Die unvermutete Hoffnung - Dagmar Schenda - E-Book

Die unvermutete Hoffnung E-Book

Dagmar Schenda

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Beschreibung

Endlich finden die spannenden Ereignisse aus dem Roman "Der vermeintliche Verlust" mit dem vorliegenden Band ihre Fortsetzung. Karls Liebe zu Belinda und die Vorfälle in seiner Heimatstadt machen ihm die Entscheidung, auf die britische Insel zu übersiedeln, leicht. Ihn erwartet ein gut organisiertes Vampirleben einschließlich Identität, Studium und sozialer Kontakte - ein Dasein, das Karl sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermochte. Indem er zwischen die Fronten verfeindeter Vampirclans gerät, lernt er schonungslos die negativen Seiten seiner Existenz unter seinesgleichen kennen. In der Nähe von Desmonds Gestüt wohnen die langlebende Amanda und die geheimnisvolle Vampirin Claire. Für Karl bedeutet die Begegnung mit den beiden Frauen eine ungeahnte Wende. Karls Weggefährte Matthias, den die Liebe ebenfalls in den Süden Englands lockt, wird in der ländlichen Idylle von seiner frevlerischen Tat, die er vor zweihundertfünfundfünfzig Jahren beging, eingeholt. Durch das nicht beabsichtigte Überleben seines Opfers gerät Matthias unter Druck; er plant, seinen Fauxpas aufs schnellste zu bereinigen. Karl und er geraten in einen mörderischen Kampf.

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Vorbemerkung der Autorin

Wer je in Südengland war, weiß um die Vielzahl renommierter Herrenhäuser, Landsitze und Gestüte. Durch mehrere Rundreisen in diesem Gebiet gelang es mir von daher gut, einen Wohnsitz zu entwerfen, auf dem Desmonds Familie lebt.

Ihn geographisch in die Nähe des wohl bekanntesten Steinkreises zu verlegen gebot sich von selbst, denn bis in die heutige Zeit vermag sich niemand dem gewaltigen Zauber von Stonehenge zu entziehen. Und in vergangenen Jahrhunderten war es für Heilkundige wie Amanda eine Art Pilgerstätte. Wissenschaftlich belegt ist, dass die im Steinkreis vorhandenen Blausteine aus Wales herangeschafft wurden. Den nahegelegenen Ort Amesbury spielte mir der Zufall in die Hände; da seine Gründung auf einen römischen Ursprung zurückzuführen ist und er damals Ambrosebury lautete, war der Geburtsort von Ambrosius gefunden.

Bei meiner Reise durch Schottland stieß ich auf faszinierende Schauplätze. Die Ruine der Kathedrale von Elgin und die wunderbaren Bauten der Universitätsstadt St. Andrews verschmolzen zu dem Ort Cliffton, den ich erschuf, da ich eine Örtlichkeit nahe der Highlands benötigte. Das verschwiegen gelegene Gebäude, in dem der Hohe Richter lebt und in dem der Vampirrat zusammenkommt, entdeckte ich in ähnlicher Art, ebenso den nicht weit davon entfernten kleinen Flugplatz.

Alle Wesen in meinem Roman sind reiner Phantasie entsprungen. Wobei oftmals Begegnungen mit lebenden Personen eine Richtung wiesen. So inspirierte mich beispielsweise ein pfiffiger Verkäufer in einem winzigen Süßwarenladen auf der High Street in Edinburgh zu der Person des Rob.

Ganz besonders hilfreich waren die Einblicke, die Desmond mir gewährte. Mehrfach erlaubte er mir, seine umfangreiche Bibliothek zu nutzen. Zudem stand er mir mit manchem Hintergrundwissen und zahlreichen Erläuterungen bezüglich der Organisation innerhalb der Vampirfamilien zur Seite. Interna des Hohen Rats waren selbstverständlich vom Fluss der Informationen ausgenommen …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Prolog

Verschwitzt und von Unruhe getrieben, trat Klara vor ihre Kate. Gegen den Drang, sich zum Kloster Nonndorf auf den Weg zu machen, kämpfte sie an, da sie mit ihrem Auftauchen bei Karl kaum Verständnis fände. Stattdessen ging sie trotz der Dunkelheit die wenigen Schritte bis zum Fluss hinab. In den Nachtstunden dieses ungewöhnlich heißen August sorgte das Wasser wenigstens für ein bisschen Abkühlung, zog dafür aber unweigerlich Schwärme von Mücken an. Klara schlug ungehalten nach den sie mit nervtötendem Surren umschwirrenden Insekten. Dabei löste sich vorwitzig eine ihrer hellblonden Haarsträhnen. Während sie diese unwillig aus der Stirn pustete, fragte Klara sich, wie weltlich das Fest des Abtes wohl in diesem Jahr vonstattenging. Nur widerstrebend hatte sie ihrem Sohn die Mithilfe bei der Feierlichkeit erlaubt; obwohl sie wusste, dass er trotz seiner neun Jahre bereits Verantwortung für sie und ihren gemeinsamen Lebensunterhalt übernehmen wollte. Klara selbst half stundenweise im Haushalt der Bäckersfrau, was zwar lediglich ein geringes Einkommen bedeutete, ihr aber noch genügend Zeit für ihren Sohn ließ. Irgendwie kamen sie über die Runden, aber natürlich half jegliches Zubrot. Somit konnte sie es Karl nicht verdenken, dass er ihr heute Morgen fast trotzig erklärte, seine Entlohnung bestünde neben den üblichen Naturalien auch in Barem. Ohne einen weiteren ihrer Einwände abzuwarten, war er hocherhobenen Hauptes von dannen gezogen.

‚Ach, Richard, du wärest stolz und glücklich über unseren wohlgeratenen Jungen.’ Seit dem Tod ihres Mannes waren bereits sechs Jahre vergangen, doch ihre Trauer über seinen Verlust begleitete sie stetig. Aber diesmal ließ ihr die Sorge um Karl keinen Raum, ihren Erinnerungen an gemeinsame Zeiten nachzuhängen. Entschlossen schritt Klara zum Haus zurück, um aus Schicklichkeitsgründen einen Schal für ihre Schultern zu holen und ihrem Sohn entgegen zu gehen. Denn nicht nur die Glocke der kleinen evangelischen Kirche hatte bereits vor geraumer Zeit Mitternacht verkündet, das Geläut der Klosterglocke war ebenfalls ganz schwach herübergeklungen. Da durfte Karl es ihr einfach nicht verübeln, wenn sie sich zu dieser späten Stunde um ihn grämte. Zu ihrer Sorge gesellte sich Wut auf den Abt. War er nicht zuständig, darauf zu achten, dass ein neunjähriges Kind zu einer anständigen Zeit aus dem Dienst nach Hause geschickt wurde? Trotz der noch schwer in den Räumen hängenden Hitze, fröstelte Klara plötzlich, aufkeimende Panik ergriff von ihr Besitz. Überzeugt, dass Karl etwas zugestoßen war, zog sie hektisch ein leichtes Tuch aus der Kommode, schob die Schublade ungestüm zu und warf sich den Schal im Hinauseilen über. Ein leises Geräusch ließ sie mitten auf dem Weg innehalten.

»Karl?«

Noch bevor Klara sich suchend umzuwenden vermochte, sprang etwas mit einem tierisch anmutenden Laut auf ihren Rücken und zwei Arme schlangen sich unerbittlich fest um ihren Oberkörper. Dadurch strauchelte Klara, da sie jedoch trotz ihrer Schlankheit einen kräftigen Körperbau besaß, fing sie sich und versuchte mit aller Kraft, ihren Angreifer abzuschütteln. Doch dieses unbekannte Wesen umklammerte Klara wie ein Schraubstock, ihre Gegenwehr wurde schwächer und schwächer. Als es sich dann mit ungestümer Gier in ihren Hals verbiss, schien es alles Leben aus ihr herauszusaugen. Letztendlich war jegliches Ringen umsonst, Klara sackte, von Schwärze umfangen, zu Boden.

