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Wien 1922: Nach dem Krieg ist die einst glanzvolle Monarchie der ersten Republik gewichen. In dieser Zeit des Umbruchs hat sich der ungarische Adlige Alexander Baran ein neues Leben als Kommissär bei der Wiener Kriminalpolizei aufgebaut. An einem kalten Märztag wird er zum Donaukanal gerufen, wo die entsetzlich entstellte Leiche einer jungen Frau gefunden wurde. Wie sich herausstellt, war die Tote Tänzerin an der Wiener Oper. Kurz darauf wird in der Nähe ein pensionierter Hofbeamter von einer Straßenbahn erfasst und getötet. Erst spät erkennt Alexander Baran einen ungeheuerlichen Zusammenhang zwischen den Fällen – beinahe zu spät ...
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Seitenzahl: 445
Buch
Wien 1922: Nach dem Krieg ist die einst glanzvolle Monarchie der ersten Republik gewichen. In dieser Zeit des Umbruchs hat sich der aus Ungarn stammende Adelige Alexander Baran ein neues Leben als Kommissär bei der Wiener Kriminalpolizei aufgebaut. An einem kalten Märztag wird er zum Donaukanal gerufen, wo die entsetzlich entstellte Leiche einer jungen Frau gefunden wurde. Wie sich herausstellt, war die Tote Balletttänzerin an der Wiener Oper. Kurz darauf wird in der Nähe ein pensionierter Hofbeamter von einer Straßenbahn erfasst und getötet. Erst spät erkennt Alexander Baran einen ungeheuerlichen Zusammenhang zwischen den Fällen – beinahe zu spät …
Autor
Karl Rittner ist das Pseudonym eines österreichischen Schriftstellers und Hochschulprofessors. Mit »Die Toten von Wien« legt er seinen ersten historischen Kriminalroman vor. Heute lebt der 1960 im Salzburger Land geborene Autor in Wien.
Karl Rittner
Ein Fall für
Alexander Baran
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Originalausgabe September 2022
Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: FinePic®, München; Ildiko Neer/Trevillion Images
Redaktion: Friederike Arnold
KS · Herstellung: ik
Satz: KCFG-Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-25581-7V001
www.goldmann-verlag.de
Szonja von Waldstetten rang nach Luft. Diese war eisig und brannte in den Lungen. Unter ihren bloßen Füßen spürte sie den Waldboden, nass und kalt. Dunkelheit umgab sie. Zitternd streckte sie die Hand aus, wagte einen Schritt nach vorn, dann noch einen und erstarrte. Vor ihr im Finsteren tauchte plötzlich eine weiße Gestalt auf. Noch konnte sie nur Schemen erkennen. Entsetzt presste sie beide Hände auf ihren Mund, um sich nicht zu verraten. Aber es war zu spät. Das Wesen hob den Kopf und sah Szonja aus funkelnden Augen an. War es zuerst ruhig dagestanden, so bewegte es sich jetzt schnell auf sie zu. Sie konnte die Kreatur nun deutlich erkennen. Es war ein weißer Gamsbock, riesenhaft, mit goldblitzenden Hörnern. Unbändige Wut lag in seinem Blick. Szonja wusste, dass sie sich umdrehen und fliehen musste. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Es fühlte sich an, als wären sie mit dem Boden verwachsen. Der Bock hatte sie fast erreicht, sie meinte schon, seinen heißen Atem zu spüren. Gleich würde er sie mit seinen Hörnern aufspießen, doch dann hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall. Ein Schwall von Blut schoss auf sie zu, als der Bock, tödlich getroffen, zu Boden fiel, und es war ihr, als würde er sie im Tod mit sich reißen wollen. Tiefer und tiefer stürzte Szonja, ehe sie mit einem erlösenden Schrei aufwachte. Tränen liefen ihr über die Wangen, ihr Herz klopfte wild.
Zitternd setzte sie sich im Bett auf. Nur ein Traum, aber so echt.
Der Zlatorog. Wie oft hatte ihre Mutter ihr diese Geschichte erzählen müssen. Auf dem Triglav in den Julischen Alpen hatte er gelebt, der weiße Bock, in einem paradiesischen Garten, der mit jeder Erzählung schöner und verlockender wurde. Auch der Schatz, den der Zlatorog hütete, nahm mit jedem Mal größere Ausmaße an. Ein gieriger Jäger hatte den Bock erschossen, um an den Schatz zu kommen. Aber aus seinem Blut war eine wunderbare Blume entstanden, die Triglavrose, die dem Zlatorog langsam das Leben zurückgab. Von da an war das Schicksal des Jägers besiegelt, sein Tod unausweichlich. Der weiße Bock nahm unerbittlich Rache. Szonja wusste natürlich, dass es nur eine alte Sage war, aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas Schreckliches geschehen würde.
Der Schrei hatte den Mann neben ihr aus dem Schlaf gerissen. Graf Anton von Waldstetten war siebenundzwanzig Jahre alt und der schönste Mann, den Szonja in ihrem achtzehnjährigen Leben je zu Gesicht bekommen hatte. Seit zwei Wochen waren sie verheiratet und seither keine Sekunde getrennt.
Er machte die Petroleumlampe neben dem Bett an. »Was ist, mein Liebes?«
»Ein böses Omen«, flüsterte Szonja. Ihr Blick wanderte zur gegenüberliegenden Wand. Dort hing die Trophäe eines kapitalen Hirsches und direkt daneben das nicht minder beeindruckende Ölporträt des verstorbenen Grafen von Waldstetten, in dessen Auftrag dieses Jagdschloss erbaut worden war.
Sein Sohn sah ihm zum Verwechseln ähnlich. Sein Haar war dichter und lockiger, aber er hatte den gleichen Ausdruck in den Augen, das gleiche Grübchen am Kinn. Doch fehlte ihrem Mann die Strenge, mit der der Alte sie vom Bild herab musterte, als wollte er sie für den Traum tadeln, der sie so aus der Fassung gebracht hatte.
Beruhigend nahm Anton sie jetzt in die Arme und strich ihr sanft über die Stirn. Aber der Traum ließ sie nicht los.
»Der weiße Gamsbock. Wer ihn tötet, nimmt ein schreckliches Ende.«
Anton küsste sie zärtlich auf den Mund.
»Es ist alles in Ordnung. Du hattest einen Albtraum. Der weiße Bock? Mein Liebling ist ja abergläubisch. Der Büchsenspanner des Erzherzogs, der alte Mittendorfer, hat dir mit seinen Erzählungen gestern Abend im Gasthaus Angst gemacht.«
»Er hat die Wahrheit erzählt. Erzherzog Franz Ferdinand hat die weiße Gams im August im Salzburgischen erlegt. Es wird ihm Unglück bringen, ich spüre es.«
»Ach, Liebes. Du hast doch gehört, was der alte Mittendorfer gemeint hat. Der Erzherzog hat gesagt: ›Na, wenn man sterben muss, stirbt man sowieso!‹ Und auf den Büchsenspanner des Erzherzogs ist Verlass, der lügt nicht.«
»Ich habe davon geträumt«, flüsterte Szonja, »vom Tod.«
»Vom Tod hast du geträumt? Vom Tod des Erzherzogs?«
Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Wer soll denn dann sterben? Den weißen Gamsbock kannst du nicht mehr retten.«
»Ich habe in seine Augen geschaut, als er zu Boden fiel. Da waren Feuer und Glut.«
»Ein Albtraum. Eine alte Legende. Nicht mehr.«
»Aber ich bin mit ihm gefallen, verstehst du?«
Szonja schloss die Augen. Sie erwartete, dass Anton weiter nach beschwichtigenden Worten suchen würde, aber stattdessen zog er sie an sich. In seinen Armen beruhigte sie sich. Mehr noch, seine sanften Berührungen und Küsse ließen sie den Albtraum vergessen. Szonja überkam ein Glücksgefühl, und sie spürte, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war, ihr vergangenes Leben hinter sich zu lassen und mit Körper und Seele ihm zu gehören. Nur noch selten dachte sie an ihre Kindheit auf einem entlegenen ungarischen Gut zurück, an ihren strengen Vater, der alles verbot, was junge Menschen glücklich machte, und an ihre Mutter, die dies still erduldete. Nur ihr Bruder fehlte ihr sehr, sie vermisste seine Streiche, sein Lachen. Vielleicht würde sie ihn eines Tages zu sich holen, wenn die Zeit dafür reif war.
