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Besuch ist ja eigentlich etwas Schönes – doch als gefühlte hundert Vampire sich im Hause Tepes breit machen, weil sie vor der finsteren Herrschaft des Diktators Honk Prut aus Bistrien geflohen sind, wird es doch bald zu kuschelig. Als die Vampire sich in ganz Bindburg breit machen, hofft Daka, dass sie endlich das Versteckspiel beenden können und offen als (Halb-)Vampire in Deutschland leben werden. Leider sind aber nicht alle Menschen von den neuen Nachbarn begeistert ... Franziska Gehms lustige Reihe für Mädchen ab 10 Jahren begleitet die halb-vampirischen Teenie-Schwestern Daka und Silvania durch ihren Alltag mit Eltern und Schule, aber auch durch Abenteuer mit bissigen Fledermäusen und der ersten Liebe. Unterstützt werden die paranormalen Heldinnen von Helene, deren Freundschaft allen Unterschieden, Hindernissen und Gefahren trotzt. Mehr Infos rund um die Vampirschwestern unter: www.vampirschwestern.de
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Seitenzahl: 169
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Das ganz große Geschäft
Es war ein milder, malerischer Nachmittag in Bindburg. Touristen, Rentner und Eltern mit Kleinkindern schlenderten durch die Innenstadt. Tauben gurrten auf dem Rathausdach und sahen auf die Menschen hinab. Beschlipste Geschäftsleute genehmigten sich einen Espresso, während sie auf dem Handy mit anderen beschlipsten Geschäftsleuten telefonierten. Straßenbahnen ruckelten und quietschten. Die Bindau floss gemächlich durch die Großstadt. Sie kannte keine Zeit und Eile.
Für Daka aber war gerade die beste Zeit des Tages: Schulschluss! Kaum hatte es in der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule geklingelt, stürmte Daka zur Haupttür hinaus und hüpfte die Treppen hinunter. Am liebsten wäre sie geflogen oder geflopst. Das Klingeln nach der letzten Schulstunde verlieh ihr immer einen sagenhaften Energieschub (während das Klingeln zur ersten Schulstunde sie eher in einen Tiefschlaf versetzte).
„Kommt ihr mit auf den Friedhof?“, fragte Helene ihre Freunde. Andere Mädchen gingen gerne ins Schwimmbad, zum Ballett oder zur Reitstunde. Helene, die beste Freundin der Vampirschwestern, ging gerne auf den Friedhof. Sie liebte die Ruhe, die uralten hohen Bäume und die Grabsteine, die manchmal ganze Lebensgeschichten erzählten.
Ludo, der mit Helene, Silvania und Daka vor die Schule getreten war, schüttelte den Kopf. „Bin schon mit einem Geist verabredet.“
Helene, Silvania und Daka nickten verständnisvoll. Ludo konnte in die Zukunft sehen (wenn gute Sicht war) und mit Geistern reden (wenn sie laut und deutlich sprachen).
„Wir haben leider auch zu tun“, sagte Silvania und zog bedauernd die Schultern hoch.
„Hausaufgaben?“, fragte Helene.
„Nee. Kloaufgaben“, sagte Daka. „Unsere Mutter kommt mit den Aufträgen nicht mehr hinterher. Das Geschäft brummt wie flotter Otto. Wir müssen ihr helfen.“
Elvira Tepes, die Mutter der Vampirschwestern, war stolze und erfolgreiche Besitzerin des ersten und einzigen Klobrillenladens in Bindburg. Sie gestaltete Klobrillen ganz nach den Wünschen ihrer Kunden. Kaum hatte sie den Großauftrag einer Hotelkette erledigt, war das Bindburger Krankenhaus auf die Idee gekommen, seine Toiletten umzurüsten und seine Patienten mit den kunstvollen Klobrillen von Frau Tepes zu erfreuen. Manche Ärzte versprachen sich davon sogar eine schnellere Genesung.
