Die Übermacht - Stefan Grebe - E-Book
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Die Übermacht E-Book

Stefan Grebe

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Beschreibung

Die Wahrheit über das größte Geheimnis Chinas

Nachdem eine chinesische Spitzenwissenschaftlerin im deutschen Fernsehen vor laufenden Kameras gestorben ist, soll der ehemalige BND-Mitarbeiter Robert Forster herausfinden, warum. Kurze Zeit später bekommt in China die Nichte der Toten, Maria, eine geheimnisvolle Nachricht ihrer Tante zugespielt, die sie vor dem größten Geheimnis von Chinas Regierung warnt. Maria müsse auf einem USB-Stick gespeicherte Informationen unbedingt nach Deutschland bringen. Während Maria versucht, aus China zu flüchten, kommt in Berlin auch Robert langsam hinter die Pläne der Chinesen, die alle Menschen im Westen bedrohen. Nur gemeinsam können er und Maria das Vorhaben noch vereiteln - doch dafür müssen sie lang genug überleben ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungMontag, 1. Juni, 16:04, TV-Redaktion, BerlinMontag, 1. Juni, 21:34, Keller, BerlinDienstag, 2. Juni, 01:27, Lagerhaus, WuhanDienstag, 2. Juni, 06:24, Bürohochhaus, ShanghaiDienstag, 2. Juni, 08:07, Wohnung, BerlinDienstag, 2. Juni, 08:53, Atelier, WuhanDienstag, 2. Juni, 09:16, Tiefgarage, BerlinDienstag, 2. Juni, 09:57, Altstadt, WuhanDienstag, 2. Juni, 11:34, Krankenhaus, BerlinDienstag, 2. Juni, 11:46, Polizeirevier, WuhanDienstag, 2. Juni, 11:55, Krankenhaus, BerlinDienstag, 2. Juni, 14:12, Keller, BerlinDienstag, 2. Juni, 14:45, Hauptverkehrsstraße, BerlinDienstag, 2. Juni, 15:01, Atelier, WuhanDienstag, 2. Juni, 15:23, Wohngebiet, BerlinDienstag, 2. Juni, 18:57, Café, WuhanDienstag, 2. Juni, 19:46, Bürohochhaus, ShanghaiDienstag, 2. Juni, 19:59, Industriegebiet, WuhanDienstag, 2. Juni, 20:07, Wohnung, BerlinDienstag, 2. Juni, 20:33, Waldgebiet, Provinz HubeiDienstag, 2. Juni, 20:59, Wohnung, BerlinDienstag, 2. Juni, 21:49, Festival, ShanghaiDienstag, 2. Juni, 22:03, Landstraße, Provinz HunanMittwoch, 3. Juni, 15:21, Flughafen, BerlinMittwoch, 3. Juni, 15:31, Flughafen, BerlinMittwoch, 3. Juni, 15:37, Flughafen, BerlinMittwoch, 3. Juni, 16:03, Stadtautobahn, BerlinMittwoch, 3. Juni, 20:39, Parkplatz, ShenzhenMittwoch, 3. Juni, 21:28, Wohngebiet, BerlinMittwoch, 3. Juni, 21:36, Keller, BerlinMittwoch, 3. Juni, 21:41, Keller, ShenzhenMittwoch, 3. Juni, 21:57, Keller, BerlinMittwoch, 3. Juni, 22:11, Keller, BerlinMittwoch, 3. Juni, 22:12, Keller, BerlinMittwoch, 3. Juni, 22:29, Wohngebiet, BerlinMittwoch, 3. Juni, 22:55, Keller, ShenzhenMittwoch, 3. Juni, 23:56, Wohngebiet, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 00:20, Keller, ShenzhenDonnerstag, 4. Juni, 00:27, Stadtautobahn, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 01:12, Busbahnhof, ShenzhenDonnerstag, 4. Juni, 09:38, Wohngebiet, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 10:03, Bürogebäude, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 10:16, Keller, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 10:32, Büro, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 11:10, Lagerhalle, QuanzhouDonnerstag, 4. Juni, 12:36, Wohngebiet, OranienburgDonnerstag, 4. Juni, 12:48, Bürogebäude, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 13:32, Wohngebiet, OranienburgDonnerstag, 4. Juni, 14:28, Hotel, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 20:47, Strand, QuanzhouDonnerstag, 4. Juni, 20:11, Tiefgarage, BerlinDonnerstag, 4. Juni, 20:43, Speedboot, FormosastraßeFreitag, 5. Juni, 09:01, Wohnung, BerlinFreitag, 5. Juni, 10:23, Bürohochhaus, TaipehFreitag, 5. Juni, 10:38, Wohnung, BerlinFreitag, 5. Juni, 12:04, Bürohochhaus, TaipehFreitag, 5. Juni, 14:15, Park, BerlinSamstag, 6. Juni, 05:14, Wohnung, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:02, Bank, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:06, Geschäftsviertel, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:11, Bank, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:24, Geschäftsviertel, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:36, Hauptverkehrsstraße, BerlinSamstag, 6. Juni, 09:57, Park, BerlinSamstag, 6. Juni, 10:23, Wohnung, BerlinSamstag, 6. Juni, 10:43, Taxi, BerlinSamstag, 6. Juni, 11:43, Wohnhaus, BerlinSamstag, 6. Juni, 11:19, Wohngebiet, BerlinSamstag, 6. Juni, 14:18, Wohnung, BerlinSamstag, 6. Juni, 14:53, Wohngebiet, BerlinSamstag, 6. Juni, 15:07, Wohngebiet, BerlinSamstag, 6. Juni, 15:36, Wohnung, BerlinSamstag, 6. Juni, 15:43, Hauptverkehrsstraße, BerlinSamstag, 6. Juni, 15:47, Wohnung, BerlinSamstag, 6. Juni, 15:53, Straße, BerlinSamstag, 6. Juni, 17:16, Zentrum, BerlinSamstag, 6. Juni, 17:53, Hochhaus, BerlinSamstag, 6. Juni, 18:05, Hochhaus, BerlinSamstag, 6. Juni, 18:33, Hochhaus, BerlinSamstag, 6. Juni, 18:57, Konferenzraum, BerlinSamstag, 6. Juni, 19:53, Wohngebiet, BerlinSonntag, 7. Juni, 07:13, Hotel, BerlinSonntag, 7. Juni, 08:05, Wohnhaus, BerlinSonntag, 7. Juni, 09:16, Park, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:05, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:21, Zentrum, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:35, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:39, Hotel, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:41, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:47, Industriegebiet, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:57, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 10:59, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 11:03, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 11:06, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 11:12, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 11:13, Industriebrache, BerlinSonntag, 7. Juni, 20:03, Krankenhaus, BerlinMontag, 8. Juni, 07:19, Wohnung, BerlinMontag, 8. Juni, 09:33, Zentrum, BerlinMontag, 8. Juni, 10:04, Krankenhaus, BerlinMontag, 8. Juni, 16:42, Flughafen, BerlinMontag, 8. Juni, 18:57, Zentrum, BerlinMontag, 8. Juni, 20:13, TV-Studio, BerlinDanksagung

Über dieses Buch

Die Wahrheit über das größte Geheimnis Chinas Nachdem eine chinesische Spitzenwissenschaftlerin im deutschen Fernsehen vor laufenden Kameras gestorben ist, soll der ehemalige BND-Mitarbeiter Robert Forster herausfinden, warum. Kurze Zeit später bekommt in China die Nichte der Toten, Maria, eine geheimnisvolle Nachricht ihrer Tante zugespielt, die sie vor dem größten Geheimnis von Chinas Regierung warnt. Maria müsse auf einem USB-Stick gespeicherte Informationen unbedingt nach Deutschland bringen. Während Maria versucht, aus China zu flüchten, kommt in Berlin auch Robert langsam hinter die Pläne der Chinesen, die alle Menschen im Westen bedrohen. Nur gemeinsam können er und Maria das Vorhaben noch vereiteln – doch dafür müssen sie lang genug überleben …

Über den Autor

Nach einem Filmstudium in Rom und London, Tätigkeiten als Regisseur in Musikvideos und Werbefilmen sowie als TV–Formatentwickler ist Stefan Grebe inzwischen im Filmbereich ausschließlich als Regisseur und Autor von Musikdokumentationen tätig, z.B. über die Bee Gees, Queen, Whitney Houston und Die Fantastischen Vier.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven von © iStock/Getty Images Plus: Jular Seesulai | Vladimir Sukhachev | lekcej |HadiAltay | Fitzer und © shutterstock : Matteo Patetta

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6129-1

luebbe.de

lesejury.de

Für Valentina und Vincent

優越性

Montag, 1. Juni, 16:04, TV-Redaktion, Berlin

The biggest secret of the Chinese government.

Die handgeschriebenen Worte waren in das Papier eingekerbt wie frisch geritzte Narben.

The biggest secret of the Chinese government.

Nur dieser eine Satz. Kein Absender, nichts.

Die Notiz war längst zerknüllt im Papierkorb unter Mark Kopps Schreibtisch gelandet, als die nächste Kontaktaufnahme erfolgte. Per Mail, auf Deutsch. Ob er das Schreiben erhalten habe? Wer sind Sie?, lautete Kopps Antwort, nachdem er die Frage bejaht hatte.

Nach einigem Hin und Her gab die Person ihre Identität preis und schickte eine Kopie ihres Reisepasses: Jun Ji Bao, Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Kopp staunte nicht schlecht, als er das Foto sah. Eine hübsche, zierliche, ziemlich jung aussehende Frau, die glatten schwarzen Haare streng am Kopf anliegend. Ob sie in seiner Sendung erscheinen könnte?, folgte die nächste Mail.