Jetzt aber genoss sie es, geliebt und verwöhnt zu werden und wie ihr Mann ihren Körper erkundete, mit jeder Berührung die bösen Gedanken verjagte. Alles fühlte sich gut an, wenn er da war.
Sie musste noch einmal in einen traumlosen Schlaf gefallen sein, denn als sie erwachte, lag Anton nicht mehr neben ihr, und frühmorgendliches Licht drang durch die Fensterläden. Draußen vor der massiven Eichentür konnte sie Schritte auf dem Steinboden vernehmen und Stimmen, die sich langsam entfernten. Nur Wortfetzen vermochte sie aufzufangen, weil das Gemäuer dick war und die Wände mit ihren Gemälden den Schall verschluckten. Sie erkannte Antons Stimme und sank wieder in die Kissen zurück.
Seit gestern waren Gäste im Haus, drei Freunde ihres Mannes, die sie nie zuvor gesehen hatte und deren Namen ihr nichts sagten. Sie wollten unbedingt mit dem Erzherzog auf die Pirsch gehen, um den letzten großen Hirsch im Revier, den alten Zwanzigender, zur Strecke zu bringen. Franz Ferdinand würde im Laufe des Tages im Hofautomobil anreisen, damit er endlich dieses edle Stück Wild, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte, seiner Sammlung als Krönung hinzufügen konnte.
Am Abend hatten sie alle zusammen mit dem Büchsenspanner des Erzherzogs im Gasthof zur Sonne gesessen und im sogenannten Jagdstüberl, das mit seiner Ansammlung an Trophäen seinem Namen durchaus Ehre machte, bei süffigem Wein Anekdoten über Franz Ferdinand ausgetauscht. Für Szonja war es bald zu viel Wein gewesen, und sie hatte die Namen der Männer genauso schnell vergessen wie die immer derber werdenden Witze, die die Runde machten. Glücklicherweise hatte ihr Mann ihre Zeichen verstanden, und sie waren gemeinsam mit dem Büchsenspanner aufgebrochen. Vielleicht war der böse Traum nur eine Auswirkung des Alkohols, genauso wie ihre leichten Kopfschmerzen.
Szonja war es mehr als recht, dass sie nicht mit dieser Jagdgesellschaft ausziehen musste. Der angeborene Beutetrieb, der offenbar in jedem Mann steckte, war ihr fremd. Außerdem gefiel es ihr nicht, dass Anton dem Erzherzog eine Skulptur des Heiligen Georg aus dem Familienbesitz schenken wollte, die sie ins Herz geschlossen hatte. Die Lippen des Heiligen waren spitz geformt, als würde er ein Lied pfeifen. Selbst der Drache, dem er geradezu beiläufig seinen Speer in den weit geöffneten Rachen stieß, schien sich eher zu räkeln als im Todeskampf zu winden. Vielleicht, dachte Szonja, machte sich die Statue ein wenig lustig über die Jäger, die hier im Haus aus- und eingingen und das Waidwerk über alles priesen.
Überhaupt fragte sie sich, warum ihr geliebter Mann so erpicht darauf war, Franz Ferdinand zur Jagd einzuladen, obwohl er ihn angeblich kaum kannte. Sie ahnte, dass Anton seinem Vater über den Tod hinaus einen Wunsch erfüllen wollte, und das gefiel ihr nicht.
Szonja streifte sich einen seidenen Morgenmantel über und öffnete die schweren Läden, um das Sonnenlicht hereinzulassen. Ein langsam aufsteigender Nebel zog über die längst abgeernteten Felder. Dahinter bedeckte dichter Laubwald die Hügel. Auf einem thronte eine verlassene Ruine, von der man hinüber nach Pressburg blicken konnte. Still und friedlich lag die Landschaft vor ihr, doch bald würde diese Idylle von Schüssen zerrissen werden. Denn dass Franz Ferdinand einer der besten Schützen der Welt war, war allgemein bekannt. Man sagte, er sei im vorletzten Jahr auf über achtzehntausend Abschüsse gekommen. Doch er hatte nur zwei der seltenen Zwanzigender erwischt. Heute sollte noch einer dazukommen.
Szonja hatte diesen kapitalen Hirsch nie zu Gesicht bekommen, obwohl sie in den letzten Tagen bereits mehrmals weite Strecken mit ihrer geliebten Stute zurückgelegt hatte. Wieder kam ihr der Traum in den Sinn. Sie konnte das viele Blut auf ihrer Haut spüren, sah den Bock vor sich, aber da war keine Wut mehr in seinen Augen, sondern nur noch Todesangst. Fröstelnd schlang Szonja die Arme um ihren Oberkörper. Sie musste auf andere Gedanken kommen. Bald würde der Erzherzog hier sein. Wenigstens kurz würde sie ihm begegnen müssen. Szonja klingelte nach der Kammerzofe.
Wenig später war sie angekleidet. Sie trug einen knöchellangen, engen Rock aus bastfarbenem Leinen mit einer wunderschönen Bordüre und an der Längsnaht eingesetzten ovalen Leinenknöpfen. Die Jacke über der hochgeschlossenen Bluse zierten ein Umlegekragen und ausgefallen gearbeitete Stulpmanschetten. Zuvor hatte die Zofe ihr hüftlanges brünettes Haar gebürstet und kunstvoll hochgesteckt. Passende Schuhe und ein breitkrempiger, mit Federn geschmückter Hut lagen bereit. Nachdem Szonja der Zofe aufgetragen hatte, ihr erst nach dem Treffen mit dem Erzherzog ein kleines Frühstück zu bringen, blieben ihr ein paar Minuten für sich, in denen sie sich vor dem Spiegel betrachtete. Sie würde ihren Mann nicht enttäuschen. Sie sah gleichzeitig elegant und jugendlich aus, und doch war die Kleidung dezent genug, um den als konservativ bekannten Erzherzog nicht zu irritieren.
Draußen waren Schritte zu hören. Gleich darauf öffnete sich die Tür. Anton.
Da stand er in seiner Jagdkleidung. Der Lodenmantel mit den Hirschhornknöpfen und dem grünen Stehkragen machte ihn älter, stattlicher. Vielleicht würde ihm dazu ein Schnurrbart stehen, dachte Szonja, obwohl sie eigentlich froh war, dass Anton sich regelmäßig glattrasierte. Sie liebte seine glatte Haut.
»Wie sehe ich aus?«, fragte er, richtete sich auf und zupfte sein Hemd am Hals zurecht.
»Schneidig«, antwortete sie. Es war ein Wort, das er ihr beigebracht hatte und von dem sie fasziniert war, obwohl sie nie ganz seine Bedeutung verstand. Erst schien er sie genauer zu betrachten, dann verneigte er sich zuvorkommend vor ihr.
»Wunderschön«, sagte er und küsste Szonja auf die Lippen.
Sanft stieß sie ihn von sich. »Nicht jetzt, Liebling, er wird bald da sein.«
Sie schlüpfte in die Schuhe und befestigte ihren Hut mit zwei Spangen. Anton nahm ihre Hand. Dem leichten Druck dieser Hand konnte und wollte sie nichts entgegensetzen. Sie folgte ihm die breite Treppe hinunter zum Eingangsportal.
Draußen standen sie aufgereiht: die wenigen Dienstboten des Jagdschlosses, das die meiste Zeit leer stand, die drei Freunde von Anton, herausgeputzt in feinem Jagdloden, und der Büchsenspanner. Dieser musterte grimmig die jungen Leute aus dem Dorf, denen die Aufgabe zukam, das Wild auf die Kanzel des Erzherzogs zuzutreiben. Dabei konnte einiges misslingen. Ein nicht geringer Teil des Jagderfolgs hing von der Treiberlinie ab. Szonja meinte, in den Augen des Büchsenspanners Zweifel erkennen zu können.
Das Rattern des Automobils in der Ferne verscheuchte alle anderen Gedanken. Es war ein großer geschlossener Wagen, dessen Fabrikat Szonja nicht kannte, weil sie sich nicht für Automobile interessierte. Wäre der Erzherzog auf einem Pferd geritten, hätte sie dieses sofort identifizieren können. Aber ein stinkendes Gefährt, nein.