„Schade. Aber verstehe, dringende Toilettengeschäfte kann man nicht aufhalten. Dann bis morgen, Azdio!“ Helene gab ihren Freundinnen eine Kopfnuss, wie es in der transsilvanischen Heimat der Vampirschwestern Brauch ist, drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Friedhof.
Ludo winkte den Mädchen zu, dann schlurfte er zum Geistertreffen. Silvania und Daka brachen zum Laden ihrer Mutter auf.
Silvania trug einen Hut, der wie ein schwarzer Regenschirm aussah, und ein langes violettes Kleid mit aufgestickten Fledermäuschen. Sie glitzerten in der Sonne. Das Kleid raschelte bei jedem Schritt.
Dakas Gesicht wurde zur Hälfte von einer schwarzen Sonnenbrille bedeckt, von deren oberem Rand links und rechts Fledermausflügel abstanden. Sie hatte den Kragen ihrer Lederjacke hochgeschlagen und die Ärmel ihres ausgewaschenen Pullis reichten ihr bis zu den Fingerspitzen mit den schwarz lackierten Nägeln.
Silvania und Dakaria Tepes waren Halbvampire und mussten sich vor der Sonne schützen. Auch wenn es schon eine Weile her war, seit sie mit ihrem Vater, einem echten Vampir, und ihrer Mutter, einem echten Menschen, von Transsilvanien nach Bindburg gezogen waren.
„Guck dir das an“, sagte Daka, als sie den Laden ihrer Mutter erreicht hatten. „Bald pflastert sie die ganze Innenstadt noch mit Klobrillen.“
Vor dem Laden Die Klobrille standen Paletten voller Klobrillen. Elvira Tepes riss die Tür auf, klemmte sich unter jeden Arm zwei Klobrillen und rief: „Ah, da seid ihr ja! Wunderbar. Kommt rein, kommt rein, es gibt viel zu tun!“
„Danke der Nachfrage. Die Schule war gut und wir haben wieder wahnsinnig viel fürs Leben gelernt“, sagte Silvania. Doch da war ihre Mutter längst wieder im Laden verschwunden.
„Vergiss es. Sie hat nur noch Klodeckel im Kopf“, stellte Daka fest und zog ihre Schwester in den Laden.
Kurz darauf hockten Silvania und Daka mitten im Raum auf dem Fußboden, jede eine Klobrille und jede Menge Farbtöpfchen, Pinsel, Scheren, Kleber und andere Bastelmaterialien vor sich. Silvania summte ein trauriges Liebeslied vor sich hin (die besten Liebeslieder waren traurig) und Daka einen revolutionären Punkrocksong, während sie die Klobrillen verschönerten.
Silvania bemalte ihre Klobrille knallrot, danach klebte sie behutsam samtene Herzchen auf den Sitz und schrieb schließlich mit goldenem Glitzerstift auf den Klodeckel: Liebe geht durch den Magen!
„…und kommt hinten wieder raus!“ Daka grinste ihre Schwester an.
Silvania verdrehte die Augen. Das Leben mit einer sieben Minuten jüngeren Schwester war manchmal nicht leicht. Silvania musste viel Rücksicht nehmen. Darauf, dass Daka keine Ahnung von der Liebe hatte, und darauf, dass sie sich oft wie ein Vollblut- und nicht wie ein Halbvampir aufführte.
