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Sie hat ihn geliebt. Er hat sie verlassen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Er ist weg. Verschwunden. Hat sie verlassen. Ohne Nachricht, ohne etwas zu hinterlassen. Hannah ist verzweifelt. Ihr Freund Matt ist nicht mehr da, und es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Denn nicht nur seine Sachen sind weg, auch seine Mails, seine Telefonnummer, jede Nachricht ist aus ihrem Handy gelöscht. Ist ihm etwas zugestoßen? Hat man ihm etwas angetan? Und plötzlich hat Hannah das Gefühl, beobachtet zu werden, glaubt, dass jemand in ihrer Wohnung war. Sie könnte ihr Schicksal stillschweigend ertragen und trauern. Aber sie findet keine Ruhe. Sie muss herausfinden, was passiert ist, egal wie …
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Seitenzahl: 568
Buch
Er ist weg. Verschwunden. Hat sie verlassen. Ohne Nachricht, ohne etwas zu hinterlassen. Hannah ist verzweifelt. Ihr Freund Matt ist nicht mehr da, und es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Denn nicht nur seine Sachen sind weg, auch seine Mails, seine Telefonnummer, jede Nachricht ist aus ihrem Handy gelöscht. Ist ihm etwas zugestoßen? Hat man ihm etwas angetan? Und plötzlich hat Hannah das Gefühl, beobachtet zu werden, glaubt, dass jemand in ihrer Wohnung war. Sie könnte ihr Schicksal stillschweigend ertragen und trauern. Aber sie findet keine Ruhe. Sie muss herausfinden, was passiert ist, egal wie …
Autorin
Mary Torjussen hat Creative Writing an der John Moores University in Liverpool studiert und als Lehrerin gearbeitet. Sie lebt auf der Halbinsel Wirral bei Liverpool, UK, wo auch ihr Roman »Die Verlassene« spielt. Weitere Informationen zur Autorin unter:
http://www.facebook.com/AuthorMaryTorjussen
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MARY TORJUSSEN
die
verlassene
PSYCHOTHRILLER
Deutsch von
Thomas Bauer
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Gone Without a Trace« bei Headline Publishing Group, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2016 by Mary Torjussen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
NG · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20403-7 V002
www.blanvalet.de
Für Rosie und Louis
Und für meine Mum und im Andenken an meinen Dad
In Liebe
1
Ich sang vor mich hin, als ich an jenem Tag den Weg zu meinem Haus hinaufging. Ich sang tatsächlich vor mich hin. Bei dem Gedanken daran wird mir im Nachhinein schlecht.
Ich hatte an einer Fortbildung in Oxford teilgenommen, war bei Sonnenaufgang um sechs Uhr in Liverpool losgefahren und bei Sonnenuntergang zurückgekommen. Ich arbeitete als Senior Manager in einer großen Wirtschaftsprüfungskanzlei, und als ich mich am Empfang unserer Hauptniederlassung anmeldete, überflog ich die Liste der Teilnehmer aus anderen Zweigstellen. Dabei erkannte ich einige Namen, wenngleich ich noch keinen von ihnen persönlich kennengelernt hatte. Ich hatte in Rundschreiben unseres Unternehmens von ihnen gelesen und wusste, sie waren Überflieger, und mir wurde zum ersten Mal klar, dass meine Arbeitgeber vermutlich das Gleiche über mich dachten.
Meine Haut hatte bei diesem Gedanken vor Aufregung gekribbelt, doch ich hatte mich bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, was in mir vorging, und mein Gesicht zu der gelassenen Maske entspannt, die ich im Lauf der Jahre gewissenhaft eingeübt hatte. Als ich den Konferenzraum betrat und die anderen herumstehen und wie alte Freunde miteinander plaudern sah, war ich froh, dass ich mich für den Anlass in Schale geworfen hatte. Die anderen wirkten gewandt und professionell, als wären sie an diese Art von Veranstaltungen gewöhnt, und ich war froh, ein Vermögen für meine Kleidung, meinen Haarschnitt und meine Maniküre ausgegeben zu haben. Eine der Frauen trug den gleichen Hobbs-Hosenanzug wie ich, zum Glück jedoch in einer anderen Farbe; eine zweite warf ein begehrliches Auge auf die schokoladenbraune Mulberry-Tasche, die mir mein Freund Matt zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich holte tief Luft; ich sah aus wie eine von ihnen. Ich lächelte die Frau an, die mir am nächsten stand, fragte sie, in welcher Zweigstelle sie arbeite, und das war es: Ich wurde zu einem Teil der Gruppe, und meine Nervosität war bald vergessen.
Am Nachmittag bekamen wir eine Aufgabe, die wir in Teams lösen sollten, und am Ende wurde ich ausgewählt, unsere Ergebnisse vor der gesamten Gruppe zu präsentieren. Ich hatte schreckliche Angst und brachte die Pause damit zu, mich in eine Ecke zu setzen und mir fieberhaft meinen Vortrag einzuprägen, während die anderen herumsaßen und sich unterhielten, doch es lief offenbar gut. Nachdem ich mit meiner Präsentation fertig war, entspannte ich mich wieder und war in der Lage, sämtliche Fragen vollständig zu beantworten und sogar eventuellen Anschlussfragen zuvorzukommen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Alex Hughes, einer unserer Gesellschafter, immer wieder nickte, während ich sprach, und sich irgendwann eine Notiz zu einer meiner Ausführungen machte. Als alle ihre Sachen zusammenpackten, um zu gehen, nahm er mich zur Seite.
»Hannah, ich muss sagen, das haben Sie wirklich sehr gut gemacht«, erklärte er. »Wir haben Ihre Arbeit schon seit einiger Zeit im Auge und sind hocherfreut über Ihre Fortschritte.«
»Vielen Dank.«
Genau in diesem Moment kam Oliver Sutton zu uns, der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens, und sagte: »Gut gemacht, Hannah. Sie haben sich heute gut geschlagen. Ich denke, Sie sind auf dem besten Weg, zum Director befördert zu werden, wenn uns Colin Jamison im September verlässt. Wären Sie damit nicht die Jüngste in Ihrer Zweigstelle?«
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf erwiderte. Ich war völlig überrascht, ihn das sagen zu hören; es war, als wäre ein Traum von mir Wirklichkeit geworden. Natürlich wusste ich genau, wann jeder einzelne Director befördert worden war; ich hatte auf der Firmenwebsite über ihren Biografien gebrütet. Ich war zweiunddreißig und wusste, dass der Jüngste von ihnen mit dreiunddreißig befördert worden war. Das hatte dazu beigetragen, dass ich in letzter Zeit bei der Arbeit besonders motiviert gewesen war.
Dann kam die Organisatorin der Veranstaltung, um sich mit den beiden zu unterhalten, und sie lächelten mich an und gaben mir die Hand, ehe sie sich ihr zuwandten. Ich ging, so ruhig ich konnte, zu den Toiletten und schloss mich in eine Kabine ein, wo ich am liebsten vor Freude geschrien hätte. Das war es, worauf ich jahrelang hingearbeitet hatte, seit ich mit der Uni fertig war und hier als Assistentin angefangen hatte. Ich hatte noch nie so hart gearbeitet wie in den vergangenen ein bis zwei Jahren, und jetzt sah es so aus, als würde es sich auszahlen.
Als ich wieder aus der Kabine kam, sah ich im Spiegel, dass mein Gesicht gerötet war, als hätte ich den ganzen Tag draußen in der Sonne verbracht. Ich holte meine Kosmetiktasche hervor und versuchte, den Schaden zu beheben, doch meine Wangen glühten anschließend noch immer vor Stolz.
Alles lief wie am Schnürchen.
Ich griff in meine Handtasche, um mein Telefon herauszuholen und Matt eine SMS zu schreiben, doch genau in dem Moment kam die Leiterin der Personalabteilung in die Toilette und lächelte mich an. Ich lächelte zurück und nickte ihr zu und nahm stattdessen meine Bürste heraus, um mein Haar zu glätten. Sie sollte nicht denken, dass ich aufgeregt war, sollte nicht auf die Idee kommen, dass ich womöglich glaubte, eine Beförderung nicht verdient zu haben.
Außerdem wollte ich auf gar keinen Fall bleiben, während sie auf die Toilette ging, und kehrte deshalb in den Konferenzraum zurück, um mich von den anderen zu verabschieden. Ich beschloss, Matt das Ganze von Angesicht zu Angesicht zu erzählen, und konnte es kaum erwarten, seine Begeisterung zu sehen. Er wusste, wie sehr ich mir das gewünscht hatte. Natürlich war es noch zu früh, um zu feiern – schließlich war ich noch nicht offiziell befördert worden –, doch ich war mir sicher, dass Oliver Sutton so etwas nicht einfach daherredete. Jedes Mal, wenn ich an seine Worte dachte, war ich von Stolz erfüllt.