Der Erzherzog erschien allein mit seinem Chauffeur. Langsam stieg er aus dem Wagen und grüßte mit dem Jagdhut in der Hand in die Runde.
Anton eilte zu ihm, verneigte sich und wechselte ein paar Worte, die Szonja nicht verstand. Dann war sie an der Reihe.
»Meine Gemahlin, Kaiserliche Hoheit, Szonja von Waldstetten, gebürtige …«
»Die Ungarin«, unterbrach der Erzherzog ihn, »das ist sie also.«
Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, bevor Szonja den vorgeschriebenen Knicks vollführte.
»Meine Liebe, seien Sie nicht schüchtern. Man sagt zwar, ich würde Ungarn fressen, aber Sie dürfen nicht alles glauben.« Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Franz Ferdinand, und er strich sich über seinen dicken Oberlippenbart. Dann wandte er sich Antons Freunden zu, was Szonja nur am Rande wahrnahm, da ihr Mann wieder ihre Hand ergriffen hatte.
»Wir werden bald zurück sein«, sagte er. »Du musst nicht lange auf mich warten.«
Während die Jagdgesellschaft auf die bereitstehenden Pferde stieg, umarmte Szonja ihren Mann noch einmal, beinahe zu stürmisch, sodass er einen Schritt nach hinten machte, um nicht zu stolpern. Beide lachten, dann löste er sich aus der Umarmung und stieg auf seinen Rappen.
»Na dann, Waidmannsheil, mein geliebter Gemahl. Und komm mir ja gesund zurück!«, rief Szonja.
Als sie sich umdrehte und zum Haus zurückgehen wollte, fiel ihr Blick auf einen Umschlag auf dem Boden. Sie hob ihn vorsichtig auf. Er musste Anton aus der Jackentasche gefallen sein, als sie ihn umarmt hatte. Sie betrachtete das zusammengefaltete Kuvert und strich es sorgsam glatt. Es war zu spät, Anton hinterherzurufen. Und außerdem war der Brief bereits geöffnet worden, also kannte ihr Mann wahrscheinlich seinen Inhalt und würde ihn nicht vermissen.
Szonja ging ins Haus. Ihr Frühstück, Eier mit Schnittlauch, ungarische Salami und heißen starken Kaffee, nahm sie in der Bibliothek ein, dem einzigen Raum, wo sie nicht von Hunderten toten Gesichtern angeschaut wurde. Hier dominierte stilechter Barock. Jedes einzelne Buch stand fein säuberlich und gut gesichert hinter den Glastüren der hohen Schränke. Alles hatte seine Ordnung. Den Brief hatte sie beim Hineingehen auf den Tisch gelegt. Das Siegel kam Szonja bekannt vor, auch die Schrift.
Neugierig nahm sie den Brief wieder in die Hand und roch daran. Kein Parfüm, kein zarter Geruch, eher eine Tabaknote. Also wozu hineinsehen? Andererseits, was war dabei? Hatte ihr Mann Geheimnisse vor ihr? Ging es um Politik? Langweilig. Sie legte den Brief wieder weg und streifte eine Weile unschlüssig durch das Zimmer. Wie in fast allen Räumen hing auch hier ein Porträt des Grafen von Waldstetten, diesmal, dem Ambiente entsprechend, in einem Lehnstuhl sitzend und ein Buch lesend. Was für ein Buch? Sie konnte es nicht erkennen, aber was sie sah, ließ sie erstaunt innehalten. Das Siegel auf dem Ring des Grafen war das gleiche wie auf dem Brief. Ein Drache, der sein offenes Maul nach oben streckte.
Vorsichtig zog sie das Blatt aus dem Kuvert und entfaltete es. Es war beidseitig beschrieben, mit klarer männlicher Schrift, streng und kontrolliert und dennoch so, als wäre die Person in Eile gewesen. Während Szonja die Zeilen las, wurde ihr immer heißer. Sie presste die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien, als sie erkannte, was dieser Brief bedeutete. Um sich zu vergewissern, dass sie alles richtig verstanden hatte, las sie ihn ein zweites Mal. Auch wenn ihr Deutsch, das ihre Wiener Mutter ihr beigebracht hatte, in den achtzehn Jahren im Osten Ungarns vielleicht gelitten hatte, gab es keinen Zweifel. Der Brief war wie ein Geschoss, das sie ins Herz traf. Was hier über ihren Mann stand, konnte nicht wahr sein. Was er tun wollte, heute, hier in diesem Haus, würde die Welt verändern. Als wäre dies nicht alles schon schlimm genug, stand da auch noch ihr Name. Noch einmal las Szonja: Eine Ungarin wird schuld sein am Tod Franz Ferdinands. Welch eine Ironie. Und die Wirkung des Gifts setzt erst auf der Rückfahrt nach Wien ein! Ein Herzinfarkt.
In ihrem Inneren stritten Wut und Verzweiflung, Angst und entsetzliche Enttäuschung miteinander. Wie konnte ihr Mann nur? Tränen rannen über ihre Wangen. Kann man sich so in einem Menschen täuschen? Es musste alles ein Irrtum sein, eine böse Intrige vielleicht, um ihrem Mann zu schaden. Feinde gab es überall, Neider. Was konnte sie tun? Szonja lief auf und ab, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem noch größeren Verlangen, dass alles nur ein Traum war, ein noch schlimmerer Albtraum als der, den sie heute Nacht gehabt hatte. Was, wenn alles stimmte, was in dem Brief stand? Wenn der Erzherzog ermordet werden sollte? Heute. Durch ihre Hand.
Szonja eilte in ihr Zimmer. Sie musste hier weg, auf der Stelle. Wie von Sinnen riss sie Kleider aus ihrem Schrank, packte sie in Windeseile in eine Reisetruhe und verwarf schließlich den Gedanken wieder. Fliehen? Wohin? Der Plan war so heimtückisch und bösartig, dass er ausgeführt werden würde, ob sie in der Nähe war oder nicht. Und wohin konnte sie fliehen? Nach Hause zu ihrer Familie? Würde man sie dort nicht zuerst suchen? Damit würde sie ihre Eltern und ihren Bruder in ein Verbrechen hineinziehen. Wenn sie es nicht verhindern konnte. War es zu verhindern? Gab es einen Ausweg? Ja, wenn sie ihn rechtzeitig finden würde, den Thronfolger, Franz Ferdinand. Bestimmt saß er schon auf der Jagdkanzel und legte seine Büchse zum Schuss an. Sie musste es versuchen. Hastig schlüpfte Szonja in die Reitstiefel, rannte in den Stall, wo ihre Stute sie mit freudigem Wiehern begrüßte. Sie strich ihr sanft über die Nüstern und sattelte sie eilig.
Sie ritt, was das Zeug hielt, die Stute fegte über den feuchten Boden, wäre beinahe zweimal im taunassen Laub ausgerutscht. Szonja trieb das Pferd an und ritt in wildem Galopp auf den Wald zu. Sie wusste genau, wo sich die Jagdkanzel, der Ansitz, befand, auf dem der Erzherzog auf den Zwanzigender warten würde, der ihm versprochen worden war. Vielleicht erledigte er gerade seine Korrespondenz, wie er es immer tat, während der Büchsenspanner Ausschau hielt. Bisher hatte sie keinen Schuss gehört. Vielleicht kam sie noch rechtzeitig. Vielleicht konnte sie den Erzherzog warnen, ihm erzählen, welch finsteres Komplott gegen ihn geschmiedet worden war.
Als die Kanzel in Sichtweite kam, ließ Szonja die Stute im Schritt gehen. Sie wollte nicht aus Versehen vom Erzherzog erschossen werden. Doch noch bevor sie die Lichtung erreichte, sah sie ihn aus dem Wald treten, den Zwanzigender. Wie majestätisch er war, als er den Kopf hob und sie kurz eines Blickes würdigte. Als sie in seine Augen sah, erkannte sie, dass der Traum wahr werden würde. Sie wusste, dass sie zu spät kam, noch bevor der Schuss fiel.
»Der Zlatorog«, flüsterte sie, als sie zu Boden stürzte.
Oskar Veith stand am Fenster seiner Stadtwohnung im herrschaftlichen 1. Bezirk, zwirbelte seinen Oberlippenbart und dachte an die Worte des Hofrats Horsetzky am Tag seiner Pensionierung vor nunmehr sechs Jahren.