Hustend, mit dem Gesicht im Staub, tauchte Klara aus dem ihren Geist umgebenden Nebelschleier auf. Ihr ganzer Körper war ein einziger Schmerz, ihr Kopf ein dumpfer, schwerer Gegenstand. Dennoch versuchte sie ihn, nach Luft röchelnd, in eine seitliche Lage zu bringen, damit das Einatmen besser gelang. Bei jedem Atemzug durchflutete sie eine weitere Welle des Schmerzes; so blieb sie erst einmal liegen, um sich daran zu gewöhnen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch dann überwand sie die Qual und als sie vorsichtig den Kopf anhob, erkannte sie die in Blickrichtung liegende Uferböschung und wusste, dass sie auf dem Weg vor ihrer Kate lag. Beruhigt, sich in vertrauter Umgebung zu befinden, blinzelte Klara in die heraufziehende Morgenhelligkeit. Unverständlicherweise fürchtete sie sich vor dem herannahenden Tag und die noch eben verspürte Sicherheit wich schlagartig. Ängstlich wie ein gefährdetes Tier, kroch sie unter großen Mühen rücklings in ihr Haus. Mit enormer Anstrengung zog sie sich am inneren Türrahmen hoch, schlug die Tür unter Aufbietung aller Kräfte zu und hantierte an dem Riegel, bis es ihren kaum gehorchenden Fingern gelang, ihn zuzuschieben. Klara lehnte sich ermattet gegen das warme Holz, doch nicht nur heftiges Schütteln plagte sie, sondern ihre ausgetrocknete, raue Kehle ließ sie ebenfalls nicht ruhen. Ihr Blick wanderte zu dem wenige Meter entfernt auf der Küchenanrichte stehenden Wasserkrug. Zeitlupenmäßig schleppte sie sich dorthin und trank gierig aus der Schöpfkelle. Umgehend rebellierte ihr Magen. Klara hastete, so schnell es ihr Zustand erlaubte, zu ihrer Waschschüssel auf dem Tisch neben ihrem Bett. Unter krampfartigem Würgen erbrach sie ihren gesamten Mageninhalt. Noch mit beiden Händen auf der Tischplatte abgestützt, kam sie langsam wieder zu Atem und richtete sich auf. Über der Waschschüssel hing ein Spiegel. Klara schrie - anhaltend und schrill. Ihr Spiegelbild sah sie mit blutunterlaufenen, wässrigen Augen an. Der Hals der Frau, die ihr entgegensah, wies Wunden auf, aus denen langgezogene blutrote Rinnsale über ihren Oberkörper geflossen und bereits verkrustet waren. Klara wich vor sich selbst zurück. Entsetzt streckte sie die Hände in Abwehrhaltung aus und taumelte auf einen Stuhl. Mit erschreckender Klarheit erkannte sie, was mit ihr geschehen war. Klara saß da wie gelähmt, kein sinnvoller Gedanke wollte ihr gelingen. Dann aber drang, wie aus einer fernen, längst vergangenen Zeit, eine Erinnerung an die Oberfläche.

»Karl, mein Sohn«, wimmerte sie, »ich habe auf dich gewartet. Wo bist du?«

Obwohl Klara den eindringlichen Wunsch verspürte, sich umgehend zum Kloster aufzumachen, um nach dem Verbleib ihres Sohnes zu fragen, musste sie gegen eine ungewohnte Lethargie ankämpfen. Beinah unwillig erhob sie sich und begann, was sich als sehr kräftezehrend herausstellte, sich ihrer verschmutzten Kleidung zu entledigen. Dann entleerte Klara das Erbrochene in einen Eimer, bedeckte ihn sorgfältig mit dem dazugehörigen Deckel, damit der ihm entströmende Geruch sie nicht erneut würgen ließ und reinigte die Waschschüssel ausgiebig. Danach säuberte sie sich selbst. Endlich, mit gebürsteten Haaren und frischer Kleidung versehen, konnte sie ihrem Spiegelbild standhalten und es gelang ihr, die leicht lockigen, von der Sonne noch heller gewordenen Haare sorgfältig hochzustecken. Während all dieser Tätigkeiten brachte sie nur einen einzigen Gedanken zustande: ‚Wo ist mein Kind?’ Vielleicht hatte Karl, da es spät geworden war, im Kloster übernachtet und war dann heute Morgen von dort zur Schule gegangen? Klara wandte sich von ihrem blassen Spiegelbild ab, griff, da sie nun ordentlich aussah und somit vors Haus treten konnte, nach dem Eimer, um den stinkenden Inhalt zum Abtritt zu bringen. Als sie an dem nach Osten gehenden Fenster vorbeikam, traf ein vorwitziger Sonnenstrahl ihren Arm. Ihr entwich ein kleiner Schmerzenslaut und sie sprang hastig einen Schritt zurück, wobei ihr der Eimer um ein Haar aus der Hand gefallen wäre. Ungläubig starrte sie auf die längliche Brandwunde, die umgehend ihren Unterarm zierte. Klara stellte den Eimer ab, krabbelte auf allen vieren zum Fenster und zog im Schutz der Wand von unten die Vorhänge zu. Was sie noch nicht wirklich hatte wahrhaben wollen, bestätige sich unerbittlich. Die Erzählungen von Nachtgeschöpfen, diesen Wesen, die nie mehr ins Tageslicht hinauskonnten, von den Monstern, die sich von Blut ernährten, stimmten also. Klara brach in haltloses Weinen aus. Niemals mehr konnte sie Menschen unter die Augen treten, weder zu ihrer Arbeitsstelle gehen, noch Einkäufe erledigen, ganz zu schweigen von den alltäglich zu verrichtenden Dingen außerhalb des Hauses. Zudem, was ihr am meisten zusetzte, war es ihr während des Tages nicht möglich nach Karl zu suchen. Es blieb ihr nichts weiter als zu hoffen, dass er entweder noch im Kloster bei den Aufräumarbeiten nach dieser Feier half oder in der Schule war und am Nachmittag unversehrt nach Hause zurückkehrte. Einerseits eine verlockende Aussicht, ihn wieder in die Arme zu schließen, andererseits blieb ihr keine Wahl, als ihn mit der unerbittlichen Wahrheit zu konfrontieren. Selbst wenn Karl sich nicht mit Grauen von ihr abwandte, wie sollten sie ihr wahres Wesen auf Dauer vor den Dorfbewohnern verheimlichen? Sie wäre eine zu große Gefahr für ihn, denn selbst jetzt noch, im Jahre siebzehnhundertsiebenundvierzig loderte der noch allgegenwärtige Hexenwahn schnell wieder auf. Weder sich selbst noch ihren Sohn würde sie vor Anschuldigungen und Schlimmerem schützen können.

Wie lange sie grübelnd unter dem Fenster gesessen hatte, wusste Klara nicht, doch nun wischte sie sich mit einer endgültig wirkenden Geste die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich wie in Trance. Es gab keine andere Möglichkeit; um Karl ein Leben unter seinesgleichen zu ermöglichen, musste sie ihn sich selbst überlassen.

Zwischen ihren Gefühlen hin und her gerissen, bereitete Klara ihre Flucht vor. Sie schnürte ein Bündel mit einigen unverzichtbaren Utensilien und packte wider alle Vernunft etwas Räucherwurst und Brot hinein. Eine verschließbare Blechkanne für Milch, die sie mit Wasser füllte, stellte sie dazu. Klara brauchte ungewohnt lange für diese Tätigkeiten und als sie sich für ihren Abschiedsbrief an den Tisch setzte, drohte sie einzunicken. Mit Mühe überwand sie die Schwäche, nahm die Feder zur Hand und begann zu schreiben.

Mein geliebter Sohn,

diese Zeilen schreibe ich unter äußersten Qualen da ich weder weiß wo du bist, noch wie es dir geht. Es ist mir nicht möglich nach dir zu suchen, auch kann ich nicht auf deine Rückkehr warten, denn ich bringe dich in Gefahr. Letzte Nacht wurde ich von Wesen, deren Existenz ich immer anzweifelte, ins Unglück gestürzt. Ich habe überlebt und bin nun eine unmenschliche Kreatur.

Du weißt, dass dein Vater diese einst heruntergekommene Kate für wenig Geld erwarb; somit gehört sie nun dir und sichert dir eine Unterkunft. Die Besitzurkunde lege ich zu diesem Brief.

Verzeih mir, mein geliebtes Kind. Ich bin nicht würdig, länger deine Mutter zu sein.

Klara unterschrieb, fügte, bemüht keine Tränen auf das Blatt zu vergießen, ordentlich Datum und Ort hinzu. Als sie den Brief vor dem Versiegeln noch einmal durchlas, fiel ihr auf, dass sie gar nicht wusste, ob sie von einem oder mehreren Wesen angegriffen worden war. Sie erinnerte sich an etwas auf ihrem Rücken und Zähne, die sich in ihren Hals gegraben hatten. Nicht mehr und nicht weniger. Nach einem zögerlichen Moment schob sie das Schreiben in den Umschlag und tropfte den Siegellack darauf. Zittrig stand Klara auf, ging zu dem mit schönen Drechslerarbeiten verzierten Küchenschrank und holte die Blechdose mit den Notgroschen heraus. Was den Inhalt nicht ganz richtig bezeichnete, denn die gut wirtschaftende Klara verfügte über eine recht beachtliche Summe Erspartes. Sie nahm nur einen geringen Teil an sich, stellte die Dose auf den Küchentisch und lehnte den Brief samt Urkunde dagegen. Erschöpft suchte sie Halt am Tisch. Da ihr bis zum Sonnenuntergang noch Zeit blieb, gab sie dem Wunsch sich auszuruhen nach.