Und dann im Auto, bevor ich losfuhr, dachte ich an meinen Vater und wie erfreut er darüber sein würde. Ich wusste, er würde es von George, meinem Chef, erfahren, da die beiden miteinander Golf spielten, aber ich wollte es ihm als Erste sagen. Also schickte ich ihm eine SMS:
Dad, ich bin bei einer Fortbildung, und der geschäftsführende Gesellschafter sagt, dass sie in Erwägung ziehen, mich in ein paar Monaten zum Director zu befördern! xx
Binnen Sekunden erhielt ich eine Antwort.
Braves Mädchen! Gut gemacht!
Ich errötete vor Freude. Mein Vater hatte eine eigene Firma, und dass ich erfolgreich war, hatte ihm schon immer ganz besonders am Herzen gelegen. Was meine berufliche Laufbahn betraf, war er mein größter Unterstützer, obgleich es anstrengend sein konnte, wenn er glaubte, ich würde nicht schnell genug vorankommen. Ein weiteres SMS-Signal ertönte:
Ich überweise dir was auf dein Konto – feiere ein bisschen!
Ich zuckte zusammen. Aus diesem Grund hatte ich es ihm nicht erzählt. Ich schrieb schnell zurück:
Danke, Dad, nicht nötig. Wollte dich nur wissen lassen, wie es bei mir läuft. Erzähl es Mum, ja? xx
Es ertönte noch ein SMS-Signal:
Quatsch! Geld ist immer gut.
Ja, Geld ist keine schlechte Sache, aber ein Anruf wäre besser, dachte ich, dann zwang ich mich zur Vernunft und ließ den Motor an.
Bis zu mir nach Hause waren es zweihundert Meilen, und ich fuhr die Strecke ohne Pause. Ich wohnte auf der Wirral-Halbinsel im Nordwesten Englands, genau gegenüber von Liverpool auf der anderen Seite des River Mersey. Da die gesamte Strecke über Autobahnen führte, kam ich trotz des abendlichen Verkehrs gut voran, und die Fahrt verging wie im Flug. Ich rutschte vor Aufregung auf meinem Sitz hin und her, während ich einstudierte, was ich Matt erzählen und wie ich es ihm sagen würde. Ich nahm mir vor, ruhig zu bleiben und es nur beiläufig zu erwähnen, wenn er mich fragte, wie es gelaufen sei, doch mir war klar, dass ich sofort damit herausplatzen würde, wenn ich ihn sah. Als ich Ellesmere Port erreichte, das etwa fünfzehn Meilen von zu Hause entfernt lag, sah ich in der Ferne hell das Schild eines Sainsbury’s-Supermarkts leuchten und blinkte im letzten Moment, um die Ausfahrt zu nehmen. Das war der richtige Abend für Champagner. Im Supermarkt nahm ich eine Flasche Moët aus dem Regal, dann zögerte ich und nahm noch eine zweite. Eine genügte nicht, wenn man solche Neuigkeiten hatte, und außerdem war Freitag: Wir mussten am nächsten Tag nicht arbeiten.
Zurück auf der Autobahn, stellte ich mir Matts Reaktion vor, wenn ich ihm die Neuigkeiten berichtete. Ich brauchte nicht einmal zu übertreiben. Es würde schon genügen, einfach zu wiederholen, was Alex Hughes und Oliver Sutton gesagt hatten. Matt war Architekt und beruflich erfolgreich; er würde verstehen, wie wichtig das für meine Karriere war. Sobald ich zum Director befördert wurde, wäre ich außerdem auch finanziell mit ihm auf Augenhöhe. Ich dachte an das Gehalt, das man als Director bekam, und mir lief vor Aufregung ein Schauer über den Rücken – vielleicht würde ich sogar mehr verdienen als Matt!
Ich strich über meine weiche Lederhandtasche und sagte: »Von deiner Sorte wird es bald mehr geben, Schätzchen. Du wirst lernen müssen zu teilen.«
Doch es ging nicht nur ums Geld. Ich hätte sogar eine Gehaltskürzung in Kauf genommen, um diesen Status zu haben.
Ich öffnete die Fenster und ließ mir den warmen Fahrtwind durchs Haar wehen. Die Sonne ging gerade unter, und der Himmel war mit leuchtend roten und goldfarbenen Streifen überzogen. Mein iPod war auf Zufallswiedergabe eingestellt, und ich sang Song um Song aus vollem Hals mit. Als »One Day Like This« von Elbow lief, drückte ich immer wieder auf Wiederholung, bis ich schließlich zu Hause war. Als ich ankam, fühlte ich mich beinahe, als hätte ich Fieber, und mein Hals pochte und tat weh.
Zur Feier meiner Ankunft ging in meiner Straße die Beleuchtung an. Die aufregenden Ereignisse des Tages und die leidenschaftliche Musik ließen mein Herz hämmern. Die Champagnerflaschen klirrten in ihrer Tüte, und ich zog sie heraus, um sie Matt mit einem Tada! präsentieren zu können.
Ich parkte in der Einfahrt und sprang aus dem Wagen. Im Haus war es dunkel. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn vor halb acht. Matt hatte mir am Abend zuvor gesagt, er würde später nach Hause kommen, doch ich hatte geglaubt, er wäre inzwischen da. Zumindest blieb dann noch Zeit, um die Flaschen in den Gefrierschrank zu stellen, bis sie richtig kalt waren. Ich steckte sie wieder in die Tüte, nahm meine Handtasche und schloss die Haustür auf.
Ich tastete nach dem Lichtschalter im Flur, drückte ihn und hielt inne. Meine Nackenhärchen stellten sich auf.
War jemand bei uns im Haus?
2
Seit vier Jahren hingen bei mir im Flur Bilder an der Wand, die Matt mitgebracht hatte, als er eingezogen war. Es handelte sich um riesige Schwarz-Weiß-Fotografien von Jazzmusikern in schweren schwarzen Rahmen. Ella Fitzgerald blickte normalerweise mit halb geschlossenen Augen und einem schüchternen, verzückten Lächeln zur Eingangstür. Jetzt befand sich dort nur noch die glatte, cremeweiße Wandfarbe, die wir beim Streichen des Flurs im vergangenen Sommer benutzt hatten.
Ich ließ meine Jacke und meine Taschen auf das polierte Eichenparkett fallen, dann bückte ich mich reflexartig, um die Flaschen festzuhalten, die auf dem Fußboden wackelten. Ich trat einen Schritt vor und starrte die Wand noch einmal an: Sie war leer. Dann drehte ich mich um und warf einen Blick auf die Wand neben der Treppe, wo sonst Charlie Parker hing, in goldfarbenes Licht getaucht und Miles Davis zugewandt. Es hatte immer so ausgesehen, als würden die zwei miteinander spielen. Jetzt waren beide verschwunden.
Ich blickte mich ungläubig um. War bei uns eingebrochen worden? Aber warum hatten sie ausgerechnet die Bilder mitgenommen? Das ziemlich wertvolle Walnuss-Schränkchen, das ich bei Heal’s gekauft hatte, war noch da. Darauf stand – neben dem Festnetztelefon und einer Lampe – die emaillierte Tiffany-Schale, die mir meine Eltern zum Abschluss meines Studiums geschenkt hatten. Ein Einbrecher hätte sie doch bestimmt mitgenommen?
Ich legte die Hand auf die Klinke der Wohnzimmertür und zögerte dann.
Was ist, wenn noch jemand hier ist? Was ist, wenn gerade erst jemand gekommen ist?
Ich schnappte mir leise meine Handtasche und ging rückwärts zur Eingangstür hinaus. Auf dem Fußweg, in sicherer Entfernung zum Haus, zog ich mein Handy hervor, war jedoch unschlüssig, ob ich die Polizei rufen oder auf Matt warten sollte. Ich starrte das Haus an: Außer im Flur herrschte darin Dunkelheit. Im angrenzenden Haus war es ebenfalls dunkel; Sheila und Ray, unsere Nachbarn, hatten mir gesagt, dass sie bis Sonntag wegfahren würden. Das Haus auf der anderen Seite war vor ein oder zwei Monaten verkauft worden, und die ehemaligen Eigentümer waren längst weg. Bald würde ein anderes Paar einziehen, doch es sah nicht so aus, als würde dort jetzt schon jemand wohnen; die Zimmer waren leer, und an den Fenstern hingen keine Vorhänge. Gegenüber von unserem Haus mündete eine andere Straße ein; die Häuser dort waren größer, ein gutes Stück zurückgesetzt und von hohen Hecken umgeben, damit die Bewohner den Rest der Siedlung nicht zu sehen brauchten.
In unserem Haus war keine Bewegung auszumachen. Ich ging langsam über den Rasen zum Wohnzimmerfenster und blickte in den dunklen Raum. Wenn der Fernseher fehlen sollte, wäre das ein sicheres Anzeichen für Einbrecher, dachte ich. Dann erstarrte ich. Der Fernseher fehlte tatsächlich. Als Matt eingezogen war, hatte er einen riesengroßen Flachbildfernseher gekauft. Er besaß Surround-Sound, stand auf einem ausladenden, schicken schwarzen Glastisch und nahm fast das halbe Zimmer ein. Beides war verschwunden.