»Wissen Sie, warum wir nicht untergehen? Ihretwegen, lieber Veith«, und dann hatte er hinzugefügt, »und jedes einzelnen Mannes im Dienste unserer Verwaltung.«
Seit er zurückdenken konnte, lebte Veith im Dienste des Staates als getreuer Untertan seiner Majestät. Hatte klein angefangen und war schließlich bis in den Stab des Kanzleidirektors des Obersthofmeisters, von denen er gleich vier überlebte, aufgestiegen. Später war ihm die verantwortungsvolle Aufgabe der Leitung der Registratur anvertraut worden, die sämtliche Schriftstücke, die den Kaiserhof erreichten, mit Aktenzeichen und Stempel versah und darüber wachte, dass nichts verloren gehen konnte und alles an die richtige Stelle gelangte. Aufgrund seiner absoluten Verlässlichkeit und Kaisertreue war ihm zusätzlich eine besondere Verantwortung übertragen worden, nämlich den Hof vor Schaden durch die Weitergabe von Interna an die Presse zu bewahren. Veith wurde unweigerlich zum Feind der Journalisten, da er rigoros jedem Verstoß nachging und viele Hofbedienstete um ein lukratives Zubrot brachte. Dass in Wien dennoch unzählige Gerüchte über das Leben am Hof kursierten, war selbstverständlich nicht zu vermeiden, aber dank Veiths geschickter Umsicht und Interventionen übertünchte so manches harmlose Getratsche den einen oder anderen ernsthafteren Skandal.
Veith war unbestechlich, gegen jegliche politische Einflüsterung immun und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Niemals war ihm ein Fehler unterlaufen, bis auf ein einziges Mal im Winter 1913. Schuld daran war eine Maus gewesen. Dieses freche Tier hatte es gewagt, hinter einem Stapel abgelegter und noch peinlichst zu sortierender Korrespondenz hervorzulugen, und zudem an einem Brief geknabbert.
Als Veith sie erspäht hatte, war er so abgelenkt, dass er mechanisch den Brief vor sich öffnete und ihn aus dem Kuvert zog. Nie und nimmer hätte er das tun und auch nur einen Blick darauf werfen dürfen. Wie hätte er erklären sollen, dass der Brief geöffnet worden war? Also hatte er ihn eingesteckt. Alles war damals wie in Trance geschehen.
Seit acht Jahre steckte dieser Brief verborgen in einer unauffälligen Vase in einer Vitrine, neben einem Dutzend anderer, weitaus kostbarerer Exemplare. Dort hätte er bleiben können, bis ihn jemand nach seinem Tod gefunden hätte, um der Geschichte einen unbeachteten Aspekt hinzuzufügen oder sie vielleicht gar neu zu schreiben.
Doch dann hatte Veith gestern ein Telegramm erhalten, von einer jungen Frau, die den Inhalt des Briefes kannte und endlich die Wahrheit ans Licht bringen wollte. Die halbe Nacht hatte er kein Auge zugemacht und überlegt, ob er nach all den Jahren seine Frau einweihen, ihr alles erzählen sollte, aber dann hatte er sich dagegen entschieden und sie schlafen lassen. Es war ganz allein seine Angelegenheit, und es lag an ihm, sie jetzt zu Ende zu bringen. Um der Wahrheit willen, und vielleicht mehr noch um seiner selbst willen. Heute, Punkt neun Uhr, würde er diese Frau treffen und den Brief übergeben.
Inzwischen war es halb neun geworden. Veith blickte immer noch aus dem Fenster. Er wohnte im dritten Stock eines stilvollen Barockhauses in der Singerstraße. Er wollte schon gehen, als ihm ein großer Mann in einem eleganten Mantel auffiel, der rauchend an der gegenüberliegenden Hausecke lehnte. Ein Unbehagen überkam ihn plötzlich, und einen Augenblick lang dachte er sogar, der Mann habe ihn am Fenster entdeckt und angegrinst.
»Einbildung«, sagte er sich und richtete sich auf. Veith war nicht sonderlich groß, aber mit seinen siebzig Jahren immer noch eine stattliche Erscheinung. Von einem rauchenden Gecken würde er sich doch nicht nervös machen lassen. Niemand konnte von dem Brief wissen.
Veith verabschiedete sich von seiner Frau, die im Morgenrock in der Küche die Zeitung las. Er wolle nur auf einen Sprung ins Café Heinrichhof, wie fast jeden Morgen, um ein paar alte Kollegen zu treffen. Dann ging er in den Salon zu der Vitrine, ergriff die Vase und wollte behutsam den Brief herausziehen. Aber seine Finger zitterten, und er ließ sie fallen. Da lag sie nun, in Scherben. Hässlich war sie und nicht wertvoll, und doch unersetzbar. Als erstes Stück ihrer Sammlung hatte seine Frau diese Vase während eines Aufenthaltes in Korfu erstanden. Der Verkäufer versicherte ihr mehrfach, dass die Kaiserin Elisabeth, die sich ebenfalls auf der Insel erholte, diese Vase berührt habe. Veith hatte da so seine Zweifel, aber für seine Frau war sie trotzdem vom Glanz Elisabeths bestrahlt.
Umständlich entschuldigte er sich bei seiner Frau, die aus der Küche gestürmt war, für seine Ungeschicklichkeit. Wenigstens hatte sie nicht gesehen, wie er den Brief in ein Kuvert und dieses in seine Manteltasche gesteckt hatte. Sorgsam fegte er die Scherben zusammen und küsste, bevor er das Haus verließ, seine Frau noch einmal besonders zärtlich.
Biocitin stärkt Körper und Nerven stand in riesigen Lettern auf der Hausfassade vor ihm. Wie passend. Er zog seinen Hut tief in die Stirn. Obwohl bereits Mitte März, war es wieder empfindlich kalt geworden, zu kalt, um ohne Mantel vor die Tür zu gehen. Als er den Stock-im-Eisen, ein Wahrzeichen Wiens, passierte, stellte er den Mantelkragen hoch. An der Ecke der Kärntner Straße stand jener uralte abgesägte Fichtenstamm, über und über mit Nägeln bedeckt. Der Sage nach sollte dort einmal ein Schlosserlehrling einen Pakt mit dem Teufel eingegangen sein, der ihn zum geschicktesten Schlosser und zum reichen Mann machte. In einer anderen Version erschien der Teufel als roter Drache, der den Schlosser mit sich in die Lüfte hob. Wie auch immer, seit dieser Zeit schlugen die Schlosser, wenn sie nach Wien kamen, einen Nagel in den Baum.
Veith dachte darüber nach, welchen Pakt er eingegangen war, als er den Brief behalten hatte, während er am Palais Equitable entlang und die Kärntner Straße hinunter in Richtung Oper ging. Er betastete das Kuvert in der Innentasche seines Mantels. Ein dünner Brief, eine knappe Seite, und doch lag er schwer wie Blei an seiner Brust.
Der Weg in sein Stammcafé würde ihm guttun. Es beruhigte ihn, dass er seiner Frau, mit der er seit dreiundvierzig Jahren verheiratet war, zum Abschied einen Versöhnungskuss gegeben hatte. Ein Lächeln breitete sich auf Veiths Gesicht aus, und er strich sich über den gepflegten Schnurrbart. Zielstrebig steuerte er das Café Heinrichhof am Opernring an, wobei ihm sein Gehstock wertvolle Hilfe leistete. Alle paar Meter vergewisserte er sich, dass der Brief noch in der Innentasche steckte. Dann nahm er ihn in die Hand und hielt ihn fest. Das gab ihm eine gewisse Sicherheit.
Vor dem Hotel Sacher blieb Veith für einen Moment stehen, um Luft zu holen, und als er sich zur Seite drehte, erblickte er eine korpulente Frau im eleganten Pelzmantel und mit zwei Bulldoggen. Unter anderen Umständen hätte er die Dame, die er sofort als die resolute Hausherrin des Hotels, Frau Anna Sacher, erkannte, gebührend begrüßt, aber seine Taschenuhr zeigte bereits zwei Minuten nach neun.
Er eilte an der Oper vorbei und sah erneut auf die Uhr. Plötzlich war der Unbekannte, der vorhin an der Hausecke gegenüber gestanden hatte, neben ihm, und Veith fuhr der Schreck in die Glieder. Höflich lüpfte der Mann seinen Hut und sah ihn mit seinen kalten, eisblauen Augen eindringlich an, bevor er weiter in Richtung Straßenbahn ging.
