Die Tote in der Tränenburg - Monika Loerchner - E-Book
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Die Tote in der Tränenburg E-Book

Monika Loerchner

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Beschreibung

Die Tränenburg – hier landen die ungewollten Söhne des Goldenen Reiches. Denn wo Hexen regieren und das magielose männliche Geschlecht nicht viel zählt, werden viele Jungen von ihren Müttern verstoßen. Als ausgerechnet in dem Jungenheim mit dem makabren Beinamen eine Hexe ermordet wird, stößt Spezialgardistin Magret Beatesdother auf dunkle Geheimnisse, menschliche Abgründe und einen unfassbaren Verrat.

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Die Tote in der Tränenburg

von Monika Loerchner

1. Auflage, 2019

© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Viktoria Lubomski

Lektorat: Michael Krumm

ISBN: 9783964434678

Lizenzen Bildrechte Impressum:

© mtkang

© pict rider

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Unser spezieller Dank geht an unseren Patreon:

Simon Rottler

Für Ramsbeck,

das mir nicht nur meine Wurzeln schenkte,

sondern auch seinen besten Widder und damit meine Flügel.

Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Gut, mag nun die eine oder andere denken, das würde vermutlich jede in dieser Situation sagen. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, kann etwas ziemlich Schlimmes sein. Jetzt und hier würde ich jede bemitleiden, die in meiner Situation wäre. Und mir gleichzeitig – nicht bösartig, aber zumindest mit gerunzelter Stirn – denken, dass diejenige ja schon irgendwie… naja, nicht selbst schuld ist, nein, aber dennoch… sagen wir… unvorsichtig gewesen ist.

Ich hätte es besser wissen müssen, weiß die Göttin, und jetzt stehe ich hier umgeben von lauter Menschen, die mir ans Leder wollen.

Das mit dem „ans Leder gehen“ meine ich übrigens ernst: Vor mir vibriert gerade ein Türknauf unter der Magie der einen Hauptverdächtigen, während hinter mir die andere Hauptverdächtige langsam den Dreh herausbekommt, wie eine mit Hilfe von Ranken eine schwere Eichentür aufbekommt. Ich muss zugeben, dass ich diese Art der Pflanzenmagie bislang unterschätzt hatte. Immerhin können normale Pflanzenwurzeln auch Mauerwerk zum Einsturz bringen, wenn sie genug Zeit haben, nicht wahr?

Und hinter den beiden Damen – da mache ich mir gar nichts vor – stehen noch weitere Personen Schlange. Beliebt gemacht habe ich mich bei keiner von ihnen, so viel steht fest, doch nur eine will mich mit Sicherheit töten. Ich sollte endlich etwas tun – stillzuhalten ist ja auch sonst nicht meine Art. Ich befinde mich in einem kleinen Zimmer mit zwei Ausgängen, hinter beiden lauert jeweils eine Hauptverdächtige. Und ich überprüfe das Fenster nochmals, aber ja, sie halten es mit einer magischen Sperre noch immer verschlossen. Die Türen werden nicht mehr lange halten, trotz der Möbelstücke, die ich davorgeschoben habe. Ich muss diesen Raum verlassen, und zwar sofort. Dafür müsste ich allerdings wissen, wer hinter welcher Tür auf mich lauert. Ich weiß, welche Frauen gerade die Türen bearbeiten und ich meine auch zu wissen, wer sich hinter der jeweiligen zusammengefunden hat. Wer auf wessen Seite steht. Haarfeine Unterschiede, die jetzt über mein Leben entscheiden werden. Hinter einer der Türen wartet Hilfe, hinter der anderen mein Tod.

Öffne ich die Letztere, wird es zu einem Handgemenge kommen und meinen Tod wird sie wie einen tragischen Unfall, geschehen im Eifer des Gefechts, aussehen lassen.

Ich muss hier raus. Die alles entscheidende Frage lautet also: Hinter welcher Tür – Glut oder Ranken – wäre ich in Sicherheit? Oder anders ausgedrückt: Wer hat Verena Konstanze ermordet.

Seit ich denken kann, wollte ich nichts anderes werden als eine Gardistin und abends nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen zu einem liebevollen Mann, der mit einem Lächeln und einer leckeren Mahlzeit auf mich wartet. Mehr hätte es nicht gebraucht, um mich glücklich zu machen. Doch das Leben wollte es anders.

Ich gebe zu, dass Georg von Anfang an seinen Wunsch nach einem Kind geäußert hatte. Ich habe ihn nie belogen, sondern lediglich statt „nein“ „vielleicht“ gesagt. Wie sich im Nachhinein herausstellte, hatte er gedacht, mit der Zeit aus diesem „vielleicht“ ein „ja“ machen zu können, während ich dachte, seinen Kindeswunsch einfach aussitzen zu können.

Wir hatten uns beide geirrt und plötzlich stand ich allein da.

Georg wurde ganz vom Kreis seiner mitfühlenden Freunde aufgefangen und ich stürzte mich in die Arbeit.

„Warum willst du kein Kind bekommen?“, hatte er gefragt, „meinst du nicht, dass die Göttin euch Frauen in erster Linie dafür die Magie geschenkt hat?“

„Weil eine Schwangerschaft nun mal neun Monate lang verhindert, dass sich die Magie erneuert!“, war meine Antwort gewesen. Georgs höhnisch verzogener Mundwinkel hatte mir wieder einmal bestätigt, dass er keine Ahnung davon hatte, was es bedeutete, eine Gardistin zu sein. Vierzig Wochen ohne Magie, danach hat längst eine andere meinen Platz eingenommen. Eine, die geringeren Alters wäre, mehr Biss hätte und nicht jeden Abend pünktlich bei ihrem Liebsten sein wollte. Es sei denn, deine Magie ist so stark, so wertvoll oder so außergewöhnlich, dass sie dich brauchen. Ein Kind kann sich nur eine Frau leisten, die keinen Ehrgeiz hat oder die über eine besonders ungewöhnliche, nützliche, starke Magie verfügt.

Meine Magie ist nützlich, aber leider nicht sonderlich stark.

Dennoch fiel ich den Mächtigen in Annaburg auf. Die schöne Heidrun von Borgentreich selbst war es, die mir eine Ausbildung zur Goldenen Gardistin anbot. Ein Jahr harte Arbeit, die vor Sonnenaufgang begann und mit dem Sonnenuntergang nicht endete. Die größte Ehre für eine Gardistin. Ich sagte zu und meine Ehe zerbrach endgültig. Als Goldene Gardistin, so sagte ich meinem Mann, würde ich auch weiterhin jeden Tag da rausgehen und mein Leben für das Wohl des Goldenen Reiches aufs Spiel setzen, nur dass ich ihm dann eine gesicherten Rente und ein sorgloses Leben in Sicherheit und Wohlstand bieten könnte. Als er sagte, das alles sei ihm ohne Kind nichts wert, wusste ich, dass es vorbei war.

„Leon möchte wieder arbeiten gehen.“ Rebekka starrt finster in ihre Teetasse. „Zuhause würde ihm die Decke auf den Kopf fallen.“

„Und was hat er vor?“, fragt Katharina.

„Kellnern gehen. Da, wo er vor unserer Hochzeit gearbeitet hat.“

„Ja. Und vor 15 Kilo!“

Alle lachen, nur meine Mundwinkel wollen sich nicht heben.

„Ach komm schon, Magret!“ Olgas Empörung ist nicht gespielt. „Der Spruch war klasse!“

Ich seufze. Sie hat ja Recht, aber mir ist heute nicht nach solcher Neckerei.