Warum?

Steht auf dem Zettel, kam prompt zurück.

Ein feines Kribbeln durchlief Kopp, vielleicht war das der Coup, auf den er sehnsüchtig wartete. Rasch trommelte er sein Redaktionsteam zusammen, schmiss unter kritischen bis missmutigen Blicken den Ablauf der heutigen Sendung um, lud die bisherigen Gäste aus und ließ den Nano-Computertomografen besorgen, den Jun Ji Bao in einer weiteren Mail zur Enthüllung des Geheimnisses gefordert hatte.

Auf dem Weg von der Garderobe in das Fernsehstudio grüßte Kopp im Vorbeigehen die Aufnahmeleiterin Rebecca Moltke und kassierte ein schwaches Lächeln sowie einige Worte, die er nicht verstand.

Beim Übertreten der Türschwelle des Fernsehstudios achtete er wie jeden Montag darauf, den grün gestrichenen Betonboden zuerst mit dem rechten Fuß zu betreten. In Gedanken schüttelte er jedes Mal über diesen albernen Aberglauben den Kopf, trotzdem konnte er sich nicht davon lösen. Als er den Blick vom Boden hob, hielt er erschrocken inne. Derart dominant hatte er sich das Gerät nicht vorgestellt: Die beige Röhre eines mobilen Nano-Computertomografen thronte im Studio wie ein futuristischer Sarg, daneben ein Raumteiler in schlichtem Weiß. Die gedämpft geführten Unterhaltungen des Studiopublikums wirkten wie das Summen eines Insektenschwarms. Kopp nahm auf seinem Moderationsstuhl Platz und ließ sich von Jenny, seiner blondgelockten Assistentin verkabeln. Sommersprossen bedeckten ihr Gesicht, als hätte jemand hellen Sand darauf verteilt.

Hoffentlich hielt seine Interviewpartnerin das, was sie versprochen hatte, dachte Kopp. Er mochte keine Überraschungen, schließlich sendete er live. Es war ein Risiko, sich auf die Frau einzulassen, so viel stand fest.

Kopp spürte, wie ihm ein Schweißtropfen auf die Stirn trat; er winkte Johanna, seine persönliche Make-up-Assistentin, zu sich. Was, wenn das alles nur irgendeine idiotische Mediensatire war? Um ihn bloßzustellen, seinen Wechsel ins Privatfernsehen ins Lächerliche zu ziehen?

Während Johanna sein breites Gesicht mit dem kantigen Kinn abpuderte, warf er einen Blick auf die große digitale Studiouhr mit ihren rot leuchtenden Ziffern und dem rückwärts laufenden Countdown.

Noch gut zwei Minuten.

Kopps rechtes Knie zuckte unruhig auf und ab. Wo blieb sie denn bloß? Die Aufnahmeleiterin gab ihm ein Zeichen, und die Studiobeleuchtung wurde hochgefahren. Automatisch wurde das Summen des Studiopublikums leiser.

Noch eine Minute.

Mit flinken Schritten betrat Jun Ji Bao in einem grauen Kostüm das Studio. Kopp hatte sie nur kurz in der Garderobe willkommen geheißen; die Ablaufbesprechung hatte er Rebecca überlassen. Sein Gast begrüßte ihn mit einem überraschend festen Händedruck.

Kopp warf einen raschen Blick auf die Uhr. 00:35.

»Ist sie schon verkabelt?«

»Ja, alles gut, entspann dich«, kam die Stimme des Regisseurs Thomas Raabe über das Mikrofon aus dem Regieraum.

00:13.

»Ruhe im Publikum, bitte«, rief Rebecca, und im Studio wurde es still.

Wie jede Woche hob Rebecca die Hand in die Höhe, schaute Kopp an und zählte die letzten fünf Sekunden mit den Fingern ihrer rechten Hand herunter. Bei null knipste Kopp sein Lächeln an wie einen Scheinwerfer und blickte in Kamera zwei.

»Guten Abend, meine Damen und Herren, willkommen bei einer neuen Folge von Investigation, der aufregendsten Talkshow im deutschen Fernsehen. Mein heutiger Gast stand ursprünglich nicht auf der Gästeliste, aber sie hat etwas Sensationelles zu enthüllen. Würden Sie sich bitte kurz vorstellen.«

»Mein Name ist Jun Ji Bao«, sagte Jun mit ernstem Gesicht und sah Kopp direkt in die Augen. »Ich bin Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, und ich beantrage hiermit politisches Asyl in Deutschland.«

Verdammt, das war nicht abgesprochen.

Das Studiopublikum konnte sich ein Raunen gefolgt von einem Flüstern nicht verkneifen. Aus den Augenwinkeln nahm Kopp wahr, wie Rebecca den Finger auf die Lippen legte.

»Wieso das?«, fragte Kopp und versuchte sich seine Überrumpelung nicht anmerken zu lassen. Er spürte Feuchtigkeit unter seinen Achseln.

»Weil ich nach dieser Sendung der Staatsfeind Nummer eins in China sein werde.«

In den Augen der Frau entdeckte Kopp das unruhige Flackern eines gehetzten Tieres, das in der Falle saß. Sein professionelles Lächeln verwandelte sich in ein echtes; das fing ja wirklich gut an. »Können Sie das bitter näher erläutern?«

»Wissen Sie, was der chinesische Traum ist?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

»Ja, natürlich«, entgegnete Kopp schnell; die Zeit hatte nur für eine oberflächliche Vorbereitung gereicht, aber das wusste er. »Der Präsident Ihres Landes spricht immer wieder davon. Der chinesische Traum ist die Wiedererlangung alter Größe und Stärke.«

Jun Ji Bao betrachtete ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Spott, wie einen dummen Parteikader, der artig Sätze aufsagte, an die sowieso niemand glaubte.

»Das ist die Version, die China die Welt glauben machen will. Ich werde Ihnen heute zeigen, was der wahre chinesische Traum ist.«

Sie stand abrupt auf und riss sich vorne die Bluse aus der Hose.

Scheiße, davon hatte sie nichts gesagt.

»Setzen Sie sich bitte wieder hin«, sagte Kopp ohne große Überzeugungskraft.

»Hier drin«, rief Jun Ji Bao, während sie mit der einen Hand die Bluse hochhielt und sich mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf den Bauch klopfte. »Hier drin steckt das größte Geheimnis der chinesischen Regierung.«

優越性

Montag, 1. Juni, 21:34, Keller, Berlin

Angestrengt lauschte er auf jedes Geräusch. Geräusche bedeuteten Essen. Oder Schmerzen. Höllische Schmerzen. Wenn sie ihn holen kamen. Wobei er immer noch wusste, wer sie waren.

Er musste husten, und sein ganzer Körper tat weh. Seine Arme und Beine waren vermutlich überall grün und blau, wahrscheinlich an einigen Stellen sogar schwarz. Auf alle Körperteile hatten seine Folterer geschlagen. Das Schlimmste war, dass er die Schläge nicht kommen sah. Nie wusste er, wo ihn der nächste treffen würde. Der blickdichte Sack über seinem Kopf verhinderte es. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ihn schon trug. Sein Zeitgefühl hatte sich aufgelöst wie ein Brühwürfel im Wasser, übrig geblieben war eine trübe Zeitbrühe. Zwei Tage? Oder drei? Jetzt fing dieser beschissene Sack wieder an, im Gesicht zu jucken. Mal kratzte es, mal juckte es. Mit den gefesselten Händen hinter dem Rücken konnte er nichts dagegen tun. Am Anfang hatte er noch versucht, durch Hilfeschreie auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatten ihn gewähren lassen; nach einer Weile entdeckte er durch Tasten die dicke Polsterung der Wände. Seitdem lag er fast nur noch auf der Matratze auf dem Boden und versuchte, seine schmerzenden Muskeln möglichst wenig zu bewegen.

War da ein Geräusch? Er horchte, so gut er konnte. Und fing an zu zittern. Furcht rollte in seinem Kopf umher, schwer wie eine Eisenkugel. Essen oder Schmerzen?

Wenn sie ihm Essen brachten, wurde er gefüttert. Sie zogen den Sack ein Stück hoch, flößten ihm Wasser ein und schoben ihm Löffel mit klebrigem Reis in den Mund. Zumindest würde er nicht verhungern, dachte er und lauschte weiter in die Dunkelheit hinein.

Es blieb ruhig.

Vorerst.

Bis zum nächsten Verhör.

Sie stellten ihm immer wieder die gleichen Fragen.

Wo ist Jun Ji Bao?

Ich weiß es nicht.

Ein Schlag.

Er hatte keine Ahnung, womit sie zuschlugen, aber es verursachte höllische Schmerzen. Jedes Mal schrie er gellend.

Was hat sie vor?

Ich weiß es nicht.

Der nächste Schlag. Der nächste Schrei.

Die Stimme seines Folterers kannte er nicht, nur der chinesische Akzent verriet etwas über ihn. Hatte Juan Wang ihn entführen lassen? Oder gar Tom Lee?

Er hätte sich nie mit ihnen einlassen dürfen. Das viele Geld hatte ihn geblendet.

Schließlich hatten sie das Schlaginstrument gewechselt. Der Schmerz war anders, ein Gewitter in seinen Nervenbahnen, er konnte nicht einmal mehr schreien, ihm blieb einfach die Luft weg. Nur noch ein Röcheln entrann seiner Kehle.

Irgendwann hatten sie ihn bewusstlos geprügelt. Und wieder in diesen Raum gesperrt.

Was würden sie noch mit ihm machen? Hielten sie ihn für einen harten Kerl? Bei dem man nur die Schmerzen erhöhen musste, damit er endlich redete?

