Die Tugend des Egoismus - Ayn Rand - E-Book

Die Tugend des Egoismus E-Book

Ayn Rand

0,0

Beschreibung

AYN RAND führt hier die moralischen Prinzipien des Objektivismus aus, der Philosophie, die das Leben des Menschen - das für ein rationales Wesen geeignete Leben - als Maßstab moralischer Werte ansieht und besagt, dass Altruismus unvereinbar mit der menschlichen Natur, den schöpferischen Anforderungen seines Überlebens und einer freien Gesellschaft ist. Ayn Rand ist die Autorin von "Der Streik", dem provokantesten philosophischen Bestseller seiner Zeit. Ihr erster Roman "We the Living" erschien 1936. Berühmt wurde sie mit der Veröffentlichung von "Der Ursprung" im Jahre 1943. Ayn Rands einzigartige Philosophie, der Objektivismus, wird weltweit kontrovers diskutiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 267

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ayn Rand

Die Tugend des Egoismus

Die Tugend des Egoismus

„Ethik ist kein mystisches Hirngespinst und keine gesellschaftliche Konvention – und ebenso wenig ist sie ein entbehrlicher, subjektiver Luxus… Ethik ist eine objektive Notwendigkeit des menschlichen Überlebens – nicht aufgrund des Übernatürlichen, Ihrer Nachbarn oder Ihrer Launen, sondern aufgrund der Realität und der Natur Ihres Lebens.“

„Die objektivistische Ethik vertritt stolz den rationalen Egoismus – was bedeutet: Die Werte, die für das menschliche Überleben als Mensch erforderlich sind – nicht die Werte, die von den Sehnsüchten, Gefühlen, Wünschen oder Bedürfnissen irrationaler Wilder produziert werden, die nie über die urzeitliche Praxis von Menschenopfern hinausgewachsen sind.“

Seit ihrer ersten Veröffentlichung haben Ayn Rands Werke einen gewaltigen Einfluss auf die intellektuelle Szene gehabt. Ihre neue Ethik – die Ethik des rationalen Eigennutzes – bekämpft die altruistisch-kollektivistischen Trends unserer Zeit. Ihre als Objektivismus bekannte einzigartige Philosophie ist das Oberthema ihrer berühmten Romane.

Ayn Rand

Die Tugenddes Egoismus

Eine neue Sichtauf den Eigennutz

Mit weiteren Beiträgenvon Nathaniel Branden

Aus dem amerikanischen Englischvon Philipp Dammer

Titel der Originalausgabe:

THE VIRTUE OF SELFISHNESSA New Concept of Egoism

Die Veröffentlichung erfolgte mit Genehmigung derPeikoff Family Partnership, LPc/o CURTIS BROWN Ltd., 10 Astor Place, New York, NY 10003 USA

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Durchgesehene E-Book-Auflage© TvR Medienverlag, Jena 2016www.TvRMedienverlag.de© der Originalausgabe: Ayn Rand 1964Endredaktion: Dr. Holger J. Thuss, David Reuss

All rights reserved.

E-Book ISBN 978-3-940431-59-2

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhalt

Einleitung

  1.  Die objektivistische Ethik

  2.  Mystizismus und Selbstopferung machen krank

  3.  Die Ethik der Notfälle

  4.  Die „Interessenkonflikte“

  5.  Ist nicht jeder egoistisch?

  6.  Die Psychologie der Freude

  7.  Erfordert das Leben nicht Kompromisse?

  8.  Wie führt man ein rationales Leben in einer irrationalen Gesellschaft?

  9.  Der Kult der moralischen Grauzone

10.  Kollektivistische Ethik

11.  Die Denkmalsetzer

12.  Die Menschenrechte

13.  Kollektive „Rechte“

14.  Das Wesen der Regierung

15.  Staatsfinanzierung in einer freien Gesellschaft

16.  Das göttliche Recht auf Stagnation

17.  Rassismus

18.  Falscher Individualismus

19.  Das Argument der Einschüchterung

Register

Einleitung

Der Titel diese Buches könnte die Art von Frage provozieren, die ich gelegentlich höre: „Warum benutzen Sie das Wort ‚Egoismus‘ für tugendhafte Charaktereigenschaften, wenn dieses Wort so viele Menschen in Aufruhr versetzt, für die es nicht dasselbe bedeutet wie für Sie?“

Darauf möchte ich antworten: „Aus dem Grund, aus dem Sie davor Angst haben.“

Doch es gibt andere, die diese Frage nicht stellen und die die darin enthaltene moralische Feigheit wahrnehmen, aber nicht in der Lage sind, meinen eigentlichen Grund zu formulieren oder die darin enthaltene moralische Bedeutung zu identifizieren. Jenen möchte ich hier eine ausführliche Antwort geben.

Meine Verwendung des Begriffs „Egoismus“ ist weder eine rein semantische Angelegenheit noch eine willkürliche Entscheidung. Die Bedeutung, die dem Wort „Egoismus“ im Allgemeinen zugeschrieben wird, ist nicht bloß falsch – sie repräsentiert ein verheerendes intellektuelles „Paketangebot“, das mehr als irgendein anderer Faktor für die fatale moralische Entwicklung der Menschheit verantwortlich ist.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das Wort „Egoismus“ ein Synonym für das Böse; es beschwört das Bild eines blutrünstigen Unmenschen herauf, der über Leichen geht um sein Ziel zu erreichen – eines Untiers, das sich um kein Lebewesen schert und nur die Befriedigung der eigenen hirnlosen momentanen Launen im Sinn hat.