„Dann lass ihn doch!“, ergreife ich daher halbherzig Leons Partei. Den ich nicht sonderlich leiden kann. Rebekka allerdings auch nicht, also gleicht sich das wohl aus. „Solange er den Haushalt im Griff hat, ist doch alles gut. Was ist so schlimm daran, wenn er sich ein bisschen was dazu verdienen will?“

„Pfff!“, schnaubt Rebekka, „dass er es nicht nötig hat, das ist so schlimm daran!“

„Gibst ihm wohl nicht genug Taschengeld, was?“, höre ich eine Kollegin sagen.

Ich höre dem Frotzeln meiner Frauen nur noch mit halbem Ohr zu. Ich mag das, die ganze Atmosphäre hier: Alle verstehen sich, alle kommen miteinander klar. Auch wenn zum Beispiel Rebekka und ich nie die besten Freundinnen werden, genauso wie Fancy und Nicole. Doch darum geht es auch gar nicht. Wir sind mehr als das, wir sind Kolleginnen. Und ich gehöre dazu, obwohl ich von Heidrun, der Zweiten der Goldenen Garde, ganz offen protegiert werde und kürzlich sogar zu ihrer Stellvertreterin ernannt worden bin. Ich mache meine Arbeit und ich mache sie gut: Von den Stränden Lissabons bis zur Mauer hinter Lemberg, vom Nordkap bis zum Mittelmeer habe ich schon Fälle gelöst, bei denen die Stadt- oder Militärgarden nicht weiterkamen. Oberste Aufgabe der Goldenen Garde ist es, hier in der Hauptstadt die Goldene Frau zu beschützen. Darüber hinaus werden wir immer dann eingesetzt, wenn es die Belange der Goldenen Frau, der höchsten und mächtigsten Hexe des Landes, oder die Sicherheit des Reiches erfordert. Wir haben die Stadtgarden und die vier Militärgarden, aber das Reich ist groß. Die Goldene Garde besteht aus 250 handverlesenen Frauen, die alle sorgfältig ausgewählt werden. Goldene Gardistinnen unterrichten die Anwärterinnen selbst, formen und prüfen sie eingehend. Ich habe es trotz meiner schwachen Magie geschafft. Jetzt bin ich so weit oben, wie es eine Frau überhaupt bringen kann, sofern sie sich nicht in die Löwinnenarena namens Politik stürzen will.

Es liegt wieder in der Luft, dieses ganz spezielle Schwingen. Kein magisch erzeugtes, überhaupt nichts direkt von Menschenhand. Eher wie ein Wink der Welt, dass jetzt gleich etwas Bedeutsames geschehen wird. Ich weiß nicht genau was, aber es wird mit einem schweren Verbrechen zu tun haben. Sonst würde es meine Magie wohl kaum für nötig halten, mich darauf aufmerksam zu machen.

Für meine ungenaue, schwammige Magie wurde ich seit ihrer Erweckung belächelt. Mal milde besorgt, mal voller Spott. Die netteste Reaktion, die ich bislang bekam, war der Vorschlag, mich auf eine weitere Magiesorte testen zu lassen. Ab und zu geschieht es tatsächlich, dass eine Magieart übersehen worden ist. Aber mal im Ernst: Was jahrelang nicht entdeckt wurde, kann nun wirklich nichts Großartiges sein! Oder es ist eine Magie so akkurat auf spezielle Umstände zugeschnitten, dass damit kaum etwas damit anzufangen ist.

Dann gibt es natürlich auch noch jene, die behaupten, dass einer eine weitere Magieart wachsen könne; daran habe ich mich als Frischerweckte mehrere Jahre geklammert. Mittlerweile weiß ich, dass das ziemlicher Humbug ist und habe mich damit abgefunden. Wir werden geboren, wie wir sind und wenn wir zur Frau werden, reift auch die Magie in uns heran. Und dann ist Schluss, bis wir uns im letzten Lebensdrittel noch einmal verändern und, mit der Fähigkeit Leben zu gebären, auch die Fähigkeit verlieren jeden Monat unsere Magie zu erneuern.

Also habe ich gelernt, mich mit dem zu begnügen, was mir die Göttin mitgegeben hat: Meine Basismagie ist ganz in Ordnung. Sie ermöglicht mir ein universales Sprachverständnis, Feuer zu machen, ein wenig Telekinese zu betreiben und einige Kleinigkeiten mehr. Was meine Magie nun anbelangt, ist sie bei weitem nicht stark genug, als dass ich es wagen würde, mich als Lügenleserin zu bezeichnen. Sie scheint mir viel mehr das zu sein, was die Männer als „Instinkt“ bezeichnen. Als könnte ich meine magielosen Sinne für alles öffnen: die Eleganz der Vögel, die Härte des Windes, den Geschmack der Stadt.

Heute ist es die Luft selbst, die mich aufmerken lässt. Keine lacht eine aus, wenn sie sagt, dass es nahe der Nordsee nach Salz, Seetang und Sand riecht. Jeder See hat einen eigenen Geruch, ebenso wie jedes Haus, ganze Städte oder Landschaften. Unser Gebäude hier. Aber sage ich, dass es nach einem neuen und überdies ziemlich vertrackten Fall riecht, schauen mich alle an, als sollte ich ganz dringend zu einer Seelenärztin gehen. Also behalte ich es für mich. Es genügt mir zu wissen, dass ich es weiß.

Ich setze mich gerader hin, strecke meinen Rücken durch. Rücke den Tintenstift auf meinem Schreibtisch zurecht. Der Tee in meiner Tasse ist kalt, also erhitze ich ihn etwas und trinke ich ihn aus. Ich hätte etwas zum Frühstück essen sollen. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.

Gleich ist es soweit!

Die Spannung, die in der Luft liegt, verdichtet sich, ähnlich wie vor einem Gewitter. Dinge verlangsamen sich und auch wieder nicht. Mein Herz hüpft. Vorfreude oder Sorge? Von allem ein bisschen.

Eine Stadtgardistin stürmt herein. Ihr Blick schweift durch den Raum. Ich kenne sie nicht, sie muss also neu sein. Ich stehe auf. „Ja bitte?“

„Frau Beatesdother?“

Ich nicke.

„Wir haben einen Mord.“

Im Goldenen Reich gibt es kaum Morde, vor allem nicht außerhalb der großen Städte. Früher, vor über 500 Jahren, als noch die Männer an der Macht waren, waren Mord und Totschlag an der Tagesordnung. Doch die jahrzehntelangen Hexenkriege haben den Menschen hier den Blutdurst abgewöhnt, so zumindest meine Theorie. Außerdem haben es die Menschen bei uns gut, sogar die Männer: Kein Mensch muss hungern oder sonst wie Not leiden. Und falls doch, kann er bei der zuständigen Dorf- oder Stadtoberen Anzeige gegen seine nächstverwandte Frau erstatten, denn diese ist für das Wohlergehen der magielosen Menschen ihrer Familie zuständig. Unter anderem bekommt jede nach einem alten Versprechen der Großen Anna von Katzenelnbogen bei größeren Seuchen kostenlose, heilmagische Versorgung. Wir haben viele Schulen und es werden immer mehr Akademien. Selbst einigen Jungen wird heutzutage Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht.

In den größeren Städten kommt es seit der Magifizierung, bei der die Geldstücke der jeweiligen Stadtwährung nur magisch materiell gehalten werden und außerhalb der Stadtgrenze zu Staub zerfallen, kaum noch zu Diebstählen. Seit der Aufklärungskampagne vor fünf Jahren markiert jede Frau mit einem Hauch von Intelligenz ihre wertvollsten Besitztümer mit ihrem Blut, um Diebstahl zu umgehen – denn was nützt einer eine Beute, die sofort wieder herbeigerufen oder verfolgt werden kann?

Geschieht dennoch ein Mord, so handelt es sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sowohl bei der Täterin, als auch bei dem Opfer um eine Frau. Fräulein werden als magielos geborene, weibliche Menschen vor allem auf dem Land mit Spott und Häme überzogen und müssen sich so einiges gefallen lassen, aber wirklichen Schaden richtet bei ihnen keine an.