Brennender Schmerz ließ Klara hochfahren. Die Sonne war zu der westlichen Seite des Hauses gewandert und ging langsam unter. Diesmal waren ihre Strahlen durch das an dieser Seite befindliche Fenster auf Klaras Hand gefallen. Gemildert durch die Scheibe, war auch jetzt eine nur kleine Brandwunde entstanden. Bestürzt und verschreckt sprang Klara vom Bett hoch und zog von der Seite her die Vorhänge zu. Durch ihre Unvorsichtigkeit verunstaltete sie eine weitere Verletzung. Schwer atmend fiel sie auf die Bettkante um sich zu sammeln. Karl war noch immer nicht nach Hause gekommen. Erneut widerstand sie dem Drang, nach ihm zu suchen. Ihr Entschluss stand fest. So erhob sie sich trotz der bleiernen Glieder, schüttelte und richtete ihr Bett und machte sich selbst noch einmal frisch. Dann wartete Klara, unbeweglich wie eine Statue auf dem Küchenstuhl sitzend, bis die Sonne vollends verschwunden war. Dann stand sie mit allergrößter Selbstüberwindung auf, brachte den Eimer mit ihrem Erbrochenen hinters Haus, entleerte ihn in eine Grube, wusch ihn mit Wasser aus der Regentonne aus und stellte ihn mit geöffnetem Deckel daneben ab. Noch einmal ging sie in ihre Kate und vergewisserte sich, dass Karl alles wohlbehalten und aufgeräumt vorfinden würde. Während sie sich für immer von ihrem Sohn und ihrem Heim verabschiedete, nahm sie, im Bewusstsein der Unabänderlichkeit, das bereitstehende Bündel und den Blechbehälter mit dem Wasser, verschloss die Tür und hinterlegte den Schlüssel an der nur Karl und ihr bekannten Stelle.

Ohne sich noch einmal umzuwenden schleppte Klara sich flussaufwärts. Niemand begegnete ihr und sie fand die Boote der Angler verlassen und vertäut am Ufer. Ein dunkler Kahn schien ihr am geeignetsten. Als sie ihr Bündel hineinlegte und sich abmühte hinterher zu klettern, kam sie sich ausgesprochen schäbig vor. Zu einer Diebin wurde sie, sie, die ihren Sohn zu Rechtschaffenheit erzogen und ihm vorgelebt hatte! Sollte sie dem Besitzer etwas Geld dalassen? Aber woher wüsste sie, dass es auch der Richtige fände? Mit einem Kopfschütteln, das sowohl eine Verneinung ihres Vorhabens als auch eine Maßregelung für ihr Tun ausdrücken konnte, hängte Klara die Ruder in die dafür vorgesehenen Halter und bugsierte den Kahn in die Strömung. In regenarmen Sommern führte der Fluss manchmal zu wenig Wasser um für größere Transportkähne schiffbar zu sein, doch solch einen kleinen Nachen beförderte er problemlos flussabwärts. Klara achtete darauf, möglichst nah am Ufer zu bleiben, stellte aber nach kurzer Zeit fest, dass links von ihr der üppige Baum- und Strauchbewuchs gerodet war. Hier waren die Arbeiten für den entstehenden Leinpfad, auf dem die Treidelpferde, mit Lastkähnen im Schlepp, zukünftig entlanglaufen sollten, schon fortgeschritten. Auf der rechten Seite hatte man ebenfalls begonnen und Klara fragte sich, ob sie rechtzeitig vor Anbruch des Tages auf ein geeignetes Versteck stieße. Noch lagen einige Nachtstunden vor ihr und sie ließ sich fast lautlos treiben. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie schnell eine Fahrt auf dem Fluss sie voranbrächte und es verblüffte sie, nach relativ kurzer Zeit Schloss Bruchfurth auftauchen zu sehen. Das links von ihr, auf einer sanften Anhöhe gelegene Gebäude zeichnete sich, bis auf ein, zwei Fenster, hinter denen noch Licht schimmerte, schwarz vor dem Nachthimmel ab. In der Gewissheit, dass man sie so weit unten auf dem Fluss nicht bemerken würde, hielt sie auf die Furt zu, wobei sie instinktiv versuchte, näher an das rechte Ufer zu steuern. Hier begann für sie absolutes Neuland, doch erleichtert stellte sie fest, dass dichter Bewuchs, manchmal bis in den Fluss hinein, vorhanden war. Mit wenig Kraftaufwand gelangte Klara weiter. Bald tauchten an dieser Seite des Ufers Dachfirste und Kamine einer Fabrik über den Baumwipfeln auf. Die sich deutlich vor dem Himmel abhebenden Umrisse signalisierten Klara, dass es Zeit war, nach einem Versteck Ausschau zu halten. Als nach einer Weile eine tief über den Fluss reichende Trauerweide ihren Weg kreuzte, ruderte sie kurzerhand darauf zu. Unter dem Baum war der Uferrand morastig und, da unerfahren in diesen Dingen, blieb sie mit dem Kahn in dem aufgeweichten Boden stecken. Sie wog ab, ob die anmutig herabhängenden Zweige genug Schutz böten, fand sie aber, durch den heißen Sommer bereits teilweise entlaubt, nicht dicht genug. Praktisch, wie sie nun einmal veranlagt war, verknotete sie ihren langen Rock zwischen den Beinen, schob ihre Unterhosen nach oben, zog ihre Schuhe aus und stieg, die Befestigungsleine mit einer Hand umklammernd, vorsichtig aus dem Boot. Sofort sank sie knöcheltief ein und schimpfte leise vor sich hin. Glücklicherweise stieg das Gelände leicht an und sobald Klara ein paar Schritte getan hatte, stand sie auf festem Untergrund. Sie konnte sich nun vollends aufrichten und zollte dem riesigen Baum, dessen Größe und Ausmaß sie erst jetzt richtig erkennen konnte, Respekt. Durch seine Neigung zum Fluss bildeten die überhängenden Äste ein natürliches Gewölbe. Klara fühlte sich zu der Weide hingezogen, wie zu einem Verbündeten. Und das schien sie tatsächlich zu sein, denn das Tau reichte genau bis zu einer vor ihr liegenden, leicht gewölbten Wurzel. Daran verknotete Klara das Seil in einer Art, dass einem Fischer, geschweige denn Seemann, die Haare zu Berge gestanden hätten. Doch Klara war damit zufrieden. Ermattet stolperte sie bis zum Baumstamm, lehnte ihre Stirn dagegen und weinte hemmungslos. Dieser Gefühlsausbruch verbrauchte den letzten Rest ihrer Kraft und sie sank zu Boden. Dort angekommen, umschlang sie den Stamm mit beiden Armen und flüsterte: »Lass mich unter deinem Dach schlafen und nie mehr aufwachen.« Dann schmiegte sie sich an die kühle Rinde, als wäre der Baum ein lieber Freund.

Doch die Weide kam Klaras Bitte nicht nach. Schon nach kurzer, schlafloser Ruhepause, quälten Muskel- und Magenkrämpfe ihren Körper. Sie setzte sich in die Hocke, schlang die Arme um die Knie und mühte sich, nicht laut zu jammern oder zu schreien. Sicher unter ihrem Schattendach verborgen, konnte sie durch die filigranen Weidengerten auf den Fluss schauen und die auf der Wasseroberfläche tanzenden Lichtflecken verrieten ihr, dass die Sonne inzwischen aufgegangen war. Sollte sie aller Qual ein Ende bereiten und einfach dort hinausgehen? Sie langte mit einer Hand nach hinten und stemmte sich am Baumstamm hoch. Mit leicht gesenktem Haupt schritt sie verhalten zu den herabhängenden Zweigen. Bereits im Begriff sie auseinanderzuteilen und hindurchzugehen, hielt ein lautes Rumpeln sie zurück. Verängstigt floh Klara wieder in den tiefen Schatten. Das Rumpeln kam näher und wurde in allergeringster Entfernung mit einem fröhlichen ‚brrr’ beendet. Verschiedene Geräusche, die Klara nicht sofort und eindeutig zuordnen konnte, drangen unter das Blätterdach.