Stattdessen befand sich dort jetzt mein alter Couchtisch, den ich schon seit vielen Jahren besaß und mitgenommen hatte, als ich von zu Hause ausgezogen war. Darauf stand mein alter Fernseher, ein großes nutzloses Ungetüm, das bei Gewittern immer blau flimmerte. Er hatte die ganze Zeit im Gästezimmer gestanden und darauf gewartet, dass wir endlich die Energie aufbringen und ihn hinauswerfen würden. Mir war er die ganze Zeit über, die er dort oben gestanden hatte, kaum aufgefallen.
Ich war mit dem Gesicht so dicht am Wohnzimmerfenster, dass mein Atem die Scheibe beschlagen ließ.
In der Ferne hörte ich ein Auto scharf bremsen, und ich zuckte zusammen und drehte mich um, weil ich dachte, es wäre Matt. Ich weiß nicht, warum ich auf diesen Gedanken kam.
Meine Haut fühlte sich mit einem Mal sehr kalt an, obwohl der Abend warm und windstill war. Ich holte tief Luft und zog meine Jacke eng um mich zusammen. Dann ging ich wieder ins Haus und schloss leise die Tür hinter mir. Ich schaltete das Deckenlicht im Wohnzimmer an und ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, obwohl es draußen noch hell war. Ich wollte kein Publikum. Ich stand mit dem Rücken zum Fenster da und betrachtete das Zimmer. Über dem Kaminsims hing ein riesiger Silberspiegel, in dem ich mein blasses, geschocktes Gesicht sah. Ich trat zur Seite, um mich nicht anschauen zu müssen.
Die Nischen auf beiden Seiten des Kamins füllten weiß gestrichene Regalbretter, auf denen sich unsere Bücher, DVDs und CDs befunden hatten. Auf den größeren unteren Regalbrettern hatten Matts Schallplatten gestanden, hunderte Alben, alle alphabetisch nach Bandnamen sortiert, je unbekannter, desto besser. Ich erinnerte mich daran, wie ich am Tag seines Einzugs Dutzende meiner Bücher aus dem Bücherregal geräumt, sie in Kisten gepackt und ins Gästezimmer gestellt hatte, um Platz für seine Platten zu schaffen.
Diese Bücher standen jetzt wieder da, als wären sie nie weg gewesen. Der größte Teil der DVDs und CDs war verschwunden. Die Schallplatten fehlten alle.
Ich richtete den Blick in die andere Ecke. Sein Plattenspieler war ebenfalls weg, genauso wie seine iPod-Dockingstation. Meine alte Stereoanlage stand wieder da, seine war verschwunden. Außerdem fehlten die Kopfhörer, die er sich gekauft hatte, als ich mich darüber beklagte, dass ich wegen seiner Musik nicht fernsehen könnte.
Ich hatte das Gefühl, als würden meine Beine jeden Moment nachgeben. Ich setzte mich aufs Sofa und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Mein Magen krampfte sich so heftig zusammen, dass ich mich vor Schmerz krümmte.
Was ist passiert?
Ich wagte es nicht, die übrigen Zimmer zu betreten.
Ich nahm mein Mobiltelefon aus der Handtasche. Mir war bewusst, dass ich Matt nicht anrufen sollte – welchen Sinn hätte es gehabt? Er hätte mir keine deutlichere Botschaft senden können. In diesem Moment jedoch vergaß ich meinen Stolz. Ich wollte mit ihm sprechen, wollte ihn fragen, was los war. Doch ich wusste es bereits. Ich wusste ganz genau, was geschehen war. Was er getan hatte.
Ich hatte keinen Anruf verpasst, keine neue SMS oder E-Mail erhalten. In einem plötzlichen Anflug von Wut – er hätte wenigstens den Anstand haben können, mir vorher Bescheid zu geben – tippte ich auf die Anrufliste und scrollte nach unten, um seinen Namen zu suchen und ihn anzurufen. Ich runzelte die Stirn. Ich wusste, dass ich ihn ein paar Abende zuvor angerufen hatte, und zwar aus dem Auto, als ich gerade von der Arbeit losfahren wollte. Katie hatte mir eine SMS geschrieben, dass sie und ihr Freund James am Abend vielleicht bei uns vorbeikommen wollten, und ich hatte Matt angerufen, um mich zu vergewissern, dass wir Getränke zu Hause hatten. Dieser Anruf war auf meinem Telefon nicht protokolliert. Ich scrollte noch weiter nach unten. Die Anrufe der letzten Monate huschten vorbei. Keiner davon war an ihn oder von ihm.
Ich schloss kurz die Augen und versuchte, tief Luft zu holen, doch es gelang mir nicht. Ich hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, und musste den Kopf einen Moment lang auf die Knie legen. Als ich den Blick wieder aufs Display richtete, auf Kontakte tippte und »M« für Matt eingab, erschien nichts. Panisch tippte ich »S« für seinen Nachnamen Stone ein. Sein Name war nicht gespeichert.
Meine Finger waren mit einem Mal heiß und feucht und rutschten vom Display ab, als ich in der Liste der Textnachrichten nach unten scrollte. Auch unter den SMS befanden sich keine an ihn oder von ihm, obwohl wir uns jede Woche ein paar geschickt hatten. In letzter Zeit hatten wir häufiger gesimst als telefoniert. SMS an Freunde von mir, an meine Eltern und an meinen Arbeitskollegen Sam waren gespeichert, aber keine an Matt. Ich hatte mir das Telefon an Weihnachten von meinem Bonus gekauft und ihm damals eine Nachricht geschickt, obwohl er gleich nebenan in der Küche war, und ihn gebeten, noch Prosecco ins Wohnzimmer mitzubringen. Als er die Nachricht las, hörte ich ihn lachen, und er brachte den Prosecco zusammen mit einem Nachschlag Schokoladenmousse. Ich lag da wie im Koma; unsere Abmachung lautete, dass ich das Weihnachts-Mittagessen für seine Mutter und uns zubereiten würde und dafür sonst den ganzen Tag keinen Finger zu krümmen brauchte.
Ich kontrollierte noch einmal nach und sah meine SMS an meine Freundin Katie. Es dauerte eine Weile, ganz nach unten zu scrollen, da wir uns jede Woche mehrmals schrieben – manchmal sogar mehrmals am Tag –, doch ich gelangte schließlich bei der ersten an, in der ich ihr frohe Weihnachten gewünscht und ihr mitgeteilt hatte, dass Matt mir eine Mulberry-Handtasche geschenkt hatte. Sie hatte so getan, als wäre sie darüber erstaunt, aber mir war klar, dass er sie um Rat gefragt hatte. Wie es ihr gelungen war, die Sache geheim zu halten, war mir ein Rätsel.
Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Was war mit Matts SMS und Anrufen passiert?
Ich schaltete das Telefon aus und wieder an, da ich hoffte, es würde etwas nützen. Ich hatte mehrere SMS von Katie bekommen, abgeschickt gestern Nachmittag, in denen sie sich nach meinem heutigen Trip nach Oxford erkundigte. Sie hatte mich sogar heute Morgen unmittelbar vor Beginn der Fortbildung angerufen, da sie wusste, wie viel mir der Tag bedeutete. Ich hatte auf dem Parkplatz ein paar Minuten mit ihr telefoniert, bevor ich hineingehen musste. Auf meinem Telefon waren SMS von meinem und an meinen Arbeitskollegen und Freund Sam gespeichert, an meine Assistentin Lucy sowie einige an meine Mutter und natürlich auch ein paar an meinen Vater, darunter diejenigen, die ich nur wenige Stunden zuvor aus Oxford geschickt hatte. Außerdem hatte ich Nachrichten von meinen alten Freundinnen Fran und Jenny gespeichert, mit denen ich manchmal laufen ging, und von einigen ehemaligen Studienkollegen, mit denen ich mich noch gelegentlich traf. Von Matt fand ich überhaupt nichts.
Ich wusste natürlich, was mich erwartete, als ich mein E-Mail-Postfach öffnete. Keine neuen Nachrichten, doch das war keine Überraschung. Ich überlegte, wann mir Matt das letzte Mal gemailt hatte, anstatt mir eine SMS zu schreiben. Damals, als wir uns kennengelernt hatten, hatten wir uns mehrmals täglich gemailt. Wir hatten beide während der Arbeit unser privates E-Mail-Postfach geöffnet, damit wir uns den ganzen Tag über austauschen konnten. Man möchte meinen, wir wären deshalb weniger produktiv gewesen, doch das Gegenteil war der Fall: Wir stellten beide fest, dass wir in Hochform waren, wie wild arbeiteten und hervorragende Entscheidungen trafen. Wir waren so in Fahrt, dass wir beide befördert wurden, und mussten mit dem Mailen erst dann aufhören, als Matts Arbeitgeber begann, Netzwerk-Accounts zu protokollieren, nachdem irgendein Idiot dabei erwischt worden war, dass er sich den ganzen Tag Porno-Websites ansah. Mein Mut sank, als ich einen Blick auf die Ordner warf; derjenige mit allen seinen E-Mails fehlte. Ich öffnete eine neue SMS und gab »Matt« in die Adresszeile ein. Nichts tat sich.