Nein, das ist so nicht richtig, ihre Seelen nehmen sicher so einiges an Schaden, aber dafür sind wir nicht zuständig. Es gibt auch Frauen, die ihre Männer schlagen, aber das ist so jämmerlich und einer Frau nicht würdig, dass es kaum vorkommt. Zumindest nicht auf den Dörfern, wo jede jede kennt. Eine Frau, die so was Hilfloses wie einen Mann oder ein Kind misshandelt, würde sofort ihre Ehre verlieren. Mehr Sorgen bereiten uns angehende Großmütter: Immer wieder gibt es Frauen, die es nicht verkraften können, bald für immer ihre Magiejahre hinter sich zu haben. Wollen mit einem großen Knall abtreten. Ihre Wut und ihre Angst vor der Zukunft an Unschuldigen auslassen. Wir bekommen jedes Jahr so drei, vier Fälle von der Goldenen Frau zugewiesen, in denen es um Verbrechensprävention geht: Dann schicken wir zwei Frauen los, um eine angehende Großmutter, die über besonders mächtige Magie verfügt und an der Schwelle zu ihren Wechseljahren steht, zu überwachen. Oft geht es gut aus und nichts passiert. Oft helfen Gespräche. Mitunter nicht immer.

„Das Opfer ist eine Frau.“

Na bitte.

„Und was genau ist an dem Fall so außergewöhnlich, dass ihr damit zu uns kommt?“

Der Blick der Stadtgardistin verfinstert sich. Anscheinend sieht sie mein rein faktisches Nachhaken als Zweifel an den Fähigkeiten ihrer Garde; nächstes Mal sollte ich diese Frage taktvoller stellen.

„Wo ist es denn passiert?“, schaltet sich Rebekka ein, „Und wie?“

Die Stadtgardistin zuckt mit den Schultern. „In der Tränenburg, Widdersbach, etwa 80 Kilometer südöstlich von hier. Über das Wie können wir noch nichts Sicheres sagen.“

„Die Tränenburg?“ Rebekka runzelt die Stirn. „In der Gegend kenne ich nur die Neuhünenburg.“

„Keine richtige Burg“, korrigiert die Stadtgardistin, „sondern ein Jungenheim. Aber fragen Sie mich bloß nicht, warum es so heißt.“

„Keine Sorge, das werde ich schon selbst herausfinden. Und Sie meinen, Sie wissen noch nicht, durch welche Magie das Opfer starb?“

„Ich meine, dass wir uns nicht sicher sind, ob der Mord überhaupt mit Magie begangen wurde. Der Tod der Frau kann theoretisch auch von einem Mann herbeigeführt worden sein.“

Ein kollektives Seufzen geht durch den Raum. Einen einfachen Mord hätten die zuständigen Stadtgardistinnen selbst untersucht, aber beim kleinsten Hinweis auf außergewöhnliche Todesumstände gehört der Fall uns. Einen Fall, bei dem ein Mann als Täter in Frage kommt, hatten wir nicht mehr seit … nun, zumindest nicht, seit ich hier bin.

Meine Finger kribbeln und ich muss mich stark zusammennehmen, nicht vor Freude aufzuspringen.

„Wollen Sie tatsächlich sagen, dass es auch ein Mann gewesen sein könnte?“, vergewissere ich mich noch einmal.

Alle halten den Atem an.

„Ja.“

Ich spüre, wie sich ein vorfreudiges Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Diesen Fall werde ich persönlich übernehmen. „Dann lassen sie mal hören.“

„Oder“, die Stadtgardistin kann sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen, „ich kann es Ihnen zeigen.“

„Umso besser.“ Ich stehe auf. „Dann gehe ich eben mit nach unten und gebe der Wächterin Bescheid, Ihre Magie loszulassen.“

Jeder Besucherin wird vor Betreten unseres Gardegebäudes die Magie gefesselt, das ist bei uns Standard.

Doch die Stadtgardistin schüttelt den Kopf. „Doris hat mich so reingelassen. Wir kennen uns vom Stammtisch.“

„Vom Stammtisch, so so.“ Diana und ich tauschen einen Blick. Das kann ich Doris unmöglich durchgehen lassen. Ich weiß, dass sie es hasst, Wachdienst zu haben, aber deswegen kann sie noch lange nicht jede Hilda und Tilda hier hereinlassen, nur weil sie mit ihr einmal im Monat ihre Bierchen zischt.

„Dann legen Sie mal los!“

Die Stadtgardistin dreht sich suchend um, dann deutet sie auf die Tür zur Küche. „Wäre es dort in Ordnung?“

Ich schätze, sie verfügt über eine Art Projektionsmagie. Zu dumm, dass unsere Wände so mit Notizen, Karten, Plakaten und anderem Zeug wie zig Restaurantkarten zugehängt sind. Spontan beschließe ich, das Ganze als längst überfällige Aufräummaßnahme zu nutzen.

„Corinna“, ich nicke meiner besten Telekinetikerin zu und zeige dann auf die Nordwand. „Hol doch bitte mal das ganze Zeug da herunter.“

Corinna sieht mich aus großen Augen an. „Äh, und wo soll ich damit hin, Dritte?“

Jedes Mal, wenn mich meine Frauen mit dieser nicht-existenten Rangbezeichnung ansprechen, muss ich schmunzeln.

„Erstmal in die Küche.“

Stumm beobachten meine Frauen, wie Corinna in wenigen Sekunden die Wand leert. Die Karten, die die verschiedenen Gerichtsbezirke des Reiches darstellen, waren mit Nägeln befestigt gewesen. Ich könnte schwören, dass es Corinna besonderen Spaß macht, sie aus der Wand zu reißen. Überhaupt geht sie mit recht viel Schmackes ans Werk. Ich vermute, die letzten ereignislosen Tage haben meinen Frauen genauso wenig gutgetan wie mir. Nun, das wird sich ja jetzt ändern.

Die Stadtgardistin tritt vor, hebt beide Arme und beginnt auf mein Nicken hin ihre Vorstellung. Magie flimmert aus ihr heraus und projiziert sich an der nun leeren weißen Wand. Schatten tanzen über die Löcher, die die Nägel hinterlassen haben, und Schlieren täuschen das Auge über altbekannte Flecken hinweg. Die Farben verdichten sich, Konturen nehmen Schärfe an. Ich kneife die Augen zusammen. Ein Bild entsteht. Linien. Das Blut. Die gebrochenen Augen. Und Schmerz.

„Es muss eine Weile gedauert haben, bis sie tot war“, kommentiert Heidi trocken, „Sonst wäre es nicht so eine verdammte Sauerei!“

„Heidi!“ Sie zuckt unter meinem Ton zusammen. „Zeig gefälligst etwas mehr Respekt!“

Sie senkt schuldbewusst den Blick. In anderen Garden ist es durchaus üblichen in einen flachsigen Ton zu verfallen, wenn es um den Umgang mit Gewalt und Tod geht. Ich lege großen Wert darauf, dass all meine Mitarbeiterinnen so etwas nicht tun. Galgenhumor nennen sie es, eine Strategie, um mit den schlimmeren Dingen zurecht zu kommen. Ich verstehe sie, aber ich sehe auch die Gefahr, die darin liegt: Zu leicht kann so vergessen werden, dass die Opfer Menschen waren und für ihre Angehörigen immer noch lebendig sind. Solange, bis sie eine von uns darüber informiert, dass ihre Welt eben nicht mehr dieselbe ist.

„Entschuldige bitte, Magret.“

Ich nicke, dann konzentriere ich mich wieder auf das Bild und die Stimme der Stadtgardistin.