Der letzte Gedanke öffnete sämtliche Poren. Die Panik flutete durch ihn hindurch wie ein Tsunami, sein Herzschlag schlug hohe Wellen.

Das Jucken der Kapuze an der Wange lenkte ihn ab, die Angst ließ nach. Er konnte wieder klarer denken und rekapitulierte zum x-ten Mal seine Entführung. Er hatte mal wieder vor der Wohnung seiner Freundin keinen Parkplatz gefunden und den Porsche um die Ecke geparkt. Normalerweise war ihm das egal, aber an jenem Abend schüttete es. Fluchend war er ausgestiegen und mit schnellen Schritten zu Helenas Wohnung gelaufen. Als er um die Ecke bog, hatte er hinter sich einen Wagen auf der regennassen Straße heranrauschen gehört, die Reifen hatten Gischt aufgewirbelt. Er versuchte angestrengt, sich an die Geräusche zu erinnern, aus ihnen klug zu werden. Er hatte sich nicht umgedreht, nicht nach dem Wagen geschaut. Das Fahrzeug hatte scharf gebremst. Eine der Schiebetüren des Transporters war geöffnet worden, und er hatte lautes Getrampel gehört, das von mindestens zwei Personen stammen musste. Schritte, die schnell näher kamen und in der Nässe pantschten. Kurz bevor er die Haustür erreicht hatte, war er von hinten gegriffen worden, und eine Hand hatte ein Tuch auf seinen Mund gedrückt. Dann war alles schwarz geworden.

Er ging alles noch einmal durch, nein, keine Worte. Sie hatten nicht geredet, auch nicht untereinander.

Mit der Kapuze über dem Kopf war er wieder aufgewacht. Kurz darauf hatte auch schon das Verhör begonnen. Was immer es auch war, was sie von ihm hören wollten, er wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung, wo Jun Ji Bao war oder was sie plante.

Ein Geräusch schreckte ihn auf.

Essen oder Schmerzen?

Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er hörte das Geklimper des Schlüsselbundes, das Einführen des Schlüsselbarts in das Türschloss, schließlich das saugende Geräusch der Tür beim Öffnen des hermetisch abgeschlossenen Raums.

Essen oder Schmerzen?

優越性

Dienstag, 2. Juni, 01:27, Lagerhaus, Wuhan

Jeder Beat war wie ein Stromstoß in ihrem Blut; mit ihrem harten Technosound peitschte sie die Menge auf der Tanzfläche voran. Lichtblitze durchzuckten das abbruchreife Lagerhaus. Die tanzende Meute war für sie immer nur in Momentaufnahmen zu sehen, kleine Zeitsprünge wie schnell aufeinanderfolgende Fotografien.

Der Mann, der gerade auf ihr DJ-Podium geklettert war, brüllte ihr etwas ins Ohr, doch die Musik war zu laut, um ihn zu verstehen. Im Schein des Laptops, mit dem sie die Musik steuerte, betrachtete sie sein Gesicht. Er sah unverschämt gut aus, sein dichtes schwarzes Haar glänzte im Schein der Lampe auf dem DJ-Pult, die scharfe Nase war wie mit einem Lineal gezogen, sein intensiver Blick fragend und fordernd zugleich. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Straffe Muskeln spannten sein schwarzes T-Shirt.

Mit einem Lächeln akzeptierte sie seine Anwesenheit; eigentlich mochte sie es nicht, bei der Arbeit von Fremden gestört zu werden. In den Tiefen ihres Laptops suchte sie nach dem nächsten passenden Track und zauberte einen fließenden Übergang auf die Tanzfläche. Jetzt hatte sie ein paar Minuten Zeit.

Sie drehte sich zu ihm um. Er fixierte sie mit seinem Blick. Sie näherte sich seinem linken Ohr und sog seinen Geruch ein, er roch gut, sehr gut sogar.

»Ich bin Maria, und wie heißt du?«, brüllte sie ihm ins Ohr.

»Yang«, schrie er zurück. Oder war es Yong?

Sie schnappte sich vom DJ-Pult ihre leere Flasche Snow, hielt sie in seine Richtung und gab ihm per Handzeichen den Auftrag, für sie beide zwei neue Bier zu besorgen.

Mitten im nächsten Track kehrte er zurück. Die Musik verschluckte das Aneinanderstoßen der Flasche; beim Trinken schauten sie sich in die Augen. Er näherte sich gerade ihrem rechten Ohr, um etwas zu sagen, als Maria in den Augenwinkeln etwas wahrnahm: In die zuckenden Blitze mischten sich permanente Lichtpunkte. Wie große Glühwürmchen, sie bewegten sich hektisch hin und her. Schlagartig setzte die Musik aus. Das Stroboskop zuckte weiter.

»Hier ist die Polizei«, ertönte eine Stimme aus einem Megafon. »Die illegale Party ist beendet.«

Unter den strengen Ton des Megafons legte sich ein vielstimmiges Entsetzen; wie Kakerlaken im Licht stoben die Feiernden in alle Richtungen davon, doch die Möglichkeit zur Flucht war ihnen versperrt. Immer mehr Glühwürmchen strömten durch den Eingang.

Yang nahm Marias Hand. »Komm mit!«

Er zerrte sie vom Pult weg, doch sie riss sich los. Mit zwei schnellen Schritten war sie zurück am Laptop, zog den USB-Stick raus, schnappte sich ihren kleinen Rucksack und lief zurück zu Yang. Gemeinsam sprangen sie vom DJ-Pult. Nach wenigen Schritten erreichten sie das Ende der Halle. Yang zog Maria zu einer riesigen, rostigen Schiebetür, die einen Teil der Wand bedeckte. Mit aller Kraft schob er sie zur Seite, bis der Spalt groß genug war, um sich durchzuquetschen. Dahinter lag eine Halle, mehrere Stockwerke hoch. Fahles Mondlicht mühte sich durch trübe Scheiben. Yangs und Marias Laufschritte hallten durch das Gebäude. Mit dem Licht einer kleinen Taschenlampe bahnte Yang ihren Weg. Am anderen Ende erreichten sie eine Wand. Eine Türklinke schimmerte im Lampenschein. Vorsichtig öffnete Yang die Tür und schob den Kopf hindurch.

»Okay«, sagte er leise. »Draußen ist alles ruhig.«

Sie schlüpften durch den Türspalt und blickten in einen Hinterhof voller Bauschuttcontainer. Die Luft war mild, der Himmel wolkenverhangen, in einer Lücke zeigte sich der Mond als schmale Sichel. Eine Steinmauer samt Metalltor schirmte den Hof zur Straße ab. Das Tor stand offen, direkt davor warf eine kalt leuchtende Straßenlaterne ihr Licht auf den Asphalt. Sie rannten über den Hof und hielten sich im Schatten des Tores.

»Lass mich vorgehen«, flüsterte Maria.

Sie setzte sich den Rucksack auf, trat auf der Straße in den Lichtkegel und sah sich um. Rechts endete die Straße in einer Sackgasse, links tauchte nach hundert Metern eine Querstraße auf. Mit zusammengekniffenen Augen scannte Maria die Umgebung nach Überwachungskameras, konnte aber im Dunkeln keine ausmachen. Nach Aussage des Partybetreibers war die Gegend noch nicht von Kameras verseucht.

Sie winkte Yang zu sich und nahm seine Hand. Ihr Körper stand unter Hochspannung, ihr Puls pochte im Kopf. Die Mauern warfen das Geräusch ihrer Schritte zurück. Die Gebäude rechts und links der Sackgasse waren wie Kadaver. Das Mondlicht ließ überall Zeichen des Verfalls erkennen, hier eingeworfene Scheiben, dort fehlende Dachziegel und beim nächsten ein ausgebrannter Dachstuhl. Auf halbem Weg zur Querstraße tauchte plötzlich ein Polizeifahrzeug auf, wie ein schläfriges Krokodil schwamm es gemächlich in ihr Blickfeld.

Yang zog Maria in den Schatten einer Mauer.

Das Krokodil blieb stehen. Und riss auf einmal die Augen mit einem Suchscheinwerfer auf.

Kurz bevor der Lichtstrahl sie erfasste, stieß sich Maria von der Mauer ab und stürmte auf der anderen Straßenseite in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Grundstücken.

»Halt! Stehen bleiben!«, ertönte eine Stimme blechern aus dem Lautsprecher des Polizeiwagens.

Das Zuschlagen der Fahrzeugtüren hörten sie schon nicht mehr, die Gebäude verschluckten es. Yang war dicht hinter Maria. Das Licht seiner Lampe tanzte vor ihr unruhig hin und her. Ihre Füße flogen über den Boden. Irgendwo bellte ein Hund. Yang überholte sie mit seiner Lampe. Hinter ihnen brüllten die Polizisten Befehle. Eine Abzweigung nach rechts tauchte im Lichtkegel auf, und sie stürmten um die Ecke. Gleich danach eine kleine Kreuzung. Weiter nach links. Plötzlich griff Yang ihre Hand und brachte sie ruckartig zum Stehen.

»Schnell, klettere darüber«, flüsterte er und wies mit der Taschenlampe auf eine Mauer neben ihnen. Sie endete einen halben Meter über ihren Köpfen. Das Getrampel der Polizeistiefel kam schnell näher. Yang formte mit seinen Händen eine Räuberleiter und hievte Maria auf die Mauer. Das Getrampel war bedrohlich nah, nur noch wenige Augenblicke entfernt. Maria sprang von der Mauer ins Dunkle. Ihr Herz raste. Sie knickte beim Aufkommen um und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Dann sah sie, wie Yangs Hände sich an die Kante der Mauer krallten und er seinen Körper nach oben zog. Rasch leuchte er nach unten, entdeckte Maria am Fuße der Mauer und sprang. Sofort schaltete er das Licht aus. Es war stockdunkel. In dem Moment bogen die galoppierenden Polizeistiefel um die Ecke und rannten an ihnen vorbei.