Ich hörte mich selbst atmen, schnell und flach. Der Rand meines Blickfelds begann zu verschwimmen, und ich spürte, dass ich anfing zu hyperventilieren.
Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren.
3
Eine Zeitlang konnte ich mich nicht bewegen. Ich saß auf der Sofakante und hielt mir den Bauch, als hätte ich Wehen. Meine Gedanken rasten, und meine Handflächen kribbelten. Als sich die Scheinwerfer eines Autos unserem Ende der Straße näherten und durch einen Spalt zwischen den Vorhängen leuchteten, zuckte ich zusammen, und im nächsten Augenblick stand ich flach an die Wand gepresst neben dem Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite.
Falls es Matt war, wollte ich auf ihn vorbereitet sein.
Jemand hatte vor dem leer stehenden Haus nebenan gehalten. Autotüren gingen auf und schlugen wieder zu, und ich hörte einen Mann etwas sagen und eine Frau daraufhin lachen. Als ich durch den Spalt zwischen den Vorhängen spähte, sah ich ein junges Pärchen am Kofferraum seines Wagens stehen. Ich sah unbemerkt zu, wie die beiden Koffer und Kartons ausluden und ins Haus trugen. Allem Anschein nach stellten sie diese einfach im Flur ab, da sie im Handumdrehen wieder im Auto saßen und wegfuhren. Meine neuen Nachbarn, vermutete ich. Ich warf einen Blick auf die Uhr: Es war bereits nach acht. Das schien eine merkwürdige Tageszeit zu sein, um einzuziehen, doch dann fiel mir wieder ein, dass mir Sheila, meine andere Nachbarin, erzählt hatte, ein Pärchen aus der Gegend hätte das Haus gekauft; vielleicht transportierten die beiden ihre Sachen selbst.
Ich nahm allen Mut zusammen und machte mich auf den Weg in die Küche. Ich stieß die Tür auf und drückte auf den Lichtschalter. Als das Licht anging, warf ich einen kurzen Blick in den Raum, dann schloss ich die Augen.
Er hatte hier genau das Gleiche getan.
Verschwunden war das kastanienbraune Rothko-Gemälde, das über dem eichenholzumrahmten offenen Kamin geleuchtet hatte. Ebenfalls verschwunden war der Weißmetall-Kerzenständer, den Matt mitgebracht und am Abend seines Einzugs angezündet hatte. Ich erinnerte mich, wie er die Kerzen ausgeblasen und mich dann an der Hand genommen und nach oben ins Schlafzimmer geführt hatte. Er hatte mich angegrinst, mir sein müheloses Lächeln geschenkt, das mich immer dazu brachte zurückzulächeln, hatte mich in dem verdunkelten Zimmer an sich gezogen und mir ins Ohr geflüstert: »Lass uns ins Bett gehen.« Mein Herz war geschmolzen, und ich hatte genau dort, wo ich jetzt stand, die Arme um ihn geschlungen.
Ich schauderte.
Der hintere Teil des Hauses bestand aus einem Raum, der von einer großen Kochinsel mit Marmorplatte in einen Küchen- und einen Essbereich unterteilt wurde. Eine Glastür führte auf die Terrasse hinaus, und auf beiden Seiten davon befanden sich große Fenster, auf deren tiefen Fensterbrettern Topfpflanzen und gerahmte Fotos standen. Die Fotos von Matt waren natürlich verschwunden. Die Fotos von Katie und mir waren nach wie vor da: Arm in Arm auf Partys und eines, das mir besonders gut gefiel, auf dem wir fünf Jahre alt waren, Weihnachtsmannmützen trugen und Händchen hielten. Außerdem standen dort ein Foto von meinen Eltern, das ich an ihrem Hochzeitstag gemacht hatte, und ein anderes von ihnen mit mir bei meiner Zeugnisverleihung, ihre Gesichter voller Stolz und Erleichterung. Die Fotos von meinen Uni-Freunden mit glänzenden Gesichtern und leuchtenden Augen in Bars und Clubs waren ebenso noch da wie das Foto, das mich mit meinen Freundinnen Fran und Jenny Hand in Hand beim Überqueren der Ziellinie bei meinem ersten Halbmarathon zeigte, doch sämtliche Fotos von Matt waren verschwunden. Es war nicht mehr zu erkennen, wo sie gestanden hatten.
Ich setzte mich an die Kochinsel, stützte den Kopf in die Hände und blickte mich im Raum um. Auf dem Esstisch stand eine Vase mit lilafarbenen Tulpen, genau dort, wo ich sie vor ein paar Tagen hingestellt hatte. Ich hatte bei Tesco Halt gemacht, um Milch zu kaufen, und hatte sie am Eingang entdeckt, ihre festen Knospen eine Erinnerung daran, dass der Sommer im Anzug war. Das Zimmer war wie immer sauber und aufgeräumt, doch es wirkte jetzt irgendwie entstellt wie ein Nachtclub bei Tageslicht.
Auf den Einlegeböden der Vitrine an der Wand neben der Tür befanden sich weniger Gläser. Matt hatte bei seinem Einzug einige schwere Kristall-Weingläser mitgebracht, die ihm seine Großmutter geschenkt hatte, und sie in die Vitrine gestellt. Mir hatten sie nicht gefallen, da ich sie altmodisch fand und bezweifelte, dass ich sie schön gefunden hätte, als sie noch in Mode gewesen waren, deshalb war ihr Verschwinden kein großer Verlust. Meine Vera-Wang-Gläser waren noch da, in einer Reihe und bereit, Party zu machen. Bereit, in einem leeren Zimmer Party zu machen.
Mein Magen knurrte, und ich ging zum Kühlschrank, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, etwas zu essen. Der Inhalt des Kühlschranks schien derselbe zu sein wie um sechs Uhr an diesem Morgen, als ich mich auf den Weg nach Oxford gemacht hatte. Gestern Abend war eine Supermarkt-Lieferung für das kommende Wochenende eingetroffen, und alles war noch da. Es war doppelt so viel, wie ich jetzt brauchen würde. Ich hatte die Lebensmittel von der Arbeit aus bestellt, und Matt hatte sie mit mir zusammen ausgepackt, ohne auch nur mit einem Wort anzudeuten, dass er nicht mehr da sein würde, um sie zu essen. Ich schlug die Kühlschranktür zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen, schwer atmend, die Augen fest zusammengekniffen. Als sich meine Atmung wieder verlangsamte, öffnete ich die Augen und sah die Lücken an der Magnetleiste über dem Kochfeld, wo er seine Sabatier-Messer liebevoll platziert gehabt hatte. Darunter herrschte Leere, wo seine Kaffeepresse gestanden hatte.
Ich wappnete mich und öffnete die Küchenschränke. Seine Pakete mit Kaffeebohnen waren verschwunden, die Kaffeemühle ebenfalls. Als ich mich nach vorn beugte, konnte ich ganz leicht das Aroma von Kaffee riechen, und ich fragte mich, wie lange es sich noch halten würde. Das war eine Sache, die er nicht hatte auslöschen können. Ich schlug die Schranktür zu. Mein Kopf pochte, als ich einen Unterschrank öffnete und die Lücke sah, wo sein Entsafter gestanden hatte. In einem anderen Schrank stellte ich fest, dass seine Becher verschwunden waren, riesige, hässliche Dinger mit Aufdruck. Er hatte sie von der Universität in sein möbliertes Zimmer, von dort in sein Haus in London und schließlich in unser Zuhause – mein Zuhause – mitgeschleppt, und ich wünschte, er hätte sie dagelassen, damit ich sie jetzt hätte zertrümmern können.
Ich machte noch einmal den Kühlschrank auf und kontrollierte dieses Mal die Fächer in der Tür. Die Flasche Ketchup, die ich nie anrührte: weg. Sein Glas Marmite: weg. Kein großer Verlust, da ich beides nicht ausstehen konnte, aber warum mitnehmen? Ich warf einen Blick in den Küchenabfalleimer, in dem sich jedoch nichts davon befand. Alle meine Flaschen und Gläser waren auf den Einlegeböden neu verteilt worden, sodass es den Anschein hatte, als würde nichts fehlen.