Doch die exakte Bedeutung und Definition des Wortes „Egoismus“ lautet: „Beschäftigung mit den eigenen Interessen“.

Dieser Begriff enthält keine moralische Wertung; er sagt uns weder, ob die Beschäftigung mit den eigenen Interessen gut oder böse ist; noch sagt er uns, woraus die tatsächlichen Interessen des Menschen bestehen. Es ist die Aufgabe der Ethik, solche Fragen zu beantworten.

Die Ethik des Altruismus liefert als Antwort das Bild des Untiers, um zwei unmenschliche Lehrsätze zu akzeptieren: (a) Dass jedwede Beschäftigung mit den eigenen Interessen böse ist, unabhängig davon, wie diese Interessen aussehen mögen und (b) dass die Handlungen des Untiers tatsächlich in seinem Interesse liegen (auf das man zugunsten seines Nächsten verzichten soll).

Für einen Einblick in die Natur des Altruismus, seine Konsequenzen und die Enormität der moralischen Verkommenheit, die er darstellt, verweise ich auf mein Buch „Der Streik“ – oder auf eine beliebige Schlagzeile einer aktuellen Zeitung. Was uns hier beschäftigt, ist das Versagen des Altruismus im Bereich ethischer Theorie.

Es gibt zwei Fragen, die der Altruismus als „Paketangebot“ in einen Topf wirft: 1. Was sind Werte? 2. Wer soll der Nutznießer von Werten sein? Der Altruismus ersetzt die erste Frage durch die zweite; er weicht der Aufgabe aus, einen Kodex moralischer Werte zu definieren und gibt einem daher keine moralische Richtlinie.

Der Altruismus erklärt, dass jede Handlung, die anderen nutzt, gut ist, und jede Handlung, die einem selbst nutzt, böse ist. Daher ist der Nutznießer einer Handlung das einzige Kriterium für moralischen Wert – und solange wie der Nutznießer jemand anderes als man selbst ist, ist alles erlaubt.

Daher die entsetzliche Amoralität, die chronische Ungerechtigkeit, die groteske Doppelmoral, die unlösbaren Konflikte und Widersprüche, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen und menschlichen Gesellschaften unter allen Varianten der altruistischen Ethik quer durch die Geschichte charakterisieren.

Beachten Sie die Unanständigkeit dessen, was heute als Moralurteil durchgeht. Ein Industrieller, der ein Vermögen produziert, und ein Krimineller, der eine Bank ausraubt, werden für gleichermaßen unmoralisch gehalten, da beide Wohlstand zum eigenen „egoistischen“ Nutzen wollen. Ein junger Mann, der seine Karriere aufgibt, um seine Eltern zu unterstützen und nie über den Rang eines Kassierers hinauskommt, wird gegenüber einem jungen Mann, der immense Anstrengungen auf sich nimmt und sein persönliches Ziel erreicht, als moralisch überlegen angesehen. Ein Diktator wird als moralisch angesehen, da die unaussprechlichen Gräueltaten, die er begeht, nicht ihm selbst zugutekommen sollten, sondern „dem Volk“.

Beachten Sie, was dieses moralische Nutznießer-Kriterium einem Menschen antut. Als Erstes lernt er, dass Moral sein Feind ist und er durch sie nichts zu gewinnen hat. Er kann nur verlieren. Selbstverursachter Verlust, selbstverursachter Schmerz und das graue, lähmende Leichentuch einer unbegreiflichen Pflicht sind alles, was er erwarten kann. Er mag hoffen, dass andere sich selbst gelegentlich zu seinen Gunsten opfern, so wie er sich zähneknirschend für sie opfert. Doch er weiß, dass diese Beziehung gegenseitige Verachtung und nicht Freude bringen wird und dass ihr Streben nach Werten moralisch gesehen einem Austausch von ungewollten Weihnachtsgeschenken gleicht, die keiner von beiden sich selber kaufen darf. Nur wenn er eine selbstopfernde Tat begeht, hat er eine moralische Bedeutung; ansonsten hat die Moral ihm als Richtlinie für die wichtigen Bereiche seines Lebens nichts zu sagen; es ist ja nur sein eigenes, persönliches, privates, „egoistisches“ Leben und als solches wird es als böse oder bestenfalls als amoralisch angesehen.

Da die Natur dem Menschen das Überleben nicht automatisch schenkt, da der Mensch sein Leben durch eigene Anstrengung erhalten muss, bedeutet diese Lehre, dass die Beschäftigung mit den eigenen Interessen böse ist, dass der Wunsch zu Leben böse ist – dass das Leben an sich böse ist. Keine Lehre kann noch bösartiger sein.

Und doch ist genau dies die Bedeutung des Altruismus, die in solchen Beispielen wie der Gleichsetzung eines Industriellen mit einem Räuber implizit ist. Es gibt einen fundamentalen moralischen Unterschied zwischen einem Mann, der sein Interesse in Produktivität sieht, und einem, der es in Raub sieht. Das Böse eines Räubers liegt nicht in der Tatsache, dass er seine Interessen verfolgt, sondern darin, was er für sein Interesse hält; nicht in der Tatsache, dass er nach seinen Werten strebt, sondern welchen Wert er wählt; nicht in der Tatsache, dass er leben will, sondern in der Tatsache, dass er auf einer unmenschlichen Stufe leben will (siehe 1. „Die objektivistische Ethik“).