Marias Atem ging stoßweise.

»Das war knapp«, flüsterte sie hechelnd, ihre Worte waren mehr an sich als an Yang gerichtet, sein Kopfnicken konnte sie mehr erahnen als sehen.

»Du hast kein Handy dabei, oder?«, flüsterte Yang mit pumpendem Atem.

»Natürlich nicht, was denkst du denn?«

Niemand bei Verstand brachte sein Handy zu illegalen Technopartys mit, dazu war die digitale Überwachung inzwischen viel zu umfassend.

»Gut, dann können sie uns eigentlich nur mit Wärmebildkameras finden. Ich glaube aber nicht, dass ihnen eine Party den Aufwand wert ist.«

»Trotzdem, es wird immer schlimmer«, flüsterte sie.

Yang nickte. Die neueste Kampagne der Partei richtete sich gegen alles Westliche. Mode. Kunst. Filme. Musik.

China braucht nur China.

Überall in den Städten hing die neue Losung der Partei auf riesigen Plakaten. In TV-Spots trällerten Prominente ein eigens komponiertes Lied mit der Losung im Refrain.

Yang summte die Melodie leise vor sich hin und äffte den Gesang im Flüsterton nach. Ein Lächeln huschte über Marias Gesicht. Dann froren ihre Mundwinkel ein.

»Scheiße«, flüsterte Yang.

Ein fieses Summen.

Wie von einem großen Insekt. Auf der Jagd nach menschlicher Beute.

Yang sprang auf. »Eine Drohne, schnell, wir müssen hier weg.«

»Warte«, sagte Maria. »Wir bleiben hier.«

Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks, griff hinein und zog ein kleines Paket hervor. Yang schaute auf sie hinab. Das Summen der Drohne wurde lauter.

Mit flinken Bewegungen entfaltete Maria eine Decke, sie knisterte beim Ausbreiten und schimmerte im Mondlicht.

»Schnell, leg dich auf den Boden«, flüsterte Maria und blickte zu Yang hoch. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Das Insekt schwirrte irgendwo über den Nachbargrundstücken. Sie streckte sich neben ihm auf dem Rücken aus und zog die Goldfolie über ihre beiden Körper.

»Du musst mich umarmen«, flüsterte sie. »Sie ist eigentlich nur für eine Person gedacht.«

Sie drehten sich beide auf die Seite und sahen sich an. Er schob einen Arm unter ihrem Oberkörper hindurch und zog sie an sich. Ihr Mund berührte seinen Hals; sie sog seinen Geruch ein.

Das Summen kam schnell näher.

Maria wagte kaum noch zu atmen. Die Drohne überflog die Mauer. Das Summen wurde lauter. Es flog über sie hinweg und entfernte sich. Hörbar ließ Maria die Luft aus ihren Lungen entweichen. Dann erstarrte sie.

»Fuck«, hauchte Yang.

Das Insekt kam zurück.

Maria fühlte das Pochen ihres Herzschlags im Kopf. Das Summen war jetzt direkt über ihnen. Die Drohne verharrte auf der Stelle. Ein Schweißtropfen löste sich aus Marias Haaransatz und lief an ihrer Stirn entlang. Das Motorengeräusch der Drohne hallte in ihrem Kopf, vermischt mit dem Rauschen ihres Blutes. Los, hau ab, betete sie. Doch das Geräusch veränderte sich nicht. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, die Zeit zäh wie Teer.

Endlich. Das Summen entfernte sich.

Sie verharrten in ihrer Position und lauschten dem leiser werdenden Surren. Erst als es komplett verschwunden war, lösten sie sich aus ihrer Umklammerung und krochen unter der Decke hervor. Sie rappelten sich auf, klopften ihre Kleidung ab.

Maria forschte mit ihren Augen in Yangs Mienenspiel. Als er es bemerkte, umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. Ihre Blicke verhakten sich.

»Das war nicht deine erste Flucht, oder?«, fragte er und näherte sich ihrem Gesicht.

Sie schüttelte den Kopf.

»Danke«, sagte er leise.

Dann küssten sie sich.

優越性

Dienstag, 2. Juni, 06:24, Bürohochhaus, Shanghai

In seinen Brillengläsern spiegelte sich der Morgenhimmel. Die Glasfassaden der umstehenden Wolkenkratzer glühten in Orange- und Rottönen, je nach Winkel zur aufgehenden Sonne. Tom Lee liebte die Aussicht aus der obersten Etage seiner Firmenzentrale, doch an diesem Morgen hatte er keinen Blick für die Schönheit der Szenerie.

Die Nachricht aus Deutschland rotierte in seinem Kopf wie ein außer Kontrolle geratener Autoscooter. Rasend schnell und ohne Möglichkeit, ihn zu stoppen.

Regungslos stand er an der durchgehenden Fensterfront hin zum Huangpu und ging die möglichen Konsequenzen durch.

Das größte Geheimnis der chinesischen Regierung.

Verdammt, bisher war es nur sein größtes Geheimnis; die Regierung wusste nichts davon. Es sollte eine Überraschung für den Präsidenten werden. Ein Zeichen der Reue und Wiedergutmachung. Dass er seine Lektion gelernt hatte.

Mit seinem mehrwöchigen Verschwinden, über dessen Ursache es wüste Spekulationen gegeben hatte, hatte man ihm eine unmissverständliche Botschaft gesandt. Das Scheinwerferlicht der öffentlichen Bewunderung, in dem er sich so gerne sonnte, würde dauerhaft erlöschen, sollte er noch einmal öffentlich Kritik am Präsidenten üben. Präsident Xi war inzwischen in der chinesischen Gesellschaft ein Monolith, an dem jedes andere Ego zu zerschellen hatte.

Die Zeit in der kargen, unbeheizten Zelle irgendwo in einem Gebirgsgefängnis – schneebedeckte Berggipfel hinter dem vergitterten Fenster sowie die grimmige Kälte waren die einzigen Hinweise auf seinen Aufenthaltsort – steckte Lee immer noch in den vierundfünfzigjährigen Knochen. Eine Einzelzelle, winzig, nur mit einer Kloschüssel aus Edelstahl sowie einem schwarzen Bettgestell ausgestattet, hatte sich tief in sein Gedächtnis und seine Träume eingebrannt.

Letzte Nacht war er erneut schweißgebadet aufgewacht. Dabei hegte er doch den gleichen Traum wie sein Präsident. Dieses Jahrhundert gehörte ihnen. Dazu brauchte er doch nur aus dem Fenster zu blicken; was waren schon New York, London oder Paris gegen diesen Anblick?

Lee begann vor der knapp zwanzig Meter langen Fensterfront seines Büros auf und ab zu gehen. Wenn er seinen Körper in Bewegung setzte, konnte er besser nachdenken. Seine Spiegelung lief mit schmalen Lippen, breiter Nase, eng stehenden Augen und hoher Stirn unter streng gescheitelten Haaren in der Glasscheibe neben ihm her.

Sein knapp zweihundert Quadratmeter großes Büro war auffallend schlicht möbliert: ein Schreibtisch, zwei Besucherstühle und ein riesiger Lichtenstein an der Längsseite gegenüber der Fensterfront. Beim Layout des Raums hatte er sich von Architekten aus Hitler-Deutschland inspirieren lassen: Baue große Räume, möbliere sie spärlich und sorge dafür, dass der Besucher den ganzen Raum bis zu deinem Schreibtisch durchschreiten muss. Das schüchtert ihn ein.

Für einen Besucher wurde beim Gang von der Tür zu Lees Schreibtisch, den er bewusst filigran und gläsern gewählt hatte, mit jedem Schritt die Aussicht atemberaubender und das Ego kleiner.

Lee ließ sich in den schwarzen Lederstuhl an seinem Schreibtisch fallen und kehrte der Stadt den Rücken zu. Ungeduldig riss er die oberste Schublade am Schreibtisch auf, schob eine Ledermappe beiseite und kramte die Zigarettenpackung hervor. Würden sie ihm seinen Alleingang verzeihen? Klar, die Firma in Deutschland hatte er nur mit Genehmigung der Partei erwerben können, doch was seine Wissenschaftler dort entdeckt hatten, wussten die Kader nicht. Noch nicht.

Verdammt, er hätte es wissen müssen: Frauen waren einfach zu zimperlich. Jun Ji Bao war zwar brillant, aber eben doch nur eine Frau. Von jetzt an würde er nur noch Männer einweihen. Natürlich würde die Partei ihre Spur direkt zu ihm zurückverfolgen, ihre Anstellung als Beraterin bei der Berliner GenTech AG war kein Geheimnis. Er seufzte vernehmlich, ging zu seinem Schreibtisch und nahm einen Schluck seines inzwischen erkalteten Tees.

»Vorzimmer.« Die Sprachsteuerung in seinem Büro stellte eine Verbindung in das Büro seiner beiden Assistentinnen her. In der Glasplatte des Schreibtischs begann eine rote Diode sanft zu pulsieren, zur Erinnerung an die bestehende Verbindung.

»Was kann ich tun?«, erklang die rauchige Stimme der jüngeren Assistentin Kaiwen aus dem Lautsprecher auf seinem Schreibtisch.

»Gibt es heute einen Termin, den ich nicht absagen kann?«

Kaiwen räusperte sich, zögerte kurz, schließlich sagte sie: »Nun, das kommt darauf an.«

»Was soll das heißen?«, fragte Lee genervt.