Ich nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und eines von meinen Gläsern aus der Vitrine und setzte mich wieder an den Tisch. Ich goss mir ein volles Glas ein und trank es aus, fast in einem Zug, dann schenkte ich mir nach. Ich griff immer wieder zu meinem Telefon, um nachzusehen, ob seine Nummer tatsächlich verschwunden war. Meine Gedanken fuhren Karussell. Am Abend zuvor hatte er sich völlig normal verhalten; eigentlich hatte er sogar beste Laune gehabt. Ich war am Morgen früh aufgestanden, um zu duschen und mich für meinen Trip nach Oxford fertigzumachen, und in der Morgendämmerung losgefahren, weil ich Angst gehabt hatte, im morgendlichen Verkehr stecken zu bleiben. Ich hatte während der gesamten Fahrt Panik gehabt, dass ich womöglich zu spät kommen würde.
Bevor ich aus dem Haus gegangen war, hatte ich mich über ihn gebeugt und ihn sanft auf die Wange geküsst. Er hatte die Augen geschlossen gehabt, und seine Atmung war gleichmäßig gewesen. Sein Gesicht hatte sich unter meinen Lippen warm und ruhig angefühlt. Er hatte geschlafen, oder ich hatte zumindest geglaubt, er würde schlafen. Vielleicht war er wach gewesen und hatte darauf gewartet, dass ich ging? Vielleicht hatte er in dem Moment, in dem er mein Auto wegfahren hörte, die Augen aufgerissen und war aufgesprungen, um anzufangen, seine Sachen zu packen?
Bei diesem Gedanken kamen mir die Tränen. Wir waren vier Jahre zusammen gewesen – wie konnte er mich nur ohne irgendeine Erklärung verlassen? Und dass er alle meine alten Sachen wieder an ihren Platz gestellt hatte, ließ den Eindruck entstehen, als wäre er niemals hier gewesen!
Ich trank auch das nächste Glas fast ganz aus, und das brachte mich abermals zum Weinen. Ich liebte Matt. Ich hatte ihn immer geliebt, vom ersten Moment an. Er wusste, wie viel er mir bedeutete; ich hatte es ihm so oft gesagt. Wir hatten jede freie Minute miteinander verbracht, und die Vorstellung, ohne ihn zu sein, ließ meinen Magen vor Panik galoppieren. Ich griff nach meinem Telefon, weil ich das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden, legte es aber wieder weg. Ich schämte mich dafür, verlassen worden zu sein, fühlte mich von der Art und Weise erniedrigt, wie er gegangen war. Wie konnte ich irgendjemandem erzählen, was er getan hatte?
Ich nahm die Flasche und mein Glas mit nach oben. Ich musste das Geschehene verdrängen, und das war die schnellste Möglichkeit, um das zu erreichen.
Als ich bei der Schlafzimmertür anlangte, wusste ich, was mich erwartete, doch der Anblick der Bettdecke, frisch und sauber, brachte mich abermals aus der Fassung. Ich hatte das Bett am Sonntag zuvor neu bezogen, und zwar mit der burgunderroten Bettwäsche, die er bei seinem Einzug mitgebracht hatte. Diese war jetzt verschwunden; auf dem Bett befanden sich stattdessen bestickte Baumwollbezüge, die ich schon besessen hatte, lange bevor ich ihn kennenlernte.
Ich nahm allen Mut zusammen und öffnete die Türen seines Schranks, der natürlich leer war. Auf der Stange hingen Drahtkleiderbügel, und es war nicht einmal der leiseste Hauch seines Eau de Toilette wahrzunehmen. Es schien nicht viel Sinn zu haben, einen Blick in die Schubladen zu werfen, aber ich tat es trotzdem. Ich machte eine nach der anderen auf, und sie waren so leer wie an dem Tag, an dem ich die Kommode gekauft hatte.
Ich zog mich aus und warf meine Bekleidung in den leeren Wäschekorb im Bad. Dann kramte ich meinen ältesten und weichsten Baumwoll-Pyjama hervor und schlüpfte hinein, wobei ich die ganze Zeit vermied, mich in dem Spiegel über meiner Kommode zu betrachten. Ich fühlte mich zu sehr gedemütigt, um mir selbst ins Gesicht zu schauen.
Während es draußen Nacht wurde und nur bei dem Licht, das vom Treppenabsatz ins Zimmer fiel, schenkte ich mir im Bett ein Glas Wein nach dem anderen ein und trank es aus, ohne dabei etwas zu schmecken. Ich griff in die unterste Schublade meiner Kommode neben dem Bett und tastete nach meinen Kopfhörern. Es handelte sich bei ihnen um welche, die sämtliche Geräusche eliminierten, genau das, was ich an diesem Abend brauchte, an dem ich nichts hören wollte, nicht einmal meine eigenen Gedanken. In der Dunkelheit des Zimmers spürte ich, wie mir der Kopf zu schwirren begann und meine Wangen sich strafften, als der Alkohol in meinen Blutkreislauf gelangte. Ich nahm das Kissen von Matts Seite des Betts und umschlang es. Es roch sauber und frisch; er war nicht mehr wahrzunehmen. Mir liefen Tränen übers Gesicht, und wie oft ich es auch abtrocknete, es war binnen Sekunden wieder tropfnass. Wenn ich mir vorstellte, wie er alle seine Sachen zusammengepackt und mich ohne ein Wort verlassen hatte, ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass er vorgehabt hatte zu gehen, hatte ich das Gefühl, als würde eine Hand mein Herz packen und es fest zusammenpressen. Ich konnte kaum atmen.
Wo war er?
4
Ich wachte mitten in der Nacht auf, mit einem widerlichen Geschmack im Mund und vom Weinen wunden Augen. Mit einer Hand umklammerte ich den Stiel meines Glases, und die Seite des Betts, auf der Matt sonst schlief, war feucht und fleckig von dem Wein, den ich verschüttet hatte. In der Luft hing der Geruch abgestandenen Alkohols, und als ich die Dämpfe einatmete, revoltierte mein Magen, und ich musste Hals über Kopf ins Badezimmer stürmen.
Wenngleich ich damit hätte rechnen und mich darauf hätte gefasst machen sollen, versetzte es mir einen Schock, meine Zahnbürste allein im Halter zu sehen. Ich hielt den Blick starr aufs Waschbecken gerichtet, während ich mir die Zähne putzte und das Gesicht wusch, und mied bewusst die Lücke, wo sich sein Rasierzeug befunden hatte, den Haken, an dem sein Bademantel gehangen hatte, die Stelle in der Duschkabine, an der sein Shampoo und sein Duschgel gestanden hatten. Ich fühlte mich irgendwie anders, als hätte sich alles verändert. Als hätte ich mich verändert. Mein Kopf war voll, und meine Augen waren vom Weinen geschwollen, doch es war mehr als das. Alle meine Muskeln schmerzten, und meine Brust war wund und wie zugeschnürt. Ich fühlte mich, als wäre ich krank, als hätte ich Grippe.
Ich stand am oberen Ende der Treppe und wollte gerade nach unten gehen, um mir ein Glas Wasser zu holen, hielt jedoch inne, als ich die kahlen Stellen im Flur sah, wo früher Fotos gehangen hatten. Da ich es nicht über mich brachte, hinunterzugehen und alles noch einmal zu sehen, machte ich kehrt und legte mich wieder ins Bett.
Stunden vergingen, bis ich in der Lage war, mit Katie zu sprechen. Sie war die Einzige, der ich diese Sache anvertrauen konnte. Wir kannten uns seit unserem fünften Lebensjahr und hatten in der Schule nebeneinandergesessen. Seit damals hatten wir eine Menge gemeinsam durchgestanden. Ich wusste, sie würde nicht über mich urteilen oder mich fragen, was ich falsch gemacht hätte. Außerdem kannte sie Matt gut; sie wusste, dass ich damit niemals hätte rechnen können. Mir war klar, dass Katie um diese Uhrzeit am Wochenende noch nicht wach war, aber ich schrieb ihr trotzdem eine SMS:
Katie, ich muss mit dir reden. Bist du schon auf?
Während ich auf eine Antwort wartete, sah ich auf Facebook nach. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich zunächst glaubte, Matt hätte mich blockiert, doch als ich nach seinem Namen suchte und ihn nicht fand, wurde mir bewusst, dass er offenbar seinen Account gelöscht hatte. Warum hatte er das getan? Dann suchte ich nach den Nachrichten, die wir ausgetauscht hatten, doch die gesamte Konversation war verschwunden. Wie war das möglich? Und meine Ordner mit Fotos von uns beiden waren ebenfalls weg! Ich sah rasch bei Twitter, Instagram und LinkedIn nach, fand ihn aber auch dort nicht.
Katie war anscheinend sehr spät ins Bett gegangen, da es über eine Stunde dauerte, bis sie antwortete. Ich lag da, trommelte mit den Fingern auf der Matratze und grübelte so angestrengt nach, wo er wohl sein mochte, dass mein Kopf pochte, als sie endlich zurückschrieb:
Ich schaue nur kurz bei meiner Mum vorbei. Kann ich dich später anrufen?
Ich konnte nichts dagegen tun: Bei dem Gedanken, mit allem alleine fertigwerden zu müssen, kamen mir erneut die Tränen.
