grinste. »Reine Vorsichtsmaßnahme. Ist mein Geschäftshandy. Ruf mich an, wenn etwas ist. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.«

 

Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges zu Nicole zurückgelegt, als Robins Handy in ihrer Hosentasche vibrierte.

»Was ist? Geht es Mama gut?«

»Ja, ich denke schon.«

»Du denkst?« Fast hätte sie gebrüllt.

»Hör zu, deine Mum und der Doc stehen in der Küche und unterhalten sich.«

»Worüber?«

»Keine Ahnung. Ich habe mich hinten durch Istvans Garten geschlichen und habe sie durch die Terrassentür beobachtet.«

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Immerhin eine Sorge weniger — bis ihr auffiel, dass etwas mit Robins Stimme nicht stimmte. Sein Atem rasselte und er hatte die Worte herausgepresst, wie unter Schmerzen.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie.Er schniefte. »Hör mir zu! Geh nicht zu Nicole! Wir treffen uns hinterm Feuerwehrhäuschen. Pass auf, dass dich keiner sieht.« Seine Stimme nahm einen schärferen Ton an. »Niemand, hörst du?«

Ihr Hals zog sich zusammen. »Was ist denn los?«

»Das erkläre ich dir gleich.«

Ein Klicken verriet, dass er aufgelegt hatte.

 

Noch nie war Alyssa allein zu dem allgemein bekannten Treffpunkt für Pärchen gegangen. Die Erregung, die sie jetzt verspürte, hatte jedoch nichts mit Schmetterlingen im Bauch zu tun. Es war nichts romantisch daran, allein hinter dem Feuerwehrhäuschen zu stehen und auf eine Erklärung zu warten, warum sich ihre Mutter in eine Irre verwandelt hatte.

Sie zuckte zusammen. Hatte sie da eben Schritte gehört?

Sie lugte vorsichtig um die Ecke. Es war Robin.

»Da bist du ja endlich«, flüsterte sie und fiel ihm kurzerhand um den Hals. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihn genauer. Robin war aschfahl im Gesicht.

»Was ist passiert?«

»Frau Rilke hat mich angegriffen«, gab er tonlos zurück.

»Was?«

»Schhh, sei doch leise.«

Er schaute sich nach allen Seiten um, bevor er fortfuhr.

»Ich kam grade aus Istvans Blumenbeet gekrochen, als sie mir eine Schaufel übergebraten hat.«

»Was?«

Er zog die Nase hoch. »Zum Glück hat sie mich nur an der Schulter getroffen. Aber für eine alte Frau hat sie ganz schön Wumms.«

Alyssa schloss kurz die Augen und atmete tief durch. »Vielleicht hat sie dich für einen Einbrecher gehalten, der unser Haus auskundschaften wollte?«, fragte sie vorsichtig mit einem Kloß im Hals.

»Nein. Ich habe mich ja dann umgedreht und ihr auch meinen Namen genannt. Aber sie hat immer weiter mit der Schaufel auf mich eingedroschen. Da musste ich mich wehren …«

»Bist du verletzt?«

»Nur ein paar Prellungen.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Etwas geht hier vor, Alyssa, etwas sehr, sehr Seltsames. Die Leute drehen durch. Deswegen wollte ich auch nicht, dass du zu Nicole gehst.«

»Denkst du, sie ist auch durchgedreht?«

»Wer weiß? Im Moment können wir niemandem trauen.«

Alyssas Knie gaben nach und sie sank zu Boden. Sie schüttelte den Kopf, während sie im Matsch saß und Robin neben ihr kauerte.

»Es muss doch einen Grund für das alles geben«, hörte sie sich selbst weinerlich murmeln, wie aus einem Traum. »Ich meine, so was passiert doch nicht einfach so. Ist es eine Krankheit? Oder eine Vergiftung? Immerhin sind bis jetzt alle in der Nähe meines Hauses durchgedreht …«

»Ich weiß es nicht.« Robin legte eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Dann hättest du dich ja auch angesteckt oder wärst auch vergiftet worden.«

»Oder du. Eben.«

Er wurde noch eine Spur bleicher und schniefte. »Scheiße, du hast recht. Am besten rufst du die Polizei, bevor ich auch noch auf dich losgehe.«

Sie schluckte. »Das habe ich doch nur so gesagt.«

»Und du hast recht!«

Sie stand auf und schaute ihm direkt in die Augen. Anders als bei ihrer Mutter und dem Arzt konnte sie keine Mordlust darin erkennen.

»Nein, das glaube ich nicht. Sieh mal, Doktor Müller ist ja auch sofort ausgerastet, kaum dass er bei uns war. Wenn du dich angesteckt hättest, dann wärst du schon längst auf mich losgegangen!«

»Du meinst, wir sind beide immun?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sieht wohl so aus.«

»Aber wieso?« Er schniefte erneut. »Verdammt, jetzt reicht es mir aber, dann nehme ich halt noch eine!« Er griff sich in die Hosentasche. »Verdammter Istvan mit seinem Monsterblumenbeet!«

Mit großen Augen verfolgte Alyssa, wie Robin einen Blisterstreifen hervorholte, eine Tablette herausdrückte und schluckte. »So, gleich geht es wieder«, sagte er und zog die Nase hoch.

»Das ist es«, hauchte sie.

»Was ist was?«

»Was hast du da genommen?«, fragte sie und zeigte auf seine Hosentasche. »Lass mich raten: Ein Antiallergikum?«

»Ja, genau.« Er holte den Streifen erneut hervor und hielt ihn ihr hin. »Gegen meinen Heuschnupfen.«

»Ich habe dieselben Tabletten.«

»Und?«

»Verstehst du denn nicht?« Sie deutete aufgeregt Richtung Dorfmitte. »Istvans Blumen. Die müssen es sein, die alle so bekloppt machen!« Sie gestikulierte wild. »Die Pollen sind heute Morgen direkt in unsere Küche geflogen. Dann ist Mama durchgedreht. Das Zeug war überall und als der Doktor kam …«

»… hat er sie eingeatmet.« Robin nickte. »Und Frau Rilke wohnt auf er anderen Seite direkt nebendran.«

»Genau. Aber uns konnte das Zeug nichts anhaben, weil wir beide das Antiallergikum intus haben.«

Alyssa fiel ein Stein vom Herzen. »Ja genau«, rief sie, »das macht jetzt alles Sinn. Die Blütenpollen beinhalten sicher irgendwelche halluzinogenen Stoffe, das hört man ja immer wieder, so wie diese Engelstrompeten.«

Robin kratzte sich am Hinterkopf und seufzte. »Der arme Istvan ahnt vermutlich gar nicht, was er da angeschleppt hat.«

Alyssa grinste. »Robin, das ist die Lösung! Alles wird wieder gut!«

Doch sein Blick war wie gefroren. »Weißt du nicht, was das bedeutet?«

Sie schüttelte den Kopf. Die überschwängliche Freude verschwand durch seinen eindringlichen Ton.

»Wenn wir die Polizei anrufen … und ihnen der Wind die Pollen ins Gesicht weht …«

Er ließ den Satz unbeendet, doch auch so erschienen in Alyssas Fantasie schwerbewaffnete Polizisten, die Jagd auf sie machten.

---ENDE DER LESEPROBE---