Schlaf schön, solange du noch kannst - Mary Torjussen - E-Book

Schlaf schön, solange du noch kannst E-Book

Mary Torjussen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du kannst dich nicht mehr erinnern. Aber er wird dich nie wieder vergessen lassen.

Maklerin Gemma wächst das Leben über den Kopf. Sie verbringt lange Tage im Büro, dabei hätte sie gern mehr Zeit für ihren Sohn. Ihr Mann wiederum plant schon das zweite Kind und den Umzug zu den Schwiegereltern. Als Gemma eine Einladung zu einer Konferenz in einem Hotel erhält, kommt diese Auszeit wie gerufen – dass sie dort zufällig ihren Klienten David trifft, noch mehr. Doch am nächsten Morgen kann sich Gemma an nichts mehr erinnern, und auch David scheint verschwunden. Plötzlich erreichen Gemma Fotos von besagter Nacht. Die 36-Jährige ahnt nicht, dass diese auch ein verdrängtes Trauma aus ihrer Jugend wieder an die Oberfläche zerren …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 487

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Maklerin Gemma wächst das Leben über den Kopf. Sie verbringt lange Tage im Büro, dabei hätte sie gerne mehr Zeit für ihren Sohn. Ihr Mann wiederum plant schon das zweite Kind und den Umzug zu den Schwiegereltern. Als Gemma eine Einladung zu einer Konferenz in einem Hotel erhält, kommt diese Auszeit wie gerufen – dass sie dort zufällig ihren Klienten David trifft, noch mehr. Doch am nächsten Morgen kann sich Gemma an nichts mehr erinnern, und auch David scheint verschwunden. Plötzlich erreichen Gemma Fotos von besagter Nacht. Die 36-Jährige ahnt nicht, dass diese auch ein verdrängtes Trauma aus ihrer Jugend wieder an die Oberfläche zerren.

Autorin

Mary Torjussen hat Creative Writing an der John Moores University in Liverpool studiert und als Lehrerin gearbeitet. Sie lebt auf der Halbinsel Wirral bei Liverpool, UK. »Schlaf schön, solange du noch kannst« ist ihr zweiter Roman.

Von Mary Torjussen bereits erschienenDie Verlassene

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

MARY TORJUSSEN

SOLANGE DU NOCH KANNST

Psychothriller

Deutsch von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Girl I Used To Be« bei Headline Publishing Group, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright der Originalausgabe © 2018 by Mary Torjussen

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Alexander Groß

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von time./Photocase.de

NG · Herstellung: kw

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, MünchenISBN978-3-641-23524-6V001www.blanvalet.de

Für Rosie und Louisund für meine Mutter und meinen verstorbenen VaterMit Liebe

Prolog

Fünfzehn Jahre zuvorDonnerstag, 15. August

Wenn ich heute an jenen Abend zurückdenke, erinnere ich mich an die drückende feuchte Hitze auf meiner Haut und an die fiebrige Spannung, die in der Luft lag. Ich erinnere mich an die Taxifahrt zur Party mit meiner Freundin Lauren, ihr Körper weich und parfümiert an meinen gepresst, während wir gemeinsam mit ihrem Freund Tom dicht an dicht auf der Rückbank saßen. Die Fenster waren geöffnet, und »London Calling« ertönte aus dem Radio. Ich erinnere mich an das Glücksgefühl, das mich damals überkam; ich hatte gerade eine Zusage von der London University bekommen und würde in weniger als einem Monat dort mein Studium beginnen. Wenn ich heute diesen Song höre, versetzt mich das jedes Mal zurück zu jener Taxifahrt zu Alex’ Haus. Dann ist es, als wäre ich noch dieses Mädchen, das Mädchen, das ich früher einmal war.

Doch das bin ich nicht.

Ich spüre noch die Sandalen, die ich damals trug, als würde ich sie heute tragen. Ich konnte kaum in ihnen gehen; an jenem Abend hatte ich sie zum ersten Mal an und lief mir schon nach einer Stunde Blasen. Ich erinnere mich daran, wie sich mein Kleid anfühlte, wie sein weicher Baumwollstoff meine Haut streifte. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich, wie die Brise mein Haar anhob. Ich rieche das Parfüm, das ich trug, schmecke den Lipgloss auf meinem Mund.

Und immer, immer, wenn ich mich an jenen Abend zurückerinnere, muss ich an Alex denken.

Es war Mitte August in dem Sommer, in dem wir achtzehn waren, und wir wollten mit über zweihundert Mitschülern auf Alex Clarkes Party unsere Prüfungsergebnisse feiern. Lauren und ich hatten uns bei ihr zu Hause hergerichtet, und ich war in mein kurzes pinkfarbenes Kleid geschlüpft. Ich hatte es mir von dem Geld gekauft, das ich eigentlich für mein Studium hätte sparen sollen. Wir waren gebräunt von der Sommersonne; wir arbeiteten jeden Tag bis in den Nachmittag hinein in dem Café in unserem Heimatort, dann streiften wir unsere nassgeschwitzten Nylon-Overalls ab, zogen unsere Shorts an und verbrachten den Rest des Tages unten am Strand. An jenem Nachmittag hatten wir etwa eine Stunde darauf verwendet, unsere Bräune aufzufrischen, bevor wir zu Lauren nach Hause gingen, um uns dort für den bevorstehenden Abend fertig zu machen. Dieser Abend war der Beginn vom Rest unseres Lebens, sagten wir uns. Wir wollten anders aussehen, um zu zeigen, dass wir bereit waren für unser neues Leben auf eigenen Füßen.