„Meine Klobrille strahlt so viel positive Energie aus, so viel Liebe und Geborgenheit, dass die Patienten ruck, zuck gesund werden“, sagte Silvania und klebte zur Bekräftigung noch ein glitzerndes Samtherz auf den Deckel. Sie schielte auf Dakas Klobrille. „Wenn sie dagegen deine Klobrille sehen, fallen sie ins Koma oder gleich tot um.“
Daka hatte ihre Klobrille so bemalt, dass sie wie ein riesengroßer Vampirmund aussah. An den Rand vom Klositz hatte sie zwei lange Eckzähne geklebt, die sie aus Plastikbechern gebastelt hatte. Die Unterseite vom Klodeckel war voller roter Farbspritzer, die wie Blut aussahen. „Gumox!“, schnaubte Daka. Das war Vampwanisch und hieß Quatsch. „Meine Klobrille erweckt die müden Lebensgeister der Patienten wieder. Wer sich traut, seinen Hintern auf diese Klobrille zu setzen, ist auch wieder gesund.“
Elvira Tepes, die gerade mit dem Krankenhaus telefoniert hatte, hockte sich zwischen ihre Töchter und legte den Arm um sie. „So tolle kräftige Farben, Silvania, und diese wunderbar verschnörkelte Aufschrift. Ein richtiges Kunstwerk!“
Silvania reckte stolz das Kinn, auf dem einer von Dakas roten Farbspritzern gelandet war.
Frau Tepes musterte Dakas Klobrille. Sie runzelte die Stirn. „Und, Daka, das ist… äh… interessant. Etwas gewagt, aber nur wer wagt, gewinnt, nicht wahr?“
Daka streckte Silvania die Zunge raus.
„Ach, wenn ich euch nicht hätte!“ Elvira Tepes fuhr ihren Töchtern durch die Haare. „Und meinen Mihai natürlich. Stellt euch nur vor, er wäre nicht in Elternzeit und Franz würde hier durch den Laden wuseln! Was könnte besser sein für unseren kleinen Franz, als ganz viel Zeit mit seinem Papa zu verbringen?“
So manches, vermutlich…
Vampir in Elternzeit
Mihai Tepes saß mit zehn Muttis und der Turnlehrerin Katja im Kreis in der Turnhalle. Er war der einzige Mann beim Mutter-Kind-Turnen. Und der einzige Vampir. Die Muttis hatten ihre Babys und Kleinkinder auf dem Schoß. Mihai hielt seinen Sohn Franz kopfüber an den Beinen. Franz zog seinen Papa am Schnauzbart und gluckste.
Manche Muttis lächelten Mihai zu. Andere sahen ihn misstrauisch an und drückten ihre Kinder enger an sich.
Mihai war nicht nur ein Vollblutvampir, sondern auch ein Vollzeitpapa. Nachdem die wunderbare Babysitterin Frau Ete Petete sie verlassen hatte, war er in Elternzeit gegangen. Er liebte seine neue Aufgabe. Er liebte seinen Sohn. Doch er liebte es nicht, den Tag zur Nacht zu machen. Franz war ein Halbvampir, der in Deutschland zur Welt gekommen war (genau genommen in einem deutschen Keller), und war deshalb eher tagaktiv als nachtaktiv. Leider, fand Mihai Tepes.
Anfangs hatte Mihai mit Franz einige nächtliche Ausflüge in den Wald unternommen. In einer Nacht hatten sie eine Eule so sehr erschreckt, dass sie Schluckauf bekommen hatte. Franz war begeistert gewesen. Allerdings wurde er auch immer sehr schnell sehr müde. Nachdem Franz mitten im Flug eingeschlafen und beinahe vor eine Tanne getaumelt war, hatte Mihai eingesehen, dass die nächtlichen Ausflüge für Franz zu gefährlich waren.
Mihai musste seinen Tag-Nacht-Rhythmus seinem Sohn zuliebe ändern. Er war kein Nachtvater, sondern ein Tagesvater. Obwohl er durch die Blutzeremonie, die er mit Elvira bei der Hochzeit vollzogen hatte, nicht mehr ganz so lichtempfindlich war, machte ihm die Sonne sehr zu schaffen. Immerhin, mit Sonnencreme (Lichtschutzfaktor2000), Sonnenbrille und langem Mantel konnte er sich zumindest für eine gewisse Zeit ins Sonnenlicht wagen.
Doch schlimmer als das Sonnenlicht war die Müdigkeit. Menschen werden müde, wenn es dunkel wird, Vampire, wenn es hell wird. Sosehr Mihai sich auch bemühte, nachts zu schlafen und tagsüber wach zu bleiben, gelang ihm das nicht so recht. Wo er nur konnte (und auch dort, wo er es eigentlich nicht sollte), nutzte er die Gelegenheit zu einem Nickerchen.