»So«, eine jung wirkende Männerstimme erklang so unmittelbar hinter Klara, dass sie, mit dem Rücken an den Baumstamm gepresst, förmlich erstarrte, »woll’n uns mal eine kleine Rast gönnen, mein Guter.« Tätscheln, begleitet von einem wohligen Schnauben verrieten ihr, dass es sich wohl um einen Bauern oder Knecht mit Pferd und Karren handelte. Weiteres Treiben ließ Rückschlüsse zu, dass der junge Mann zuerst sein Pferd versorgte. Er ließ sich Zeit und redete immer wieder leise und liebevoll mit dem Tier. Aus irgendeinem Grund beruhigte Klara sein Verhalten und sie war fast versucht, hinter ihrem Stamm hervorzutreten. Doch als sie hörte, dass er seinem tierischen Freund mitteilte, er würde sich ein wenig unter der schattenspendenden Weide ausruhen, bevor sie den restlichen Weg bis zum Markt zurücklegten, verließ sie der Mut. Zufrieden seufzend ließ sich der Unbekannte genau auf der anderen Seite des Baumstammes nieder. Deutliche Kaugeräusche und leicht glucksendes Trinken wechselten in ruhiger Abfolge und ohne Eile. Dann war es, abgesehen von dem einen oder anderen sanften Schnauben des Pferdes, so still wie zuvor. Aber etwas anderes irritierte Klara. Sie drehte sich von dem Stamm weg, trat ein wenig zur Seite und versuchte in Richtung des Gespanns zu riechen, sog dann immer heftiger schnüffelnd die Luft ein. Klara war sicher, dass es Blutgeruch war, der ihr so ekelhaft und gleichzeitig verlockend in die Nase stieg. Dort wurde also frisch geschlachtetes Vieh zum Markt transportiert. Plötzlich war sie nur noch von dem Gedanken besessen dorthin zu gelangen um etwas von dem rohen Fleisch zu stehlen. Ganz langsam und vorsichtig äugte sie um den gewaltigen Stamm der stolzen Weide. Dort lehnte der Jüngling und gab, die Beine von sich gestreckt und mit leichtem Lächeln im Gesicht, kleine Schlafgeräusche von sich. Als Klara geduckt an ihm vorbeischlich, schnappte er hörbar nach Luft, verlagerte seine Haltung und - schlief weiter. Einen Moment beobachtete Klara ihn regungslos, aber als er sich nicht wieder rührte, versuchte sie, nicht in die Witterung des Pferdes zu geraten und lief, so leise es ging, hinter den Karren. Die Fracht war ordentlich mit einer Plane bedeckt und Klara hob eine Ecke an. Beinah wurde ihr übel, als sie der Geruch des toten Schweins mit penetranter Heftigkeit traf. Dennoch zog die Aussicht auf Blut sie magisch an. Darüber, dass das Tier, wie eigentlich üblich und erst recht bei dieser Hitze, nicht lebend zum Verkauf getrieben wurde, wunderte sie sich nur ganz kurz. Vielmehr beschäftigte sie das Problem, wie sie an ein Stück des Fleisches gelänge, schließlich besaß sie kein Metzgergerät. Da fiel ihr ein, dass sie ein Küchenmesser zu ihrem Proviant gepackt hatte. Alles weitere geschah wie unter Zwang; Klara zog die Plane wieder über das geschlachtete Tier, pirschte in geduckter Haltung zum Fluss und ihrem Boot, glitt fast lautlos durch den Uferschlamm, griff ihr Bündel, schnürte es auf und holte das große, mit langer Klinge ausgestattete Messer heraus. Triumphierend hielt sie es in der Hand und kehrte zu dem Objekt ihrer Begierde zurück. Erneut hob sie die Plane und stach, angestachelt von dem Blutgeruch, sofort zu. Doch das Messer rutschte ab und Klara merkte, dass es gar nicht so einfach war, ein Stück von einem mit fetter Schwarte bekleideten Schwein abzuschneiden. Sie säbelte und stocherte und als sie endlich ein Stück rohen, blutigen Fleisches in den Händen hielt, verspürte sie eine diebische Freude. Dann bemerkte sie entsetzt, dass Blut von dem Klumpen heruntertroff, setzte jedoch darauf, dass der Schatten diese Spuren überdeckte. Allzu lange stünde das Pferdegespann allerdings nicht mehr in selbigem und sicherlich wollte der Bauernsohn oder wer immer er war, bald weiterziehen. Somit galt es, einen geeigneten anderen Platz zu finden. Unbemerkt schlich Klara durch das den Karrenweg säumende Baumdickicht, bis es in einen kleinen Wald überging. Als sie sich verborgen genug fühlte, ließ sie sich unter einer schlanken Birke auf dem mit altem und neuem Laub bedeckten Boden nieder und saugte gierig an dem Fleisch.

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein und zwar für mehrere Stunden, denn als Klara erwachte, war es in dem Waldstück recht düster. Zerfahren setzte sie sich auf und erstickte einen vor Abscheu entfahrenden Laut. Denn trotz des dämmerigen Umfeldes erkannte sie nah neben sich den Rest eines rohen Stückes Fleisch auf dem sich Heerscharen von Insekten tummelten. Außerdem irritierten sie der grauenvolle Geschmack in ihrem Mund und ihre klebrigen Finger. Doch mit einem Schlag setzte die Erinnerung ein und Klara wusste nicht, ob das Gefühl des Ekels oder der Scham stärker war. Schnell stand sie auf und suchte sich einen Weg durch die dicht an dicht stehenden Bäume und Sträucher zum Fluss. Starke Äste und sperrige Zweige fügten ihr Kratzer zu, aber das war ihr egal. Als sie den Waldsaum erreichte, wurden die Büsche kleiner. Trauerweiden, wie etwas weiter oberhalb, gab es hier nicht. Also ging sie wieder tiefer in das Dickicht und flussauf, bis sie zu der Stelle kam, an der ihr Boot vertäut lag. Der junge Mann samt Gespann war längst fort und so konnte Klara schnurstracks zum Fluss hinuntergehen. Im Schutz der Trauerweide reinigte sie sich und ihr Kleid, was bei letzterem nicht vollends gelang, denn auf dem hellen Stoff blieben die Blutflecken gut sichtbar. Völlig konfus krabbelte Klara in den Kahn. Mittlerweile stand die Sonne tief im Westen und versuchte, rotglühende Strahlen unter Klaras schützendes Blätterdach zu schicken. Klara duckte sich tiefer ins Boot. Ihr blieb ohnehin nichts anderes übrig, als geduldig auf das Verschwinden des in tiefem Orange leuchtenden Balls zu warten, da der Flusslauf sie genau in den Sonnenuntergang hineinführen würde. In einem anderen, wie ihr schien vor langer Zeit gelebten Leben, hatte sie mit ihrem Ehemann Richard und ihrem Sohn Karl oft am Ufer gesessen, um staunend diesem immer wieder vollkommenen Schauspiel beizuwohnen. Und jetzt verfluchte sie die Szenerie, die ihr die Zeit stahl.

Endlich war das Gestirn hinter dem Horizont verschwunden und Klara stakte das Boot aus dem Schlamm. Schon bald trieb sie wieder mitten auf dem Fluss. Die Nachtstunden vergingen ohne Vorkommnisse, denn Behausungen lagen, wenn überhaupt, weit ab vom Wasser. Klara wunderte sich, dass ihr Körper sich ohne weiteres dem aufgezwungenen Schlafrhythmus anpasste. Sie fühlte sich jedenfalls hellwach, merkte aber, dass sie trotz der warmen Nacht bibberte. Mit einem Mal schlingerte das Boot und Klara spürte mehr, als sie in der nur unzureichend durch die schmale Sichel des beginnenden Vollmondes erhellte Schwärze sah, dass eine gewaltigere Strömung als bisher ihr Reisetempo beeinflusste. Weder wusste Klara, noch erkannte sie, dass ihr heimatlicher Fluss an dieser Stelle in einen größeren Strom mündete und dieser immer stärker Richtung Westen floss, bis er sein Wasser mit dem Meer vereinigte. Für den Moment bestand Klaras Sorge darin, nicht die Orientierung zu verlieren, denn nirgends zeichnete sich ein Uferrand ab. Bemüht, ihre Furcht zu unterdrücken, griff sie beide Ruder fester und manövrierte das Boot, in der Annahme dadurch in der Flussmitte zu bleiben, geradeaus. Sie irrte sich und merkte fast zu spät, dass sie ziemlich schnell auf eine steile Böschung, die zum Teil aus hartem Felsgestein bestand, zuhielt. Obwohl unerfahren, schaffte sie es, nicht mit voller Wucht dagegen zu knallen und stieß sich mit Hilfe eines Ruders längsseits. Trotz des Schreckens war Klara froh, wieder eine Begrenzung neben sich zu haben und setzte, zwar mühevoller als bisher, ihre Fahrt ohne kentern oder anderes Unheil fort. Ihre Arme begannen zu schmerzen und fast freudig begrüßte sie den langsam heraufziehenden Tag, der ein Ausruhen verlangte. Da sie ihre Umgebung nun deutlicher wahrnahm, erkannte sie die Breite des Stromes und auch, dass linker Hand ein Dorf oder eine größere Ansiedlung bis hinunter an den Fluss reichte. Bevor sie noch entscheiden konnte, ob es sinnvoll war dort anzulanden oder besser auf der unbewohnten Seite, führte die Strömung sie um eine Biegung und sie gewahrte etliche Boote und gar größere Schleppkähne, die vor ihr in einem kleinen Hafen dümpelten. ‚Nun’, dachte Klara, ‚dazwischen fällt mein Kahn vielleicht gar nicht auf.’ Zumal der rechte Uferrand kaum bewachsen war und ihr Boot nicht nur gut sichtbar, sondern auffällig allein dort läge. Ganz zu schweigen von einem schattigen Versteck für sie selbst. Ihr Entschluss beflügelte sie und Klara legte sich ins Zeug, um möglichst schnell an Land gehen zu können. Sie fand ein geeignetes Plätzchen zwischen zwei, an einem oberhalb der Wasserfläche in den Fluss hinausragenden Steg, vertäuten Fischerbooten. Sie befestigte ihr eigenes, wieder recht laienhaft, an einem der Pfosten, von denen der Steg getragen wurde und hob ihr Bündel auf dessen Holzplanken. Dann kletterte sie hinterher; dabei geriet ihr besudeltes Kleid in ihr Blickfeld und sofort wurde ihr klar, dass sie andere Sachen zum Anziehen benötigte. Als Klara dann hochsah, entfuhr ihr ein kleiner Schreckenslaut. Sie starrte in ein anzüglich grinsendes Gesicht mit Augen, in denen Berechnung lauerte. Der Mann, dessen Alter Klara aufgrund des struppigen, ungepflegten Bartes kaum schätzen konnte, machte einen Schritt auf sie zu. Er war barfuß und seine löchrige Kleidung enthüllte mehr von seinem Körper als sie verbarg. Er stank. »Na, mein Täubchen«, der Mann machte noch einen Schritt auf sie zu und verbreiterte sein Grinsen, was einige dunkle Zahnstumpen entlarvte, »so früh schon unterwegs … und so allein?« Blitzschnell grapschte er nach ihr, doch Klara trat genauso schnell zurück. Wieder machte er einen Schritt, Klara ebenso. Als er einen weiteren auf sie zuging, hätte Klara nur noch ins Wasser springen können, denn der Steg war zu Ende und auch so schmal, dass sie an ihrem Peiniger, der jetzt unmittelbar vor ihr stand, nicht vorbeikam. Klara fühlte sich dermaßen bedroht, dass sie sich insgeheim verfluchte, ihr Küchenmesser nach der Säuberung zuunterst in ihr Bündel gepackt zu haben. Jetzt reckte er sich, da Klara ihn mit ihren stattlichen einem Meter sechzig um Haupteslänge überragte, nach oben: »Wir können ins Geschäft kommen, mein Täubchen«, sein lüsternes Grinsen wich einem unerbittlichen, harten Ausdruck, »entweder du oder dein Kahn.« Klara nickte eingeschüchtert. »Aha, beides!«, spie er heraus, dabei hob er sein Gesicht so nah an sie heran, dass Klara vor Grauen beinah in den Fluss gesprungen wäre, doch sie nahm allen Mut zusammen. »Den ... Kahn«. Klara schluckte schwer. »Kluge Entscheidung«, spottete der Mann, nun wieder lüstern grinsend, »doch wie wär’s mit einem kleinen Extra, damit niemand erfährt, dass eine …«, er machte eine gekünstelte Pause, »Dame«, er maß sie von oben bis unten, wich aber keinen Millimeter von ihr ab, »so früh und so ...«, wieder machte er, süffisant grinsend, eine kleine Pause, »schmutzig, von wer weiß woher und von welchen Taten kommt?«