Wir fingen schon an zu trinken, bevor wir auf die Party gingen. Laurens Mutter kam mit einer Flasche Champagner ins Zimmer, um mit uns auf unsere Ergebnisse anzustoßen, und bestand darauf, uns immer wieder nachzuschenken, wenn unsere Gläser leer waren. Wir sagten ihr nicht, dass wir bereits Tequila getrunken hatten. Lauren trank mehr als ich, aber das tat sie damals immer. Als ich siebzehn wurde, machte ich sofort meinen Führerschein, und mein Vater kaufte mir einen kleinen Gebrauchtwagen, damit ich ihn nicht bitten musste, mich durch die Gegend zu kutschieren. Ich fuhr leidenschaftlich gerne Auto, und es machte mir nichts aus, keinen Alkohol zu trinken und alle herumzuchauffieren. Wahrscheinlich war ich deshalb so betrunken an jenem Abend.

Es war ein Donnerstag Mitte August, und am Morgen mussten wir als Erstes ins Schulsekretariat, um unsere Noten zu erfahren. Uns kam es so vor, als würden sie über Leben oder Tod entscheiden: Wenn sie so ausfielen, wie wir es uns wünschten, würden sich die Türen zu den besten Universitäten öffnen, zu den besten Studiengängen und einer verheißungsvollen Zukunft. Nur eine Note schlechter, und alles wäre dahin. Das Leben, auf das wir gehofft hatten, würde einfach nicht stattfinden. Das glaubten wir zumindest. Und obwohl wir wussten – man hatte es uns oft genug gesagt – , dass schon alles gut werden würde, dass auch andere Universitäten gut seien, waren wir jung genug, um zu glauben, dass sich tatsächlich nicht alles in Wohlgefallen auflösen würde. Wir kannten alle jemanden, der es nicht an die Universität seiner Wahl geschafft hatte und noch Jahre später darüber sprach.

Doch dieses Schicksal blieb uns in jenem Sommer erspart. Die Sterne standen gut. Jeder schien das Ergebnis bekommen zu haben, das er brauchte, um tun zu können, was er wollte. Es war berauschend, als wir unsere Umschläge öffneten und schrien, einer nach dem anderen.

Und ich erinnere mich, wie Alex und seine Freunde, die alle nach Oxford oder Cambridge gehen würden, versuchten, ihre Freude hinter einer coolen Fassade zu verbergen. Doch sie machten niemandem etwas vor. Sie hatten sich immer als etwas Besonderes betrachtet – sie wussten, sie waren anders als die Übrigen von uns – , und jetzt hielten sie den Beweis dafür in Händen, dass sie recht gehabt hatten. Zumindest sah ich es damals so. Ich kannte Alex nicht einmal; ich hatte nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen, doch das war der Eindruck, den er und seine Freunde vermittelten.

Lauren und ich standen an jenem Morgen in der Schlange für die Prüfungsergebnisse hinter ihnen und hörten Alex’ Freund Theo fragen: »Die Party findet also statt?«

Alex nickte. »Sagt es weiter. Aber nur Leute von hier. Sonst niemand.«

Ich stieß Lauren an, und sie kicherte. Wir freuten uns schon seit Monaten darauf und hatten alles durchgeplant, bis hin zum Nagellack, mit dem wir uns die Zehennägel lackieren würden.

Die Lokalpresse war an jenem Morgen vollzählig vertreten, was von der Schule arrangiert worden war, und es wurden Fotos von uns allen gemacht, in Gruppen, mit glücklichem und unbeschwertem Gesichtsausdruck. Unsere Lehrer standen neben uns, ihre Gesichter so gebräunt und entspannt, dass ich sie kaum erkannte. Die Erleichterung aller war spürbar.

Alex’ Elternhaus befand sich mitten auf dem Land, zehn Meilen außerhalb der Stadt. Wir hatten es uns größer vorgestellt, luxuriöser, und doch waren wir von seinen Dimensionen überrascht. Es handelte sich um ein frei stehendes Haus, das sich am Rand einer Ortschaft befand und einen wunderschön angelegten Garten besaß. Unmittelbare Nachbarn gab es keine; der Garten war von Feldern umgeben, hinter denen wir einen Blick auf den Fluss erhaschten.

Alex und Theo standen an der Haustür, als wir ankamen, und vergewisserten sich, dass sie uns alle kannten. In jenem Sommer war in den Nachrichten über Partys berichtet worden, bei denen Scharen von ungebetenen Gästen hereingeplatzt waren und die Polizei gerufen werden musste. An der Art und Weise, wie Alex jeden unter die Lupe nahm, der die Zufahrt heraufkam, war klar zu erkennen, dass er davor auf der Hut war.

»Hi«, sagte er. »Kommt rein!«

Hinter Alex stand Jack Howard, ein Freund von ihm, der jeden beim Betreten des Hauses fotografierte. Wir wussten schon lange, dass er eine Schwäche für Lauren hatte, und als er uns sah, errötete er und machte sich an seiner Kamera zu schaffen. Lauren schlang die Arme um Tom und mich, und wir posierten auf der Türschwelle, aufgedreht und voller Vorfreude auf den bevorstehenden Abend. Nachdem Tom durch die Eingangstür gegangen war, drehte sie sich um, warf Jack eine Kusshand zu und zwinkerte mir zu.

Jedes Mal, wenn ich an Lauren denke, höre ich uns kichern. Uns brachte fast alles zum Lachen. Nachdem Alex uns begrüßt hatte, kicherten wir und stupsten uns an und gingen durch den großen Flur in die Küche im hinteren Bereich des Hauses. Sie war voll mit Essen und Alkohol. Die Leute hatten es übertrieben und Hochprozentiges, kistenweise Bier und Unmengen von Weinflaschen mitgebracht. Ich hörte Jack sagen, dass Alex’ Eltern im Urlaub waren; sie hatten eingewilligt, dass er eine Party feiern dürfe, wenn er Bestnoten bekäme – mit denen er in Oxford angenommen werden würde – und anschließend eine gründliche Reinigung bezahlte. Sie würden in ein paar Tagen zurückkommen und wollten keine Anzeichen sehen, dass überhaupt eine Party stattgefunden hatte. Das war etwas optimistisch, wie ich fand.