Bitte, Katie. Matt hat mich verlassen. Kannst du vorbeikommen?
Es folgte eine längere Pause. Ich stellte mir ihr Gesicht vor, ihre Verwunderung über die Neuigkeiten, nachdem wir vier Jahre lang ein Paar gewesen waren. Schließlich schrieb sie zurück:
Er ist weg? Okay, gib mir eine halbe Stunde.
Ich lag zusammengerollt in dem verdunkelten Zimmer und brachte nicht einmal die Energie auf, die Vorhänge aufzuziehen. Obwohl ich mir die Zähne geputzt hatte, schmeckte ich noch immer den Wein vom Vorabend in meinem Rachen, roch ihn an der Bettdecke und an den Kissen. Der Geruch war widerlich – als hätte ich die Kontrolle über mich verloren. Ich konnte es nicht zulassen, dass Katie mich so sah.
Als sie kam, hatte ich bereits geduscht und das Bett frisch bezogen. Die Fenster waren offen und die Vorhänge beiseitegeschoben, doch obwohl ich mir noch einmal die Zähne geputzt hatte, war der widerliche Geschmack in meinem Mund noch immer da.
»Was ist passiert?«, fragte sie sofort, nachdem ich ihr die Tür aufgemacht hatte.
Meine Augen füllten sich im Nu mit Tränen, die ich fortwischte. »Als ich gestern Abend von der Arbeit nach Hause kam, war er weg. Er hat alles mitgenommen.«
»Alles?«
Ich nickte. »Er muss Stunden dafür gebraucht haben.«
»Oh, Hannah«, sagte sie und nahm mich in die Arme. Ich klammerte mich eine Weile an ihr fest und roch ihr warmes, süßes Parfum, spürte ihr glattes Lipgloss an meiner Wange, als sie mich küsste. »Los, komm, erzähl mir alles.«
Wir setzten uns bei geöffneter Terrassentür in die Küche, und frische Frühlingsluft strömte herein. Ich machte uns Tee, doch bei dem Gedanken, etwas zu essen, wurde mir übel. Ich saß mit Blick auf die glänzend weißen Küchenzeilen, und von hier sah alles normal aus, als wäre er noch da. Katie ließ den Blick durchs Zimmer wandern, als glaubte sie, etwas zu entdecken, was mir entgangen war.
»Wie sieht’s denn oben aus?«, wollte sie wissen.
Ich zuckte zusammen. »Genau wie hier. Er hat alle seine Sachen mitgenommen.«
»Hast du ihn angerufen?«, erkundigte sie sich vorsichtig. »Soll ich mit ihm reden?«
Ich holte tief Luft. »Das geht nicht«, sagte ich. »Ich habe seine Nummer nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Er hat alles gelöscht«, antwortete ich. »Alles ist weg. E-Mails, SMS, alles.«
Sie kam zu mir und legte die Arme um mich. »Oh, du armes Ding«, sagte sie, und dann kamen die Tränen. Bald schluchzte ich. Sie hielt mich fest und strich mir übers Haar. »Schon gut. Alles wird gut.«
In all den Jahren, seit wir uns kannten, hatte sie mich nur selten weinen sehen. Beschämt versuchte ich, mich zusammenzureißen. »Ich weiß. Das ist nur der Schock.«
»Erinnerst du dich denn nicht an seine Nummer?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hatte immer dieselbe, seit ich ihn kenne«, sagte ich. »Nachdem ich sie in meinem Telefon gespeichert hatte, brauchte ich sie mir nicht mehr zu merken.«
»Mir geht’s genauso«, erwiderte sie. »Ich kann mir heutzutage keine einzige Nummer mehr merken. Ich nehme sie nicht mal mehr zur Kenntnis. Aber warte mal, ich glaube, James hat sie.«
Sie holte ihr Telefon hervor und rief ihren Freund an. Einen Augenblick später hatte sie sie. »Ruf mit unterdrückter Nummer an«, sagte sie. »Womöglich geht er nicht dran, wenn er sieht, dass du es bist.«
Ich war kurz davor, darauf eine scharfe Antwort zu geben, wusste jedoch, dass sie recht hatte. Deshalb schluckte ich meinen Stolz hinunter und wählte.
»Kein Anschluss unter dieser Nummer«, sagte eine Computerstimme.
Mein Gesicht glühte vor Scham. »Sieht so aus, als hätte er sie gewechselt.«
»Ich versuche es mal mit meinem Telefon«, sagte Katie. Sie wählte und schaltete den Lautsprecher ein. Wir hörten erneut die Ansage, und sie legte abrupt auf. »Und es gab vorher wirklich keine Anzeichen dafür, dass er gehen wollte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich es mir genau überlege, hat er mich letzte Woche ein paar Mal gefragt, wann ich aus Oxford zurück wäre. Ich bin so bescheuert. Ich dachte, er freut sich darauf, dass ich nach Hause komme.«
Mein Gesicht brannte, als ich mich daran erinnerte, was ich damals zu ihm gesagt hatte. »Das fragst du ständig! Keine Sorge, ich komme schon nicht so spät!« Er musste sich immer wieder gefragt haben, wie viel Zeit er hatte.
Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. »Und ihr habt euch nicht gestritten? Er ist nicht spät nach Hause gekommen?«
»Nichts Ungewöhnliches.« Ich spürte abermals Tränen in meinen Augen brennen. »Ich dachte, alles wäre in Ordnung.«
»Und …«, fragte sie zögerlich, »… im Bett? Wie war es da?«
Ich rieb mir die Augen. Meine Hände waren mit feuchter Wimperntusche verschmiert, und ich nahm mir ein paar Blatt Küchenrolle von der Arbeitsplatte, um mir das Gesicht zu trocknen. »Es war toll.« Ich schluckte. »Es war immer toll.«
Sie sagte lange Zeit gar nichts, dann nahm sie meine Hand. »Er ist ein Mistkerl«, erklärte sie. »Ein richtiger Mistkerl.«
»Ich weiß.«
Sie stand auf, um ihre Tasse im Spülbecken auszuwaschen. »Wohin, glaubst du, ist er gegangen? Hast du irgendeine Ahnung?«
Plötzlich wollte ich alleine sein. »Lass das, Katie. Nein, ich habe keine Ahnung, wo er ist, und es ist mir auch egal.«
Trotzdem legte ich mich wieder ins Bett, nachdem sie gegangen war, und brachte Stunden mit dem Versuch zu, über Google die Telefonnummern seiner Freunde, seiner Kollegen und seiner Angehörigen herauszufinden. Ich wusste, ich würde nicht zur Ruhe kommen, bis ich ihn aufgespürt hatte.
Matt arbeitete als Architekt für ein großes ortsansässiges Büro, das am Wochenende immer geschlossen war, wenngleich er sich samstags gelegentlich ins Auto setzte, um sich ein Projekt anzusehen, an dem er gerade arbeitete. Vor Montag brauchte ich also nicht zu versuchen, ihn dort zu erreichen. Seine Arbeitsnummer befand sich natürlich auch nicht mehr auf meinem Telefon. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich ihn das letzte Mal unter dieser Nummer angerufen hatte, war mir aber sicher, dass ich sie nicht gelöscht hatte. Das hatte er für mich getan.
In der Anfangsphase unserer Beziehung rief ich Matt während der Mittagspause immer vom Auto aus an, und er ging jedes Mal in ganz formellem Tonfall an sein Mobiltelefon und sagte: »Oh, guten Tag, Miss Monroe. Einen kleinen Moment, bitte, lassen Sie mich diesen Anruf draußen entgegennehmen, wo es leiser ist.« Dann setzte er sich mit seinem Telefon ebenfalls ins Auto, und wir verbrachten unsere Mittagspause damit, mit leiser, dringlicher Stimme darüber zu sprechen, was wir am Abend zuvor gemacht hatten und was wir an diesem Abend machen wollten. Diese Telefonate waren natürlich seltener und kürzer geworden, nachdem wir zusammengezogen waren, und wir verlegten uns dann eher auf das Schreiben von SMS, da das schneller ging, hatten aber in den vergangenen Monaten trotzdem mehrmals miteinander telefoniert.
Wohin ich auch blickte, sah ich, was ich mit ihm verloren hatte. Mir war nicht bewusst gewesen, wie viele Dinge er besaß, wie voll unser Haus – mein Haus – mit seinen Habseligkeiten gewesen war. Ich lag mit geschlossenen Augen im Bett, und jedes Mal, wenn ich sie öffnete, sah ich etwas anderes, was fehlte. Seine Uhr. Sein Radio. Einfach alles, was ihm gehörte.