Vor Schreck begannen Klaras Knie zu zittern und sie fürchtete einen Moment, in sich zusammenzusinken, aber dann stieß sie ihn mit plötzlich aufflackernder Energie weg, schnappte ihr Bündel und rannte los. Ein wütender Ausruf, gefolgt von einem unmittelbaren Aufklatschen, verrieten ihr, dass es ihr tatsächlich gelungen war, diesen Fiesling ins Wasser zu stoßen. Ihren Vorsprung nutzend, raffte Klara ihren Rock und hastete auf die oberhalb des Ufers stehenden Häuser zu. Rasch verschwand sie zwischen den ersten niedrigen Gebäuden, wobei die heraufziehende Morgenröte sie zusätzlich zur Eile drängte. Vorsichtig, immer darauf gefasst, dass ihr jederzeit ein Fischer oder sonstiger Frühaufsteher begegnen könnte, bewegte Klara sich durch die engen Gassen, bis ein verwildertes Grundstück mit einem verlassen wirkenden Haus ihre Aufmerksamkeit erregte. Schnell huschte sie dorthin und fand, leicht versetzt, einen ebenso verlassen wirkenden Schuppen vor. Dessen unverschlossene Tür quietschte leicht und Klara begnügte sich mit einem Spalt, um sich hindurchzuzwängen. Von innen hob sie die Tür leicht an, so schloss sie sich geräuschlos. Klara ließ ihr zusammengeschnürtes Hab und Gut dahinter fallen und stemmte sich zusätzlich mit ihrem Rücken als Ballast solange dagegen, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Währenddessen nahm sie die Gerüche von altem Stroh und abgestandenen Tierausdünstungen wahr. Der aus Fichtenbrettern gezimmerte Stall war fensterlos, was Klara sehr begrüßte, doch die vielen Astlöcher und die durch viele heiße Sommer entstandenen Ritzen zwischen den einzelnen Bohlen ließen genügend Tageslicht hinein, um sich orientieren zu können. Zögernd tappte Klara zur hinteren Wand und die Schatten, die sie von ihrer Position aus bemerkt hatte, entpuppten sich als Gerätschaften. Schnell schleppte sie eine schwere Feldharke und einen robusten Spaten zur Tür und verkantete sie. Vielleicht hielt es Eindringlinge ab, doch wirklich sicher fühlte sie sich nicht. Bei weiterer Inspektion ihres Unterschlupfes entdeckte sie einen Hauklotz, in dem noch das Beil zum Zerspalten des Brennholzes steckte. Es musste von einer kräftigen Person dort postiert worden sein, denn die Schneide saß tief im Holz und es kostete Klara einiges an Mühe, es zu lösen. Danach bollerte sie den Klotz zur Tür, stellte ihn wieder auf und rückte ihn als zusätzlichen Schutz davor. Jetzt untersuchte sie das Stroh und fand einen Teil recht gebräuchlich. Gerade als sie es gegenüber der Tür zu einem Ruhelager aufgestapelt hatte, kamen ihr Bedenken. Bei dieser Lage würde sie sich einem Verfolger wie auf einem Präsentierteller anbieten. Also schleppte sie alles neben die Seite der Tür, auf der diese in den Angeln hing. So lag sie hinter der Tür verborgen, falls jemand diese von außen aufstieß. Sich nach Ruhe und Entspannung sehnend, sackte Klara erschöpft auf das Strohlager nieder.

Doch kein Schlaf brachte Erlösung, im Gegenteil, angsterfüllte Wachträume und die mittlerweile vertrauten Muskel- und Magenkrämpfe malträtierten Klara aufs Neue. Sie wälzte sich unruhig hin und her, bis der Lärm spielender Kinder sie hellhörig machte. Aufrecht sitzend, die Hände auf den schmerzenden Magen gepresst, wartete Klara ab. Wie befürchtet, kam die Rasselbande näher, jemand rüttelte an der Tür. Klara saß wie gelähmt.

»Wat’n, Tür zu?«, quäkte ein helles Stimmchen enttäuscht.

»Vielleicht is’ der olle Clausen zurück, wa’?« Eine dunklere Stimme stellte diese Vermutung an.

Eine dritte, sanftere Stimme mischte sich ein: »Kommt, geh’n wir. Krieg eh Ärger, wenn mein’ Mutter das ’rauskriegt.«

Klara hörte missmutiges Brummeln und wie zum Trotz rappelte noch mal einer ordentlich fest an der Tür; glücklicherweise löste sich keins der verkeilten Arbeitsgeräte. Die Stimmen ebbten ab, die Bengel suchten sich wohl für den heutigen Tag einen anderen Spielplatz. Dennoch wuchsen Klaras Ängste. Würden ihre Schutzmaßnahmen auch kräftigere Personen abhalten? Allein der Gedanke an diesen furchtbaren Mann vom Steg ließ sie erschauern. Ihm mochte sie auf keinen Fall ausgeliefert sein. Um das Beil, das sie so mühsam aus dem Hauklotz entfernt hatte zu holen, wollte sie schwungvoll aufstehen, stellte jedoch fest, dass sie zu schwach war. So ließ Klara sich zur Seite fallen und stützte sich mit den Armen hoch, machte die wenigen Schritte zu der Axt und zog das schwere Teil an seinem Stiel bis zu ihrer Lagerstatt. Nun stand ihr zwar eine gute, aber für sie kaum zu händelnde Waffe zur Verfügung. Nichtsdestotrotz fühlte sie sich dadurch sicherer und wagte es, sich wieder hinzulegen. Nur flach atmend, um den Schmerz einzudämmen, lauschte Klara den zunehmenden Geräuschen. Während die Dörfler mit ihrem Tagwerk beschäftigt waren, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich. Das Boot schrieb sie ab, denn sie wagte nicht, zum Steg zurückzukehren. Obwohl, so heruntergekommen, wie der Dieb ausgesehen hatte, gehörte er womöglich gar nicht zu dieser Gemeinde und fürchtete sich ebenso sehr vor Verfolgung wie sie. Dennoch fand sie es zu riskant, ihre Reise auf diese Art fortzusetzen. Zum Glück besaß sie noch ihr Bündel und somit ihren kleinen Geldvorrat. Irgendwie musste sie an Land weiterkommen, wobei ihr völlig unklar war, wohin sie wollte. Nur möglichst weit weg von ihrem Dorf, dorthin, wo niemand sie aufspürte. Klara grübelte und grübelte; die Gedanken an ihren Sohn aus ihrem Hirn zu verbannen, kostete sie unglaubliche Energie.