„Das Opfer wurde von den anwesenden Erwachsenen eindeutig als Verena Konstanze identifiziert, 36 Jahre alt, Magieart Schatten, allerdings von sehr schwacher Ausprägung. Hat den Heimkindern Schreib- und Leseunterricht gegeben und war ansonsten wohl eine Art Junge für alles.“

Hinter mir höre ich Rebekka schnauben. „Männerarbeit!“

Ich gebe ihr im Stillen Recht. Kinder in magielosen Belangen zu unterrichten fällt, wie überhaupt die Kindererziehung, in das Ressort des Mannes. Andererseits: Was hätte eine so schwache Frau mit einer derart nutzlosen Magie sonst anfangen können? In ihrer mächtigen Form kann diese Magie absolut tödlich sein. Die Geschichte ist voller Beispiele, wie Schattenfrauen während der Hexenkriege die Feldfrüchte und Obsthaine unserer Feinde zerstört haben. Aber was zu den Sieben Finsterhexen fängt eine mit einem schwachen Schatten an? Mehr als ein paar alberne Streiche oder das Kühlen von Getränken fällt mir beim besten Willen nicht ein. Kein Wunder also, dass sich das Opfer mit Männerarbeit verdingen musste. Wenn sie wenigstens ein Fräulein gewesen wäre: Es gibt einige reiche Frauen und auch Monatsresorts, die diese armen, magielosen Dinger als Dienstbotinnen einstellen, weil sie in ihnen keine Gefahr sehen.

Ich konzentriere mich wieder auf den Bericht der Stadtgardistin.

„10:37 Uhr ging der Hilferuf ein, laut Zeuginnen wurde sie nur wenige Momente zuvor gefunden. Die Notärztin erreichte den Tatort um 10:42 Uhr, die zuständige Stadtgarde unter dem Kommando ihrer Oberen Jolanda Hüterin um 10:48 Uhr.“

Genau an dieser Stelle meldet sich meine Magie. Es beginnt mit einem Kribbeln in den Fingerspitzen, das sich bis in meinen Magen ausbreitet. Die Worte der Stadtgardistin scheinen vor mir in der Luft zu tanzen, daran überall winzige Häkchen. Sie hüpfen auf und ab, als warteten sie darauf, dass ich an ihnen zupfe. 10:37 Uhr, 10:42 Uhr und 10:47 Uhr. Ich könnte hier und jetzt von jeder einzelnen Gardistin im Raum sagen, ob ihr etwas an diesen Uhrzeiten aufgefallen ist oder nicht. Als würde allein Hinnahme oder Verwunderung ihre Aura, ihre Präsenz, verändern.

Katharina ist die Einzige, die ernsthaft stutzt.

Sowohl die Notärztin, als auch die Stadtgarde bewegen sich absolut innerhalb der gesetzlichen Vorgaben: Die diensthabende Ärztin hat spätestens innerhalb von fünf Minuten, die zuständige Garde innerhalb von zehn Minuten an einem Tatort oder einer Unfallstelle zu sein. Beide Fristen wurden eingehalten, und das auf dem Land. Ich kenne die Gegend des Bezirks der Stadtgarde, die ihren Sitz im Schatten der Neuhünenburg hat, vage. Ich weiß auch, welch einen großen Bereich die Stadtgarde abdecken muss. Es wäre möglich, dass die Garde so früh da gewesen ist, doch meine Magie sagt mir, dass ich da noch einmal nachhaken sollte. Die Zahlen passen gut zueinander - zu gut?

„Die Notärztin konnte nur noch den Tod des Opfers feststellen. Das hier sind alle Erwachsenen im Heim“, die Gardistin lässt ein neues Bild entstehen, welches drei weibliche und drei männliche Personen mit erschrockenen, verängstigten oder zornigen Blicken zeigt, „Sie wurden von der Garde als erstes untersucht. Sie konnten bei keiner Person etwas Verdächtiges feststellen.“

Ich nicke. Bis jetzt ist alles ganz normal.

Wieder erscheint ein Bild der toten Frau. „Bei den weiteren Untersuchungen stellten Hüterins Leute fest, dass der Ablauf des Mordes unklar ist.“

„Präzisieren Sie das bitte.“

Die Stadtgardistin hebt ihre Arme und das Bild wird größer, zeigt jetzt nur noch den Kopf der Frau. „Allem Anschein nach erhielt das Opfer zunächst mit Hilfe der heimeigenen Teekanne einen nicht-magischen Schlag auf den Kopf.“

„Ein nicht-magischer Schlag?“ Ich schüttele den Kopf. „Sie meinen, wie von einem Mann?“

„Genau: Ein männlicher oder weiblicher Mensch hat die Teekanne offenbar in die Hand genommen und dann von oben damit zugeschlagen.“

„Ich nehme an, das haben Sie dem Schlagwinkel entnommen?“

„Genau. Magieschläge kommen vorn, schräg unten oder von der Seite. Die Wunde am Kopf des Opfers dagegen befindet sich am oberen Hinterkopf. Theoretisch könnte das natürlich auch alles per Magie so inszeniert worden sein. Doch wieso sollte sich eine diese Mühe machen?“

Das Ganze kommt mir immer seltsamer vor. Die Gardistin erzeugt ein neues Bild und vergrößert es. Eine Frauenhand am Rand des Bildausschnitts, vermutlich die der Notärztin, zeigt auf verschiedene Stellen am Oberkörper des Opfers.

„Hier erklärt Frau Neeve, wo danach auf die Frau eingestochen wurde. Den vollständigen Bericht erhalten Sie dann vor Ort.“

„Und woher stammen die Stichwunden?“, stellt Irma die nächste Frage, „von Magie oder einem Gegenstand?“

„Das wissen wir noch nicht. Wir hoffen, dass uns die Leichenärztin da später weiterhelfen kann. Die offensichtlichen Magiearten können wir allerdings aufgrund der Spurenlage beziehungsweise der fehlenden Spuren schon mal ausschließen: Keine Magie, die mit Hitze zu tun hat, also auch kein Feuer, keine geschmolzene Metallart und so weiter.“

„Was ist mit Eis oder Wind?“

Die Frage kommt von Frieda, unserem Ausbildungsküken. Anders als bei den Stadtgarden mit ihren Akademien wird der Nachwuchs der Goldenen Garde direkt hier in Annaburg unterrichtet. Ich bin mir noch nicht sicher, welches System das bessere ist. Ich selbst hatte eine Gardeakademie besucht und war Stadtgardistin gewesen, bevor Heidrun mich abgeworben hatte. Ein Jahr, ein hartes Jahr, Zusatzausbildung hatte ausgereicht, mich zur Goldenen Gardistin zu machen. Meinen raschen Aufstieg verdanke ich ebenfalls meiner Zeit an der Akademie, da bin ich mir sicher. Frieda dagegen steht noch ganz am Anfang.

„Soweit ich weiß, kann selbst ein Mann Kälteverletzungen erkennen“, frotzelt Diana entsprechend schnell.

Ich greife nicht ein, denn Diana hat Recht: Das hätte Frieda klar sein müssen.

„Jede Magie hinterlässt eine Spur“, erkläre ich, „Die Kunst ist zu wissen, wo man nachschauen muss. So hinterlassen etwa die meisten Arten von Pflanzenmagie winzigste Sporen, Metall dagegen ist immer schwierig nachzuweisen.“

„Reptilienmagie hinterlässt diesen ganz speziellen Geruch“, ergänzt die Stadtgardistin, „Und bei allem, was mit Fell zu tun hat, sammelt sich Staub, wenn die Frau nicht genau aufgepasst hat.“

Ich nehme mir vor, mir den Namen dieser Gardistin zu merken. Sie ist klug, besitzt eine nützliche Magie und hat offensichtlich an der Akademie gut aufgepasst. Sie gibt ihr Wissen bereitwillig preis, ohne damit zu prahlen, eine äußerst seltene Eigenschaft in unserem Metier.