Auf die Party waren alle aus unserem Jahrgang eingeladen, und die meisten waren gekommen. Viele von ihnen kannte ich nur vom Sehen, doch wir waren so euphorisch, dass wir bald alle und jeden küssten und Leuten gratulierten, die wir kaum kannten, aus Dankbarkeit darüber, dass wir gut abgeschnitten und die Gelegenheit bekommen hatten, das Weite zu suchen. Man hätte denken können, dass wir in einem Dreckloch lebten, so wie wir uns benahmen, als bestünde unsere einzige Chance auf ein gutes Leben darin, unser altes Leben hinter uns zu lassen.

Lauren und ich hatten gut abgeschnitten; Tom ebenfalls. In einem Monat würden wir alle zu unterschiedlichen Universitäten aufbrechen. Lauren und ich waren seit dem Kindergarten miteinander befreundet, und sie und Tom würden das erste Mal in den zwei Jahren, seit sie ihn kannte, länger als vierundzwanzig Stunden getrennt sein. Ich glaubte, dass unsere Freundschaft die Trennung überstehen würde, und ging davon aus, dass auch die Beziehung von Lauren und Tom halten würde; die beiden besaßen eine Vertrautheit, um die ich sie beneidete. An jenem Abend hatten sie die Arme umeinandergelegt, und mir fiel auf, dass Lauren nicht von Tom abließ, wenn sie jemanden küsste, sodass sie den Betreffenden gemeinsam umarmten, als wären sie beide eine Person.

Ich trank an jenem Abend eine Menge. Das taten wir alle. Wir hatten uns zum ersten Mal alle zusammengefunden, und uns war bewusst, dass es auch das letzte Mal sein würde. Trotzdem wirkte niemand betrunken. Nicht wirklich. Niemand torkelte oder fiel hin, und außer meiner Freundin Lizzie, die sich noch vor Einbruch der Dunkelheit in einen Zier-Lorbeerbaum auf der Terrasse übergab, wurde niemandem schlecht. Wir hielten uns alle im Freien auf, und dann drehte jemand die Musik lauter, und alle fingen an zu tanzen. Irgendwann im Lauf des Abends verlor ich Lauren und Tom aus den Augen. Als ich sie später wiedersah, war Laurens Kleid falsch geknöpft, und sie hatte einen frischen Knutschfleck am Hals. Sie sagte gerade zu jemandem, mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatte, dass sie ihn immer vermissen würde.

Nach Mitternacht machte sich dann plötzlich der Alkohol bemerkbar. Mir wurde bewusst, dass ich betrunkener war als jemals zuvor. Ich hatte im Lauf des Abends mehr und mehr getrunken, und das meiste davon war Punsch aus einer riesigen Schüssel gewesen, um den sich einer von Alex’ Freunden kümmerte. Weiß Gott, was sich darin alles befunden hatte – es lagen alle erdenklichen Spirituosen- und Likörflaschen herum, und ich war mir sicher, dass der Großteil davon in jener Schüssel gelandet war. Lauren und Tom lagen inzwischen in einer Hängematte. Als ich mich zu ihnen umdrehte und mich dabei an der Lehne eines Gartenstuhls festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, lächelte Lauren träge und schloss die Augen. Mir war klar, dass sie noch nicht nach Hause gehen wollte. Wir hatten vereinbart, dass ich bei ihr übernachtete, und wir wollten uns ein Taxi teilen. Ihre Mutter hatte versprochen, Geld neben der Haustür zu deponieren und den Schlüssel unter die Fußmatte zu legen, damit wir keine Handtasche mitzunehmen brauchten.

Ich gab die Hoffnung auf. Es konnte noch Stunden dauern, bis Lauren aufbrechen wollte. Ich ging zurück zum Haus, geriet ins Taumeln und fiel in einen Busch. Es machte mir nichts aus; ich fand es lustig. Eine meiner Mitschülerinnen zog mich wieder hoch und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich nickte. Ich glaube nicht, dass ich etwas hätte sagen können, wenn ich gewollt hätte.

Als ich beim Haus ankam, musste ich plötzlich ganz dringend auf die Toilette. Am unteren Ende des Gartens standen mehrere mobile Toiletten, doch ich fürchtete, dass ich sie nicht rechtzeitig erreichen würde. Deshalb suchte ich im Haus nach einem Klo, entdeckte eine Tür unter der Treppe und vermutete, dass ich fündig geworden war. Als ich versuchte, sie zu öffnen, hörte ich einen Jungen lachen und ein Mädchen »Pst« sagen, und mir wurde bewusst, was vor sich ging. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, da ich mir darüber im Klaren war, dass es keinen Sinn hatte zu warten, und drang weiter ins Haus vor. Inzwischen sah ich nur noch verschwommen und lächelte fast jeden an. Die Stimmung war gut, die Stimmen waren laut, alle waren glücklich.

Am Fuß der Treppe standen zwei Stühle mit der Mitteilung, dass dort oben niemand etwas zu suchen hätte. Mittlerweile konnte ich allerdings nicht mehr warten, weshalb ich mich an ihnen vorbeischob. Gleich am oberen Ende der Treppe entdeckte ich ein Badezimmer, stolperte hinein und setzte mich so überstürzt hin, dass ich beinahe den Sitz verschoben hätte. Das fand ich lustig, und ich fragte mich, was wohl in dem Punsch gewesen sein mochte. Ich war allerdings nicht so betrunken, dass ich mir nicht die Hände wusch, und sah im Badezimmerspiegel, dass mein Gesicht gerötet war und meine Augen glasig und halb geschlossen waren. Ich wusste, ich würde am nächsten Tag leiden; das wäre aber auch der Fall gewesen, wenn ich nach dem Champagner und dem Tequila bei Lauren zu Hause aufgehört hätte. Ich erinnere mich, dass ich eine Grimasse schnitt, als ich an die Kopfschmerzen dachte, die ich haben würde. Am folgenden Nachmittag würde ich mit meinen Eltern für zwei Wochen nach Frankreich in den Urlaub fahren, und ich fürchtete mich schon jetzt vor der langen Autofahrt mit einem Kater.