»Wenn Sie Ärger mit Ihrer Frau vermeiden wollen, gibt es einen Termin, den Sie wahrnehmen sollten.«

»Was …?« Natürlich, die Premiere ihres neuen Films heute Abend. So ein Mist. »Okay, dann buchen Sie mir für morgen früh den ersten Flug nach Berlin, Rückflug offen. Ende.«

Das letzte Wort kappte die Verbindung ins Vorzimmer. Keine fünf Sekunden begann die gelbe Diode neben der roten zu pulsieren. Das Vorzimmer bat um Kontaktaufnahme.

»Vorzimmer.«

»Herr Lee«, ertönte die spitze Stimme der zweiten Assistentin. »Das Büro des Präsidenten möchte Sie sprechen.«

So schnell? Das bedeutete nichts Gutes.

Plötzlich durchzog ein eisiger Windhauch sein Büro. Wie in der Zelle. Jedenfalls kam es ihm so vor.

Lee atmete zweimal tief ein und aus. »Gut, stellen Sie durch.«

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Dienstag, 2. Juni, 08:07, Wohnung, Berlin

Das Klingeln des Handys auf dem Nachttisch erschien ihm wie das Läuten von Kirchenglocken direkt neben seinem Kopf. Robert Forster fluchte leise ins Kopfkissen und tastete mit der rechten Hand nach seinem Handy.

»Hallo?« Seine Stimme klang so rau, wie er sich fühlte.

»Robert? Markus, hier. Markus Mohrmann.«

Roberts Kopf brummte, der Mund war ausgedörrt, auf seiner Zunge lag ein pelziger Belag. Er fragte sich, wie spät es gestern Nacht geworden war, und musste sich eingestehen, nicht die leiseste Ahnung zu haben. Er versuchte, die Gedächtnisfetzen der letzten Nacht zusammenzukleben, aber es half nichts, er wusste nur noch, dass er viel verloren hatte. Zu viel. Wieder einmal.

»Kann ich dich später zurückrufen?«

»Nein, kannst du nicht. Weißt du nicht, was hier los ist?«

»Sollte ich?«

»Bist du in einem Paralleluniversum?«

»Was meinst du?«, presste Robert hervor.

»Mein Gott«, stöhnte Mohrmann. »Sag bloß, du hast es noch nicht mitbekommen.«

Robert verstand nur Bahnhof und blieb stumm.

»Okay, ich schicke dir jetzt etwas, schau es dir an, und komm so schnell wie möglich her. Ich habe einen Auftrag für dich. Übliche Bezahlung.«

»Was soll ich tun?«

»Ich erkläre es dir, wenn du hier bist. Wann wird das sein?«

»Stunde, vielleicht etwas mehr.«

»Gut, beeil dich.«

Im Bad zwängte sich das Morgenlicht durch schon ewig ungeputzte Fenster. Robert warf zwei Aspirin für den Kopf ein und eine Ritalin, um auf Touren zu kommen. Letztere war Überbleibsel einer Zeit, als Upper und Downer zu seinen Grundnahrungsmitteln gehörten. Nach seiner Rückkehr nach Berlin war er innerlich zusammengebrochen, in einer Art, die nur geschieht, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird und man nicht weiß, wie tief der Fall sein wird. Inzwischen nahm er die Tabletten nur noch, wenn es gar nicht anders ging. So wie heute. Im Spiegel blickte ihn eine grimmige Version seiner selbst an, die Augen trüb vor Müdigkeit, die Haut fahl wie seine Laune. Seine hellen Augen dominierten ein Gesicht voller Widersprüche. Eine schmale Nase stand im Gegensatz zu den vollen Lippen, die sich zu einem breiten Mund formten und in einem kantigen Kinn mit Grübchen ihren Abschluss fanden. Mit seinen braunen Locken, der muskulösen Statur und den intensiven blauen Augen hatte er früher einmal wie ein Rennfahrer oder Kampfflieger ausgesehen, jedenfalls hatte er etwas Draufgängerisches gehabt, aber die Zeiten waren vorbei. Während er sich betrachtete, drehte er den Kopf hin und her und fragte sich, ob sich seine Locken weiter ausgedünnt hatten. An einigen Stellen schimmerte inzwischen die Kopfhaut durch, seine Befürchtung, eines Tages kahl zu sein, schien sich zu bewahrheiten. Du siehst beschissen aus, dachte der 37-jährige, und grinste sein Gegenüber linkisch an.

Beim Verlassen der Dusche fiel sein Blick auf den überquellenden Wäschekorb; er nahm sich vor, sich nach seiner Rückkehr darum zu kümmern. Ein Bild sauste durch seinen Kopf, und er erstarrte. Cino war am späten Abend aufgetaucht. Das war nicht sein richtiger Name, aber Robert nannte ihn so. Tatsächlich hatte der kleine bullige Chinese sich nie vorgestellt. Cino hatte sich neben ihn gesetzt, kurz nachdem Robert sich an den Roulettetisch begeben hatte. Kommentarlos hatte Cino die Hand ausgestreckt.

»Heute gibt’s kein Urlaubsgeld«, hatte Robert gesagt, um das Ganze wie ein Spiel wirken zu lassen, doch er wusste am besten, dass es keins war.

»Du hast noch eine letzte Woche«, hatte Cino ohne den Anflug eines Lächelns entgegnet. »Plus Zinsen. Sonst wirst du auf eine andere Art bezahlen müssen.« Dann war er gegangen. Robert hatte ihn den ganzen Abend nicht mehr gesehen, vielleicht weil Cino den Club schnell wieder verlassen oder er irgendwann einfach zu viel intus hatte.

Sein Glück einer kleinen Kugel anzuvertrauen, geschah immer dann, wenn er zu betrunken zum Pokern war. Die kleine Kugel funktionierte in jedem Zustand.

Eine Welle aus Selbstekel durchflutete ihn, während er sich anzog. Schon so oft hatte er sich vorgenommen, mit diesen durchsumpften Nächten aufzuhören, doch irgendetwas in ihm schaffte es einfach nicht. Kabul und die Folgen hatten zu einem Leben geführt, dessen Grenzen häufig genauso schwammig waren wie die Erinnerungen an die letzte Nacht. Ein brummender Schädel und das leere Portemonnaie waren oft die einzigen Hinweise, wenn er sich morgens so fühlte, als hätte die Welt ihn am Ende der Nacht einfach ausgekotzt.

Beim Frühstück war sein Geist immer noch von Wolken verhangen, er kippte zwei doppelte Espresso herunter. Dazu eine Schale Müsli, um die Alkoholreste in seinem Magen aufzusaugen. Während er aß, sah er sich auf seinem Handy das Video an, das am Abend zuvor live von einer Million Zuschauern verfolgt wurde und seitdem rund sechs Millionen Klicks eingesammelt hatte.

»Heilige Scheiße«, murmelte er, als der Clip zu Ende war.

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Dienstag, 2. Juni, 08:53, Atelier, Wuhan

Nach jedem Eintauchen in einen der Farbeimer zu ihren Füßen klatschte der Pinsel wie ein nasser Mob auf die Leinwand. Maria wischte den breiten Pinsel im Rhythmus der wummernden Technomusik kreuz und quer über die weiße Fläche. Die Playlist ihres DJ-Sets der letzten Nacht half ihr, noch einmal die Schwingungen der durch Musik und diverse Substanzen aufgeputschten Feiernden zu spüren und sie in ihrem sonnenlichtdurchfluteten Atelier, einer ehemaligen Druckerei, mit Verve auf die Leinwand zu werfen.

Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen ließ Maria schwitzen. Eine Haarsträhne klebte ihr an der Stirn. Die Luft begann bereits stickig und drückend zu werden, wie so oft um diese Jahreszeit. Schließlich wischte sie sich die Hände ab, schaltete die Musik auf ihrem Laptop aus, schnappte sich den Kaffeebecher von dem mit Farbklecksen übersäten Beistelltisch neben der Leinwand und trat einige Schritte zurück.

Das Bild war gut. Extrem gut sogar. Dafür würde sie schnell einen Käufer finden. Sie lächelte.

Hinter ihr erklang ein Geräusch, das Besucher beim ersten Mal oft erschreckte: das Schleifen einer Stahltür über nackten Betonboden. Die Tür gehörte zu einem stählernen Kubus am Ende des Ateliers, zu ihrem Schlafzimmer. Maria beobachtete amüsiert, wie Yang, nur mit Boxershorts bekleidet, den Arm vors Gesicht riss, als er den dunklen Raum verließ und ihm die Sonne ins Gesicht knallte. Maria seufzte leise; er war genau das, was sie gestern Nacht gebraucht hatte, aber heute Morgen nicht mehr.

»Guten Morgen, gut geschlafen?«

Als Antwort erklang nur ein Brummen.

»Hör zu, ich muss jetzt arbeiten. Ich rufe dich später an, okay?«

»Ich muss mit dir etwas …«

»Später, bitte, ich melde mich, versprochen. Okay?«

Er blinzelte verlegen im Gegenlicht. Eine so direkte Ansage hatte er nicht erwartet. Keine drei Minuten später verschwand er wortlos.

Maria stellte die Musik wieder an, lauter als zuvor. Eine halbe Stunde später beendete sie mit einem zufriedenen Lächeln ihr Tun. Mit geübten Handgriffen baute sie Stativ samt Scheinwerfer auf, leuchtete das Gemälde perfekt aus und machte mit ihrem Handy verschiedene Aufnahmen ihres Werks. Rasch wählte sie das beste Foto aus, bearbeitete es mit einer passenden App, postete es in all ihren sozialen Medien samt Preisvorstellung und hüpfte unter die Dusche – ein waagerechtes Rohr im rauen Putz mit einem aufgeschweißten Duschkopf und einem Loch im Betonboden als Abfluss.