„Und Sie haben da schon alles abgeglichen?“

„Nein, so schnell bin ich nicht. Ich kenne die Standartprozeduren für die gängigsten dreißig Magiearten. Für die anderen muss ich mich erst informieren.“

Und sie hat kein Problem zuzugeben, dass sie nicht alles weiß. Das imponiert mir sogar noch mehr, als dass sie ganze dreißig Magiespuren auswendig weiß. Selbst ich käme aus dem Stegreif nur auf vierzig.

„Das alles nützt uns aber nichts, wenn es ein männlicher Täter war, der ein Messer oder eine andere Tatwaffe benutzt hat“, wirft Katharina ein.

„Sabine, Veronika?“

„Ja?“

„Ihr zwei bleibt hier und seid für die Recherche verantwortlich. Veronika, fordere bitte im Zentralarchiv Spurenkarten für, sagen wir, die gängigsten zweihundert Magiearten an. Minus der ersten fünfzig, die haben wir ja selber hier. Sabine, du machst dich bitte schlau, ob es in letzter Zeit irgendwem gelungen ist, wilde Magie nachzuweisen. Außerdem hätte ich gern eine Aufstellung aller Bluthexen im Umkreis von einhundert Kilometern um den Tatort.“

„Du denkst, es könnte Blutmagie im Spiel sein?“

Ich bin nicht die Einzige, die bei der Vorstellung, es mit einer Bluthexe zu tun zu bekommen, schaudert.

„Nein, eigentlich nicht. Zumindest hoffe ich das.“

Jede Bluthexe wird registriert und muss vor der Goldenen Frau einen Blutschwur ablegen, ihr zu gehorchen und niemals zu schaden. Das gibt uns die Möglichkeit, schnell reagieren zu können, sollte es Hinweise in diese Richtung geben. Solange wir noch nicht wissen, womit wir es zu tun haben, bin ich gerne auf alles vorbereitet.

Sabine und Veronika verlassen den Raum, um sich in einem der leeren Büros ungestört an die Arbeit zu machen und ich wende mich wieder der Stadtgardistin zu.

„Wie ist Ihr Name?“

Die Frau hebt eine Augenbraue. „Violet Aylasra.“

„Gut.“ Ich lächele, damit sie weiß, dass sie von mir keinen Ärger zu erwarten hat. „Fahren Sie bitte fort.“

„Laut der Notärztin lagen zwischen dem Einsetzen der ersten Blutung und dem Tod ungefähr sieben bis neun Minuten.“

Ich kann förmlich spüren, wie gebannt unser Küken den Einzelheiten lauscht. Sehr gut.

„Das weiß sie aufgrund der Menge des Blutes, nehme ich an?“

Die Frau nickt. „Offenbar. Und an der Art der Verletzung.“

„Sieben Minuten.“ Rebekkas Stimme klingt rau. „Hoffen wir, dass sie die meiste Zeit davon bewusstlos gewesen ist.“

„Zum Ende hin sicher. Ihr wird erst schwindelig, dann kalt, dann müde geworden sein. Wer so lange blutet, schläft einfach ein.“ Jede hier im Raum, selbst Frieda, weiß, dass ich das nur gesagt habe, um uns zu trösten und dass das die offizielle Variante dessen sein wird, was wir den Angehörigen erzählen werden. Genauso gut kann es sein, dass Frau Konstanze ihre letzten Augenblicke in rasender Angst verbracht hat, dass sie mit jeder Faser ihrer Magie gegen die enge Klammer des Todes gekämpft hat. Dass sie geweint hat.

Ich räuspere mich.

„Wurde ihr Gesicht schon auf Tränen untersucht?“

„Nein, noch nicht. Auch das Blutgutachten steht noch aus. Nachdem Frau Neeve und Frau Hüterin gemeldet hatten, dass als Täterin ebenso eine Frau wie eine magielose Person in Betracht kommt, hat die Silberne Frau direkt eine Glocke angeordnet.“

Dank sei der Göttin, das war genau die richtige Entscheidung! Magische Glocken werden nicht oft verhängt, weil es unverschämt viel Personal kostet, sie aufrecht zu erhalten, aber in einem Fall wie diesem ist es sie wert!

„Seit wann steht die Glocke?“

„10:58 Uhr. Laut der Zeuginnen hat heute bis auf einen männlichen Besucher kein Mensch das Haus betreten. Die stellvertretende Heimleiterin, Natalie Miranewa, hatte seit 8 Uhr Türdienst. Sie gibt an, die Magie stets aufrecht gehalten zu haben. Wenn das stimmt, hat auch keine das Haus verlassen.“

„Richtig: Wenn es stimmt.“

Ich kratze mich am Kinn. Die Mörderin oder der Mörder muss also noch im Haus sein, eingesperrt unter der Glocke. Keine Magie kann hinein oder hinausgelangen. Ideale Voraussetzungen also, einfacher könnten wir es wirklich nur haben, wenn wir die Täterin auf frischer Tat ertappt hätten.

Die Stadtgardistin senkt ihre Arme und das Bild verschwindet. Der frische Schweiß auf ihrer Stirn zeigt mir, dass es sie einiges an Kraft gekostet hat, so lange ihre Magie aufrecht zu erhalten. Aber sie ist noch jung, ihre Ausdauer wird wachsen.

„Setz dich erst mal, Schwester, und ruh' dich ein paar Minuten aus“, sage ich freundlich. Dann lasse ich meinen Blick über meine Frauen schweifen. Alle schauen mich an. Manche offen und begierig, andere bemüht, nicht allzu eifrig zu wirken. Der Fall begeistert sie alle, ebenso wie mich. Wir haben hier die Chance, ein ungewohnt mysteriöses Verbrechen zu untersuchen: Wurde Frau Konstanze mit Magie getötet oder nicht? Und falls nicht, womit dann? Und wieso? Und von wem? Kann es gar ein Mann gewesen sein? Aber welcher Mann wäre so dumm, eine Frau anzugreifen? Wie auch immer sich das Ganze entwickelt, der Fall ist schon jetzt spannender als alles, womit wir es in den vergangenen sechs Monaten zu tun gehabt haben. Seit wir eine Bande krimineller Frauen in Nürnberg zerschlagen haben, halten sich die Schattengestalten unter den Frauen auffallend zurück. Wir werden nur dann eingeschaltet, wenn die Stadtgarden nicht weiterkommen und unsere Einsätze für die Goldene Frau halten sich auch in Grenzen. Seit Wochen herrscht hier Routine und alle sind scharf darauf mitzukommen, wenn ich zum Tatort reite. Aber wen soll ich mitnehmen? Höchstens zwei, so lautet meine Devise. Am liebsten nur eine, aber ich brauche einfach verschiedene Magiearten vor Ort. Als erstes schaue ich Katharina an und nicke. Die meisten Laien denken, dass ich es als halbe Lügenleserin nicht nötig habe, überhaupt Mitarbeiterinnen mitzunehmen. Das stimmt, wenn auch nur bedingt, denn wer sich geschickt genug anstellt, kann eine Lügenleserin überlisten. Das Schöne an dieser Welt ist allerdings, dass bei weitem nicht jede auch nur halb so clever ist, wie sie denkt. Es genügt ein falsches Wort und die Lüge ist enttarnt. Ich habe schon so viele Fälle gelöst, indem ich einfach nur die richtigen Fragen gestellt habe, dass es schon fast peinlich ist.

Meine Magie sagt mir allerdings, dass es bei diesem Fall anders laufen wird, daher will ich auf Katharina mit ihrem Tastsinn nicht verzichten.