Auf dem Spielplatz war Mihai mitten auf der Rutsche eingeschlafen. Hinter ihm hatten sich die kreischenden Kinder gestaut, besorgte Mütter hatten an ihm geruckelt und gezupft (eine Mutter hatte sogar mit einer kleinen Schaufel auf seinen Kopf geklopft), doch davon hatte er nichts mitbekommen.
Auch bei der musikalischen Früherziehung, zu der Franz einmal in der Woche ging, hatte Mihai der Schlaf übermannt. Während Kinder, Mütter und Musiklehrerin im Kreis saßen und fröhlich Klanghölzchen schwangen, war Mihais Kopf immer weiter nach unten gesunken und sein Schnarchen so laut geworden, dass es die Klanghölzchen und den Gesang der anderen übertönt hatte. Mihai war erst wieder aufgewacht, als er mit dem Kopf auf dem Tamburin gelandet war. Franz war der Einzige gewesen, der von dieser musikalischen Einlage seines Papas begeistert gewesen war.
Doch davon abgesehen, dass Mihai den Tag zur Nacht machen und sich ins Sonnenlicht wagen musste, war er überglücklich als Vampir in Elternzeit. Er wünschte sich, er hätte genauso viel Zeit mit Silvania und Daka verbringen können, als sie klein gewesen waren. Ihnen hätte es beim Mutter-Kind-Turnen sicher auch gefallen.
„Wie schön, dass ihr alle gekommen seid“, sagte Katja, die Turnlehrerin. „Heute werden sich unsere Zwerge wieder so richtig austoben können. Und die Muttis.“
Mihai räusperte sich.
„Und der Papa.“ Katja zwinkerte Mihai zu. „Ich habe für die kleinen Strolche einen tollen Abenteuer-Parcours aufgebaut. Ihr könnt klettern, rutschen, Purzelbäume schlagen, Trampolin hüpfen und an den Ringen schaukeln.“
„Gibt es auch einen Flug-Parcours für Schlängelflug, Gleitflug und Hummelflug?“, fragte Mihai interessiert.
Katja lachte laut und herzlich. „Ein bisschen Spaß muss sein, Sie haben recht!“
Mihai sah die Turnlehrerin verständnislos an.
„Bevor wir aber gleich lossausen wie die kleinen Wirbelwinde, singen wir wie immer zu Beginn gemeinsam ein Lied“, sagte Katja. „Was wollen wir singen? Hat jemand einen Vorschlag?“
„Transsilvania, rodna inima moi!“, rief Mihai sofort und so laut, dass einem Kleinkind der Schnuller aus dem Mund fiel und eine Mutti im Schneidersitz nach hinten klappte.
„Nichts gegen andere Kulturen. Aber vielleicht etwas auf Deutsch, das alle verstehen?“ Katja lächelte in die Runde.
„Gut, dann eben Blutwurstschnittchen für Schneewittchen“, schlug Mihai den aktuellen Hit von Krypton Krax vor, der Lieblingsband seiner Tochter Daka.
Katja lächelte noch immer, aber nicht mehr ganz so natürlich. „Versuchen wir es mit Ein Männlein steht im Walde.“
Die Mütter nickten dankbar. Dann sangen die Mütter und Katja zaghaft das Lied, Mihai sang mit kräftiger Stimme Ein Männlein hängt im Walde und die Babys und Kleinkinder sangen und sabbelten irgendwas.
Nach dem Lied klatschte Katja in die Hände, strahlte in die Runde und rief: „Und jetzt geht’s los, ihr süßen Zwerge!“
Schließlich wurde geturnt. Statt zu klettern, flopste Franz sich auf den Sprungkasten (eine unheimlich schnelle Art der Fortbewegung, die unter Vampiren sehr verbreitet ist und die Elvira Tepes ihren Kindern in Bindburg eigentlich verboten hatte). Zum Glück ging das Flopsen meistens zu schnell für das menschliche Auge.