Das Café Heinrichhof war nur noch wenige Meter entfernt. Schon war er an der Ringstraße. Veith schob sich durch eine kleinere Gruppe Menschen, die auf die Tramway warteten. Er hörte das Bimmeln der Straßenbahn, die quietschend um die Ecke kam. Als er zwischen zwei älteren Herren durchgehen wollte, strauchelte er und suchte mit seinem Stock Halt. Fatalerweise verhakte sich dieser in den Gleisen. Veith wollte ihn mit aller Kraft herausziehen, da spürte er einen Stoß im Rücken. Dann ging alles schnell. Er hörte das Kreischen der Bremsen, die Schreie der Umstehenden. Dann kam der Aufprall.
Alexander Baran las zum wiederholten Mal den Brief seiner Schwester. Er hatte schlecht geschlafen und war früh aufgestanden. Der Morgen war frisch, aber das Feuer im Kamin begann langsam seinen Dienst zu tun. Auf dem massiven Schreibtisch aus Nussbaum stapelten sich verschnürte Ordner, genauso in den Bücherregalen, nur manchmal unterbrochen von Fotoalben, in denen Baran an den einsamen Abenden blätterte. Er strich den Brief glatt. Seine Schwester hatte das Glück an der Seite eines Mannes gefunden, den sie über alles liebte und dem sie gegen den Widerstand der Eltern nach Wien gefolgt war, was zu einem unlösbaren Konflikt mit der Familie geführt hatte.
Vater hat sein Herz verhärtet, las er und weiter: Ich kann ihm und Mutter nicht böse sein, ich bin nur traurig, wünschte mir, dass der Abschied nicht so schmerzhaft ausgefallen wäre, dass Vater verstanden hätte, dass Anton ein so lieber Mann ist, der liebste, den du dir vorstellen kannst. Gestern habe ich wieder diesen schrecklichen Traum gehabt. Ich gehe auf unser Haus zu und sehe Mutter und Vater vor der Eingangstür stehen. Jeder Schritt fällt mir schwerer, als würde ich in tiefem Morast waten. Und als ich sie mit letzter Kraft erreiche und ihre Hände fassen möchte, entgleiten sie mir.
Jedes Mal bei diesen Zeilen ergriff Baran ein Gefühl der Verzweiflung. Vor allem aber schnürte ihm der letzte Satz die Kehle zu: Schon bald, mein geliebter Bruder, werden wir uns wiedersehen, ich umarme und küsse dich, Szonja.
Der Brief war neun Jahre alt und stellte das letzte Lebenszeichen von Barans Schwester dar. Heute war Szonjas Geburtstag. Baran zündete eine Kerze für sie an und stellte sie auf den Kamin. Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit.
Baran, damals noch Sandor, war an der Theiß im Osten Ungarns aufgewachsen. Es war ein ansehnlicher Besitz mit Wäldern und Äckern gewesen. Die Eltern, Szonja und Sandor wohnten in einem erst vor wenigen Jahrzehnten errichteten, großen Herrenhaus mit Erkern und Türmchen und einem Glockenturm. Das langsam verfallende alte Herrenhaus am anderen Ende des großzügig angelegten Parks diente dem kleinen Sandor und seiner jüngeren Schwester Szonja als wunderbarer Spielplatz, obwohl es natürlich streng verboten war, das Haus zu betreten. Bei ihren gemeinsamen Spielen jagte Sandor, mit einem weißen Bettlaken als Geist verkleidet, seine kreischende Schwester die Treppen hinauf und hinunter, oder Szonja mimte den gefährlichen, knurrenden Wolf aus dem Wald, der sich von einem Mauervorsprung auf den ahnungslosen Sandor stürzte.
Es waren jene unbeschwert glücklichen Momente, die Baran manchmal noch mehr schmerzten als all die furchtbaren Dinge, die sich nach Szonjas Verschwinden ereignet und sein Leben vollkommen verändert hatten.
Von einem Tag auf den anderen war Szonja kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag einem Mann nach Wien gefolgt, dessen Name in einer anderen Welt vielleicht Reichtum und Ansehen bedeutet hätte. Aber der alte Graf von Waldstetten war der schlimmste Feind von Sandors Vater. Diese Feindschaft reichte Jahrhunderte zurück, so, als wäre sie dem ersten Waldstetten und dem ersten Baranyi in die Wiege gelegt worden. Niemals hatte Sandor den Grund dafür erfahren. Es gab nur vage Andeutungen, von Betrug war die Rede, vom Ansehen Ungarns.
Doch das Schicksal nimmt manchmal krumme Wege. Auf einem Frühlingsball im Schloss der Festetics in Keszthely am Balaton hatten sich der jüngste Spross der Familie Waldstetten und die anmutige Szonja von Baranyi ineinander verliebt.
Was folgte, war der Beginn der großen Tragödie seiner Familie. Einen Monat später war Szonja nach durchweinten Nächten und unzähligen heimlich ausgetauschten brieflichen Liebesschwüren bei Nacht und Nebel nach Wien gereist. Der Vater war am Tag darauf am Stadtpalais der Waldstetten wie ein Hausierer abgewiesen worden, und die Briefe der Mutter kamen ungeöffnet zurück. Schließlich erklärte der Vater gegenüber seiner bitterlich weinenden Frau seine Tochter für tot. Jegliche Post wurde abgefangen, Sandor war es nur gelungen, diesen einen Brief rechtzeitig an sich zu bringen, ehe auch er im Kaminfeuer verbrannt werden konnte. Nur Tage später, als hätte ein böser Dämon die Worte des Vaters als Fluch verstanden, erhielten sie die Nachricht, dass die Gräfin von Waldstetten vermisst werde. Ihr verzweifelter Gemahl, der Graf von Waldstetten, habe sie suchen lassen, nachdem er von einem Jagdausflug mit dem Thronfolger von Österreich-Ungarn, Erzherzog Franz Ferdinand, in sein Jagdschloss zurückgekehrt sei.
Nach weiteren bangen Tagen war ein nichtssagender Brief mit Siegel und Unterschrift des Erzherzogs eingetroffen, in dem irgendetwas von Bedauern, Bemühungen und Zusicherung jeglicher Hilfe bei der Suche stand, was hinter allen Floskeln einem Eingeständnis gleichkam, nichts zu wissen.
Sandors Vater hingegen wurde noch härter und strenger und vergrub sich in seinen Pflichten, während er Sandor die Sorge um die immer mehr dahinsiechende Mutter überließ, die ihn ans Haus fesselte.
Dann kam die Nachricht vom Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo.
Am Abend des 29. Juli 1914 kehrte der Vater nach Hause zurück. Sandor saß auf der Veranda, als die Kutsche eintraf.
»Krieg«, sagte er nur, bevor er ins Haus stürmte. Sandor eilte ihm nach, aber der Vater schloss sich ins Schlafzimmer der Mutter ein. Tausende Male hatte Sandor sich nachher gefragt, ob er es hätte verhindern können, und keine Antwort gefunden. Zwei Schüsse aus der Flinte des Vaters hatten dem Leben seiner Eltern ein Ende gesetzt. Als Sandor die schwere Tür aufbrach, stand das Zimmer bereits in Flammen. Der Vater hatte die Petroleumlampe umgekippt, als er auf den Boden fiel, die Jagdflinte noch im Anschlag. An einem Abend hatte Sandor von Baranyi seine Eltern und sein Heim verloren. Nichts als ein Haufen Asche war geblieben.
Wenige Wochen später hatte er das gesamte Anwesen dem Gutsverwalter Mihály Fekete überschrieben, der das Haus von Grund auf neu errichten ließ.
Krieg war das letzte Wort von Sandors Vaters und das erste in Sandors neuem Leben als Soldat im k. u. k. Husarenregiment Nr. 7, das sich, obwohl fast nur aus Ungarn bestehend, nach dem deutschen Kaiser Wilhelm benannte. Sein Todesmut und sein Kampfgeist waren vom ersten Tag an legendär, aber auch sein strategisches Geschick ließ ihn rasch aufsteigen in einer Rangordnung, die ihm nichts bedeutete. Er wollte kämpfen und kämpfte, während neben ihm geblutet, geschrien und gestorben wurde. Sandor überlebte, obwohl er in seinem Inneren längst gestorben war.