Als ich mich vom Waschbecken wegdrehte, rutschte ich auf einem Handtuch aus, das jemand auf dem Badezimmerfußboden hatte liegen lassen. Wahrscheinlich hätte ich es aufheben sollen, doch mir wurde ziemlich schnell bewusst, dass ich hingefallen wäre, wenn ich mich gebückt hätte. Ich bezweifelte, dass ich es geschafft hätte, allein wieder aufzustehen, wenn das passiert wäre, deshalb kickte ich das Handtuch einfach beiseite und öffnete die Badezimmertür. Hier oben war es ruhig, ich hörte jedoch die Geräusche der Party, die im Erdgeschoss und im Garten andauerte. Ich stolperte am oberen Ende der Treppe und musste mich am Geländer festhalten. Ich glaubte nicht, dass ich es nach unten schaffen würde, ohne hinzufallen. Mir drehte sich alles, und plötzlich sah ich mich kopfüber die Stufen hinunterstürzen.

Ich wich von der Treppe zurück und stolperte rückwärts gegen eine Tür. Sie ging hinter mir auf. Eine Lampe brannte neben einem Doppelbett. Der an die Wand gelehnte Hockeyschläger verriet mir, dass es sich um Alex’ Zimmer handelte. Er spielte in der Schulmannschaft; ich hatte bislang nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen, als er zu einem Match eilte und ihm seine Ausrüstung herunterfiel. An der Wand in seinem Zimmer hingen Poster vom Glastonbury-Musikfestival, auf dem er in jenem Sommer gewesen war. Ich wusste, dass er es unmittelbar nach den Prüfungen besucht hatte. Lauren hatte ihn mit Theo darüber sprechen gehört, als sie alle Schlange standen und darauf warteten, nach ihrer letzten Prüfung den Raum verlassen zu können. Eine Band aus dem Ort, The Coral, spielte in jenem Jahr in Glastonbury, und Alex trug ihr T-Shirt auf der Party. In einer Zimmerecke stand ein Schlagzeug neben einer Gitarre und einem riesigen Verstärker. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob er damit umzugehen wusste, und zu dem Schluss kam, dass er nicht spielen würde, wenn er es nicht konnte.

Ich setzte mich aufs Bett. Mit einem Mal war ich so erschöpft, dass ich nur noch schlafen wollte. Alles drehte sich und war verschwommen. Ich brachte nicht mehr die Energie auf, um wieder nach unten zu gehen, und mir war klar, wenn ich es tat, würde Lauren noch bleiben und sich nicht mit mir abgeben wollen. Erst an diesem Abend hatte sie gesagt, Tom und ihr würden nur noch drei Wochen bleiben und sie würden jede einzelne Minute miteinander verbringen.

Also legte ich mich hin. Das Bett war wunderbar weich, und seine Bezüge waren sauber und dufteten. Es roch wie mein eigenes Bett, wenn es frisch bezogen war. Ich liebte den Duft frischer Bettwäsche. Und ich wusste, Alex würde nicht bemerken, dass ich hier gewesen war – er war ein Partylöwe und würde bis zum Morgengrauen feiern.

Ich ließ den Kopf auf sein Kissen sinken. Dabei dachte ich flüchtig daran, dass mein Make-up auf den Kopfkissenbezug geraten würde, doch das war mir in diesem Moment egal. Die Tür stand halb offen, und ich war mir sicher, Lauren würde irgendwann kommen und mich finden. Ihr wäre klar, dass ich nicht nach Hause gegangen war – wie auch? Ich hatte kein Geld bei mir, und so betrunken, wie ich war, hätte ich nicht zu Fuß bis zu mir nach Hause gehen können. Die Nachttischlampe warf einen matten Schein auf das Zimmer, und das Licht im Flur flutete den Eingangsbereich. Sie wird mich schon hier sehen, dachte ich. Sie wird mir schon Bescheid sagen, wenn es Zeit ist, nach Hause zu fahren.

Ich drehte mich von der Lampe weg, da ich es noch nie mochte, wenn mir beim Schlafen Licht ins Gesicht scheint. Als ich mich umdrehte, spürte ich mein Kleid hochrutschen, und ich unternahm einen halbherzigen Versuch, es wieder herunterzuziehen. Der Duft des Kissens und der Alkohol in meinem Blut, die späte Stunde und die Tatsache, dass ich in der Nacht zuvor bis zum Morgengrauen wach gelegen und mir Sorgen wegen meiner Prüfungsergebnisse gemacht hatte, sorgten dafür, dass ich mich völlig entspannte, als ich mich wieder zurückdrehte, den Kopf ins Kissen vergraben. Ich erinnere mich noch, dass ich seufzte, bevor ich einschlief.

Es war ein toller Abend gewesen. Ein wirklich toller Abend.

1. Teil

1

HeuteFreitag, 16. Juni

Als ich ihn das erste Mal sah, dachte ich nicht, dass er Probleme machen würde. Er war groß und breitschultrig, gebaut wie ein Rugbyspieler, ganz ansehnlich, aber nicht unbedingt ein Mann, nach dem man sich auf der Straße umgedreht hätte. Auf den ersten Blick wirkte er ziemlich harmlos. So funktionieren Männer wie er, nehme ich an.

Ich sah ihn an jenem Morgen die Immobilienangebote im Schaufenster des Maklerbüros betrachten, das mir gehört, doch zunächst schenkte ich ihm nicht viel Beachtung. Im Lauf eines Tages sahen sich bestimmt hundert Leute die Angebote an und versuchten, sich zu entscheiden, welches Haus sie kaufen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, und ich habe schnell gelernt, dass ein interessierter Gesichtsausdruck noch lange keinen Verkauf bedeutete. Er ließ sich Zeit und wanderte von den günstigsten Häusern zu den teuersten. Ich erinnere mich, dass ich mich gedankenverloren fragte, wonach er wohl suchte.