Franz schlitterte so rasant von der Rutschbank, dass die Fledermausflügel an seinem schwarzen Turnanzug flatterten. Am Ende der Bank machte er einen Satz und sprang Katja in die Arme, die völlig überrascht mit ihm auf die Matte krachte. „Hoppla! Du bist ja ein halber Springinsfeld!“, rief Katja.
„Nein. Ein halber Fluginsfeld“, sagte Mihai, nahm seinen Franz auf den Arm und küsste ihn vor Stolz.
„Boing, boing!“, rief Franz und zeigte auf das Trampolin. Dort hüpfte er so hoch, dass er einen kleinen Flug mit ein paar Loopings einlegte. Eine Mutter sah Franz mit offenem Mund zu und blinzelte mehrmals. Hinter ihr plumpste ihr Kind gerade von einer Bank und sie drehte sich besorgt nach ihm um, als es losweinte.
Das Trampolin wurde Franz schnell langweilig (für jemanden, der fliegen kann, ist in die Luft hüpfen nicht sooo aufregend). Doch Franz hatte schon ein neues Spielzeug entdeckt: einen herrlich roten Gummiball. Er sah zum Anbeißen aus. Franz tapste zum Ball, nahm ihn in die kleinen Hände und strahlte ihn an. Dann riss der kleine Halbvampir den Mund auf und biss kräftig in den Ball. Es machte „Piff!“, Luft schoss aus zwei kleinen Löchern und der Ball sackte zusammen. Er sah jetzt genauso traurig aus wie Franz, der schließlich das Interesse verlor und den schlappen Ball einfach fallen ließ.
Mihai sah sich hastig nach allen Seiten um, dann ließ er den labberigen roten Gummiball mit den zwei Bisslöchern unauffällig unter seinem Umhang verschwinden.
Franz war in der Zwischenzeit in einen Stofftunnel gekrabbelt. Mihai stellte sich ans andere Ende und erwartete ihn freudig. Er wartete eine halbe Minute. Er wartete eine ganze Minute. Er wartete zwei Minuten. Franz kam nicht. Mihai hielt es nicht mehr aus. „Wo bleibst du denn, Franzvamp? In der Zeit kannst du ja einmal nach Transsilvanien und zurück krabbeln!“ Mihai kniete sich vor den Stoffschlauch, steckte den Kopf ins Halbdunkel und rief: „Kuckuck!“
Als Antwort erhielt er ein leises, aber deutliches Schnarchen. Franz lag pritschebreit im Stofftunnel und schlief mit dem Zipfel eines Fledermausflügels im Mund.
Mihai richtete sich auf und gähnte. „Hervorragende Idee, mein Sohn!“, murmelte er, ging zur Wand mit den Klettersprossen und hängte sich kopfüber an die oberste Sprosse. Einen Moment beobachtete er noch das seltsame Treiben der Muttis und ihrer Turnkinder in der Halle. Er nickte den verstört blickenden Mamas freundlich zu. Dann fielen ihm die Augen zu.
Ein roter, luftloser Ball plumpste aus seinem Mantel und dotzte ein paar Mal durch die Turnhalle, bis er vor Katjas Füßen zum Liegen kam. Aber da war Mihai Tepes schon im Tiefschlaf versunken.
Er träumte von seiner transsilvanischen Heimat. Von den dichten Wäldern, den wild schäumenden Flüssen, den imposanten Bergen. Von Oktavians Gruft, in der lauwarmes Frischblut gezapft wurde, von den blutig-spritzigen Häppchen von Schlachter Sangrasa und von seinem Bruder Vlad.