Gedankenversunken hielt Baran immer noch den Brief in den Händen. An einem sonnigen Tag im Dezember 1916, an dem er sein Leben fast verloren hätte, hatte er auf einmal seine Hoffnung wiedergewonnen. Die Brigade hielt auf ein Quartier im Sulta-Tal in Rumänien zu. Eine unversehrte Landschaft tat sich auf, die grauen Holzhütten sahen idyllisch aus und erinnerten Baran an Klausen von Einsiedlern. Alles schien ruhig, weit und breit kein Beschuss. Dompfaffen mit ihren roten Bäuchen flogen umher. Da hörten sie ein Knacken und Brummen und die verzweifelten Schreie einer Frau in einheimischer Tracht mit mohnrotem Kopftuch, die aus dem Wald auf die Lichtung zulief, ein Bündel eng an ihren Körper gepresst. Dicht hinter ihr ein Ungetüm von einer Bärin, gefolgt von zwei jungen Bären. Vielleicht wäre die Bärin umgekehrt, wenn sie die Männer früher erblickt hätte. Aber ihr Instinkt gebot ihr, die Jungen zu schützen, wie auch die Frau ihr Kostbarstes, ihren Säugling, an sich presste. Die Bärin war bereits so nahe an die Frau herangekommen, dass diese ihren Atem im Nacken spüren musste, als Baran den erlösenden Schuss abgab. Die Frau fiel der Länge nach hin, aber weder sie noch ihr Kind erlitten ernsthafte Verletzungen. Auch die Bärenjungen wurden mit drei Schüssen niedergestreckt, aber es war nicht Baran gewesen, der geschossen hatte. Als er in die Augen dieser jungen Frau blickte, spürte er, mitten im Winter, wie eine Wärme sein Herz erfüllte. Es waren diese Augen, dieses zaghafte Lächeln, das ihn an Szonja erinnerte und ihn verletzlich machten, und eine irrationale Hoffnung keimte in ihm auf, dass er sie noch retten könnte. Noch am selben Tag, als Sandor zum Leben erwachte, wurde er selbst verwundet. Er erlitt einen Lungensteckschuss. Nachdem er in einem rumänischen Lazarett mit dem Tod gerungen hatte, verlegte man ihn dank seines letzten Verwandten, des Bruders seiner Mutter, Freiherr Clemens von Strack, nach Wien. Sandor wurde in der Villa des Onkels in Wien aufgepäppelt, kam langsam wieder zu Kräften und bewarb sich am ersten Tag, an dem er ohne Hilfe gehen konnte, bei der Polizei.
Der Krieg war für ihn zu Ende. Während die Monarchie noch einige Monate im Siechtum dahindämmerte, wurde aus Sandor von Baranyi Alexander Baran, ein strebsamer und ehrgeiziger Kriminalbeamter. In seiner Ausbildung hatte er alle nötigen kriminalistischen Fertigkeiten und Kenntnisse erworben, sich das strafrechtliche und verwaltungspolizeiliche Wissen angeeignet und den Gebrauch der Schusswaffe, der Steyr-Repetierpistole, perfektioniert. Obwohl es diesbezüglich kaum etwas zu verbessern gab. Baran schoss so gut, wie er ritt, und er ritt, als wäre er auf einem Pferd geboren. Durch die Ausbildung zum Kriminalpolizisten hoffte er, das Rätsel um Szonjas Verschwinden doch noch lösen zu können.
Aber in den mehr als fünf Jahren bei der Polizei war er kaum ein Stück weitergekommen, obwohl er jeder noch so kleinen Spur nachgegangen war.
Baran klammerte sich an jeden Strohhalm und blätterte täglich die Zeitungen durch, die ihm ein Bote, den er dafür ausgiebig entlohnte, vor das schmiedeeiserne Eingangstor legte.
Nun legte er den Brief beiseite und beschäftigte sich mit den Tageszeitungen. Die Krise endlich gelöst, las er, und gleich danach Erhöhung der Alkoholsteuer … Ämter- und Beamtenabbau. Polen soll dem letzten Kaiser, Karl I., die Königskrone angeboten haben, hieß es aus Budapest, was man in Polen jedoch rasch zu dementieren versuchte. Dass das Kino im Zirkus Busch im Prater den Verschollenen Habsburger gab, erheiterte Baran da nur mäßig. Zudem berichteten Zeitungen mehr oder weniger ausführlich von einer Hoffnung für Österreich durch einen Riesenkredit aus Amerika.
Die Blätter lagen verstreut auf dem Teppich, und Baran wusste, dass er auch heute wie an den vielen Tagen zuvor keinen Hinweis finden würde.
Er rasierte sich, kleidete sich an, wie immer trug er einen Anzug mit Krawatte und passender Weste, diesmal ein Modell aus Wollkaschmir, und wollte sich bereits auf den Weg ins Sicherheitsbüro machen, als das Telefon läutete. Was ihm mitgeteilt wurde, ließ sein Herz rasen. Man hatte eine Frauenleiche gefunden, sie war im Alter von Szonja.
Wenngleich Baran auch sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Debrecen nie abgeschlossen hatte, so öffnete es ihm doch im Kriminaldienst Tore, die den Nichtjuristen verschlossen blieben, und er erklomm schneller als andere die polizeiliche Karriereleiter. Nun war er Kommissär, ein leitender Beamter mit Führungsaufgaben. Dabei verdankte er einen guten Teil seiner kriminalistischen Fähigkeiten einem ihm unterstellten raubeinigen erfahrenen Beamten, dem er am ersten Tag seines Eintritts in die Polizei zugeteilt worden war, Bezirksinspektor Florian Meisel. Anders als Baran stammte Meisel nicht aus einer adeligen Familie, sondern war der Sohn eines Weinbauern am Rande von Ottakring und hatte viele Jahre auf dem Sittenamt gearbeitet, der Abteilung zur Bekämpfung von Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Mädchenhandel.
Baran hätte keinen besseren Lehrer finden können, keinen genaueren Beobachter, keinen verlässlicheren Kollegen. So verschieden Meisel und Baran auch waren, so einte sie die Erfahrung eines Krieges, in dem sie an vorderster Front gekämpft hatten. Baran war mit einer lädierten Lunge zurückgekehrt, Meisel mit den Gespenstern der toten Kameraden in seinem Kopf, Geister, die ihn nachts in seinen Träumen aufs Schlachtfeld riefen, wo er einen nie endenden Kampf immer wieder aufs Neue austrug. Er war für seine fünfzig Jahre körperlich in bester Verfassung, was auch daran lag, dass er in seiner Freizeit beim Boxclub Iron trainierte. Mit seiner Vollglatze und dem buschigen Oberlippenbart sah er respekteinflößend aus. Tief in seinem Inneren war er jedoch ein weicher Mensch, verletzlich, vor allem, seit er seine geliebte Frau auf tragische Weise bei einem Zugunglück verloren hatte. Er besaß keinen Ehrgeiz mehr, etwas zu werden, ganz im Gegenteil zu seinem jungen Kollegen Alexander Baran, der ihm zur Seite gestellt worden war, damit Meisel ihn formen sollte, vielleicht auch, um ihm jegliche Flausen auszutreiben, aufgrund seiner Geburt etwas Besseres zu sein. Aber er hatte bald erkannt, dass Barans Schwachstelle nicht das blaue Blut war, das durch seine Adern floss, sondern die Verbissenheit, mit der er seine Schwester suchte. Es war ein schmaler Grat zwischen Hartnäckigkeit und Fanatismus.
Heute Morgen hatte Meisel die Meldung erhalten, dass ein aufgeregter Fischverkäufer am Donaukanal eine nackte Frauenleiche gefunden hatte. Das Sicherheitsbüro lag ganz in der Nähe an der Roßauer Lände. Meisel informierte Baran und machte sich dann mit zwei Kriminalbeamten zu Fuß auf den Weg zum Fischmarkt oberhalb der Stephaniebrücke, die jetzt Salztorbrücke hieß.
Einer der Kriminalbeamten aus der Mordgruppe, den Meisel mitgenommen hatte, war ein alter Hase, der andere jedoch, der ein paar Schritte hinter Meisel herlief, blutjung und unerfahren. Es war sein erster Mord, und er wirkte dementsprechend blass im Gesicht.