Als er schließlich hereinkam, blieb er eine Weile im Eingangsbereich stehen, als wartete er auf jemanden. Ich blickte mich um und sah, dass Rachel, die für Immobilienverkäufe zuständig ist, am Fotokopierer stand und Brian, der sich um die Vermietungen kümmert, gerade mit einem Mieter beschäftigt war. Normalerweise lassen wir die Kunden sich ein wenig umschauen, doch er wirkte unsicher, deshalb versuchte ich, seinen Blick auf mich zu ziehen, und lächelte.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Ich bin David Sanderson«, erwiderte er und kam auf meinen Schreibtisch zu, um sich zu setzen. »Ich habe einen Termin.«

»Oh, ja«, sagte ich verlegen. Er war eine Stunde früher dran als erwartet, und ich hatte mich eigentlich mit meiner Freundin Grace für eine halbe Stunde auf einen Kaffee treffen wollen. »Hi, ich bin Gemma Brogan.« Wir gaben uns die Hand. »Einen Moment, ich rufe Ihre Angaben auf.«

Während ich das tat, schickte ich Grace heimlich eine kurze E-Mail: Sorry, muss absagen. Ein andermal?

»Sie suchen also nach etwas im Stadtzentrum«, sagte ich. »Wie ich sehe, haben Sie bereits ein paar Objekte ausgewählt, die Ihnen zusagen.«

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine Wohnung oder ein Haus werden soll«, sagte er. Dann lächelte er, ein tolles Lächeln, das sein Gesicht aufleuchten ließ. Es verwandelte ihn von jemandem, den man kaum wahrnahm, in jemanden, an den man sich auf jeden Fall erinnern würde. Ich konnte nicht umhin, sein Lächeln zu erwidern. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon für ein Haus bereit bin. Ich würde lieber in der Nähe von ein paar Bars und einem Fitnessstudio wohnen.«

»Kaufen Sie für sich allein?«

Ich sah wie Sophie, unsere Junior-Hausverwalterin, die stets auf der Suche nach einem festen Freund war, Rachel einen Blick von der Seite zuwarf. Die Tatsache, dass sie beide plötzlich ganz still wurden, verriet mir, dass sie auf seine Antwort warteten.

»Ja, ich bin Single«, sagte er. »Ich suche nur etwas für mich allein.«

Ich schätzte, er war ungefähr in meinem Alter, Mitte dreißig. Jetzt, als er sich zu entspannen schien und lächelte, konnte man kaum glauben, dass er noch nicht vergeben war, wobei es natürlich auch sein konnte, dass er bereits eine Scheidung hinter sich hatte.

»Sind Sie aus Chester?«, fragte ich. »Ich versuche gerade, Ihren Akzent einzuordnen.«

»Ich bin im Nordwesten aufgewachsen, habe aber die letzten zehn Jahre drüben in den Staaten gearbeitet. In Boston. Meine Firma hat mich für eine Weile hierher versetzt. Für ein paar Jahre, nehme ich an. Ich habe mein Haus drüben verkauft. Hätte keinen Sinn gehabt, es zu behalten.«

»Wo arbeiten Sie denn?«

»Bei Barford’s. Ich bin im Vertrieb.«

Ich nickte. Barford’s war ein großer Pharmakonzern, dessen Hauptniederlassung sich in einem Industriegebiet unmittelbar außerhalb von Chester befand. Ich hatte schon für ein paar Leute dort Immobilien gefunden; dem Vernehmen nach war die Firma ein toller Arbeitgeber.

Er stellte klar, wie viel er ausgeben wollte. Die Summe lag am oberen Ende des Spektrums von Immobilien in Chester, und bei mir machte sich langsam Begeisterung breit. Wir hatten eine ganze Menge Objekte in unserem Portfolio. Auf dem Markt war es ruhiger als gewöhnlich, und ich hatte keine Zweifel, dass ich etwas für ihn finden würde. Er hatte eine ansehnliche Summe genannt und war nicht auf eine bestimmte Gegend festgelegt. Ich musste ihm etwas verkaufen. Ich wollte nicht ins Büro zurückkommen und meinen Angestellten sagen müssen, dass er beschlossen hatte, sich an jemand anderen zu wenden.

»Ich sammle schnell noch ein paar Informationen«, sagte ich. »Dauert nicht lange.« Ich sah, dass Sophie mit einem Kunden beschäftigt war, deshalb rief ich Rachel, die gerade Prospekte ins Schaufenster hängte. »Rachel, würden Sie Mr. Sanderson bitte etwas zu trinken bringen?« Das war zwar nicht ihre Aufgabe, doch in einem so kleinen Büro wie unserem musste jeder diesen Job einmal übernehmen, wenn die anderen gerade beschäftigt waren.

Sie kam zu meinem Schreibtisch herüber. »Möchten Sie Tee oder Kaffee?«

»Ich nehme Kaffee, bitte«, entgegnete er.

»Wie hätten Sie ihn denn gern?«

Ich warf ihr einen Blick zu und musste mir ein Lachen verkneifen. Sie war knallrot im Gesicht und brachte es nicht über sich, ihm in die Augen zu sehen. Sie und Sophie verhielten sich immer gleich, wenn ein gut aussehender Mann das Büro betrat. Beide waren jung und Single, wobei Sophie Nerven aus Stahl hatte, was die Partnersuche betraf, während Rachel schüchtern und nervös wirkte.

Er lächelte sie an. »Milch, keinen Zucker, danke.«

Sie lief abermals rot an und verschwand in der winzigen Küche hinter dem Büro. Sophie eilte ihr hinterher, und ich hörte gedämpftes Kichern.

Wir tranken den Kaffee und gingen die Details zu einigen der Immobilien durch, die ich anzubieten hatte. Er schien sich besonders für die Wohnungen mit Blick auf den River Dee sowie für welche im Stadtzentrum zu interessieren.