Die Qual der Wahl
Für Elvira drehte sich im Moment alles um Klobrillen. Für Mihai alles um seinen Sohn Franz. Für Silvania drehte sich alles –wie immer– um die Liebe und bei Daka drehte sich alles im Kopf, weil sie so viele wilde Überschläge machte, wenn sie das neuste Album von Krypton Krax hörte. Doch es gab noch andere wichtige Ereignisse in dieser Welt. Ereignisse, von denen die meisten Menschen keinen Schimmer hatten.
In Bistrien, der unterirdischen, transsilvanischen Heimatstadt von Familie Tepes, stand eine wichtige Wahl vor der Tür– es ging um die Macht in Bistrien.
Es gab viele kleine Parteien in Bistrien, zum Beispiel die Frischfleischfraktion mit Schlachter Sangrasa als Parteichef, oder die Blutpolypenpartei, die jede Woche einen neuen Vorsitzenden hatte, oder die Partei XYZ, die gar keinen Vorsitzenden hatte und deren Mitglieder sich auch nicht auf einen Namen einigen konnten. Die beiden größten und wichtigsten Parteien aber waren der Blutige Einheitsflügel, kurz BEF, und die Fiese Vampirpartei, die FVP. Onkel Vlad, Mihais älterer Bruder, war seit Jahrhunderten Vorsitzender des Blutigen Einheitsflügels.
Der Blutige Einheitsflügel wollte die Vampire in die Zukunft führen. In eine Zukunft, in der es für alle Vampire, egal welcher Herkunft, genügend Nahrung und Lebensraum gab. Wer, wenn nicht unsterbliche Vampire, sollte sich um den Erhalt der Erde kümmern? Sie hatten schließlich das größte Interesse daran, dass die Umwelt nicht zerstört wurde. Denn im Gegensatz zu den Menschen würden nicht nur ihre Kindeskinder diese Erde noch bewohnen wollen, sondern sie selbst. Und wo kein Wald mehr war, gab es auch keine blutigen Häppchen auf zwei oder vier Beinen mehr.
Das Entscheidende war, dass der BEF diese Zukunft für alle Vampire wollte. Ihr Motto war: „Alle Vampire sind gleich. Kein Vampir ist gleicherer!“ Dieses Motto verstanden zwar nicht alle Vampire, aber sie wussten, dass sie alle beim BEF willkommen waren, sowohl ein Chefarzt wie Dr.Liviu Chivu als auch Hinke-Dudu, der alte Vampir, der den Schulschweinestall betrieb.
Der Vorsitzende der Fiesen Vampirpartei hieß Honk Prut. Er stammte aus einer angesehenen Vampirfamilie, die sich bisher nur mit dem Gewinnen von Höhlenhockey-Meisterschaften und nicht mit Politik beschäftigt hatte. Zusammen mit seiner Schwester betrieb Honk Prut das Luxushotel Vier Fleischmahlzeiten in Bistrien. Doch seit er in die Politik eingestiegen beziehungsweise rasant eingeflogen war, hatte er sich weitgehend aus dem Hotelgeschäft zurückgezogen, um sich ganz seinen neuen Aufgaben als Vorsitzender der FVP zu widmen.
Die Anhänger der FVP waren Verfechter der traditionellen vampirischen Werte. Sie liebten ihre Heimat und die alten Lieder –mindestens ebenso sehr wie Mihai Tepes– und es gab keinen transsilvanischen Feiertag, an dem sie keine glühende Rede auf die Vampirheit hielten. Sie unterstützten die kräftigsten und reichsten Vampire, denn nur die würden die Vampire als Ganzes voranbringen. Ihr Motto war: „Vampirisch gute Zukunft– nur für uns und nur mit der FVP!“
Der Wahlkampf war in Bistrien schon seit einigen Wochen im Gang. Mihai wäre am liebsten in seine Heimat geflogen, um seinen Bruder Vlad in der Wahlkampfzentrale zu unterstützen. Plakate kleben, mit Bannern über Bistrien hinwegfliegen, von Vlad signierte Blutwurstscheiben an die Bürger verteilen oder dem Publikum bei einer seiner zahlreichen Wahlkampfreden richtig einheizen. All das hätte er gerne getan.