Sie drehte die Dusche auf kalt, ließ das Wasser auf ihren Kopf prasseln und spürte, wie sich die Kopfhaut unter der eisigen Temperatur zusammenzog. Die Gedanken nahmen vor der Kälte Reißaus und rannten zu Yang. Warum hatte sie ihn so schnell weggeschickt? Er wäre gerne geblieben, das war klar. Gut, er hatte kein Herzensgewitter ausgelöst, aber dennoch. Hatte ihre Mutter ihren Groll auf Männer an sie vererbt wie Familiensilber? Stieß sie deshalb Verehrer schnell von sich, um nicht die gleiche Enttäuschung zu erleben?

Furcht flatterte in ihr herum wie eine dunkle Motte; sie flog mehrere Etagen tiefer direkt in die Katakomben von Marias Erinnerung. Auf dem Weg vom Kindergarten hatte sie mit ihren Freundinnen eine Schneeballschlacht gemacht. Es war der erste Schnee ihres Lebens gewesen. Als sie zu Hause die Eingangstür öffnete, merkte sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Durch die enge Wohnung waberte kein Geruch kräftig gewürzter Speisen wie sonst jeden Tag. Nur ein Wimmern. Ihre Mutter saß in sich zusammengesunken am Küchentisch und schaute sie aus verquollenen Augen an, um den Mund einen bitteren Zug, den sie fortan nur noch selten verlor.

Den Verlust des Arbeitsplatzes speicherte Maria in ihrem kindlichen Gehirn als schlimmstmögliches Ereignis ab, nur das verriet ihr ihre Mutter an jenem Tag. Maria kannte das stattliche Haus, in dem ihre Mutter als Privatlehrerin für Musik und Mandarin die Kinder eines deutschen Paares unterrichtete. Manchmal fand ihre Mutter keinen Babysitter, und Maria erlebte unbeweglich wie eine Staue in der Ecke des Wohnzimmers, wie ihre Mutter mit den beiden Teenagern Tonleiter oder Schriftzeichen übte.

Die ganze Wahrheit erfuhr sie erst Jahre später.

In der Schule begannen wohlwollende Mitschüler, sie nach ihren hellen Augen zu fragen, und bösartige, sie Bastard zu nennen.

»Warum sehe ich anders aus, Mama?«

Am Küchentisch hatte ihre Mutter Marias Hände in ihre genommen und zu erzählen begonnen. Mit jedem Satz kamen mehr Tränen. Der groß gewachsene, blonde Vater der Teenager, der Maria bei den wenigen Begegnungen meist lächelnd gemustert, ihr aber mit seiner dröhnenden Stimme in der fremden Sprache Angst eingejagt hatte, war auch Marias Vater. Marias Mutter war jahrelang seine Geliebte gewesen. Er hatte ihr die ganze Zeit Hoffnung auf ein gemeinsames Leben in Deutschland gemacht und Marias Mutter dazu gebracht, sich und ihre Tochter mit jahrelangem Deutschunterricht auf ein Leben in der Fremde vorzubereiten. Doch statt mit ihnen war er mit seiner Familie in seine Heimat zurückgekehrt. Von einem Tag auf den anderen. Ohne Vorwarnung und ohne ein Wort des Abschieds.

Maria drehte das Wasser von kalt auf heiß, und der Temperaturschock verjagte die Erinnerungen.

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Dienstag, 2. Juni, 09:16, Tiefgarage, Berlin

In der Tiefgarage kramte Robert die Sonnenbrille aus der Türablage und setzte sie auf, noch bevor er den Wagen startete. Sein anthrazitgrauer BMW rollte, begleitet vom Summen der Elektromotoren, die Rampe hoch ins Sonnenlicht. Trotz der Brille musste Robert die Augen zusammenkneifen. Berlin erschien ihm an diesem Morgen wie ein einziger hektischer Ausbund an Lärm und Leben; alles war zu laut und zu grell. Während der Fahrt merkte er, wie die Ritalin-Tablette ihre Wirkung entfaltete. Seine inneren Akkus schienen sich wie von Zauberhand aufzuladen, seine überreizten Sinne konnten die Welt wieder besser ertragen.

Als er in die Chausseestraße einbog, schimmerte die Fassade des Bundesnachrichtendienstes golden in der Morgensonne. Wie immer parkte Robert seinen Wagen im Parkhaus des Nordgebäudes. Auf dem Weg zum Fahrstuhl wirbelte ein warmer Sommerwind durch die Etage und seine halblangen, lockigen Haare durcheinander. Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem fiesen Schleifgeräusch, gefolgt von einer Stimme in seinem Rücken.

»Robert, nimmst du mich mit?«

Robert fluchte still, drehte sich um und setzte ein Lächeln auf. Mit Walter Zimmermann, der sich ihm im Laufschritt näherte, hatte er sich am Anfang seiner Zeit beim BND ein Büro geteilt. Beide kamen frisch von der Uni, Zimmermann nach einem Jura- und Robert nach einem Politikstudium mit Schwerpunkt Mittlerer Osten. Zimmermann war einige Jahre jünger als Robert, aber Zimmermann hatte auch nicht vor seinem Studium als Soldat gedient. Für Robert war die Bundeswehr der einfachste Weg zu einem Studium gewesen, und wenn er ehrlich war, auch der einzige. Es gab niemanden, der ihn finanziell hätte unterstützen können. Im Zuge der ISAF-Mission hatte er Afghanistan aus nächster Nähe kennengelernt und sich anschließend im Studium darauf konzentriert. Bis heute wusste er nicht, wie der BND von seiner Abschlussarbeit erfahren hatte, aber nach der Fertigstellung seiner Masterarbeit über die Opiumproduktion in Afghanistan als wirtschaftliche Machtbasis der Taliban bot der Geheimdienst ihm einen Job an, noch bevor er sein offizielles Diplom in den Händen hielt.

»Mensch, Robert, alles okay? Du siehst ein bisschen kränklich aus.«

»Ja, ich fühle mich auch nicht besonders. Du hältst besser Abstand, vielleicht ist irgendetwas im Anmarsch«, sagte Robert, lauschte dabei dem Klang seiner Stimme und fragte sich, ob sie anders klang, wenn er log.

»Dann lasse ich dich besser allein fahren. Ich nehme den nächsten.«

»Ja, ist vielleicht besser so«, entgegnete Robert und verschwand im Inneren des Aufzugs.

Oben angekommen lief er mit schnellen Schritten durch die endlosen Gänge des Hauptgebäudes mit seinen fünftausendzweihundert Räumen. Jedem, den er kannte, nickte er nur kurz zu und hastete an ihm vorbei, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ohne anzuklopfen, betrat er Mohrmanns Büro. Der schaute von seinem Schreibtisch hoch; ein Zucken seiner rechten Augenbraue verriet Überraschung, vielleicht sogar Verwunderung.

Seiner Stimme hörte man sie nicht an. »Hallo, Robert, bitte setz dich.«

Robert zog einen der vier schwarzen Stühle von dem kleinen Konferenztisch unterhalb des Fensters weg und platzierte ihn direkt vor Mohrmanns Schreibtisch. Mit einem Schnaufen ließ er sich darauf nieder.

»Robert, alles okay? Du siehst nicht gut aus.«

»Komm zur Sache. Wer ist die Frau?«

Mohrmann Blicks schien: Okay, wie du willst, zu sagen, dann eben kein Austausch von Freundlichkeiten. Er schob ihm ein Blatt rüber. Robert sah ein Foto der Chinesin aus dem Fernsehen. Darunter las er das, was Mohrmann gerade wie ein Souffleur hinzufügte: »Jun Ji Bao, 11. 03. 1984, geboren in Shenzhen, China, Studium der Biologie.«

»Gut, was wisst ihr sonst noch über sie?«

»Eine der wenigen Frauen und gleichzeitig die jüngste Person, die offiziell Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften wurde.«

»Was verbirgt sich hinter dieser Akademie?«

»Das größte Forschungsinstitut der Welt, knapp fünfzigtausend Mitarbeiter. Es steht im weltweiten Ranking der Forschungseinrichtungen seit 2016 jedes Jahr auf Platz eins. Die Akademie wurde 1949 gegründet und hatte seitdem erst achtundfünfzig Mitglieder. Dort aufgenommen zu werden ist die höchste offizielle Auszeichnung, die China Wissenschaftlern zu bieten hat. Das gelingt nur den Besten.«

»Was hat sie hier in Deutschland gemacht?«

»Das ist eines der Dinge, die du für uns herausfinden musst«, entgegnete Mohrmann. »Wir wissen nur, dass sie im letzten Jahr sechsmal nach Deutschland gereist ist und jedes Mal mindestens eine Woche blieb.«

»Und so jemand taucht plötzlich im deutschen Fernsehen auf und will uns das größte Geheimnis Chinas verraten?«

Mohrmann sah Robert erwartungsvoll an und wartete auf die Schlüsse, die er zog.

»Dann muss sie etwas sehr schockiert haben. So jemand verrät nicht mal eben so nebenbei sein Land«, fuhr Robert fort.

»Yep, das sehen wir auch so«, meinte Mohrmann.

»Gibt es dazu schon ein offizielles chinesisches Statement?«

»Nein, Schweigen im Walde. Sonst ist China immer sehr schnell, Dinge zurückzuweisen oder zu dementieren, die ihnen nicht gefallen, aber in diesem Fall: nichts. Als ob sie nicht wüssten, wie sie darauf reagieren sollen.«

Robert stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wird Glatze aber gar nicht gefallen.«

Mohrmanns Lippen umspielte ein feines Lächeln; kaum jemand beim BND nannte den Kanzler intern beim Namen. Seine fehlende Haarpracht bot die ideale Steilvorlage für einen Spitznamen.