Endlos langsam verrannen die Stunden, die sich Klaras seelischen und körperlichen Schmerz teilten. Dann, endlich, fiel kaum noch Licht durch die Ritzen. Müde stand Klara auf und räumte leise ächzend die Sicherheitsvorkehrungen von der Tür. Niemand war mehr in die Nähe des Schuppens gekommen und mittlerweile war auch das Geschwätz der Erwachsenen und Getobe der Kinder, das im Sommer entsprechend lang andauerte, fast gänzlich verstummt. Klara hatte diese Zeit, in der der Tag in den Abend überging und sich eine milde Ruhe einstellte, immer als besonders friedlich empfunden und genossen. Vorbei. Klara riss sich zusammen, öffnete behutsam die Tür und spähte hinaus. Da sie weder rechts noch links jemanden entdecken konnte, legte sie die Distanz zwischen Schuppen und Gasse schnell zurück. Auch hier war alles ruhig und Klara gelangte an der nächsten Ecke auf einen breiten Weg. Stark ausgefahrene Karrenspuren deuteten darauf hin, dass diese Straße zum nächsten Dorf führte und Klara folgte ihr. Sie war noch gar nicht lange unterwegs, als die Umrisse von ein- bis zweistöckigen Gebäuden und der unvermeidliche Kirchturm einer Ansiedlung vor ihr auftauchten. So bald hatte Klara nicht mit dem Erreichen der Ortschaft gerechnet und sofort hielt sie Ausschau nach möglichen Verstecken; dennoch ging sie, für ihre Schwäche relativ zügig, auf die Bebauung zu. Unbehelligt gelangte sie zu den ersten, aus solidem Stein errichteten Häusern und als sie die leere Straße entlangging, fielen ihr gleich mehrere Geschäfte auf. Leicht gebeugt stahl Klara sich an der Bäckerei, dem Lebensmittelgeschäft und dem Metzgerladen vorbei. Aus letzterem drangen noch Geräusche emsiger Tätigkeit und Klara beeilte sich, trotz ihres Bedürfnisses nach blutiger Nahrung, ungesehen weiter zu kommen. Fast hatte sie das Ende der Straße erreicht und wollte in eine der schmaleren Gassen einbiegen, da erblickte sie über der Eingangstür des vor ihr liegenden Hauses das baumelnde Blechschild eines Schneiders. Sich bedächtig umschauend, trat sie vor das Fenster. Es war etwas größer als normal und diente wohl dazu, den Kunden die eifrige Arbeit des Schneiders zu offenbaren, denn dieser saß, von draußen gut sichtbar, vor einer Petroleumlampe und nähte. Klara trat dicht neben das Fenster und riskierte einen weiteren Blick. Der Auftrag schien eilig, denn es handelte sich um Witwenkleidung. Witwenkleidung! Klara hatte lange Zeit nach Richards Tod Trauer getragen, dann aber, mit Rücksicht auf ihren Sohn, wieder zu normaler Kleidung zurückgefunden. Aber in ihrer jetzigen Situation war es hilfreich, denn einer Witwe, wenn sie ihre Trauer nach außen entsprechend vermittelte, stellte keiner zu viel Fragen. Außerdem sah man Flecken nicht so gut auf schwarz. Natürlich reichte ihre Zeit nicht für eine Anfertigung und wie sollte sie außerdem erklären, dass sie von auswärts kam und diese Garderobe hier bestellen müsse? Da kam ihr eine Idee. Sie nahm allen Mut zusammen und klopfte an die Scheibe. Der Schneider hob nur kurz den Kopf und rief etwas über seine Schulter. Schon kam eine untersetzte gemütlich wirkende Frau aus den hinteren Räumen und öffnete die Tür. Klara hoffte inständig, dass bei der einzigen Lampe, die ja zudem nah beim Schneider stand, ihr Aussehen nicht weiter auffiel.

»Guten Abend!« Klara legte ihren ganzen Charme in die Begrüßung.

»N’abend«, erwiderte die Frau mit Neugier in der Stimme, »womit können wir dienen?«

»Ich bin auf der Durchreise«, das entsprach der Wahrheit, doch der nächste Teil verlangte Klara, die niemals log, alles ab, »ich erhielt die traurige Nachricht ... dass mein M...«, Klara nuschelte, »gestorben ist und da brauche ich ...«

»Wer ist gestorben?«

»Mein ... Mann!« Jetzt war es heraus und im Grunde entsprach es ja der Wahrheit.

»Meine Güte, Sie Ärmste, so jung und schon Witwe! Kommen Sie, kommen Sie. Ich mache Ihnen einen Tee, ja?«

Die Frau des Schneiders war die Fürsorge und das Mitleid in Person. Klara kam sich mehr als schäbig vor.

»So eine Tragik. Hast du das gehört?«, wandte sich die Frau an ihren ungerührt weiterstichelnden Mann. Der hob wieder nur kurz den Kopf und Klara sah, dass er ihr nicht glaubte. ‚Ein kluges Schneiderlein’, dachte sie.

»Ich geh’ dann mal Wasser aufsetzen«, sprach die wohlmeinende Gattin und eilte zurück in die hinteren Räumlichkeiten. Mit dem Schneider allein gelassen, fühlte Klara sich sichtlich unwohl. Sie hielt ihr Bündel unter den rechten Arm geklemmt und drehte sich zum Fenster.

»Was brauchen Sie denn?«

Überrascht wandte Klara sich um. Der Schneider sah sie, ohne Böswilligkeit im Blick, offen an.

»Eine … eine komplette Ausstattung. Mit Hut, Schleier, Handschuhen, aber es gibt da ein Problem ...«

Er sagte nichts, sondern wartete nur.

»Ich bin sehr in Eile und eine extra Anfertigung …«, den Rest der Erklärung blieb sie schuldig. Klara kämpfte gegen den ihr peinlichen Vorschlag an. »Vielleicht haben Sie etwas Gebrauchtes und ein paar Änderungen«, sie schluckte hart, bevor sie ihre Bitte vorbrachte, »könnten dann schneller oder sofort erledigt werden?«

Der Schneider legte seine Näharbeit zur Seite und stand auf. Klara bemerkte, dass er groß und schlank war, obwohl sein Beruf ihm schon einen runden Rücken eingebracht hatte. Er streckte sich und rieb, mit den Armen über Kreuz, seine schmerzenden Schultern.

In einer Ecke des Raumes stand eine Truhe, in der Klara Stoffe vermutete. Als der Schneider sie öffnete, entpuppte sie sich als wahre Schatzkiste, denn er zauberte flink mehrere schwarze Kleidungsstücke hervor. Er hielt sie sich zur Begutachtung vor die Augen und wählte dann, ohne Klara zu fragen, etwas aus.

»Gehen Sie nach hinten und ziehen Sie es an. Dann sehen wir weiter.«

Bevor Klara die Sachen von seinen ihr entgegengestreckten Armen nahm, fiel ihr siedend heiß etwas ein und sie erklärte hastig: »Selbstverständlich kann ich alles bezahlen … auch einen Zuschlag für schnelle Erledigung.«

Wieder sah der Schneider sie nur an und Klara beeilte sich, in den angewiesenen Raum, der sich als das Schlafzimmer des Ehepaares entpuppte, zu entschwinden. Hier entledigte sie sich schnell ihrer schmutzigen Sachen und hüllte sich in die schwarzen Kleider. Sie konnte es kaum fassen, aber der Sitz war perfekt. Ein Mieder, das hochgeschlossen und mit einem Stehkragen versehen war, ging in der Taille in einen angemessen weiten, bodenlangen Rock über. An den schmalen langen Ärmeln säumte eine edle Spitze den Rand und reichte ein paar Zentimeter über die Handrücken. Diese Garderobe hatte mit Sicherheit einer wohlhabenden Dame gehört. Ein wollenes Umschlagtuch, Spitzenhandschuhe und eine Haube, die das Gesicht durch einen überstehenden Rand rundum züchtig im Schatten hielt, bildeten eine würdevolle Ergänzung. Klara begutachtete sich in dem leicht blinden Spiegel über der Schlafzimmerkommode; trotz der vornehmen Ausstattung verliehen ihr die tiefen Ringe unter den Augen und die ungesunde Blässe ein krankhaftes Aussehen. Aber auch das war für eine Witwe nicht ungewöhnlich. In stummer Verzweiflung zupfte Klara einige Spitzen zurecht. Sie starrte ihr Spiegelbild noch einen Moment lang an. Wer oder was war sie eigentlich? Entmutigt wandte sie sich ab, um ihre ausgediente Kleidung zusammenzulegen. Indem sie auf das Kleider- und ihr Reisebündel schaute, fand sie es mehr als unpassend, mit solcher Art Gepäck durch die Lande zu ziehen. Erst einmal nahm Klara beides auf und trat mit nachdenklich in Falten gelegter Stirn in den Nähraum. Hier hockte der Schneider bereits wieder über seiner Arbeit und seine Frau, die gerade eine dampfende Tasse Tee hereinbrachte, blieb auf der Stelle stehen und brachte nur ein erstauntes: »Oh!«, hervor. Dann fasste sie sich. »Meine Güte, wie für Sie gemacht. Wirklich, wie ’ne Dame … ehem … also ich meine, es passt Ihnen gut, ja ...«

Verlegen reichte sie Klara den Tee, den diese mit einem dankbaren Lächeln entgegennahm. Kaum hatte Klara die Tasse zum Mund geführt, revoltierte ihr Inneres gegen den eigentlich angenehmen Geruch und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen. Sie tat so, als tränke sie einen Schluck. »Mmh, köstlich, aber noch etwas heiß. Kann ich die Tasse einen Moment abstellen?«

»’türlich, bitte, setzen Sie sich ruhig einen Augenblick.«

Beflissen zeigte die herzliche Frau auf einen Stuhl.

»Danke, sehr freundlich, aber ich muss weiter«, lehnte sie ab, obwohl sie sich gern ausruhen würde, denn ihre Beine trugen sie fast nicht mehr. Darauf bedacht, ihre Schwäche zu vertuschen, fragte sie den Schneider: »Was, bitte, bekommen Sie für diese einwandfreie Kleidung?«

Wieder maß der Mann sie und diesmal hielt sie seinem eindringlichen Blick stand bis seine Augen zu ihren Bündeln, die sie unter dem linken Arm hielt, wanderten. Es war, als verstünden sie sich ohne Worte, denn er erhob sich, griff unter den Tisch und holte eine zwar gebrauchte, aber gepflegt aussehende Reisetasche aus Leder hervor.