Die zweite Frau, die ich auswähle mitzukommen, ist Diana. Außerdem soll sich Hanna, eine meiner Kommunikationsspezialistinnen, in einem Gasthof in Widdersbach einrichten. Gewöhnliche Sprechblasen bekommen wir alle hin, aber für eine stabile und vor allem abhörsichere Leitung in die Hauptstadt braucht es mehr. Ich hätte Martina den Vorzug gegeben, aber die hat ihre magiefreie Woche. Außerdem beschließe ich, dass es Zeit wird für unser Küken, bei seiner ersten Morduntersuchung dabei zu sein.

„Diana, nimm Frieda mit runter und hol uns eine Transporthexe.“ Ich hoffe, dass gerade eine frei ist. Frauen, die Gepäck leichter halten, Pferdekraft steigern, oder den Luftwiderstand vor einer verringern können, sind heiß begehrt. Da Kauffrauen viel mehr bezahlen können als wir, wurden Frauen mit der passenden Magie schon vor etlichen Jahren zum Reichsdienst verdonnert und müssen sich entweder den Militär- oder den Stadtgarden für jeweils fünf Jahre zur Verfügung stellen, bevor sie sich da draußen eine Goldene Nase verdienen. Da sich nur ein paar hundert Meter unter uns das Gebäude der Stadtwache befindet, teilen wir uns die Annaburger Transporthexen.

„Ihr anderen haltet die Stellung. Unterstützt Veronika und Sabine bei den Recherchen. Und räumt die Küche auf.“

Ich kann mir ein kleines, schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Dann mache ich mich mit Katharina, Hanna, Frieda und Diana auf den Weg.

So komfortabel bin ich noch nie gereist. Die Transporthexe, die Diana und das Küken aufgetan haben, hat irgendeinen Trick drauf, direkt vor den Pferden riesige Blasen entstehen zu lassen, die leichter sind als Luft. Jedes Mal, wenn meine Stute eine dieser Blasen durchlaufen hat, hat sich unsere Geschwindigkeit um ein Vielfaches beschleunigt, so dass wir Widdersbach bereits nach vierzig Minuten erreichen. Die Transporthexe ist noch recht neu in der Stadt und ich habe Olga angewiesen, sie besser als üblich zu bezahlen. Wir verabschieden uns von Hanna und legen die restlichen zwei Kilometer bis zur Tränenburg ohne Magie zurück. Meine Magie kribbelt vor Vorfreude.

„Frau Beatesdother?“

„Ja?“

„Sie können doch Lügen erkennen, nicht wahr?“

„Ja, zumindest meistens. Wieso?“

„Nun ja“, Frieda weicht meinem Blick aus. „Wieso, äh, wieso können Sie dann nicht jeden Fall ganz schnell lösen?“

Die Frage musste ja irgendwann kommen.

„Ich meine“, fährt das Küken hastig fort, „Sie müssen doch einfach nur jede fragen, ob sie den Mord begangen hat, oder?“

Ich schmunzele. „Ganz so einfach ist das nicht, Frieda. Zunächst einmal bin ich keine richtige Lügenleserin. Die sind extrem selten und haben Wichtigeres zu tun.“

„Wichtigeres als einen Mord aufzuklären?“

„Sie tun viel für das Goldene Reich!“, erwidere ich betont streng, „Sie arbeiten bei Gericht und prüfen Zeugenaussagen. Es gibt einige, die selbstständig für Geld arbeiten, aber die meisten stehen im Dienst des Reiches. Jede Militärgarde braucht mindestens eine richtig gute Lügenleserin, besser mehrere. Einige arbeiten als Spioninnen und setzen jeden Tag für uns ihr Leben aufs Spiel. Es gibt viele Spielarten der Magie, wie du weißt, und echte, reine Lügenlesemagie ist extrem selten. Mischsorten oder abgeschwächte Formen wie meine Magieart sind da schon häufiger. Ich erkenne es, wenn etwas nicht stimmt, aber es ist mehr eine schwammige als eine genaue Magie, und ich kann meistens auch nicht exakt sagen, was nicht stimmt.“

„Aber wenn Sie eine fragen, 'Haben Sie das Opfer getötet?' und die antwortet mit 'Ja' oder 'Nein', dann…?“

Tja, das wäre schön!

„Kaum eine antwortet jemals mit 'Ja' oder 'Nein'“, erkläre ich, „und ich kann, wie übrigens jede 'vollwertige' Lügenleserin auch, ausgetrickst werden. Du wirst sicher bald Gelegenheit bekommen, am praktischen Beispiel zu erfahren, was ich meine.“

„Und wenn wir uns einfach eine Lügenleserin ausleihen würden?“

Dumm ist die Kleine nicht, das steht schon mal fest!

„Sollten wir wirklich nicht weiterkommen, können wir tatsächlich einen Antrag auf eine Lügenleserin stellen“, erkläre ich, „aber es ist schwierig, eine zu bekommen.

„Und die freien Lügenleserinnen? Ich meine die, die nur Geld haben wollen?“

Was habe ich mir da nur aufgehalst? Aber irgendwie muss sie es ja lernen.

„Du machst gerade deinen ersten großen Fehler“, weise ich sie zurecht.

Nein, das reicht nicht aus. Ich zügele mein Pferd und bedeute dem Küken, es mir gleichzutun.

Diana und Katharina, die unseren Wortwechsel mitangehört haben, schauen stur geradeaus und reiten langsam weiter. Ich bin stolz auf ihr Taktgefühl.

Ich wende meinen Hengst und lasse ihn vor Friedas Stute anhalten.

Die Frau schaut mich aus großen Augen an. Sie hat Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Hat sie ja auch.

„Du hast nicht genug nachgedacht!“, sage ich scharf und schaue ihr in die Augen.

Frieda zuckt leicht zusammen, aber da muss sie jetzt durch. Müssen WIR jetzt durch. Es hat mir noch nie behagt, andere zusammenzustauchen, aber ich bin schließlich hier, um ihr etwas beizubringen, nicht, um ihre beste Freundin zu werden.

„Wenn du so an die Dinge herangehst, begehst du deinen ersten schweren Fehler, noch bevor du auch nur eine Zeugin verhört oder einen Tatort besichtigt hast!“, erkläre ich, „dieses eine Mal lasse ich dir das durchgehen, aber noch so ein Schnitzer und ich schicke dich zurück nach Annaburg!“ Friedas Augen weiten sich noch mehr als davor. „Aber ich habe doch gar nichts...“

„Ich will das Wort 'aber' nicht hören!“

Sie senkt den Kopf und ich erlaube mir ein kleines Lächeln. Ich habe schon oft Widerspruch im Keim erstickt, indem ich der Betreffenden einfach das Wörtchen „aber“ verboten habe. Der ein oder andere Protest ist allein aufgrund der Schwierigkeit, ein Ersatzwort zu finden, in sich zusammengebrochen.

„Doch, allerdings“, zähle ich still für mich auf, „entgegen, trotzdem, indes...“ Frieda blinzelt. „Allerdings weiß ich nicht, was ich falsch gemacht habe?“ Kluges Mädchen!

„Ich wiederhole es noch einmal. Dein Fehler bestand darin, nicht genug nachgedacht zu haben.“

Ich werde mich ihrer erbarmen müssen, von allein wird sie noch nicht darauf kommen. „Ich fasse zusammen: Du hast vorgeschlagenen, eine freie Lügenleserin zu akquirieren, stimmt's?“

Sie nickt.

„Nun, dann stelle ich dir jetzt eine einfache Frage: Woher weißt du, ob sie die Wahrheit sagt?“

„Nun, ich … Muss sie das als Lügenleserin nicht sowieso immer?“

„Na, woher denn“, sage ich und lache. „Du machst mir Spaß! Wer sagt denn das? Und selbst wenn ich eine Lügenleserin für ehrlich halte, wer sagt mir denn, dass sie auch intelligent genug ist, sich nicht austricksen zu lassen oder etwas zu übersehen? Ich habe dir eben erklärt, dass sogar ich trotz meiner Magie reingelegt werden kann.“

Verschiedene Ausdrücke der Verwirrtheit huschen über Friedas Gesicht.