Meisel beschleunigte seine Schritte. Der penetrante Fischgeruch stieg ihm in die Nase, als er die Verkaufshallen betrat. Während er sie, dicht gefolgt von seinen Begleitern, langsam durchschritt, hörte er mit einem Ohr dem einen oder anderen Verkaufsgespräch zu und vernahm die sich vielfach wiederholenden Floskeln.
»Maränen aus dem Salzkammergut, hat mein eigener Schwager gefangen«, hörte er einen dickleibigen Verkäufer sagen. Das angesprochene, schon etwas in die Jahre gekommene mollige Dienstmädchen mit ihrem viel zu dünnen Überzieher reagierte darauf eher wenig begeistert, was den Fischhändler nur noch mehr anzustacheln schien: »Wollt sie eigentlich für mich selbst zurücklegen, aber jetzt, wo Sie da sind, gnädiges Fräulein, will ich Ihnen gern die Freude machen. Schauen Sie, wie prächtig gewachsen die sind. Wird Ihrer Herrschaft gefallen. Tausendachthundert Kronen. Weil Sie es sind, sonst tät’ ich mindestens zweitausend verlangen. Aber …«
Am nächsten Stand erblickte Meisel den Mann, den er suchte, kreidebleich, obwohl er nicht gerade zart besaitet aussah mit seinen hundertzwanzig Kilo auf den Rippen.
»Endlich, Herr Inspektor.«
Leopold Brandstetter wollte schon die Hand ausstrecken, wischte sie dann aber an seiner Verkaufsschürze ab. Es war Blut an ihr. Er führte die Kriminalbeamten durch seinen Laden ins Freie zum Treppenkai, an dem eine Reihe großer Fischbehälter befestigt war. Ein Absperrband grenzte den Bereich ein, mehrere Uniformierte achteten darauf, dass keine Passanten zu neugierig wurden oder Spuren verwischten. Auf den Treppen lag der nackte Leichnam einer jungen Frau. Der Polizeifotograf schoss aus allen Richtungen Bilder von der Leiche und überließ dann das Feld einem älteren Herrn mit peinlich genau gestutztem Vollbart und in einem modischen Anzug mit Fischgrätmuster. Der Mann drehte sich zu ihm um.
»Herr Inspektor …?« Seine Stimme klang angenehm tief.
»Bezirksinspektor Florian Meisel, und das sind die Kollegen Hintner und Prokop«, antwortete Meisel.
»Habe die Ehre. Mein Name ist Bernstein, Dr. Alfred Bernstein, Gerichtsmediziner. Sie werden sich fragen, warum ich so rasch zur Stelle bin. Ich habe heute meinen freien Tag und wollte eigentlich meiner Frau einen Karpfen besorgen, aber der Herr Brandstetter hier hat mich erkannt und dachte, ich könnte vielleicht helfen. Aber in dem Fall war nichts mehr zu machen.«
Brandstetter zuckte nervös mit der Schulter.
»Na ja, ich wusste nicht … Also mein Sohn, der Martin, und ich haben …«
»So habt ihr die Leiche gefunden?«, unterbrach Meisel ungeduldig den Fischverkäufer.
»Aber nein, dort.« Brandstetter deutete auf einen der nicht abgedeckten Fischbehälter.
»Kopfüber ist sie da dringehangen. Was glauben Sie, wie wir blöd g’schaut haben. Wir haben ja ’glaubt, die Nackerte lebt noch, ist vielleicht besoffen und reihert auf die Fische. Und dann der Schock, wie wir g’sehn haben, dass … also das Gesicht …«
Meisel war natürlich nicht entgangen, dass der Kopf der ansonst ansehnlichen Frau kaum noch erkennbare Gesichtszüge aufwies.
Meisels junger Kollege verscheuchte zwei Arbeiter, die ihre Pause rauchend hinter der Markthalle verbringen wollten, während der ältere, Prokop, Brandstetter zur Seite nahm und ihm Fragen stellte.
»Also ein Unfall war das nicht«, bemerkte Bernstein trocken. Nun kniete sich auch Meisel neben die Leiche. Die Frau war höchstens fünfundzwanzig, mittelgroß und äußerst schlank. An sich nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten, wo viele von der Hand in den Mund lebten. Aber die für eine Frau stark ausgebildeten Muskeln deuteten nicht auf eine Mangelernährung hin, sondern vielmehr auf die eiserne Disziplin einer Turnerin oder Tänzerin. Ihre Beine waren rasiert, auch die Achseln, ihre Brüste klein und straff, die Fingernägel kurz geschnitten. Ihr Gesicht war tatsächlich kaum noch zu erkennen. Es musste mit vehementer Wucht auf sie eingeschlagen worden sein.
»Wer ist sie?«
Meisel erhob sich. Neben ihm stand Baran, den Hut in der einen Hand, sein Mund eine schmale Linie.
Meisel trat einen Schritt zur Seite. Baran kniete sich hin, sah starr in das Gesicht der Toten, ehe sein Blick Zentimeter für Zentimeter weiter bis zu ihren Zehen wanderte. Dann stand er auf, und Erleichterung war aus seiner Stimme herauszuhören, als er zu Meisel sagte: »Das ist nicht Szonja.« Er betrachtete wieder die Frauenleiche und fügte hinzu: »Szonja ist weiblicher, ich meine, sie hat mehr … Was ist passiert?«
Meisel verstand, was Baran meinte, und war erleichtert, dass es sich bei der Toten nicht um die Schwester des Kollegen handelte, obwohl er manchmal insgeheim hoffte, dass sie wenigstens als Leiche auftauchte. Es war schwer, von einem toten Menschen Abschied zu nehmen, aber noch viel schwerer war diese Ungewissheit, die Baran wie eine tonnenschwere Last mit sich herumschleppte.
Er stellte Baran den Arzt vor, und Bernstein kam gleich zur Sache.
»Ich kann hier nur Vermutungen anstellen und nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob das hier der Ort ist, wo man sie getötet hat. Aber ich denke eher nicht. Es gibt kaum Blutspuren am Kai oder auf den Holzplanken. Der Täter hätte sie zwar leicht entfernen können, an Wasser fehlt es ja nicht, aber wozu hätte er das tun sollen, wenn er sich nicht die Mühe machte, die Leiche verschwinden zu lassen? Aufgrund der Ausbildung der Totenflecken ist sie irgendwann um die Mitternacht gestorben. Stumpfe Gewalteinwirkung. Ich würde etwas wie eine Eisenstange vermuten. Kein Hammer. Ich nehme an, Sie werden die Gegend hier absuchen. Vielleicht ist die Tatwaffe ja noch irgendwo zu finden. Möglicherweise hat der Täter sie in den Donaukanal geworfen. Ich kann jedenfalls nichts mehr tun. Schade. Ein hübsches Mädchen, zweifellos.«
Baran, der sich nun über die Tote beugte, konnte die Beobachtungen des Arztes nur bekräftigen.
»Eigenartig, dass sie der Mörder nicht in den Behälter geworfen hat. Oder noch besser gleich in den Donaukanal. Ganz eigenartig«, sagte er und zeigte auf das Gesicht der Toten. »Stumpfe Gewalteinwirkung, wie Sie schon sagten, aber kein spontaner Wutausbruch, zu kontrolliert. Es braucht nicht nur Kontrolle, sondern auch Übung, so zuzuschlagen, dass man den Mund nicht verletzt. Bei aller Kraftanstrengung und Intensität der Schläge sind sie präzise ausgeführt worden, peinlich darum bemüht, die stark rot geschminkten Lippen nicht zu verletzen. Das war berechnende Gewalt. Erschreckend. Was will uns der Täter sagen?«
Bernstein nickte. »Warum er das getan hat, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall hat er Ihnen einen Hinweis hinterlassen. Und diese makellosen Zähne. Findet man heute kaum. Sie hat auf sich geachtet. Kein Mädchen aus der Gosse. Das sollte die Suche einschränken.«
»Disziplin und Härte, bewundernswert«, meinte Baran und deutete auf die Füße der Toten. »Die Schwellungen, die geschundenen Zehen, die schwarzen Nägel. Typisch für eine Balletttänzerin.«
Meisel kratzte sich an seiner Glatze, was er immer tat, wenn ihn eine Sache unangenehm berührte oder sie ihn vor ein Rätsel stellte. »Tänzerin?«
»Tänzerin«, wiederholte Baran. »Was fällt Ihnen dazu ein, Meisel?«
»Hm, das Ronacher vielleicht, oder das Moulin Rouge, das nennt sich doch jetzt auch Tanzpalast?«
»Die Oper«, sagte Bernstein. »Warum nicht die Oper?«
Baran stimmte ihm zu.