Falls es stimmt, dass ich mit „Egoismus“ nicht das meine, was üblicherweise damit gemeint ist, dann ist dies eine der schlimmsten Anklagen gegen den Altruismus: Nämlich dass der Altruismus den Begriff eines selbstbewussten, eigenverantwortlichen Menschen nicht zulässt – eines Menschen, der sein Leben durch seine eigene Anstrengung unterhält und weder sich noch andere opfert. Das Menschenbild des Altruismus kennt nur Opfertiere und deren Profiteure, nur Opfer und Schmarotzer – er lässt die Idee einer wohlwollenden Koexistenz der Menschen nicht zu, und er lässt die Idee von Gerechtigkeit nicht zu.

Falls Sie sich fragen, welche Gründe hinter der hässlichen Mischung aus Zynismus und Schuld stecken, in der die meisten Menschen ihr Leben verbringen, so sind dies die Gründe: Zynismus, weil sie die altruistische Moral weder praktizieren noch akzeptieren – Schuld, weil sie es nicht wagen, sie abzulehnen.

Um gegen ein so vernichtendes Übel anzukämpfen, muss man gegen seine Grundprämisse ankämpfen. Um sowohl den Menschen als auch die Moral zu retten, muss man zuerst den Begriff „Egoismus“ retten.

Der erste Schritt besteht darin, das Recht des Menschen auf eine moralische Existenz durchzusetzen – und das bedeutet: Anzuerkennen, dass er zur Anleitung und Erfüllung seines Lebens einen Moralkodex braucht.

Einen kurzen Umriss über das Wesen und die Stichhaltigkeit einer rationalen Moral finden Sie in meinem folgenden Vortrag „Die objektivistische Ethik“. Die Gründe, warum der Mensch einen Moralkodex braucht, werden Ihnen sagen, dass der Zweck der Moral darin besteht, die genauen Werte und Interessen des Menschen zu definieren, dass Beschäftigung mit den eigenen Interessen der Kern einer moralischen Existenz ist und dass der Mensch der Nutznießer seiner eigenen moralischen Handlungen sein muss.

Da alle Werte des Menschen durch seine eigenen Handlungen erlangt und/oder bewahrt werden müssen, wird es zwangsläufig zu einer Ungerechtigkeit führen, wenn der Handelnde nicht auch der Nutznießer ist: Einige Menschen werden anderen geopfert, nämlich die Handelnden den Nicht-Handelnden, die Moralischen den Unmoralischen. Dies ist durch nichts zu rechtfertigen und niemand hat es je gerechtfertigt.

Die Wahl des Nutznießers moralischer Werte ist lediglich ein vorgreifendes oder einleitendes Thema im Bereich der Moral. Sie ist weder Ersatz für Moral noch ein Wertkriterium, wie es im Altruismus der Fall ist. Auch ist die Wahl des Nutznießers kein moralischer Grundsatz: Sie muss von den fundamentalen Prämissen eines Moralsystems abgeleitet und durch sie belegt werden.

Die objektivistische Ethik besagt, dass der Handelnde immer der Nutznießer seiner Handlung sein muss und dass der Mensch nach seinem rationalen Eigeninteresse handeln muss. Sein Recht darauf wird aber aus seiner menschlichen Natur und aus der Funktion moralischer Werte im menschlichen Leben abgeleitet und ist deswegen nur im Zusammenhang eines rationalen, objektiv bewiesenen und gültigen Kodexes moralischer Prinzipien anwendbar, welche sein wirkliches Eigeninteresse definieren und bestimmen. Es ist keine Lizenz „zu tun, was einem beliebt“ und ist weder anwendbar auf das altruistische Bild eines „egoistischen“ Untiers noch auf einen Menschen, der von irrationalen Gefühlen, Trieben, Wünschen oder Launen motiviert wird.

Dies nur als Warnung an jene „Nietzscheanischen Egoisten“, die in Wirklichkeit ein Produkt der altruistischen Moral sind und die andere Seite der altruistischen Medaille darstellen: Sie glauben, dass jede Handlung gut ist, wenn sie für das eigene Wohl bestimmt ist. So wie die Befriedigung der irrationalen Wünsche anderer kein Kriterium für moralischen Wert ist, so ist es auch die Befriedigung der eigenen irrationalen Wünsche nicht. Moral ist kein Wettbewerb von Launen. (siehe Nathaniel Brandens Artikel „Falscher Individualismus“ (Kapitel 18) und „Ist nicht jeder egoistisch?“ (Kapitel 5)).

Einen ähnlichen Fehler begeht der Mensch, der erklärt: „Da der Mensch von seinem eigenen unabhängigen Urteilsvermögen geleitet werden muss, ist jede Handlung, zu der ich mich entscheide, moralisch, wenn ich mich dazu entscheide“. Das eigene unabhängige Urteilsvermögen ist das Mittel, mit dem man seine Handlungen wählen muss, doch es ist weder ein moralisches Kriterium noch ein moralischer Beweis: Nur Bezugnahme auf ein beweisbares Prinzip kann die eigenen Entscheidungen validieren.