»Diese gehört noch zur Ausstattung dazu.«

Mit einem Klacken schnappten die Messingverschlüsse hoch und er hielt die Tasche auf, so dass Klara ihre Packen hineinlegen konnte. Dann nickte er. Ein erstaunlicher Mensch. Zu einer anderen Zeit hätte Klara ihn gern näher kennengelernt um zu ergründen, woher diese Weisheit und Menschenkenntnis rührte. Und auch, um zu erfragen, von wem die Kleider stammten. Stattdessen fragte sie noch einmal: »Wie viel bin ich schuldig?«

Die Eheleute tauschten einen Blick. Er setzte sich wortlos hinter den Tisch und nahm seine unterbrochene Tätigkeit wieder auf. Seine Frau eilte auf Klara zu, zog sie mit einer gutgemeinten Umarmung an ihren weichen Busen und sagte: »Wir beide wünschen Ihnen alles Gute. Möge Ihnen kein weiteres Unheil zustoßen!«

Von soviel Güte und Entgegenkommen überrascht, rang Klara nach Worten.

»Dan-ke!«, brachte sie mühsam hervor, »aber ...«, sie stockte, dann sammelte sie sich, »ich kann das nicht annehmen. Bitte, erlauben Sie mir ein geringfügiges Geldgeschenk!«

Statt einer Antwort erhob sich der Schneider erneut und kam um den Tisch. Er baute sich vor Klara auf. »Wie wollen Sie weiterreisen? Zu Fuß?«

Bevor Klara eine Antwort stammeln konnte, fasste er, nachdem er wieder einen einvernehmlichen Blick mit seiner Frau gewechselt hatte, ihren Arm und führte sie in die hinteren Räume, durch einen dunklen Flur und zu einer Tür hinaus auf einen Hof. Klara ließ alles geschehen. Nachdem ihr Helfer noch eine Laterne entzündet hatte, die er allerdings recht niedrig hielt, um lediglich den Weg auszuleuchten, verließen sie den eingefriedeten Bereich und gelangten durch ein Schlupftor in eine schmale Gasse. Fast lautlos bewegte sich der Schneider vor Klara durch ein Gewirr dunkler Wege, deren Oberflächen hart und holprig waren. Klara, die ihren kostbaren Rock mit beiden Händen anhob, wobei die voluminöse Reisetasche hinderlich war, ertappte sich für den Bruchteil einer Sekunde bei dem Gedanken, ob es nicht ein Fehler war, diesem Fremden so vorbehaltlos zu folgen. Doch bevor sich weiteres Misstrauen in ihrem Kopf festzusetzen vermochte, schalt sie sich; wie der Spiegel im Schlafzimmer ihr noch vor wenigen Minuten gezeigt hatte, wirkte sie selbst nicht gerade wie das Vertrauen in Person. Von diesem kurzen Gedankenspiel abgelenkt, bemerkte Klara fast zu spät, dass der Schneider vor einer kaum erkennbaren Holzpforte stehengeblieben war und konnte noch gerade ihren Schritt anhalten.

Er klopfte in einem bestimmten Rhythmus, neigte seinen Kopf lauschend der Tür entgegen und löschte die Laterne. Völlige Schwärze umgab sie. Nach einem kurzen Moment hörte Klara, dass die Tür ein wenig aufgezogen wurde und sofort flüsterte der Schneider: »Hier ist eine unglückliche Witwe, die ob ihres Kummers unbehelligt zu reisen wünscht.«

Klara erstaunte die Ausdrucksweise des Schneiders und ein weiteres Mal bedauerte sie, wohl nie etwas über sein Leben zu erfahren.

»Hast Glück«, schnarrte eine raue Stimme, »noch’n Platz frei. Geht nach Kalä.«

»Calais?«, fragte der Schneider nach.

»Sag ich doch!«, kam brüsk und ungehalten die Antwort.

Klara, deren Augen sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nickte dem Schneider, der seinen Kopf fragend nach ihr umwandte, bejahend zu, nicht ahnend, wo genau das Reiseziel lag.

»Die Dame würde sich gern anschließen«, vermittelte der Schneider.

Daraufhin wurde die Holztür so weit geöffnet, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Erstaunt blickte Klara sich um. Sie stand in einem großen Hof; rechter Hand fiel Licht durch ein kleines Fenster und sie bemerkte einen dunkel gekleideten Mann, der in dem Raum dahinter unruhig auf und ab ging. Geradeaus sah sie Fackeln neben einem großen Doppeltor hinter dem sie Stallungen vermutete. Weiter links stand eine wuchtige, durch die zuckende Beleuchtung gespenstisch wirkende Kutsche. Jetzt wandte Klara ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, der sie hineingelassen hatte. Trotz des schwachen Lichts entging ihr der verschlagene Blick des kleinen, leicht buckligen Mannes nicht und eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Sie hoffte inständig, dieser Kerl wäre nicht der Kutscher. Hilfesuchend blickte sie den Schneider an. Er hatte sie beobachtet.

»Wann fährt Johannes los?«

Klara lächelte in sich hinein. Wie klug dieser Mann doch war und wie sensibel.

»Gleich«, antwortete der Bucklige und griente abschätzend in Klaras Richtung, »wenn se bezahlen kann. Sonst«, er trat näher, »kann se hier arbeiten bisse de Moneten zusammen hat.«

Bei seiner eindeutigen Geste, welche Leistungen er in diesem Fall erwartete, sog Klara ungehalten, und entsprechend geräuschvoll, die Luft ein.

»Wie viel?«, kam der Schneider zum Wesentlichen, stellte sich schützend vor Klara und verhinderte dadurch, dass sie den Buckligen angiftete und auf der Stelle kehrt machte. Als dann die Summe genannt wurde, zuckte Klara zusammen, erhielt aber immerhin eine Erklärung.

»Is’ ’ne weite Fahrt, da sind Schlafgelegenheiten und Zollbeamte zu berappen, Futter für die Gäule, ein Gefahrenzuschlag für den Kutscher«, er legte den durch den Buckel stets schiefen Kopf noch schiefer, »und die Vermittlungsgebühr.«

Seinen Wunsch, Klara sei nicht in der Lage, sich diese Ausgaben leisten zu können, sah man ihm an. Tatsächlich blieb Klara dann nicht mehr viel von ihren Ersparnissen und sie war mehr als dankbar, dass der Schneider und seine Frau kein Geld von ihr genommen hatten. Wahrscheinlich wussten sie, was auf sie zukommen würde.

»Wer bekommt das Geld?«

Mit Genugtuung sah Klara, wie sich das Gesicht dieses Widerlings verdüsterte. Und noch größere Freude bereitete ihr der Umstand, dass wie auf Kommando eine hagere Frau aus dem Haus trat, sofort auf sie zueilte und mit hartem Ton forderte: »Fahrgeld kassiere ich!«

Klara drehte den beiden den Rücken zu, während der Schneider wieder die Laterne entzündete und ihr leuchtete, damit sie in der geräumigen Reisetasche das gut versteckte Geld fand. Sie zählte den Betrag ab und versuchte zu verhindern, dass der Schneider mitbekam, wie wenig dann nur noch in der Börse verblieb und auch, wie die immer heftigeren Krämpfe sie schüttelten. Als sie hoch sah, war eindeutig, dass er genau um ihre Situation wusste. Schnell legte Klara der Frau den Betrag in die ungeduldig verlangende Hand.

»Setzen Sie sich gleich ’rein«, ihr Kinn wies zu der Kutsche, »Johannes kommt schon.«

Mit diesen Worten ging sie einem großen, knochigen Mann, der zwei Pferde aus dem geöffneten Doppeltor führte, entgegen. Sie übergab ihm einen, wie es Klara schien, nur geringen Teil des eben eingenommenen Geldes. Der Kutscher nahm es ohne nachzuzählen und trottete mit den Tieren weiter, um sie ins Geschirr zu spannen.

»Komm!«, herrschte die geschäftstüchtige Alte ihren buckligen Ehemann an, der ihr, mit einem letzten wollüstigen Blick auf Klara, unwillig ins Haus folgte.

Noch einmal wandte Klara sich dem Schneider zu. Ihr Geld war bis auf eine winzig kleine Summe weg und sie stand im Begriff, ihre Heimat und ihren Sohn, für immer zu verlassen. Obwohl sie diese Entscheidung vor vielen Stunden getroffen hatte, erkannte sie es mit einer Endgültigkeit, die ihr die Kehle zuschnürte. Während sie mit diesen Gefühlsaufwallungen kämpfte, stellte der Schneider die Laterne hart auf den Boden und löste eine ihrer verkrampften Hände von dem Griff der Reisetasche. Er nahm sie zwischen seine beiden und die Wärme durchströmte Klara sanft und wohltuend. In seinen Augen las sie alles Ungesagte. Als Klara merkte, dass die Tränen immer höher stiegen, entzog sie ihm ihre Hand und dankte ihm mit einem letzten stummen Blick. Fest packte sie die Tasche und ging entschlossen zu dem Gefährt, das sie in eine ungewisse Zukunft bringen würde.