Ich empfand nichts als Erniedrigung. Meine Wangen glühten – nicht wegen der Ungerechtigkeit, dass er mich verlassen hatte, obwohl das ebenfalls schmerzte, sondern wegen der Schmach zu wissen, dass er das Gefühl gehabt hatte, die einzige Möglichkeit, um von mir loszukommen, wäre, wie ein Dieb davonzulaufen, allerdings am helllichten Tag. Ich vergrub mich unter der Bettdecke, wobei mir Fragen durch den Kopf schossen, die ich stellen wollte, und Dinge, die ich sagen wollte, obwohl ich wusste, dass ich dazu nicht in der Lage war. Nicht jetzt. Ich lag im Zimmer, während der Tag verging, und die Dunkelheit spendete mir Trost. Jetzt sah ich nicht, dass er gegangen war. Solange ich so liegen blieb, den Blick starr auf das schwindende Licht um meine Schlafzimmerjalousien gerichtet, konnte ich so tun, als wäre er noch da, hinter mir, schweigend, einfach neben mir liegend, mich beinahe berührend.
5
Als ich am Montag in der Arbeit ankam, war ich ein Wrack. Das Wochenende war ruhig verstrichen, und nachdem Katie gegangen war, hatte ich niemanden mehr gesehen. Meine Freundinnen Fran und Jenny, mit denen ich hin und wieder laufen ging, hatten mir beide eine SMS geschrieben und mich gefragt, ob ich mich am frühen Sonntagmorgen mit ihnen treffen wolle, doch ich hatte einfach keine Energie und brachte es nicht über mich, ihnen von Matt zu erzählen, deshalb antwortete ich, dass ich keine Zeit hätte und mich wieder melden würde. Meine Mutter hatte eine SMS geschickt, ob Matt und ich Lust hätten, am Sonntag zum Mittagessen vorbeizukommen, aber ich schrieb nur zurück: »Tut mir leid, schon was vor«, und sie verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und ließ mich in Ruhe.
Ich wollte niemanden sehen, doch ich wollte auch nicht allein sein. Die Atmosphäre in meinem Haus war an diesem Wochenende von Selbstvorwürfen und Wut geprägt; anfangs brachten Fernseher und Radio die Stimmen zum Schweigen, die ich in meinem Kopf hörte, aber dann geriet ich in Panik und schaltete beides aus. Ich musste den Stimmen lauschen, für den Fall, dass sie etwas sagten, was ich hören sollte.
Als mein Wecker am Montag um sieben läutete, stellte ich fest, dass ich in genau derselben Position dalag wie am Abend zuvor um sieben, meine Schultern hochgezogen und die Haut in meinem Gesicht trocken und verknittert, mein Kissen feucht von den Tränen, die ich im Schlaf vergossen hatte.
Es kostete mich meine gesamte Kraft, mich an diesem Tag zur Arbeit zu schleppen, doch nach dem Meeting in Oxford am Freitag durfte ich mich nicht selbst enttäuschen. Nach einer lauwarmen Dusche zog ich mich gewissenhaft an und benutzte zum Schminken meinen Handtaschenspiegel, um sicherzustellen, dass ich mich immer nur auf eine Sache konzentrierte, und weil ich nicht in der Lage war, mir in die Augen zu sehen.
Auf halbem Weg zur Arbeit fiel mir ein, dass ich nicht in den Mülltonnen im Garten hinter dem Haus nachgesehen hatte. Obwohl sie nicht einmal an diesem Tag geleert wurden, ertappte ich mich dabei, wie ich verbotenerweise einen U-Turn machte, begleitet vom wütenden Hupen anderer Fahrer, und zurück nach Hause raste. Dort angekommen, stieg ich hastig aus, zwang mich, Ray zuzunicken, der nebenan aus dem Fenster spähte, und ging durch das hintere Tor in den Garten.
Ich hob den Deckel leicht nervös an. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. In der grünen Tonne lag nur ein einzelner Müllbeutel; ich erinnerte mich, am Donnerstagabend den Küchenabfalleimer ausgeleert zu haben, und seitdem war nichts hinzugekommen. Ich kontrollierte die anderen Tonnen, sogar die Biotonne, doch darin sah es genauso aus: Nichts war hinzugekommen. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr und geriet in Panik. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich es nicht rechtzeitig schaffen.
Als ich in der Arbeit ankam, legte ich als Erstes meiner Assistentin Lucy einen Zettel hin, um ihr mitzuteilen, dass ich Kopfschmerzen hätte und nach Möglichkeit nicht gestört werden wollte. Im Schutz meines Büros griff ich zum Telefon und rief bei Matt in der Arbeit an.
Die Frau an der Rezeption klang gelangweilt. »Guten Morgen, John Denning Associates, Amanda am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich holte tief Luft. Als ich sprach, klang meine Stimme seltsam, als sei sie seit Tagen nicht benutzt worden. Was vermutlich auch zutraf. »Hallo, würden Sie mich bitte mit Matthew Stone verbinden?«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte sie. Als sie sich wieder meldete, erklärte sie: »Hier arbeitet kein Matthew Stone.«
»Versuchen Sie es doch bitte mal mit Matt«, sagte ich. »Ich bin mir nicht sicher, welchen Namen er bei der Arbeit verwendet, Matthew oder Matt.«
Ich hörte das Klicken einer Maus, dann sagte sie noch einmal: »Tut mir leid, hier arbeitet niemand, der so heißt.«
Ich zögerte. »Sind Sie sicher? Er ist einer von den Architekten.«
»Tut mir leid«, entgegnete sie. »Ich bin neu hier, deshalb kenne ich noch nicht viele Leute, aber sein Name steht nicht in der Datenbank.«
Durch die Scheibe meiner Bürotür sah ich, dass Lucy hereinkam und meine Notiz in die Hand nahm. Sie lächelte mir mitfühlend zu und erkundigte sich mit einer Handbewegung, ob ich etwas zu trinken wolle, doch ich schüttelte den Kopf und starrte auf meinen Computerbildschirm, bis sie mit dem Rücken zu mir an ihrem eigenen Schreibtisch Platz genommen hatte.
Den ganzen Vormittag tat ich so, als würde ich arbeiten. Ich hantierte mit Unterlagen, sah mir auf dem Bildschirm Dokumente an, las wie benommen meine E-Mails, konnte mich jedoch nicht konzentrieren und schon im nächsten Moment nicht mehr daran erinnern, was ich gelesen hatte. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Wo war er? Warum hatte er mir nichts gesagt? Warum hatte er alles gelöscht? Diese Fragen gingen mir immer und immer wieder durch den Kopf, doch ich fand einfach keine Antworten.
Schließlich rief ich Matts Chef an, dessen Name mir erst nach langem Nachgrübeln wieder einfiel.
»Tut mir leid«, sagte er und klang dabei abgelenkt. »Matt hat uns vor einer Woche verlassen.«
Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und einen Moment lang glaubte ich, ohnmächtig zu werden. Ich dachte daran, wie er jeden Morgen das Haus verlassen hatte, für die Arbeit gekleidet, und jeden Abend zurückgekommen war und mir von seinem Tag erzählt hatte.
»Dann arbeitet er jetzt also nicht mehr bei Ihnen?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Nein. Seine Projekte hat vorerst David Walker übernommen. Sind Sie eine Kundin? Gibt es ein Problem?«
»Nein«, erwiderte ich mit schwacher Stimme. Ich holte tief Luft. »Nein, es gibt überhaupt kein Problem. Können Sie mir sagen, wohin er gegangen ist?«
»Tut mir leid, diese Information dürfen wir nicht weitergeben.«
Ich legte auf und starrte den Bildschirm mit leerem Blick an. Ich hatte schon häufiger in der Zeitung von Leuten gelesen, die so taten, als würden sie noch arbeiten, und immer geglaubt, sie hätten einen Nervenzusammenbruch erlitten. Wäre das alles gewesen, was Matt getan hatte, hätte ich von ihm womöglich dasselbe geglaubt. Wenn ich jedoch an die Art und Weise dachte, wie er jegliche Spuren von sich aus unserem Haus entfernt hatte, war mir bewusst, dass es hier um etwas anderes ging. Er war nicht derjenige, der einen Zusammenbruch erlitt. Das hatte er mir überlassen.
6
Vor Sam konnte ich Matts Verschwinden natürlich nicht verheimlichen. Wir hatten etwa zur gleichen Zeit als Assistenten begonnen, als wir frisch von der Universität kamen. Wir arbeiteten in verschiedenen Abteilungen, und zwischen unseren Arbeitsplätzen befand sich ein Großraumbüro. Am Wochenende sahen wir uns nicht besonders häufig, wobei Matt und ich ihn mit seiner Freundin Grace im Sommer ab und an zum Grillen zu uns einluden, und wir waren im Lauf der Jahre auf einigen Partys bei ihnen zu Hause gewesen. Bei der Arbeit waren wir jedoch gute Freunde und hielten uns gegenseitig den Rücken frei, wenn es Probleme gab. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen.
Am Vormittag schrieb er mir eine E-Mail, in der stand: Du siehst aus, als könntest du eine Pause gebrauchen, Hannah. Kantine?
Ich blickte zu meinem Bürofenster hinaus. Er beobachtete mich. Ich winkte, worauf er aufstand und sein Jackett anzog.