So wie der Mensch nicht durch willkürliche Entscheidungen überleben kann, sondern er die Prinzipien, die sein Überleben möglich machen, entdecken und praktizieren muss, so kann das Eigeninteresse des Menschen nicht von blinden Trieben oder wahllosen Launen bestimmt werden; es muss durch rationale Prinzipien entdeckt und erlangt werden. Darum ist die objektivistische Ethik die Moral des rationalen Eigennutzes – bzw. des rationalen Egoismus.

Da Egoismus „Beschäftigung mit den eigenen Interessen“ ist, benutzt die objektivistische Ethik diesen Begriff in seinem exakten und reinsten Sinn. Diesen Begriff darf man weder zugunsten von Menschenfeinden, noch zugunsten der gedankenlosen Missverständnisse, Verzerrungen, Vorurteile und Ängste von Ignoranten und Irrationalen aufgeben. Der Angriff auf „Egoismus“ ist ein Angriff auf die Selbstachtung des Menschen; eins aufzugeben heißt, das andere aufzugeben.

Nun ein Wort über das Material in diesem Buch. Mit der Ausnahme des Vortrags über Ethik besteht es aus Aufsätzen, die im „Objektivistischen Rundbrief“, einer von Nathaniel Branden und mir selbst verfassten und herausgegebenen Zeitschrift, erschienen sind. Der „Rundbrief“ beschäftigt sich mit der Anwendung der objektivistischen Philosophie auf aktuelle Themen und Probleme der heutigen Kultur – genauer gesagt mit jener intellektuellen Stufe, die zwischen philosophischer Abstraktion und dem Journalistisch-Gegenständlichen des Alltags liegt. Der Zweck des „Rundbriefes“ besteht darin, seine Leser mit einem stimmigen philosophischen Bezugsrahmen zu versorgen.

Diese Sammlung ist keine systematische Abhandlung über Ethik, sondern eine Reihe von Aufsätzen über jene Themen der Ethik, die Klarstellung benötigten oder welche durch den Einfluss des Altruismus am meisten pervertiert wurden. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass die Titel einiger Aufsätze in Form einer Frage gestellt sind. Diese kommen aus unserer „Abteilung für Intellektuelle Munition“, welche von Lesern gestellte Fragen beantwortet.

AYN RAND

New York, September 1964

P.S. Nathaniel Branden steht nicht länger mit mir, meiner Philosophie oder mit The Objectivist (früher: The Objectivist Newsletter) in Verbindung.

New York, November 1970

A. R.

1. Die objektivistische Ethik

Vortrag von Ayn Rand an der University of Wisconsin beim Symposium „Ethik in unserer Zeit“ in Madison, Wisconsin, am 9. Februar 1961

Da ich über die objektivistische Ethik sprechen soll, werde ich zu Anfang ihren besten Vertreter zitieren – John Galt aus „Der Streik“:

„Jahrhunderte der durch euren Moralkodex heraufbeschworenen Notzeiten und Katastrophen hindurch habt ihr gejammert, euer Kodex sei gebrochen worden und die Notzeiten seien die Strafe dafür, dass die Menschen zu schwach und zu eigennützig sind, das erforderliche Blut zu vergießen. Ihr habt den Menschen verflucht, ihr habt das Dasein verflucht, ihr habt diese Erde verflucht, doch nie habt ihr gewagt, euren Kodex in Frage zu stellen… während ihr weiter gejammert habt, dass euer Kodex gut, die menschliche Natur aber nicht gut genug sei, ihn zu befolgen. Und keiner stand auf und fragte: Gut? Gemessen woran?

Ihr wolltet wissen, wer John Galt ist. Ich bin der, der diese Frage gestellt hat.

Ja, dies ist eine Zeit moralischer Krise… Euer Moralkodex hat seinen Höhepunkt erreicht, die Sackgasse, in die er führt. Und wenn ihr weiterleben wollt, dann müsst ihr nicht zurückkehren zur Moral – ihr, die ihr nie eine gekannt habt –, sondern sie entdecken.“1 

Was ist Moral oder Ethik? Ein Wertekodex, der die Handlungen und Entscheidungen des Menschen leiten soll – jene Handlungen und Entscheidungen, die den Zweck und den Lauf seines Lebens bestimmen. Ethik als Wissenschaft befasst sich mit der Entdeckung und der Definition eines solchen Kodexes.

Als Vorbedingung für die Definierung, die Bewertung und die Akzeptanz eines bestimmten ethischen Systems muss man zuerst die Frage stellen: Warum braucht der Mensch einen Wertekodex?

Lassen Sie mich das ausführen. Die erste Frage lautet nicht: Welchen bestimmten Wertekodex soll der Mensch annehmen? Die erste Frage lautet: Braucht der Mensch überhaupt Werte – und warum?

Ist der Begriff von Wert, von „gut oder böse“, eine willkürliche menschliche Erfindung, ohne Bezug auf, ohne Herleitung aus und nicht gestützt auf Tatsachen der Realität – oder basiert er auf einer metaphysischen Tatsache, auf einer unabänderlichen Bedingung des menschlichen Daseins? (Ich benutze das Wort „metaphysisch“ im Sinne von: In Bezug auf die Realität, auf das Wesen der Dinge, auf das Sein.) Verlangt eine willkürliche menschliche Konvention, eine bloße Gewohnheit, dass der Mensch seine Handlungen anhand von Prinzipien leiten muss – oder gibt es eine Tatsache der Realität, die ebendies verlangt? Ist Ethik das Reich von Launen, also von persönlichen Emotionen, gesellschaftlichen Geboten und mystischen Offenbarungen – oder das Reich der Vernunft? Ist Ethik ein subjektiver Luxus – oder eine objektive Notwendigkeit?