In der ersten Nacht nahm sie von den Mitreisenden kaum Notiz. Vielmehr war Klara bemüht, ihre Krämpfe und die damit einhergehende Schwäche unter Kontrolle zu halten. Obwohl nur eine wenig Licht spendende Lampe neben dem Kutschbock baumelte, umfuhr Johannes jedes Schlagloch, indem er leise auf seine Pferde einredete. Dennoch war das Schaukeln und Ächzen der Fahrgastkabine eine Tortour, denn als Klara in die Kutsche geklettert war, stellte sie fest, dass sie zwar klotzig, aber aufgrund des Alters und nachlässiger Wartung mehr als marode war, unzureichende Federung eingeschlossen. Gegen Morgen bog Johannes in einen aus aneinandergereihten Unebenheiten bestehenden Feldweg, was allen Reisenden schwer zu unterdrückendes Stöhnen entlockte. Endlich gelangten sie in eine Scheune, deren Tore sofort geschlossen wurden, kaum, dass die Pferde still standen. Mit zerknautschter Garderobe verließen sie nacheinander, ohne dass jemand ein Wort sprach, ihr Gefährt. Pieksendes Stroh, auf einem einzigen Haufen liegend, diente als Lager und als Verpflegung standen Kannen mit Milch und in Scheiben geschnittenes Brot, dessen Seiten sich nach oben bogen, bereit. Der dunkel gekleidete Mann, den Klara vor der Abreise durch das Fenster gesehen hatte und der in der Kutsche den Platz neben ihr einnahm, stapfte in die hinterste Ecke, schob ein wenig Stroh zur Seite und legte sich, ihnen allen den Rücken zukehrend, hin. Die beiden anderen Mitreisenden waren hinter der Kutsche verschwunden, Johannes versorgte die Tiere und die unsichtbare Person, die das Tor geschlossen hatte, blieb unsichtbar. So nahm niemand von Klara Notiz, als sie behutsam an der wenig einladenden Ruhestatt vorbei zur Seitenwand der Scheune ging. Wie vermutet, befand sich hier eine Tür. Sie war nur angelehnt und Klara drückte sie vorsichtig auf. Dahinter befand sich ein dunkler Lagerraum, angefüllt mit aufgestapelten Kisten und unterschiedlichsten Gerätschaften. Klara schlängelte sich, bemüht nichts umzustoßen oder sonst ein Geräusch zu verursachen, bis zu einer weiteren Tür hindurch. Lauschend legte sie ein Ohr an das grob gezimmerte Holz. Da alles ruhig schien, öffnete Klara beherzt auch diese Tür und siehe da, sie stand in der Küche des Anwesens. Blutgeruch stieg ihr in die Nase und mit sicherem Gespür ortete sie die Quelle. Im hinteren Bereich warteten auf einem großen Holztisch zwei geschlachtete Hühner auf ihre weitere Verwendung.

Wie beim ersten Mal, als sie sich solcher Nahrung bediente, war Klara voller Ekel vor sich selbst, fühlte sich aber gestärkt. Das Zittern ihres Körpers ließ nach und sie fühlte sich in der Lage, den anderen wieder entgegenzutreten. Selbstbewusst kehrte sie in die Scheune zurück und richtete gleich neben der Kutsche einen kleinen Haufen Stroh für sich. Leider mied sie der Schlaf; stattdessen lösten sich eingebildete Szenen von Scheiterhaufen, auf denen als Hexen bezichtigte Frauen brannten mit realen Erinnerungen an einen Knaben, der am Fluss spielte, ab. Ein junger Mann kam von der Arbeit heim, wirbelte sie herum, sie lachten und scherzten. So ging es in kunterbunter Reihenfolge Stunde um Stunde.

Als Johannes sie endlich zur Weiterfahrt aufforderte, war es eine einzige Erlösung. Trotz dieser alptraumhaften Wachstunden fühlte Klara sich genug bei Sinnen, die anderen näher in Augenschein zu nehmen. Ihr gegenüber saß ein höchstens sechzehnjähriges, fast unaufhörlich kicherndes Mädchen, das sich mehr als aufreizend an den wesentlich älteren Herrn neben ihr schmiegte. Die Wohlhabenheit des Mannes war ebenso augenscheinlich wie die niedere Herkunft seiner Geliebten. Dass ihre Liaison nicht ohne Folgen geblieben war, zeichnete sich deutlich an dem Leibesumfang des Mädchens ab. Klara kochte vor Zorn mit ansehen zu müssen, wie dieser edle Herr ab und an herablassend seine Begleiterin tätschelte oder ihr einen hochmütigen Blick gönnte. Zu Hause spielte er wahrscheinlich den achtbaren Bürger und damit es so blieb, musste er das gutgläubige Ding während dubioser Nachtfahrten über die Grenze schmuggeln. Wer weiß, was sie dann, allein und hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert, erwartete. Denn Klara hegte keinen Zweifel, dass dieser hochnäsige Mensch sich mir nichts, dir nichts davonstehlen würde.

Klaras düstere Gedanken wurden abgelenkt, als Johannes ohne Vorwarnung mitten auf offener Strecke hielt und mit der Laterne Signale gab. Ihr hohlwangiger, ansonsten stocksteif dasitzender Reisenachbar schob mit einer erstaunlich raschen Bewegung seine sorgfältig gehütete Aktentasche unter die Sitzbank; ihr Inhalt schien nicht für jedermanns Interesse bestimmt. Hufgetrappel hallte gespenstisch laut durch die Nacht und je näher es herankam, umso stärker breitete sich in der Kabine Unbehagen aus. Die Kutschpferde schnaubten und trampelten auf der Stelle, als ein einzelner Reiter sie erreichte und sich neben dem Bock postierte. Draußen wurde kaum gesprochen, lediglich das Klimpern von Münzen verriet, was geschah. Kurz darauf schnalzte Johannes und die Pferde setzten sich in Trab. Als für einen kurzen Moment der Reiter neben dem Fenster sichtbar wurde, erschrak Klara zutiefst. In seiner Uniform, den riesigen Vorderlader auf den Knien, wirkte der Fremde furchteinflößend. Noch nie zuvor hatte Klara über Zollbeamte nachdenken müssen oder darüber, dass sie Papiere benötigte, die ihr Grenzüberschreitungen gestatteten. Aber die Nervosität ihrer Mitreisenden, insbesondere die Anspannung, unter der ihr Sitznachbar stand, beruhigten Klara. Von dieser Reisegruppe drohte kein Verrat.

Ohne weitere Aufenthalte rumpelten sie dem Morgen und somit der nächsten Rast entgegen. Beim Anblick des heruntergekommenen Stalls, den man ihnen zumutete, hob das junge Mädchen zu einer Schimpftirade an. Ihr zahlungskräftiger Begleiter sah sich veranlasst, sich fragend an Johannes zu wenden.

»Nein, mein Herr«, der Kutscher erwies sich als ausgesprochen höflich, wobei Klara, die ebenfalls die Kutsche verlassen wollte, aber an den dreien nicht vorbeikam, einen durchaus ironischen Unterton heraushörte, »da hilft Ihnen keine noch so dicke Geldbörse. Von nun an werden die Unterkünfte immer weniger komfortabel. Es bleibt Ihnen unbenommen, die Reise abzubrechen.«

In dem ihr seitlich zugewandten Gesicht des noblen Herrn spiegelte sich beherrschte Wut. Nonchalant nahm er, während er beschwichtigend auf seine junge Freundin einredete, deren Arm und führte sie tiefer in den muffigen Raum. Klara war es nun möglich auszusteigen und sie folgte den beiden. Auch für sie war ein vor Schmutz starrender Schuppen kein Ort, um sich von den Strapazen der Nacht zu erholen, aber insgeheim konnte sie nicht verhehlen, dass sie es diesem Herrn gönnte. Johannes schien ähnliches zu empfinden; er stand lächelnd da und pfiff zufrieden vor sich hin. Trotzdem entgingen Klara die tiefen Furchen, die seinen Mund einrahmten, nicht. Sie verliehen ihm ein älteres Aussehen. Diese Fahrten, auf die er sich höchstwahrscheinlich einließ, um eine vielköpfige Familie zu ernähren, bargen stets ein hohes Risiko und das blieb nicht in den Kleidern hängen. Aber das war nicht ihr Problem.

Wieder blieb Klara schlaflos und, aus Mangel an Gelegenheit, gänzlich ohne Nahrung. Ihr Körper strafte sie wie gewohnt mit Krämpfen und verminderter Fähigkeit, die Dinge um sich herum wahrzunehmen. Klara gehorchte in den folgenden Nächten und Tagen nur mechanisch dem Wechsel zwischen Weiterreise und Ruhepausen. Sie wurde immer lethargischer. Bald fehlte ihr jedes Zeitgefühl, sie vermochte nicht nachzuvollziehen, wie lange sie unterwegs war. Die anfänglich so propere und gut sitzende Witwenkleidung schlotterte um ihren Körper und starrte vor Dreck; zudem haftete ihr, was sie mit den anderen Reisenden verband, ein unangenehmer Geruch an. Manchmal nahm sie etwas Wasser und Brot zu sich; sie behielt es im Magen, wusste aber, dass sie auf Dauer so nicht überleben würde.