»Stimmt, deshalb habe ich dich auch angerufen. Du weißt ja, wie er ist. Bloß keinen Ärger. Er hat Loderer …« Mohrmann zögerte und sah Robert direkt an. »Hast du schon von Loderers Beförderung gehört?«

Robert schüttelte den Kopf.

»Okay, wie auch immer, Glatzes Leute aus dem Kanzleramt haben Loderer wissen lassen, dass sie im Hinblick auf den Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten am nächsten Wochenende die Sache möglichst niedrigschwellig behandelt sehen wollen. Wir sollen die Angelegenheit der Polizei überlassen und uns da raushalten.«

»Tun wir doch gerade.«

Die beiden Männer lächelten sich an.

»Genau. Deshalb wirst du bitte überall da rumkramen, wo wir es nicht sollen«, ergänzte Mohrmann. »Ich will wissen, warum die Frau so oft hier in Deutschland war. Vor allem aber will ich wissen, was der wahre chinesische Traum ist.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich weiß nur, dass sie in die Charité gebracht wurde.« Mohrmann stoppte abrupt und sah Robert an. »Bist du sicher, dass du den Auftrag haben willst?«

Robert nickte, steckte den Zettel ein und erhob sich.

»Warte«, sagte Mohrmann. »Ich habe eine neue Handynummer. Die schicke ich dir gleich. Kontaktiere mich am besten nur darüber.«

Als Robert die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal zu Mohrmann um. »Übrigens, meine Tagesgage sind jetzt siebenhundertfünfzig Euro. Du weißt schon, Inflation und so. Okay?«

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Dienstag, 2. Juni, 09:57, Altstadt, Wuhan

In ihrem kurzen blauen Lieblingskleid, das ihre schlanke Silhouette und langen Beine betonte, trat Maria auf die Straße und warf der Überwachungskamera an der gegenüberliegenden Häuserwand einen flüchtigen Blick zu. In den engen Gassen der Altstadt herrschte das übliche Gewusel aus aufdringlichen Händlern, eiligen Passanten und mürrischen Polizisten. Eine warme Brise streichelte beim Gehen die helle Haut ihrer nackten Arme und Beine, rüttelte sanft an den langen brünetten Haaren. Die Sonne liebkoste ihr Gesicht, das Männer zwar reizvoll fanden, Maria aber wie ein Sammelsurium von Makeln erschien. Unter einer Stupsnase lag ein zu breiter Mund, bei dem die obere Lippe ein wenig voller war als die untere und in dem die obere Zahnreihe in der Mitte eine schmale Lücke ließ. Das herausstechendste Merkmal der 29-Jährigen waren jedoch die großen eisblauen Augen, die sie heute hinter einer riesigen Sonnenbrille verbarg.

Fünf Gassen und drei Abbiegungen weiter erreichte Maria schließlich den Marktplatz. Sie näherte sich gerade ihrem Lieblingsstand – der stämmige Händler winkte sie bereits mit einem Lächeln zu sich –, als ihr Handy brummte. Maria kramte hektisch in ihrer beigen Ledertasche. Sie zog das Handy hervor und erschrak, als sie las, von wem die Nachricht war.

Wussten sie schon von der gestrigen Party? Hatte jemand sie verraten? Verflucht, sie durfte auf keinen Fall noch mehr Punkte verlieren; der niedrige Stand ihres Sozialkontos machte ihr schon genug Scherereien. Ihr blieben noch dreiundvierzig Minuten bis zum angezeigten Termin. Eine Verspätung ergab Minuspunkte. Sie winkte dem alten Mann zu, rief, dass sie später wiederkäme, und machte auf dem Absatz kehrt.

Mit ihrem E-Bike erreichte sie zwei Minuten vor elf das Polizeirevier. Außer Atem meldete sie sich zur Stelle und erntete missmutige Blicke und Schweigen. Der wachhabende Beamte, ein kleiner Mann mit dünnen Haaren, dickem Bauch und schiefen Zähnen fragte sie erst nach ihrem Namen, bevor er auf eine Reihe von schwarzen Plastikstühlen am Ende des Ganges wies.

Ihre Sitznachbarn wurden einer nach dem anderen aufgerufen. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis Maria an die Reihe kam. Die ganze Zeit erwartete sie den Beamten Chi, mit dem sie schon öfter zu tun hatte. Ein groß gewachsener Mann mit kalten Augen und Mundgeruch, der Maria seine Herablassung und Verachtung für Mischlingskinder stets hatte spüren lassen. Zu ihrer Überraschung erschien jedoch eine Frau, die sich als Frau Wu vorstellte und sie freundlich bat, ihr zu folgen.

Maria nahm sich vor, erst einmal zu schweigen. Sie spürte, dass dieses Treffen anders war, keine der üblichen Standpauken über ihre moralischen Verpflichtungen im chinesischen Sozialismus.

Wu, klein und zierlich, aber mit zackigen Bewegungen, trug keine Polizeiuniform, sondern ein schlichtes mittelgraues Kostüm, passend zur Farbe ihrer Haare, die in einem Knoten hinter dem Kopf zusammengebunden waren. Sie führte Maria in einen fensterlosen, weiß getünchten Raum mit grellem Neonlicht. Trotz einer Klimaanlage auf Hochtouren war die Luft stickig, darin ein leises Surren, wie das Geräusch eines unsichtbaren Motors. Wu bat sie, auf einem Stuhl vor der Längsseite des Tisches Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber. Zwischen ihnen lagen ein Tablet und eine Mappe. Wu zog das Tablet zu sich heran und tippte darauf herum.

»Frau Lin, es tut mir leid, aber ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«

Das ehrliche Bedauern in der Stimme verwirrte Maria. Wu sah sie an, als erwarte sie eine Erwiderung.

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, antwortete Maria zögerlich und hielt Wus Blick stand.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tante Jun Ji Bao verstorben ist.«

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Dienstag, 2. Juni, 11:34, Krankenhaus, Berlin

Seinen BMW parkte Robert im Schatten einer mächtigen Eiche. Er war froh, dem Berliner Verkehr entkommen zu sein. Morgens brandeten die Autos wie die Gezeiten in die eine Richtung, abends in die andere, und er als Treibgut mittendrin. Er wühlte in dem Handschuhfach und fand in der hintersten Ecke drei Ausweise. Heute würde er Kriminalist sein.

Er setzte die Sonnenbrille auf und ging zum Eingang der Charité. Er erkundigte sich am Empfang nach der pathologischen Abteilung und wurde mit mürrischem Ton ins Untergeschoss geschickt. Er marschierte an den Fahrstühlen vorbei und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Der Geruch ließ ihn abrupt stoppen.

Es roch wie damals in Kabul.

Er schloss die Augen.

Und befand sich wieder in einem Gewusel von Menschen. Alle liefen wild durcheinander. Wehklagen über Verstorbene vermischten sich mit verzweifelten Rufen nach Angehörigen. Die Luft stand, im Krankenhaus war es drückend heiß. Plötzlich erklangen draußen Schüsse. Robert nahm zwei Stufen auf einmal und erreichte das Untergeschoss. Nirgends ein Arzt zu sehen. Eine Schwester kam ihm entgegen und meinte, er müsse raus, hier sei es nicht mehr sicher. Er fragte nach Soraya. Sie zuckte mit den Schultern, in den letzten Tagen seien zu viele gekommen. Dann rannte sie los und rief: »Machen Sie, dass Sie wegkommen!« Schon war sie verschwunden.

Robert war jetzt allein. Er lief von Raum zu Raum und zog die Leichenfächer auf. Überall derselbe Geruch nach gereinigtem Tod. Er erreichte das Ende des Ganges und betrat das letzte Zimmer.

Dann öffnete er die Augen.

Kabul war verschwunden, der Geruch noch da.

Robert zitterte am ganzen Körper. Schweiß stand auf seiner Stirn. Sein Puls galoppierte. Wie nannte das sein Therapeut? Triggersituationen?

Mohrmanns letzte Frage echote in seinem Kopf. »Bist du sicher, dass du den Auftrag haben willst?«

Nein, auf einmal war er sich überhaupt nicht mehr sicher.

Er stützte sich am Treppengeländer ab und atmete tief ein und aus. Mit jedem Atemzug verlangsamte sich sein Herzschlag. Robert überlegte, auf dem Absatz kehrtzumachen, entschied sich aber dagegen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen; es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er das Ende des Treppenhauses erreichte. Unschlüssig stand er vor einer grauen Stahltür. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dieser verfluchte Geruch.

Mit einem Tritt stieß er die Tür auf.

Die Tür wurde abrupt gestoppt. Ein Poltern erklang, gefolgt von einen Schmerzensausruf.

Robert blickte durch den Türspalt und entdeckte eine zierliche Frau mit braunen glatten Haaren.

Sie rieb sich unter ihrem Pony die Stirn. »Passen Sie doch auf, verflixt noch mal!«

»Oh, das tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.«

»Das gibt eine ordentliche Beule. Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«

Robert zückte seinen Ausweis und hielt in ihr vors Gesicht. »Norbert Förster, Bundeskriminalamt, ich bin wegen der Chinesin hier.«

»Die aus dem Fernsehen?«, fragte die Frau und inspizierte den Ausweis.

»Ja, genau.«

»Und Sie sind vom BKA? Sprecht ihr euch nicht ab? Ihre Kollegen vom LKA waren doch schon da.«

»Ich weiß«, log Robert. »Aber ich mache mir immer gerne selbst ein Bild. Wurde Jun Ji Bao schon obduziert?«

»Ja.«

»Kann ich bitte mit dem verantwortlichen Arzt sprechen?«

»Tun Sie gerade.«

Robert trat einen Schritt zurück und betrachtete die Frau.