In der traurigen Geschichte der menschlichen Ethik haben die Moralphilosophen – mit wenigen und erfolglosen Ausnahmen – Ethik als das Reich von Launen, des Irrationalen, angesehen. Einige taten es ausdrücklich und absichtlich, andere implizit und durch Unterlassung. Eine „Laune“ ist ein Wunsch, dessen Ursache man nicht kennt und um dessen Herkunft man sich nicht schert.

Kein Philosoph hat bisher eine rationale, objektiv beweisbare, wissenschaftliche Antwort auf die Frage gegeben, warum der Mensch einen Wertekodex braucht. Solange diese Frage unbeantwortet blieb, konnte kein rationaler, wissenschaftlicher, objektiver Wertekodex entdeckt oder definiert werden. Der größte aller Philosophen, Aristoteles, hielt Ethik nicht für eine exakte Wissenschaft; er gründete sein ethisches System auf Beobachtungen der edlen und weisen Menschen seiner Zeit, ohne die Frage zu beantworten, warum sie sich so verhielten und warum er sie für edel und weise hielt.

Die meisten Philosophen hielten die Existenz der Ethik für selbstverständlich, für eine gegebene historische Tatsache, und beschäftigten sich nicht mit der Entdeckung ihrer metaphysischen Ursache oder ihrer objektiven Stichhaltigkeit. Viele von ihnen versuchten das traditionelle Monopol des Mystizismus im Bereich der Ethik zu brechen und eine angeblich rationale, wissenschaftliche, nichtreligiöse Moral zu definieren. Doch ihre Versuche bestanden darin, sie aus gesellschaftlichen Gründen zu rechtfertigen und Gott lediglich durch Gesellschaft zu ersetzen.

Die bekennenden Mystiker hielten den willkürlichen, unergründlichen „Willen Gottes“ für den Maßstab des Guten und den Beweis ihrer Ethik. Die Neomystiker ersetzten ihn durch „das Wohl der Gesellschaft“ und endeten daher mit einer Zirkelschlussdefinition wie „der Maßstab des Guten ist das, was gut für die Allgemeinheit ist.“ Dies bedeutet als logische Folge – und heute in weltweiter Praxis – dass „die Gesellschaft“ über allen ethischen Prinzipien steht, da sie die Quelle, der Maßstab und das Kriterium für Moral ist, da „das Gute“ das ist, was sie will und was immer sie als ihr Wohlergehen und Vergnügen ausgibt. Dies würde bedeuten, dass „die Gesellschaft“ tun dürfte, was sie wollte, da „das Gute“ das ist, was immer sie will, weil sie es will. Und da es eine solche Entität wie „Gesellschaft“ nicht gibt, da eine Gesellschaft nur aus einer Anzahl individueller Menschen besteht, würde dies bedeuten, dass einige Menschen (die Mehrheit oder eine Gang, die sich als deren Sprecher ausgibt) ethisch dazu berechtigt wären, irgendwelchen Launen (oder Gräueltaten) nachzugehen, während andere moralisch dazu verpflichtet wären, lebenslang den Wünschen dieser Gang zu dienen.

Dies kann man kaum rational nennen, und doch haben die meisten Philosophen erklärt, dass die Vernunft gescheitert sei, dass Ethik außerhalb der Macht der Vernunft stehe, dass man keine rationale Ethik definieren könne, und dass der Mensch im Bereich der Ethik – in der Wahl seiner Werte, seiner Handlungen, seines Strebens und seiner Lebensziele – von etwas anderem als Vernunft geleitet werden müsse. Wovon? Glaube, Instinkt, Intuition, Offenbarung, Gefühl, Geschmack, Trieb, Wunsch, Laune. Heute wie damals stimmen die meisten Philosophen darin überein, dass der ultimative Maßstab der Ethik die Laune sei (sie nennen es „willkürliches Postulat“ oder „subjektive Entscheidung“ oder „gefühlsmäßige Verpflichtung“) – und es geht nur um wessen Laune? Die eigene oder die der Gesellschaft oder die des Diktators oder die Gottes?“ Worüber auch sonst sie sich uneinig sein mögen, die heutigen Moralphilosophen sind sich einig, dass Ethik ein subjektives Thema ist und dass die drei daraus ausgeschlossenen Sachen Vernunft, Verstand und Realität sind.

Wenn Sie sich wundern, warum die Welt heute immer mehr zur Hölle wird, so ist dies der Grund.

Wenn Sie die Zivilisation retten wollen, dann müssen Sie diese Prämisse der modernen – aber eigentlich urzeitlichen – Ethik bekämpfen.

Um die Grundprämisse einer Disziplin zu bekämpfen, muss man am Anfang beginnen. In der Ethik muss man mit der Frage beginnen: Was sind Werte? Und warum braucht der Mensch Werte?

Ein „Wert“ ist das, was man erlangen und/oder bewahren will. Der Begriff „Wert“ ist kein Grundsatz; er setzt eine Antwort auf die Frage „von Wert für wen und wofür?“ voraus. Er setzt eine Entität voraus, die in der Lage ist, ein Ziel angesichts einer Alternative zu erlangen. Wo es keine Alternative gibt, sind keine Ziele und Werte möglich.