Ich warf einen Blick in unseren Online-Büroterminkalender. Normalerweise hätte ich Rachel losgeschickt, doch sie hatte an diesem Vormittag einen anderen Termin. Ich selbst hatte in ein paar Stunden, um sechzehn Uhr, eine Wertermittlung. »In Ihrer E-Mail haben Sie geschrieben, Sie hätten bis fünfzehn Uhr Zeit. Ich könnte Ihnen jetzt ein paar Objekte zeigen, wenn Sie mögen.«

»Das wäre toll«, sagte er. »Ich würde mich sehr gern in dieser Gegend umsehen. Ich kenne sie nämlich nicht besonders gut.«

»Geben Sie mir nur ein paar Minuten«, sagte ich. »Ich mache ein paar Anrufe und hole meine Schlüssel.«

»Ich kann fahren, wenn Sie möchten.«

»Schon gut, danke«, sagte ich. »Es ist einfacher, wenn ich fahre. Ich kenne die Schleichwege.«

Ich bat Sophie, ein paar Daten von ihm aufzunehmen, und er stand auf, um sich zu ihr zu setzen. Sophie war erst achtzehn, kam frisch von der Schule und war noch dabei, sich einzuarbeiten. Ich hatte Erfahrung gegen Kosten abwägen müssen, als ich sie einstellte, und war mir immer noch nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Während ich telefonierte, sah ich, wie sie David mit vor Aufregung gerötetem Gesicht nach dessen Daten fragte und diese umständlich am Computer eingab.

Ich hole Kunden immer vor dem Büro ab, damit sie nicht durch den Hinterausgang auf den Parkplatz gehen müssen. Als sich David Sanderson in meinen kleinen Wagen setzte, wurde mir bewusst, dass ich bei ihm hätte mitfahren sollen. Mit seinen eins fünfundachtzig und seinen langen Beinen und breiten Schultern wirkte er auf dem Beifahrersitz ziemlich eingeengt.

»Tut mir leid«, sagte ich, als er sich mit dem Sicherheitsgurt abmühte. »Sollen wir doch mit Ihrem Auto fahren? Ich kann Sie lotsen.«

»Schon gut.« Er drehte sich zu mir und grinste mich an. »Ich bin früher einen Mini gefahren.«

Ich lachte.

»Meine Mutter hat sich einen gekauft, als ich siebzehn war«, sagte er. »Wahrscheinlich dachte sie, das würde mich davon abhalten, ihn mir auszuleihen.«

»Und hat es das?«

»Nein, aber ich habe viel schneller für ein eigenes Auto gespart, als ich es getan hätte, wenn ihres größer gewesen wäre.«

»Clever von ihr. Daran muss ich mich erinnern, wenn mein Sohn alt genug ist, um Auto zu fahren.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Drei.« Ich lächelte. Jedes Mal, wenn ich an Rory dachte, musste ich lächeln. »Ist noch eine ganze Weile hin.«

Das erste Objekt, das ich ihm zeigte, befand sich in einer geschlossenen Wohnanlage innerhalb der Stadtmauern. Während ich dorthin fuhr, stellte er Fragen zur Umgebung, und ich erzählte ihm von der alten römischen Mauer, von der die Stadt umgeben war.

»An der Stadtmauer entlangzugehen ist eine tolle Möglichkeit, um Chester kennenzulernen«, sagte ich. »Es sind ungefähr zwei Meilen, wenn man der Mauer folgt – sie ist fast vollständig erhalten. Man sieht die Pferderennbahn, das Schloss, die Kathedrale und den River Dee. Wie Sie sehen, ist die Stadt ziemlich klein, aber sie hat eine Menge Vorteile.«

»Leben Sie schon lange hier?«, erkundigte er sich.

Ich nickte und erzählte ihm, dass ich auf der Wirral-Halbinsel aufgewachsen war, fünfundzwanzig Meilen nördlich von Chester. »Fürs Studium bin ich nach London gezogen, und danach bin ich hierhergekommen.«

»Sie waren in London? Da war ich auch. Imperial College. Ich habe Mathematik studiert. Und Sie?«

»Queen Mary. BWL. Ich habe 2005 meinen Abschluss gemacht.«

»Ich auch!« Er grinste mich an. »Das ist ja ein Zufall. Und dann sind Sie wieder nach Norden gegangen?«

»Ich wollte schon immer selbstständig sein, aber in London ist das praktisch unmöglich, deshalb bin ich vor ungefähr sieben Jahren hierhergezogen, als ich beschloss, mein eigenes Geschäft zu eröffnen. Ich fühle mich hier sehr wohl.«

»Das Immobilienbüro gehört Ihnen? Dann waren Sie ja richtig erfolgreich.«

»Danke. Ich finde es toll, mein eigener Chef zu sein.«

Ich war wirklich stolz darauf, mein eigenes Geschäft zu leiten. Das war immer mein Traum gewesen. Unmittelbar nach meinem Studium begann ich eine Maklerausbildung und arbeitete dann ein paar Jahre lang in London. Die Verkaufszahlen waren damals hoch und meine Provisionen dadurch ebenfalls, und weil ich mich später selbstständig machen wollte, sparte ich, so viel ich konnte. Als ich Joe kennenlernte, beschlossen wir, Richtung Norden zu ziehen, damit ich mich niederlassen konnte. Ich besitze auch ein paar Immobilien, die ich gekauft habe, um sie zu vermieten. Es schien verrückt, nicht zuzuschlagen, als Häuser günstig versteigert wurden. Wir sind für einige Vermieter als Hausverwalter tätig, deshalb stellt es kein Problem dar, gleichzeitig auch meine Objekte zu verwalten.

»Das ist aber eine große Verantwortung, oder?«

Ich nickte. »Manchmal ist es eine Menge Arbeit, aber ich arbeite lieber für mich selbst.«

»Das würde ich auch gern tun«, sagte er. »Ich habe einen tollen Job, aber es hat schon was, selbstständig zu sein … Ich würde es echt gern ausprobieren. Haben Sie ein bestehendes Maklerbüro gekauft?«

»Ja, ich habe eins gekauft, das es schon ein paar Jahre gab.«

»Und wie haben Sie das mit den Angestellten geregelt?«

»Brian, den älteren Mitarbeiter, der im Büro war, als Sie kamen, habe ich übernommen. Er war meine Rettung. Er ist seit Jahren in der Vermietung tätig und kennt sämtliche Vermieter und Geschäftsleute in der Gegend. Alles, was mit Vermietung zu tun hat, überlasse ich ihm, allerdings geht er bald in Rente und arbeitet nicht mehr Vollzeit. Vermutlich werde ich mich bald nach einem Ersatz für ihn umsehen müssen. Meine Mitarbeiterinnen habe ich selber eingestellt.«

Wir kamen bei dem ersten Mehrfamilienhaus an und fuhren mit dem Aufzug in die fünfte Etage. Da die Eigentümer bereits ausgezogen waren, konnte der Verkauf schnell über die Bühne gehen.