»Die Oper, Herr Kommissär«, sagte Meisel, »die Oper ist ein Parkett, wo Sie sich tausendmal besser zurechtfinden als ich. Ich kümmere mich inzwischen um die Zeugenbefragungen und die Untersuchungen vor Ort.«
Inzwischen würde Baran versuchen herauszufinden, zu wessen Tod er in den nächsten Tagen Nachforschungen anstellen musste.
Nachdem er seinen Mantel abgeklopft und seine Hände gründlich gereinigt hatte, machte sich Baran auf den Weg zu seinem roten Austro-Daimler, der gleich oberhalb des Fischmarktes beim Palais Wickenburg parkte. Es war nicht weit zur Oper, aber der Wagen gab wieder einmal ein beunruhigendes Stottern von sich, was Baran veranlasste, langsam zu fahren. Er kannte sich gut mit Pferden aus, mit denen er aufgewachsen war, aber das Automobil, das angeblich gleich siebenundzwanzig Pferdestärken hatte, blieb für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Dennoch schaffte er es bis zum Café Heinrichhof gleich gegenüber der Oper.
An der Straßenbahnhaltestelle vor dem Café scharten sich Schaulustige, die nur mit Mühe von uniformierten Polizisten auf Distanz gehalten werden konnten. Baran zwängte sich zwischen den wild durcheinanderredenden Leuten hindurch. Er erkannte den Rayonsinspektor Novotny, der alle Hände voll zu tun hatte, die Leute fernzuhalten.
»Novotny. Das ist wohl heute Ihr …«
»… mein Glückstag, ja«, erwiderte der sichtlich genervte Polizist. »Der Mann wurde von der Straßenbahn überfahren. Der Arzt hat nichts mehr machen können.«
Zum zweiten Mal am heutigen Vormittag kniete sich Baran neben eine Leiche, und dennoch konnten die Gefühle unterschiedlicher nicht sein. Beim ersten Anblick der jungen Frau hatte er an nichts anderes denken können als an die quälende Frage, ob da seine Schwester vor ihm lag. Gott sei Dank hatte sich das nicht bewahrheitet, und er hatte sich dabei ertappt, wie er das furchtbare Schicksal der jungen Frau mit abgebrühter Professionalität in eine Schublade seines Gehirns verstaute, wo es möglichst wenig Schaden an seiner Seele anrichten konnte. Doch als er nun den verrenkten Körper des älteren Herrn vor sich sah, wurde Baran traurig. Er kannte den Mann, der ein Stammgast im Café Heinrichhof war und stets freundlich grüßte. Ein paar Mal hatten sie miteinander geplaudert, über die Monarchie geredet. Veith war in der Hofburg beschäftigt gewesen. Seine Erzählungen kreisten aber nicht um den Kaiser oder die Kaiserin, sondern um betrügerische Chefköche und eine Mäuseplage, die angeblich furchtbare Ausmaße angenommen hatte.
»Der Herr Veith, óIstenem. Wie ist das passiert?«, fragte Baran den Polizisten.
»Wie es aussieht, ein Unfall«, antwortete dieser. Er deutete auf einen Mann mit Melone, der geduldig das Pferd seines Einspänners beruhigte.
»Der Fiaker da behauptet allerdings, dass er gestoßen worden ist, der alte Herr.«
Immer noch versammelten sich Schaulustige um den Toten. Baran versuchte, eine grimmige Miene aufzusetzen, und wiederholte in strengem Ton ein paar Mal, dass es hier nichts zu sehen gäbe, was jedoch nichts nutzte.
»Die Kollegen kommen schon«, sagte Novotny mit einem Fingerzeig auf zwei Uniformierte, die sich durch die Menge drängten und endlich für Ruhe sorgten.
»Novotny, kümmern Sie sich darum, dass die Leiche fotografiert und untersucht wird«, gab Baran Anweisung. »Und ich will alle persönlichen Sachen von Veith auf meinem Tisch haben. Verstehen Sie, nicht einfach ins Sicherheitsbüro bringen.«
Abrupt wandte Baran sich ab, ohne auf Novotnys Reaktion zu warten, und ging zu dem Fiaker. Seine ersten Worte galten dem Schimmelwallach. Dass er mit Pferden nur Ungarisch sprach, schien das Tier nicht zu stören. Dann zeigte er den Dienstausweis vor.
»Sie kennen sich mit Pferden aus, Herr Kommissär«, bemerkte der Fiaker anerkennend. Der Backenbart ließ ihn älter aussehen, aber Baran schätzte ihn auf nicht mal dreißig.
»Ich bin mit Pferden aufgewachsen«, antwortete er.
»Ich auch. Mein Vater war schon Fiaker, wir haben das irgendwie im Blut. Ich heiße übrigens Karl Steinwender.« Sein Händedruck war so fest wie sein Blick klar.
»Ich habe den alten Herrn auch öfter gefahren. Das war ein feiner Mann, immer freundlich und großzügig. Wissen Sie, mein Vater war eine Zeit lang der Leibfiaker für den Fürsten Liechtenstein, den Obersthofmeister. Veith hat viel von ihm erzählt. Er sagte, er wäre ihm unterstellt gewesen, aber Näheres weiß ich nicht.«
Baran zückte sein Diensttaschenbuch, das jeder Kriminalbeamte mit sich zu führen hatte, und machte sich Notizen. Dann fragte er: »Sie haben dem Kollegen gesagt, Herr Veith sei gestoßen worden?«
Das Pferd wieherte unruhig. Es reagierte auf die Spannung in Barans Stimme.
Steinwender tätschelte sanft seinen Hals.
»Alles in Ordnung, Victor. Na ja, beschwören kann ich es nicht, aber da war ein Mann, sehr stattlich. Ich glaube, er hat ihm einen Stoß gegeben. Es hat auf jeden Fall so ausgesehen. Dann habe ich ihn aus den Augen verloren, weil der Victor das Quietschen der Straßenbahnen nicht mag und störrisch wird.«
»Einen Stoß? Könnte das nicht auch unabsichtlich passiert sein?«
»Ganz sicher bin ich mir nicht«, antwortete der Fiaker. »Aber es war schon fest. Ich glaube, der Mann hat das mit Absicht getan.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«, fragte Baran.
»Wiedererkennen? Natürlich. Ich war ja direkt neben ihm. Sein Mantel war aufgeknüpft, drum hab ich seinen eleganten Nadelstreifenanzug gesehen. Der war eindeutig was Besseres, Sie wissen schon, Herr Kommissär. Und dazu diese Augen. Die vergesse ich nie mehr. Eisblau und stechend. Die haben mich kurz angeschaut, als würden sie mich fressen wollen. Er hat kurz mit einem der Passanten, der Herrn Veith helfen wollte, ein paar Worte gewechselt. Veith hat sogar die Hand von dem Helfer gehalten und ihm noch was gesagt. Aber ich konnte natürlich nicht verstehen, was. Gleich darauf ist der Mann mit den blauen Augen verschwunden. So als hätte ihn die Erde verschluckt. Unheimlich, sage ich Ihnen, Herr Kommissär, absolut unheimlich.«
Baran notierte sich wieder etwas.
»Den Mann, der helfen wollte, kannten Sie auch nicht, nehme ich an?«
»Nein. Aber er schien sehr vertraut mit Veith.«
Baran wies den Fiaker nachdrücklich an, unbedingt eine Aussage im Sicherheitsbüro zu machen und dabei seinen Namen zu nennen und eine Zeichnung anfertigen zu lassen, von dem Blauäugigen und natürlich auch von dem Mann, mit dem Veith geredet hatte. Steinwender versprach es und setzte sich auf den Kutschbock.
»Wo wohnte eigentlich der Herr Veith?«, fragte Baran.
»In der Singerstraße 18. Ich habe ihn öfter dort abgesetzt. Soll ich Sie hinfahren, Herr Kommissär?«
Baran lächelte und sprang in den Fiaker.