Ich zitiere aus Galts Rede:

„Es gibt nur eine fundamentale Alternative im Universum: Sein oder Nichtsein – und sie gilt nur für eine einzige Art von Entitäten: Für lebende Organismen. Die Existenz von unbelebter Materie ist unbedingt, die Existenz von Leben ist es nicht; es hängt ab von einer bestimmten Handlungsweise. Materie ist unzerstörbar – ihre Form ändert sich, doch sie kann nicht aufhören zu existieren. Nur ein lebendiger Organismus sieht sich einer ständigen Alternative gegenüber: Leben oder Tod. Leben ist ein Prozess selbsterhaltenden und selbsterzeugten Handelns. Wenn ein Organismus dabei versagt, stirbt er; seine chemischen Bestandteile bleiben, doch das Leben hört auf zu existieren. Erst der Begriff ‚Leben‘ macht den Begriff ‚Wert‘ möglich. Nur für ein Lebewesen kann etwas gut oder böse sein.“

Um diesen Punkt völlig klar zu machen, versuchen Sie sich einen unsterblichen, unzerstörbaren Roboter vorzustellen, eine Entität, die sich bewegt und handelt, aber durch nichts beeinflusst wird, durch nichts verändert, nicht beschädigt, verletzt oder zerstört werden kann. Solch eine Entität könnte keine Werte haben; sie hätte nichts zu gewinnen oder zu verlieren; sie könnte nichts als für sich oder gegen sich ansehen, um ihr Wohlergehen zu fördern oder zu bedrohen, um ihre Interessen zu erfüllen oder zu verfehlen. Sie könnte keine Interessen oder Ziele haben.

Nur eine lebende Entität kann Ziele haben oder sie hervorbringen. Und nur ein lebender Organismus hat die Fähigkeit zu selbsterzeugter, zielgerichteter Handlung. Auf der physischen Stufe werden die Funktionen aller lebenden Organismen, von der simpelsten bis zur komplexesten – von der Energieversorgung in der einzelnen Zelle einer Amöbe bis zur Blutzirkulation im Körper des Menschen – vom Organismus selbst erzeugt und richten sich auf ein einziges Ziel: Die Aufrechterhaltung des eigenen Lebens.2 

Das Leben eines Organismus hängt von zwei Faktoren ab: Dem Material oder Brennstoff, den es von außen, aus seiner körperlichen Umgebung benötigt, und von der Handlung seines eigenen Körpers, diesen Brennstoff richtig zu nutzen. Welcher Maßstab bestimmt, was in diesem Zusammenhang richtig ist? Der Maßstab ist das Leben des Organismus oder: Das, was der Organismus zum Überleben braucht.

In diesem Bereich gibt es für einen Organismus keine Wahlmöglichkeit: Das, was der Organismus zum Überleben braucht, wird definiert durch seine Natur, durch die Art von Entität, die er ist. Viele Variationen, viele Formen der Anpassung an seine Umgebung sind einem Organismus möglich, einschließlich der Möglichkeit, für eine Weile in einem verkrüppelten, behinderten oder kranken Zustand zu existieren. Doch die grundsätzliche Alternative seiner Existenz bleibt dieselbe: Wenn ein Organismus in den von seiner Natur geforderten Grundfunktionen scheitert – wenn das Protoplasma einer Amöbe aufhört, Nahrung zu assimilieren oder das Herz eines Menschen aufhört zu schlagen – stirbt der Organismus. In einem fundamentalen Sinn ist Stillstand die Antithese des Lebens. Leben kann nur durch einen fortwährenden Prozess selbsterhaltender Handlung existieren. Das Ziel dieser Handlung, der ultimative Wert, der, um bewahrt zu werden, in jedem Moment erlangt werden muss, ist das Leben des Organismus.

Ein ultimativer Wert ist jenes endgültige Ziel oder jener endgültige Zweck, zu welchem alle anderen Ziele die Mittel sind – und er bestimmt den Maßstab, nach dem alle untergeordneten Ziele bewertet werden. Das Leben eines Organismus ist sein Wertmaßstab: Was sein Leben fördert, ist das Gute, was es bedroht, ist das Böse.

Ohne ultimatives Ziel oder ultimativen Zweck kann es keine untergeordneten Ziele oder Zwecke geben: Eine Abfolge von Mitteln, die in unendlicher Folge einem nichtexistenten Zweck entgegenstreben, ist eine metaphysische und erkenntnistheoretische Unmöglichkeit. Nur ein ultimatives Ziel, ein Selbstzweck, macht die Existenz von Werten möglich. Metaphysisch gesehen ist Leben das einzige Phänomen, das ein Selbstzweck ist: Ein durch ein konstantes Vorgehen erlangter und bewahrter Wert. Erkenntnistheoretisch gesehen ist der Begriff „Wert“ abhängig und abgeleitet vom vorhergehenden Begriff „Leben“. „Werte“ und „Leben“ unabhängig voneinander zu diskutieren, ist schlimmer als ein Widerspruch in sich. „Erst der Begriff ‚Leben‘ macht den Begriff ‚Wert‘ möglich.“

Den Philosophen, die behaupten, dass zwischen ultimativen Werten oder Zwecken und den Tatsachen der Realität keine Beziehung hergestellt werden könne, möchte ich antworten, dass die Tatsache, dass lebendige Entitäten existieren und funktionieren, die Existenz von Werten und eines ultimativen Wertes bedingt, welcher für jede lebendige Entität das eigene Leben ist. Auf diese Weise wird die Gültigkeit von Werturteilen durch Bezugnahme auf die Tatsachen der Realität erreicht. Die Tatsache, dass eine lebendige Entität ist, bestimmt, was sie tun sollte. So viel zur Beziehung zwischen dem „Sein“ und dem „Sollen“.