»Sie haben Jun obduziert?«

»Sind Sie taub, oder was?«

»Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Doktor …«

»Den Doktor können Sie sich sparen, ich habe keinen Titel. Sabine Neuendorf.«

»Frau Neuendorf, kann ich die Frau bitte sehen?«

»Nein, können Sie nicht. Sie ist nicht mehr hier. Das müssten Ihre Kollegen Ihnen doch schon erzählt haben.«

»Was ist passiert?«

»Ich war mitten in der Obduktion, als zuerst die beiden vom LKA hier auftauchten. Eine Frau Schulz und ein Herr Bier …, nein, Oberbiermann, ja, genau, so hieß er. Ich hatte Jun gerade erst geöffnet, als sie hier eintrafen. Die waren keine zwei Minuten hier, da marschierte plötzlich ein Trupp Chinesen von der Botschaft auf. Die machten einen gewaltigen Aufstand. Sie legten uns einen Diplomatenausweis der Verstorbenen vor und meinten, wir hätten die Frau nicht obduzieren dürfen. Sie bestanden darauf, die Leiche mitzunehmen.«

»So, wie sie war?«

»Ja, sie haben sie in einen mitgebrachten Sarg gepackt und waren auch schon wieder weg. Die LKA-Leute sagten mir hinterher, bei einem Diplomatenausweis versage jegliche staatliche Autorität.«

»Es war mir nicht bekannt, dass Jun Diplomatin war«, sagte Robert und versuchte, die darunter liegende Verärgerung anklingen zu lassen. »Diese Idioten im Außenministerium, das hätte man mir doch sagen müssen.«

Die Nummer zog.

»Tja, Kommunikation ist alles. Wenn Sie schon mal hier sind, was möchten Sie wissen?«

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Dienstag, 2. Juni, 11:46, Polizeirevier, Wuhan

Die Nachricht hatte Maria getroffen wie ein Schlag in die Magengrube. Sie wusste nicht, ob sie kreidebleich wurde, aber sie fühlte sich plötzlich wie mit Blei ausgegossen. Ihr wurde flau.

»Was? … Wie …?« Sie holte tief Luft. »Was ist passiert?«

»Ihre Tante ist auf einer Auslandsreise verstorben«, erwiderte Wu.

»Wie verstorben? Einfach so?«

Maria bemerkte ein kurzes Zögern bei Wu, bevor diese sagte: »Sie hatte einen Herzinfarkt.«

»Herzinfarkt? Meine Tante? Sie joggte beinahe jeden …« Maria stockte, es war egal, was man dachte, sie machten sowieso, was sie wollten, aber hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Okay, und jetzt?«, fragte Maria vorsichtig.

»Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie die einzige lebende Verwandte, korrekt?«

»Ja, sie ist … Sie war die Schwester meiner verstorbenen Mutter und hatte keine Kinder.«

Wu öffnete die Mappe und holte ein Blatt Papier hervor. »Hier ist ein Testament Ihrer Tante.«

»Woher haben …?«

Wu sah sie scharf an, Maria verstummte. Sie senkte die Augen. »Bitte fahren Sie fort.«

»Darin vermacht sie Ihnen all ihren Besitz, auch wenn das testamentarisch nicht notwendig gewesen wäre.«

»Kann ich es bitte sehen?«

»Sie kennen es nicht?«, fragte Wu lächelnd und zeigte dabei ihr überkrontes Gebiss.

»Nein, darüber hat sie mit mir nie geredet.«

»Über was hat sie denn mit Ihnen gesprochen?« Der Tonfall war plötzlich anders, die Lippen ihres Gegenübers waren nur noch ein zusammengepresster Strich.

»Wir …«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr geredet?«, setzte Wu sofort nach und beugte sich mit dem Oberkörper nach vorn. Sie fixierte Maria unablässig.

Maria wich instinktiv zurück. »Äh, ich weiß nicht. Warten Sie, vor vier Wochen etwa, ich habe sie zu ihrem Geburtstag angerufen.«

Wu schaute auf ihr Tablet und nickte. »Hat sie Ihnen von der bevorstehenden Auslandsreise erzählt?«

»Nein, wir haben so gut wie nie über ihren Beruf gesprochen.«

»So gut wie nie, was heißt das?«, fragte Wu und kniff die Augen zusammen.

»Ich meinte, eigentlich nie. Ich verstehe einfach zu wenig von Biologie, als dass ich ein passender Gesprächspartner für sie hätte sein können.«

Wu blickte Maria regungslos an, sie schien zu überlegen, ob sie Marias Worten Glauben schenken sollte oder nicht. Schließlich wechselte sie das Thema: »Ich darf Ihnen das Testament nicht zeigen, das muss der Notar tun. Schreiben Sie sich seine Nummer auf, dann müssen Sie nicht warten, bis er Sie kontaktiert.«

»Danke«, entgegnete Maria leise, während ihre Finger die diktierten Zahlen ins Handy eingaben. »Was passiert mit ihrem Leichnam?«

»Der wird nach Peking überführt. Werden Sie die Beerdigung übernehmen?«

Maria schaute von ihrem Handy hoch. »Selbstverständlich. Wurde in Deutschland eine Autopsie durchgeführt?«

»Nein, natürlich nicht, das wird bei Herzinfarkten nicht gemacht.« Wus Ton war barsch, sie legte beide Hände flach auf den Tisch und drückte sich hoch. »Bitte halten Sie sich zur Verfügung, falls wir noch Fragen haben.«

Maria erhob sich ebenfalls. Wu war schon auf dem Weg zur Tür.

»Ich habe noch eine Frage.«

Wu drehte sich rasch zu ihr um. »Und zwar?«

»Wird dieses Gespräch Einfluss auf mein Sozialkonto haben?«

Wu blickte für einen kurzen Moment ernst, dann lächelte sie. »Sollte es?«

»Nein, aber ich wüsste es einfach nur gerne.«

»Sie waren kooperativ, also keine Abzüge.«

Draußen holte Maria erst einmal tief Luft. Sie schwang sich aufs Fahrrad, und nach den ersten Metern traf sie die Nachricht mit voller Wucht. Mit aufkeimender Wut trat sie kräftig in die Pedale und ließ ihren Tränen freien Lauf. Herzinfarkt, na klar. Sie würde wohl nie erfahren, was ihrer Tante zugestoßen war. Die Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen, Maria ließ eine Hand vom Lenker los und wischte die Tränen mit dem Handballen aus den Augen. Auf ihren Wangen wanderten Tropfen umher. Der Fahrtwind zerrte sie zu den Ohren. Maria nahm einen Umweg am Wayu Park entlang und entging den Abgasen der Hauptstraßen. Eine Baumallee flankierte den Radweg. Sie sah nach oben, alle paar Meter fuhr sie unter Kameras hindurch. Wie an Angeln hingen sie über den Köpfen. Als Köder für ein umsorgtes, gefahrloses Leben, versprach die Partei, die Bösen werden damit herausgefischt, doch Maria sah, wie inzwischen die ganze Gesellschaft an diesen Haken zappelte. An jedem zweiten Baum war in einigen Metern Höhe eine weiße Querstange befestigt, sie ragte bis in die Mitte des Radweges und trug zwei in entgegengesetzte Richtungen ausgerichtete Kameras. War es nicht bis vor Kurzem noch jeder vierte Baum? Verdammt, die Überwachung wurde immer lückenloser. Dazu die ständigen Kampagnen zur persönlichen Lebensführung. Regelmäßig fand sie Nachrichten auf ihrem Handy, vor allem in der App Xuexi Qiangguo, der App von Präsident Xi Jinping. Natürlich wurde registriert, ob die Nachrichten geöffnet oder gleich gelöscht, ob sie vollständig abgehört oder nur angespielt wurden. Ob das Telefon beim Abhören stumm geschaltet oder das Gesagte laut abgespielt wurde. Maria hatte sich angewöhnt, die Nachrichten anzuklicken und das Telefon unter ein Kissen zu legen.

Leicht verschwitzt erreichte sie ihre Wohnung. Sie wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln, schob das Fahrrad durch das Gittertor in den Innenhof und lehnte es an die seitliche Betonmauer. Sie kehrte auf die Straße zurück und warf einen Blick in den Briefkasten, in dem ein kleiner Umschlag lag. Im Sonnenlicht drehte sie ihn um.

Kein Adressat. Kein Absender.

Unter der Luftpolsterung fühlte sie einen Knubbel. Rasch blickte sie sich um. Niemand beobachtete sie. Sie verbarg das Kuvert mit der Hand vor ihrem Bauch, ging zurück in den Innenhof und schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf. Einen Moment blieb sie unschlüssig hinter der Tür stehen, dann lief sie mit schnellen Schritten zum Flachbildschirm an der Längswand ihres Ateliers und stellte sich direkt daneben. In ihrem Freundeskreis kursierten Gerüchte über die in den Fernsehgeräten installierten Kameras. Man vermutete eine heimliche Ausspähung durch die Partei. Insbesondere bei Personen, die sich wiederholt kritisch geäußert hatten. So wie sie.

Ungeduldig riss sie den Umschlag auf. Etwas Gelbes purzelte heraus und fiel in ihre rechte Hand. Ein Gummiband war mehrfach um einen gelben Zettel gewickelt, der wiederum etwas umschloss. Maria zog das Band ab, entfaltete den Zettel und entdeckte einen kurzen USB-Stick. Sie strich den Zettel gerade.

Nur auf einem Computer ohne Internetanschluss anschauen.

Marias Herz klopfte bis zum Hals.