„Sie meinen, Magie allein macht aus einer Frau keine gute Lügenleserin?“

„Genau das! Die Lügenleserinnen der Garden oder der Goldenen Frau werden genau geschult und streng vereidigt.“

„Aber … Jedoch muss auch eine Lügenleserin, die vor Gericht Zeugenaussagen bewertet, einen Eid ablegen?“

„So ist es, und das aus gutem Grund. Dennoch ist das keine Garantie dafür, dass sie ihre Arbeit auch anständig macht.“

„Wie viele Lügenleserinnen gibt es überhaupt in Annaburg?“

Ich denke kurz nach. „Ich glaube vier. Die verdienen sich da eine Goldene Nase, soviel steht fest.“

„Und da ist keine dabei, der sie trauen?“

Ich gehe die Frauen im Geiste durch. Sofia von Ravensburg, Mercedes de Celestina, Linnea Nordin und Irene Tamarasra. Die erste können sich nur die reichsten Frauen leisten, die zweite arbeitet nur vor Gericht und bietet ihre Dienste ab und zu auch kostenlos alleinstehenden oder anderweitig armen Männern an. Mit Linnea habe ich schon ein paar Mal zusammengearbeitet, aber um ehrlich zu sein ist sie nicht der hellste Stern am Firmament und meine Magie hat ihren Aussagen schon ein paar Mal widersprochen. Beim Gedanken an Irene Tamarasra rinnt mir ein Schauer über den Rücken. Ich komme mit allen zurecht, nur mit ihr bin ich nie warm geworden. Irgendetwas stimmt mit dieser Frau nicht, wenn ich auch nicht genau weiß, was.

„Ein oder zwei sind ganz in Ordnung“, erwidere ich, „doch so ganz traue ich keiner. Im Goldenen Schloss gibt es drei weitere Lügenleserinnen, die jedoch allein im Dienst der Goldenen Frau stehen.“

Mein Tonfall macht Frieda hoffentlich deutlich, da nicht weiter nachzuhaken. Für Wissen über die wirklich dunklen Dinge ist sie noch zu unerfahren, zu unschuldig.

„Wir könnten uns doch aber eine bei einer der Militärgarden ausleihen?“

Ich denke an meine alte Schulfreundin Nihan. „Wie ich dir schon sagte, sind diese Frauen stark beschäftigt. Es klingt sicher zynisch, aber das ist es gar nicht: Die Gardistinnen verteidigen Tausende, uns alle, das ganze Reich. Dagegen ist unser Fall hier mit nur einer Toten nachrangig. Das fühlt sich übel an, ich weiß, aber es ist so und wenn du darüber nachdenkst, kommst du sicher zu demselben Entschluss.“

Frieda schüttelt den Kopf. „Warum nur gibt es nicht mehr Frauen mit dieser Magie?“

„Ich weiß es nicht. Meine Magie ist aber auch oft sehr hilfreich. Du wirst schon sehen. Hör nie auf, dich selbst zu hinterfragen“, komme ich langsam zum Ende, „Davon auszugehen, dass die Dinge so sind, wie du sie gewohnt bist zu sehen, ist der erste Fehler und kann fatale Folgen haben! Du bist hier nicht mehr in der Frauenschule, sondern im wahren Leben. Wo die Menschen faul sind, bestechlich, gemein, rachsüchtig und gierig. Wo sich kaum eine darum schert, wie sie sein sollte, sondern einfach ist, wie sie ist. Kein Mensch ist perfekt, Frieda, und viel öfters teilt sich die Welt nicht in gut oder schlecht, sondern in jene ein, die immerhin versuchen, gut zu sein und jene, die es aufgegeben haben. Hinterfrage alles und jede. Dich, mich, deine Gardeschwestern. Denk immer daran, wem du verpflichtetet bist. Der Goldenen Frau und dem Goldenen Reich! Das ist deine erste und oberste Aufgabe. Und eben dieser Treue zur Goldenen Frau und unserem Land schuldest du deine volle Aufmerksamkeit, deine größte Sorgfalt! Geh nie davon aus, etwas zu wissen, eine zu kennen oder alles durchschaut zu haben, bis du nicht den unwiderlegbaren Beweis dafür hast.“

„Das werde ich!“ Friedas Augen funkeln entschlossen. „Ich werde von nun an alles hinterfragen, Dritte, und mich an alles halten, was Sie mir gesagt haben!“

Da bin ich ja mal gespannt.

„Na schön. Dann komm, lass uns die anderen einholen.“

„Jawohl, Dritte.“

Habe ich die Sache richtig gehandhabt? Habe ich Frieda das vermittelt, was mir wichtig war? Habe ich sie genügend angespornt, um sie nicht zu entmutigen? Wenn sie durch die nächste Prüfung fällt, wird das ebenso meine Schuld sein wie ihre.

„Ach und noch etwas, Frieda.“

„Ja, Dritte?“

„Hör nie auf, Fragen zu stellen!“

„Jawohl.“

Freudlos, trostlos und dennoch auf gewisse Art imponierend drückt sich die Tränenburg neben der Straße an einen dichten Wald heran. Das Haus wirkt seltsam langgezogen und besteht aus zwei Etagen. Genau in der Mitte verläuft eine dezente, aber nicht übersehbare schwarze Linie an der Hausfront entlang, die das Gebäude in - zumindest von außen - zwei identische Hälften teilt.

Jede verfügt in der unteren Etage über eine Eingangstür und sechs ungemütlich kleine Fenster; im Obergeschoss sind es nur jeweils drei. Über all dies wurde ein flaches Schieferdach gespannt, das auch schon bessere Tage gesehen hat.

Der Wald hinter dem Haus scheint es mit der Zeit verschlingen zu wollen:

Erste Nadelbäume haben sich bereits weiter vorgewagt. Der kleine Hof vor dem Haus besteht aus mehr oder weniger regelmäßig verteilten Schottersteinen, eindeutig nicht die Arbeit einer Frau. Der kleine Gemüsegarten links, der Brunnen rechts und natürlich die magische Kuppel, die über alldem liegt, ist so ziemlich das Aufregendste, was sich über das Jungenheim sagen lässt.

Außer natürlich dem Umstand, dass hier vor wenigen Stunden ein grausames Verbrechen verübt wurde.

Ich schließe die Augen. Ich schmecke es, spüre jede einzelne meiner Hautzellen vibrieren. Meine Haarwurzeln. Selbst wenn mir keine gesagt hätte, dass sich hier ein Mord zugetragen hat, hätte ich es in diesem Moment gewusst. Der Wind flüstert es mir leise ins Ohr, die Bäume rauschen voll Trauer. Sie scheren sich nicht um menschliche Belange, ihnen gilt allein die Heiligkeit des Lebens. Und die wurde aufs Schlimmste zerstört.

Ich schüttele sacht den Kopf, um die oberflächlichen Eindrücke zu vertreiben. Ich muss genauer hinhören, hinsehen, hinfühlen, um mehr Informationen zu bekommen. Ich öffne die Augen und erlaube es meiner Magie, sich auszubreiten. Ich komme nicht durch die magische Sperre, ja, doch die Umgebung wird mir auch so vieles verraten. Meine nicht-magischen Sinne erzählen mir - wie sie es selbst einem Mann tun würden - die Geschichte eines einsamen Ortes außerhalb der nächsten Siedlung, in der die Jungen sicherlich kein allzu glückliches Dasein fristen. Dabei könnte es hier geradezu idyllisch sein: Dichter, tiefgrüner Nadelwald, dazwischen Tupfer aus Laubbäumen. Ich höre einen Bach plätschern, hier gibt es sicher reichlich Wild, und trotz des Schiefers, der vielerorts nur wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche lauert, ist der Boden fruchtbar und gut.