»Hm, die gefällt mir ziemlich gut«, sagte er. »Wie lange steht sie schon leer?«

»Die Eigentümer sind gerade erst ausgezogen«, erklärte ich. »Letzten Monat. Im Mai. Umso besser, dass sie frei ist: Sie könnten in ein paar Wochen einziehen. Wahrscheinlich lässt sich beim Preis auch noch handeln. Falls die Eigentümer noch eine Hypothek abzahlen, möchten sie bestimmt schnell verkaufen.«

Er ging zum Fenster hinüber und öffnete die Tür zum Balkon mit Blick auf den Innenhof. Auf dem Balkon war Platz für einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Er machte die Tür kommentarlos wieder zu, dann ging er ins Badezimmer. Dort gab es nichts zu beanstanden, und er ging in die Küche, zog Schubladen auf und öffnete Schranktüren. Alles war qualitativ hochwertig. Ich ging davon aus, dass die Wohnung genau seinen Vorstellungen entsprach.

»Was denken Sie?« Er lächelte mich an. »Können Sie sich mich hier vorstellen?«

Ich lachte. »Das ist eine tolle Innenstadtwohnung. Na ja, am Stadtrand, was eigentlich noch besser ist. Man bekommt den Lärm nicht mit.«

»Oh, ich weiß nicht«, entgegnete er. »Es ist ganz schön laut, wenn die Balkontür offen ist.«

»Finden Sie? Mir kommt es leise vor. Na ja, es ist mitten am Tag, also sind eine Menge Touristen und Einkäufer unterwegs. Nachts ist es bestimmt viel stiller.«

Er nickte. »Gehen wir. Wohin als Nächstes?«

Unsere nächste Station war ein Haus in einer beliebten Gegend ein paar Meilen vom Stadtkern entfernt. Diese hatte ihr eigenes belebtes Zentrum mit Bars und Restaurants, Fitnessstudios und Geschäften.

»Häuser gehen hier schnell weg«, sagte ich, als ich ihn herumführte. »Dieses ist erst seit ein paar Tagen auf dem Markt, und ich rechne damit, dass es bis Monatsende verkauft ist.«

»Klingt toll«, sagte er. »Ich könnte in zwei Monaten hier wohnen.«

Ich lächelte und war mir absolut sicher, dass er ziemlich bald ein Angebot für eine unserer Immobilien machen würde.

Bis zum Nachmittag zeigte ich ihm sechs Objekte, und er schien von allen begeistert zu sein. Als ich ihn beim Büro absetzte, deutete er trotzdem durch nichts an, dass er bei einem davon Nägel mit Köpfen machen würde.

»Ich melde mich in den nächsten Tagen«, sagte er.

»Großartig.« Ich lächelte ihn an. »Ich freue mich darauf.«

»Hat’s geklappt?«, fragte Sophie, als ich das Büro betrat.

Ich runzelte die Stirn. Ein paar Leute, die gerade Immobilienangebote im Aushang betrachteten, blickten interessiert auf, als sie ihre Frage hörten.

»Kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte ich und ging in die Küche, um dort auf sie zu warten. Sie kam munter herein, doch das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als ich sie daran erinnerte, im Büro nicht laut zu rufen. »Schreiben Sie mir einfach eine E-Mail oder fragen Sie mich leise, wenn da draußen viel los ist.«

Sie wand sich vor Verlegenheit. »Entschuldigung.«

Rachel kam in die Küche und füllte den Wasserkocher, um Tee zu machen.

Ich sagte zu Sophie: »Schon okay«, da ich sie nicht in Gegenwart einer anderen Person maßregeln wollte.

Sie war allerdings nur kurz geknickt, bevor sie mich anstupste und fragte: »Wie ist es denn mit dem Typen gelaufen? Er war nett, oder?«

Ich lachte. »Mir ist schon aufgefallen, dass er Ihnen gefällt.«

»Groß, dunkel und gut aussehend«, sagte sie schwelgerisch. »Und durchtrainiert. Umwerfend. Das hat Rachel auch gefunden.«

»Stimmt gar nicht!«

»Doch, hast du. Schade, dass er zu alt für uns ist.«

Ich runzelte die Stirn. »Er ist in meinem Alter, danke.«

»Das meine ich ja.«

Rachel, deren Gesicht inzwischen scharlachrot angelaufen war, stieß sie an, und ich überließ die beiden sich selbst.

Doch später, bevor wir das Büro schlossen, berief ich ein Meeting ein, damit wir ein paar Ideen sammeln konnten, welche Objekte sich für David eignen könnten. Wir stellten eine Liste mit sechs weiteren Immobilien zusammen, von denen wir annahmen, dass sie ihm gefallen würden, und dann mailte ich ihm, um in Erfahrung zu bringen, ob er sich welche davon ansehen wollte.

Er antwortete sofort:

Die hören sich toll an. Mir hat vor allem die dritte Wohnung gefallen, die wir uns heute angesehen haben – diejenige mit Blick auf die Pferderennbahn. Ich muss aber erst noch meine Finanzierung klären. Ich melde mich bald.

Ich seufzte. Er hatte mir gesagt, er hätte seine Finanzierung bereits geklärt. Es hatte beinahe den Anschein, als würde er sich als ein weiterer Kunde entpuppen, der nur meine Zeit stahl. Ich wusste aus Erfahrung, dass jemand, der noch keine Finanzierungszusage hatte, auch nicht ernsthaft auf der Suche war. Vermutlich würden wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich schrieb aber trotzdem zurück, er möge mich wissen lassen, wenn ich ihm einen Finanzberater empfehlen sollte.