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte er sich, als wir uns in der Kantine hinsetzten. Er stellte sein Tablett auf dem Tisch ab und reichte mir eine Tasse Tee und ein Glas Wasser. »Du siehst blass aus. Was ist los? Kater?«
Ich schnitt eine Grimasse. »Nicht ganz, obwohl ich am Wochenende tatsächlich zu viel getrunken habe.« Ich nahm den Tee dankbar entgegen, dann blickte ich zu ihm auf und konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich ihm anvertrauen sollte oder nicht. Ich hasste es, wenn andere über mein Privatleben Bescheid wussten, war mir jedoch sicher, dass Sam jemand war, der Dinge nicht herumerzählte. »Das bleibt auf jeden Fall unter uns, versprochen?«
Er nickte. »Natürlich.«
»Es geht um Matt. Er hat mich verlassen. Ich habe keine Ahnung, wo er ist.«
Er wirkte geschockt und sagte eine ganze Weile gar nichts. Womit auch immer er gerechnet hatte, das schien es nicht gewesen zu sein.
»Wow«, sagte er schließlich. »Das kommt überraschend. Was ist denn passiert? Habt ihr euch gestritten?«
Ich holte Schmerztabletten aus meiner Handtasche und trank die Hälfte des Wassers. »Nein, das ist es ja«, entgegnete ich. »Haben wir nicht. Wir haben uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gestritten. Als ich am Freitagabend aus Oxford zurückkam, war er weg.« Die beinahe forensische Art und Weise seines Verschwindens, die Tatsache, dass er überhaupt nichts von sich im Haus zurückgelassen hatte, wollte ich nicht erwähnen.
»Was ist mit seinen Freunden? Hast du sie schon gefragt, ob sie wissen, wo er ist?«
»Bei seinen Freunden handelt es sich in erster Linie um Arbeitskollegen«, erklärte ich. »Wir sind manchmal mit ihnen und ihren Partnerinnen essen gegangen, aber ich habe von keinem eine Telefonnummer. Wenn wir ausgegangen sind, haben wir uns meistens mit Katie und James getroffen. Manchmal ging er in den Pub, wenn ich beruflich unterwegs war, und traf sich mit Leuten, die er von früher kannte, aber ich werde nicht dort hingehen und sie fragen, wo er steckt.«
»Ist er denn nicht bei Facebook oder Twitter?«
»War er«, sagte ich. Ich hörte meine Stimme beben und trank schnell noch einen Schluck Wasser. »Facebook, Twitter, Instagram, LinkedIn. Die ganze Palette. Er hat alle seine Profile gelöscht.«
Sam holte sein Telefon heraus. »Wie heißt er gleich wieder mit Nachnamen?«
»Stone.«
Er schwieg eine Zeit lang und tippte auf seinem Display. Hin und wieder schnitt er eine Grimasse und tippte erneut. »Erst dachte ich, er hätte dich vielleicht blockiert, aber ich finde nirgendwo eine Spur von ihm.« Er steckte sein Telefon in die Tasche und trank seinen Kaffee. »Konntest du ihn denn nicht in der Arbeit erreichen?«
»Seinen Job hat er auch gekündigt.«
»Was? Ich dachte, es hat ihm dort gefallen?«
Ich erwiderte nichts. Es hatte ihm dort gefallen; er hatte seinen Job geliebt. Matt war ein umgänglicher Mensch, und andere wurden schnell mit ihm warm. Er war glücklich bei der Arbeit. Allerdings hatte ich auch geglaubt, er wäre zu Hause glücklich.
»Du hast keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?«
»Nein, habe ich nicht«, gab ich zu.
»Er kennt keine zwielichtigen Typen, oder? Er läuft nicht vor irgendwas davon?«
Ich lachte. »Matt?«
»Ich weiß, dass ihm das nicht ähnlich sieht, aber es kommt vor. Er hat doch keine Schulden, oder?«
»Das bezweifle ich. Als ich vor ein paar Wochen für ihn Geld vom Bankautomaten geholt habe, hatte er mehrere Tausend auf seinem Girokonto. Erspartes hat er ebenfalls, aber sein Girokonto wäre doch bestimmt leer, wenn er Schulden hätte, oder?«
»Vermutlich. Und er hat nichts gesehen? Ein Verbrechen beobachtet oder so was?«
Ich starrte ihn an. »Denkst du, er ist in einem Zeugenschutzprogramm?« Ich lachte abermals. »Du denkst, Matt wird beschützt, damit er vor Gericht aussagen kann? Und mir gegenüber hat er das nicht erwähnt?«
Sam wirkte etwas verlegen. »Na ja, ich behaupte nicht, dass es so sein muss. Ich habe nur überlegt, wo er sein könnte.«
»Ach, komm schon«, erwiderte ich. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass er mir das nicht gesagt hätte. Aber … meinst du, ich sollte die Polizei verständigen?«
»Nur wenn du denkst, dass ihm etwas zugestoßen ist.« Er musste gesehen haben, wie meine Lippen bebten, denn er fügte sanft hinzu: »Es klingt so, als hätte er dich einfach verlassen, Hannah. Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Die Polizei kann da nichts tun. Hat er irgendwas mitgenommen, was dir gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nur seine eigenen Sachen.«
»Tja, dann würde ich mir nicht die Mühe machen«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er zu seiner Mum. Dahin gehen sie alle, an den einzigen Ort, an dem sie immer willkommen sind.«
»Er würde da nicht hingehen.«
Zum Glück fragte Sam mich nicht, woher ich das wüsste, da ich mir ganz und gar nicht sicher war. Er war allerdings mit achtzehn von zu Hause ausgezogen und inzwischen doppelt so alt. War er möglicherweise wirklich zu seiner Mutter gegangen?
»Aber es gibt auch gute Neuigkeiten«, sagte ich und zwang ein Lächeln in meine Stimme. »Ich werde vielleicht bald zum Director befördert!«
In seinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Oh, fantastisch! Ich wusste, du würdest es vor mir schaffen!«
»Mal sehen, was passiert, ja? Noch ist nichts entschieden.«
»Los, erzähl mir alles«, forderte er mich auf. »Was haben sie gesagt?«
Die nächsten zehn Minuten brachten wir damit zu, das Gespräch zu sezieren, das ich in Oxford geführt hatte, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich auf all das sofort verzichtet hätte, um Matt wieder zu Hause zu haben, und an dem mitfühlenden Blick, mit dem Sam mich bedachte, erkannte ich, dass er es ebenfalls wusste.
Später am Nachmittag, als ich dasaß und untätig zum Fenster hinausstarrte, kam Sam in mein Büro.
»Hannah«, fragte er, »habt ihr eine gemeinsame Hypothek, du und Matt?«
Ich starrte ihn an. »Was? Warum möchtest du das wissen?«
»Weil ich mich frage, wie du das lösen willst, wenn du nicht weißt, wo er ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das Haus gehört mir. Wir haben unsere Finanzen auseinandergehalten.«
Als ich Matt kennenlernte, wohnte ich bereits seit einigen Jahren in meinem Haus, deshalb ließ ich es einfach auf meinen Namen weiterlaufen, und er beteiligte sich jeden Monat an den laufenden Kosten. Die Anzahlung hatte mein Vater geleistet, wobei es sich um unverhohlene Bestechung gehandelt hatte, um mich anzuspornen, sämtliche Prüfungen beim ersten Versuch zu bestehen und meinen Abschluss als Wirtschaftsprüferin zu schaffen – in seinen Augen ein »anständiger« Beruf. An manchen Tagen war mir bewusst, wie glücklich ich mich schätzen konnte; an anderen Tagen, wenn mein Job besonders stressig war, träumte ich von dem anderen Leben, das ich hätte führen können, wenn ich in der Lage gewesen wäre, diese Entscheidung selbst zu treffen.
»Matt besitzt allerdings ein Haus in London, das er vermietet«, fügte ich hinzu. »Er hat es gekauft und renoviert, kurz bevor er wieder zum Arbeiten hier hochgekommen ist. Als ich ihn kennengelernt habe, hat er noch dort gewohnt, erinnerst du dich? Damals bin ich jedes Wochenende nach London gefahren, um ihn zu sehen.« Meine Stimme geriet ins Stocken, als ich mich an die Fahrten dorthin erinnerte, freitags direkt nach der Arbeit. Ich hatte meine Reisetasche in der Hand und trug neue Unterwäsche und Strümpfe, obwohl ich wusste, dass er mir beides innerhalb von fünf Minuten, nachdem wir allein waren, vom Leib reißen würde. Diese Wochenenden waren perfekt gewesen wie kleine Hochzeitsreisen. Nach ein paar Monaten hatte Matt dann angefangen, sich nach einem Job in Liverpool umzusehen. »Ich dachte, wir würden eines Tages heiraten und beide Häuser verkaufen, um uns gemeinsam etwas Neues zu kaufen. Darüber haben wir oft gesprochen.«