Meine Magie zupft und zieht an mir, verlangt meine Aufmerksamkeit. Ich tauche ein und fühle den Schmerz.

Er kommt nicht nur vom Haus, nein, die gesamte Umgebung strahlt ihn ab - Tiere, Steine, Pflanzen, selbst die Luft, die wir atmen. Ich bin nicht davon ausgegangen, einen fröhlichen Ort vorzufinden, immerhin ist dies ein Heim für unerwünschte Jungen. Doch das hatte ich nicht erwartet: Schmerz, Blut, Tränen, Geheimnisse. Und Angst. Jede Menge Angst.

„Guten Tag. Ich bin Magret Beatesdother, das hier sind Katharina von Ostwig, Diana Korneliasdother, und unsere Auszubildende Frieda Sanderin.“

Ich strecke meine Hand aus, die von der Gardeobersten herzlich geschüttelt wird. „Jolanda Hüterin, Stadtgarde. Herzlich willkommen! Wenn ich um einen Tropfen Ihres Blutes bitten dürfte?“

„Sie kommen wohl gleich zur Sache, was?“

Die Obere zuckt mit den Schultern. „Nun, wir haben keine Zeit zu verlieren, oder?“ Sie winkt eine Gardistin, die eine Schale in der Hand hält, zu sich hinüber. „Wir haben schon alles vorbereitet. Sobald sich ihr Magiemuster gebildet hat, können wir es mit Ihrer Karte abgleichen.“

Ich strecke der Gardistin meinen Arm hin. „Bedienen Sie sich, aber lassen Sie mir ein bisschen was übrig, ja?“

Ihre Mundwinkel zucken nicht einmal. Kein Wunder: Ich schätze, so gut wie jeder Witz, den es über das Identifikationsprozedere zu machen gibt, wurde schon an die Millionen Male gemacht.

Ich bemühe mich um einen gelassenen Gesichtsausdruck, als mir die Frau einen Tropfen Blut aus der Ader zieht. Diesen lässt sie dann in die mit Salzwasser gefüllt Schale schweben.

Frieda beobachtet die Prozedur mit sichtbarer Faszination. Ich gebe ihr mit einem Wink zu verstehen, näher zu treten.

„Du weißt, wie das funktioniert?“

Sie nickt. „Die Magie in Ihrem Blut bindet die Salzkristalle und das ergibt dann Ihr persönliches Magiemuster.“

„Genau. Und das wird dann mit meinem offiziellen Muster aus der Kartei abgeglichen.“

„Lernt ihr so etwas tatsächlich erst so spät?“, entfährt es der Gardistin, die jedoch sofort den Kopf einzieht, „Entschuldigen Sie bitte, Frau Beatesdother, ich wollte nicht respektlos sein!“

„Schon gut“, ich winke ab, „Ich wundere mich selbst beizeiten noch.“

„Wie das?“, fragt die Gardistin und auch die Obere ist verwundert.

„Ich war selbst auf der Gardeakademie und bei einer Stadtwache, bevor ich zu den Goldenen Gardistinnen kam“, erkläre ich, „Ich kenne also beide Ausbildungssysteme.“

„Und welches ist besser?“

„Yvonne!“

„Ach, schon gut!“ Ich werfe der Stadtgardeoberen einen beruhigenden Blick zu.

„Lassen Sie sie ruhig fragen. Im Ernst: Das interessiert Sie doch auch, hab ich Recht?“

Sie lacht. „In der Tat.“

Was für eine sympathische Person!

„Ich würde sagen, beide Methoden haben ihre Vorzüge“, sage ich nach einer Weile. „Das theoretische Wissen, das mir die Akademie vermittelt hat, ist eine Grundlage, die ich nicht missen möchte. Sie wissen sicher noch selbst, was für eine Schinderei das damals war, und einiges habe ich auch vergessen. Das meiste aber hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt.“ Frau Hüterin nickt zustimmend. „Andererseits scheinen den Anwärterinnen viele Dinge einfacher im Gedächtnis zu bleiben, wenn sie sie anhand eines praktischen Beispiels gelernt haben“, fahre ich fort, „Vieles, was ich an der Akademie gelernt habe, ist mir abstrakt vorgekommen. Hier bei der Goldenen Garde lernen die Anwärterinnen direkt von erfahrenen Gardistinnen, denen sie bei der Arbeit zusehen. Das tun sie auch in der Stadtgarde, keine Frage, aber die Vorgehensweise, etwas zunächst zu beobachten und dann erst die dazu passenden Regeln – geschriebene, ebenso wie ungeschriebene – zu lernen, erscheint mir stimmiger. Dennoch wäre ich froh, unsere Auszubildenden wären fitter, was die Grundlagen anbelangt.“

„Ihrer Meinung nach wäre das Ideal also eine Mischform aus beidem?“ Die Obere grinst.

Ich tue es Ihr nach. „Sie haben mich erwischt: Da bin ich wohl hoffnungslos auf einen Kompromiss aus.“

„Na, solange Sie so viel Milde nicht bei unserer Mörderin walten lassen...“ Womit wir beim Thema wären.

„Wollen Sie mich dann mal auf den neuesten Stand bringen?“

Die Obere wirft ihrer Gardistin einen Blick zu. Diese schaut ein paar Mal zwischen der Schale und einer Karte, die sie in der anderen Hand hält, hin und her, und nickt dann. „Es handelt sich tatsächlich um Frau Magret Beatesdother.“ Friedas Hand schnellt nach oben. Die Stadtgardistin kichert und auch Frau Hüters Mundwinkel gehen hoch.

„Frieda, du musst dich nicht melden. Du bist hier nicht mehr in der Schule!“

Ich weiß nicht, wie oft ich ihr das schon gesagt habe. „Was gibt es denn?“

„Verzeihung, Dritte, aber werden wir anderen nicht überprüft?“

Frau Hüterin und ich wechseln einen Blick.

„Es genügt zu wissen, dass ich ich bin. Ich bürge für euch alle“, erkläre ich.

„Und wir vertrauen darauf, dass die“, Frau Hüterin schmunzelt, „'Dritte' weiß, wer ihre Leute sind.“

Doch Frieda gibt sich noch nicht geschlagen. „Aber theoretisch könnten wir sie doch getäuscht haben? Oder eine von uns?“

„Dieses Risiko gehen wir ein“, erwidere ich und höre Katharina hinter mir flüstern: „Ja, wir leben am Limit!“

Nur mit Mühe schaffe ich es, nicht laut loszulachen.

„Wenn Sie dann so nett wären, Frau Hüterin?“

Die Obere nickt und bringt uns auf den neusten Stand. Welcher exakt dem Stand von vor ein paar Stunden entspricht: Seit die Glocke über das Anwesen verhängt wurde, hat sich absolut nichts ereignet. Vier Stadtgardistinnen bewachen die Bewohner des Hauses, doch sie haben klaren Befehl, mit keiner zu reden. Alle warten darauf, dass wir die Bühne betreten.

„Ich wünschte, wir könnten ihnen allen die Magie fesseln“, wirft Diana ein, „Wetten, dass alle dann ganz scharf darauf wären, sich gegenseitig ans Messer zu liefern?“

Ich lache. „Du meine Güte Diana, die Gesichter will ich sehen! Da drin läuft irgendwo eine Mörderin frei herum und du willst ihnen die Magie fesseln?“ Katharina gluckst. „Das würde keine Frau freiwillig mit sich machen lassen. Ich übrigens auch nicht, falls das eine hier interessiert.“

„Nö.“

„Ach danke, Dritte. Wie gut es tut, von seiner Vorgesetzten den Rücken gestärkt zu bekommen!“

„Nichts zu danken!“