Auf welche Weise entdeckt nun ein Mensch den Begriff „Wert“? Durch welche Mittel wird er sich der Frage „gut oder böse“ in seiner simpelsten Form überhaupt erst bewusst? Mittels der körperlichen Empfindungen von Freude oder Leid. Genau wie Empfindungen der erste Entwicklungsschritt eines menschlichen Bewusstseins im Reich der Erkenntnis sind, so sind sie der erste Schritt im Reich der Bewertung.

Die Fähigkeit, Freude oder Leid zu empfinden, ist dem menschlichen Körper angeboren; sie ist Teil seiner Natur, Teil der Art von Entität, die er ist. Er kann darüber nicht entscheiden und er hat keine Wahl über den Maßstab, der bestimmt, was ihm Freude oder Leid verursacht. Was ist sein Maßstab? Sein Leben.

Der Freude-Leid-Mechanismus im menschlichen Körper – und in den Körpern aller lebenden Organismen, die ein Bewusstsein besitzen – dient als automatischer Wächter des Lebens. Das physische Gefühl der Freude ist ein Signal, das anzeigt, dass der Organismus die richtige Vorgehensweise anwendet. Die physische Empfindung des Leids ist ein Warnsignal, das anzeigt, dass der Organismus die falsche Vorgehensweise anwendet, dass etwas die ordentliche Funktion seines Körpers beeinträchtigt, und es einer Handlung bedarf, um dies zu korrigieren. Das beste Beispiel dafür sind die seltenen außergewöhnlichen Fälle, bei denen Kinder ohne die Fähigkeit geboren werden, physischen Schmerz zu empfinden; solche Kinder überleben nicht lange; sie können nicht erkennen, was ihnen Schaden zufügen kann, und haben keinerlei Warnsignale. Daher kann ein kleiner Schnitt sich zu einer tödlichen Infektion entwickeln, oder eine Krankheit kann unentdeckt bleiben, bis es zu spät ist, sie zu bekämpfen.

Für die lebenden Organismen, die über Bewusstsein verfügen, ist dieses ihre Überlebensgrundlage.

Einfachere Organismen wie Pflanzen können mittels ihrer automatischen körperlichen Funktionen überleben. Die höheren Organismen wie Tiere und Menschen können es nicht: Ihre Bedürfnisse sind komplexer und ihr Aktionsradius ist größer. Automatisch können die physischen Funktionen ihrer Körper nur die Verwertung des Brennstoffs ausführen – sie können diesen Brennstoff aber nicht erlangen. Um ihn zu erlangen, brauchen die höheren Organismen die Fähigkeit des Bewusstseins. Eine Pflanze kann ihre Nahrung aus der Erde ziehen, in der sie wächst. Ein Tier muss sie jagen. Der Mensch muss sie produzieren.

Eine Pflanze hat keine Handlungsfreiheit; die von ihr verfolgten Ziele sind automatisch und angeboren und durch ihre Natur bestimmt. Nahrung, Wasser und Sonnenlicht sind die Werte, die zu suchen sie die Natur anhält. Ihr Leben ist der Wertmaßstab, der ihre Handlungen bestimmt. Es gibt Alternativen in den Bedingungen, die sie in ihrer Umwelt antrifft – wie Hitze oder Kälte, Dürre oder Überschwemmung – und es gibt bestimmte Handlungen, die sie ausüben kann, um widrigen Bedingungen zu trotzen, etwa die Fähigkeit einiger Pflanzen, unter einem Stein hervorzuwachsen und zu kriechen, um das Sonnenlicht zu erreichen. Doch wie auch immer die Bedingungen aussehen mögen, es gibt keine Alternative in den Funktionen einer Pflanze: Sie handelt automatisch, um ihr Leben zu fördern. Sie kann nicht als ihr eigener Zerstörer handeln.

Der Aktionsradius, den die höheren Organismen zum Überleben brauchen, ist größer: Er ist proportional zur Spanne ihres Bewusstseins. Die niederen der bewussten Arten besitzen nur die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung, welche ausreicht, um ihre Handlungen zu leiten und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Sinneswahrnehmung wird produziert durch die automatische Reaktion eines Sinnesorgans auf einen Reiz aus der Außenwelt; sie hält nur solange an, wie der Reiz dauert und nicht länger. Sinneswahrnehmungen sind eine automatische Reaktion, eine automatische Form des Wissens, die ein Bewusstsein nicht suchen und der es nicht ausweichen kann. Ein Organismus, der nur die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung besitzt, wird geleitet durch den Freude-Leid-Mechanismus seines Körpers, d.h. durch automatisches Wissen und einen automatischen Wertekanon. Sein Leben ist der Wertmaßstab, der seine Handlungen bestimmt. Innerhalb seines Aktionsradius handelt er automatisch um sein Leben zu fördern und kann nicht als sein eigener Zerstörer handeln.