Doch Mihai war jetzt Tagesvater und hatte selbst rund um die Uhr zu tun. Er hätte nie gedacht, dass ein kleiner Halbvampir so viel Arbeit machen würde. Und ihn so glücklich.
Wenn er seinem Bruder zwar im Wahlkampf nicht helfen konnte, eins stand felsenfest fest: Selbstverständlich würde Mihai an der Wahl in seiner Heimat teilnehmen. Dazu musste er noch nicht einmal nach Bistrien fliegen– schließlich gab es Briefwahl!
Ein paar Tage vor der Wahl in seiner Heimat nahm Mihai sich den blutroten Wahlzettel, machte ein dickes schwarzes Kreuz beim Blutigen Einheitsflügel, steckte den Zettel in den Umschlag, ließ den Umschlag von Franz anlecken und klebte ihn zu. Dann gab er den Wahlbrief vertrauensvoll in die Krallen der Postfledermaus. Diese machte sich sofort auf den Nachtflug nach Transsilvanien.
Mihai war sich sicher, dass sein Bruder mit dem BEF die Wahl gewinnen würde. Er hatte so ein gutes Programm und so viele Anhänger in Bistrien– es musste schon nicht mit rechten Dingen zugehen, sollte der Blutige Einheitsflügel keine Mehrheit unter den Wählern bekommen.
Doch auch ein Mihai Tepes irrt manchmal…
Fledermauspost
Es war Sandmännchen-Zeit im Hause Tepes. Nicht, dass das irgendjemanden der Bewohner interessiert hätte. Dennoch lagen Silvania und Daka bereits in ihrem Zimmer, als hätte ihnen jemand Schlafsand in die Augen gestreut.
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Daka aus ihrem Schiffsschaukelsarg. „Wenn das jetzt wochenlang so weitergeht, muss ich dringend länger abhängen.“
Jeden Tag waren Silvania und Daka in dieser Woche nach der Schule zur Klobrille gelaufen und hatten für ihre Mutter Klobrillen bemalt, beklebt, betackert und sogar behäkelt. Ihre Hände waren übersät von Farbklecksen und Kleberresten. Sie hatten es aufgegeben, sie zu säubern.
„Wir brauchen Urlaub. Richtig schön lange. Genau wie Oma Zezci.“ Silvania lag auf ihrem Bett und sah auf eine der vielen Postkarten, die an ihrer Wand hingen und die Oma Zezci ihnen geschickt hatte. Von den Osterinseln, den Nikolausinseln und Feuerland. Seit dem Tod von Opa Gobol (er war in Griechenland an einer Knoblauchvergiftung gestorben und ruhte seitdem in einem Tonaschenbecher, der auf der Anrichte im Wohnzimmer stand) reiste Oma Zezci munter durch die Welt. „Die hat es gut. All die exotischen Länder, das exotische Essen und die exotischen Abenteuer.“ Silvania seufzte.
„Ja, viel besser als exotische Klobrillen“, sagte Daka.
In dem Moment knallte etwas gegen die Fensterscheibe.
Daka sprang auf. „Schlotz zoppo! Fledermauspost! Bestimmt von Oma Zezci. Kaum redet man von ihr…“ Sie riss das Fenster auf, holte eine kleine Fledermaus herein, die vom langen Flug etwas zerzaust war, und nahm ihr den Brief ab, der an ihren Krallen hing.
Daka sah auf den Umschlag und machte ein enttäuschtes Gesicht. „Och nee. Nur für dich! Von deinem Verliebten.“ Sie warf den Brief auf Silvanias Bett, setzte sich auf den Schreibtisch und kuschelte mit der Fledermaus.
Silvania schnappte sich den Brief und öffnete ihn. „Bogdan ist nicht mein Verliebter, mal ganz davon abgesehen, dass dieses Wort voll Kindergarten ist. Bogdan ist mein Schlammkastenfreund.“