Die höheren Organismen besitzen eine leistungsfähigere Form des Bewusstseins: Sie besitzen die Fähigkeit, Sinnesdaten abzuspeichern, ein Wahrnehmungsvermögen. Eine „Wahrnehmung“ ist eine Gruppe von Sinnesdaten, die automatisch gespeichert und im Gehirn eines lebenden Organismus integriert wird, was ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur bestimmten Reizen, sondern Entitäten, Dingen, gewahr zu werden. Ein Tier wird nicht nur geleitet von direkten Sinneseindrücken, sondern von Wahrnehmungen. Seine Handlungen sind nicht einzelne, direkte Antworten auf einzelne, separate Reize, sondern werden geleitet von einem integrierten Erkennen der wahrnehmbaren Realität, die es konfrontiert. Es kann die unmittelbar anwesenden wahrnehmbaren Gegenstände begreifen und automatische Wahrnehmungsverknüpfungen bilden – doch kann es nicht darüber hinausgehen. Es kann bestimmte Fähigkeiten für spezifische Situationen lernen, etwa zu jagen oder sich zu verstecken, was die Eltern höherer Tiere ihren Jungen beibringen. Doch ein Tier hat keine Wahl in Bezug auf das Wissen und die Fähigkeiten, die es erwirbt; es kann sie nur Generation für Generation wiederholen. Außerdem hat ein Tier keine Wahl in Bezug auf den Wertmaßstab, der seine Handlungen leitet: Seine Sinne stellen ihm einen automatischen Wertekanon zur Verfügung, ein automatisches Wissen darüber, was gut oder böse ist, was seinem Leben nützt oder es gefährdet. Ein Tier hat nicht die Fähigkeit, sein Wissen zu erweitern oder ihm auszuweichen. In Situationen, in denen sein Wissen unzureichend ist, stirbt es – wie z.B. ein Tier, das wie gelähmt vor einem herannahenden Zug auf den Schienen stehen bleibt. Doch solange es lebt, handelt ein Tier nach seinem Wissen, mit automatischer Gewissheit und ohne Entscheidungsfreiheit: Es kann sein eigenes Bewusstsein nicht aussetzen, es kann sich nicht entscheiden, nicht wahrzunehmen, es kann seinen Wahrnehmungen nicht ausweichen, es kann sein eigenes Wohl nicht ignorieren, es kann sich nicht entscheiden, das Böse zu wählen und als sein eigener Zerstörer zu handeln.

Der Mensch hat keinen automatischen Überlebenskodex. Er hat keine automatische Handlungsanleitung, keinen automatischen Wertekanon. Seine Sinne sagen ihm nicht automatisch, was gut oder böse für ihn ist, was sein Leben fördert oder es gefährdet, welche Ziele er verfolgen soll und durch welche Mittel sie erreicht werden können, von welchen Werten sein Leben abhängt oder welches Vorgehen es benötigt. Sein eigenes Bewusstsein muss die Antworten auf all diese Fragen entdecken – doch sein Bewusstsein funktioniert nicht automatisch. Der Mensch, die am höchsten entwickelte lebende Spezies auf Erden – das Wesen, dessen Bewusstsein eine grenzenlose Kapazität für den Erwerb von Wissen hat – der Mensch ist die einzige lebende Entität, die ohne Garantie geboren wird, bewusst zu bleiben. Der besondere Unterschied zu allen anderen lebenden Spezies ist die Tatsache, dass sein Bewusstsein willentlich ist.

Genauso wie die automatischen Werte, die die Funktionen einer Pflanze leiten, ausreichend für ihr Überleben sind, jedoch nicht für das eines Tieres, genauso sind die automatischen Werte, die ein sinnlich-wahrnehmender Bewusstseinsmechanismus einem Tier gibt, ausreichend, um ein Tier zu leiten – aber nicht ausreichend, um den Menschen zu leiten. Die Handlungen des Menschen und sein Überleben brauchen die Leitung durch begriffliche Werte, abgeleitet von begrifflichem Wissen. Doch begriffliches Wissen erwirbt man nicht automatisch.

Ein „Begriff“ ist eine geistige Integration von zwei oder mehr wahrgenommenen Gegenständen, welche durch einen Prozess der Abstraktion isoliert und mittels einer spezifischen Definition vereint werden. Jedes Wort der menschlichen Sprache (mit der Ausnahme von Eigennamen) bezeichnet einen Begriff, eine Abstraktion, die für eine unbegrenzte Anzahl von Gegenständen einer spezifischen Art steht. Durch die Organisation seines wahrgenommenen Materials in Begriffe, und dieser Begriffe in weitere und weitere Begriffe ist der Mensch fähig, eine unbegrenzte Menge an Wissen zu begreifen, abzuspeichern, zu identifizieren und zu integrieren – ein Wissen, das über die unmittelbaren Wahrnehmungen eines bestimmten, unmittelbaren Momentes hinausreicht. Die Sinnesorgane des Menschen funktionieren automatisch; das Gehirn des Menschen integriert seine Sinnesdaten automatisch in Wahrnehmungen; doch der Prozess, seine Wahrnehmungen in Begriffe zu integrieren – der Prozess der Abstraktion und der Begriffsbildung – ist nicht automatisch.