Er antwortete:

Mache ich. Bis bald.

2

Als ich zu Hause ankam, ging ich durchs Haus auf die fröhlichen Geräusche zu, die ich im Garten hörte. Ich blieb unbemerkt an der Terrassentür stehen und beobachtete Rory dabei, wie er über den Rasen ins Planschbecken lief und dabei Wasser verspritzte und kreischte. Der Gartenschlauch lag im Gras und füllte das Becken wieder auf, das jedes Mal, wenn er hineinsprang, leerer wurde. Joe saß auf der Terrasse, ein Bier in der Hand und nur mit Shorts bekleidet. Sein Kindle lag vor ihm auf dem Tisch, und er hatte ein Auge auf das Display gerichtet und das andere auf Rory.

»Hey«, sagte ich, und er zuckte zusammen. Ich küsste ihn auf die Wange. »Meine beiden Jungs.«

»Hi.« Er stellte die Flasche auf dem Boden ab, und ich bückte mich, um sie wieder aufzuheben und auf den Tisch zu stellen. »Wie war dein Tag?«

»Ganz okay.« Ich setzte mich neben ihn und nippte an seinem Bier. »Ich habe Stunden damit zugebracht, einem Typen einen Haufen Immobilien zu zeigen, die er wahrscheinlich nicht kaufen wird.«

»Ah, ein Zeitverschwender«, sagte Joe. »Aber so ist das nun mal, nehme ich an.«

»Du hast ja auch nicht deine Zeit verschwendet!«, entgegnete ich und sah Joe direkt in die Augen. »Wenigstens war er sehr attraktiv …«

Er lachte. »Ein Vorteil deines Jobs.«

Joe war Hausmann und Vater. Wir waren bereits ein paar Jahre verheiratet, als ich mit Rory schwanger wurde, aber es war trotzdem unerwartet gewesen. Joe arbeitete damals in der IT-Branche, und obwohl er gut bezahlt wurde, machte ihm sein Job keinen Spaß, und er wünschte sich eine Veränderung, während ich mit meiner Arbeit richtig glücklich war und ein ganzes Stück mehr im Monat verdiente als er. Ich wollte keinen Geschäftsführer engagieren und die Kontrolle über das Büro verlieren, deshalb ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf, als Joe vorschlug, dass er zu Hause bei unserem Baby bleiben könnte. Ich hatte ungewöhnliche Arbeitszeiten und war mir darüber im Klaren, dass ich niemals eine Tagesmutter oder eine Kindertagesstätte finden würde, die Rory kurzfristig länger dabehalten konnte. Wir waren typische angehende Eltern gewesen, indem wir dachten, unser Leben würde sich nach der Geburt unseres Kindes nicht stark verändern. Joe war sich sicher gewesen, er wäre in der Lage, Teilzeit zu arbeiten, während Rory schlief, und ich hatte ihm geglaubt. Das erste Jahr war eine gewaltige Lernkurve für uns beide gewesen.

Und jetzt, nun ja, waren die Immobilienverkäufe landesweit zurückgegangen, und es hatte nicht den Anschein, als würde sich das bald ändern. Ich musste immer länger arbeiten, um meine Kunden bei Laune zu halten und um mit möglichst wenig Personal auszukommen. Meine Pläne, mir hin und wieder einen Tag freizunehmen, um mich um Rory kümmern zu können, konnte ich mir plötzlich an den Hut stecken. Erst zwei Tage zuvor hatte Joe mir eröffnet, dass seine Kenntnisse inzwischen drei Jahre veraltet seien und er festgestellt habe, er könne sich für bestimmte Jobs nicht mehr bewerben, selbst wenn er wollte, da sich die Technologie so rasant weiterentwickelt habe. Der Gedanke, Alleinverdienerin zu sein, ließ mich in Panik geraten. Prinzipiell hatte ich nichts dagegen, aber Immobilien schienen momentan einfach nicht den Besitzer zu wechseln, und ich hatte keine Idee, wie ich meinen Umsatz hätte steigern können. Außerdem machte ich mir Sorgen um meine Mietimmobilien, die bis zum Anschlag mit Hypotheken belastet waren. Ein säumiger Mieter hätte genügt, und wir hätten jeden Monat hunderte von Pfund verloren. Und wenn sich Immobilien nicht mehr verkaufen ließen, würde ich meine auch nicht verkaufen können. Zumindest nicht ohne Verlust. Der Gedanke daran hielt mich nachts wach. Und Joe … Ich hatte den schrecklichen Verdacht, dass er aufgehört hatte, sich nach Arbeit umzusehen. Er wechselte jedes Mal das Thema, wenn ich darauf zu sprechen kam, und ich brachte es nie übers Herz nachzubohren.

Dann sah mich Rory, und all diese Gedanken verflogen. Er schrie vor Freude und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zugerannt.

Ich beugte mich hinunter, um ihn zu küssen, und vergrub das Gesicht in seinem Haar. »Hallo, mein Schatz. Hattest du einen schönen Tag?«

»Ich war den ganzen Tag im Planschbecken«, rief er. »Aber ich bin am Verhungern! Was gibt’s zum Abendessen?«

»Ist im Ofen«, sagte Joe. »Lasagne. Dauert nur noch ein paar Minuten. Los, wir stecken dich in die Badewanne, dann ist sie fertig, wenn du wieder draußen bist.«

»Ich bade ihn«, sagte ich schnell. »Komm mit, Rory, gehen wir.«

Rory stand zwischen uns, mit unentschlossenem Gesichtsausdruck. »Ich will, dass Dad mich badet.«

Ich spürte einen vertrauten, prickelnden Schmerz. »Komm schon, mein Schatz, ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen! Du kannst mir erzählen, was du gemacht hast.«

»Geh mit Mum nach oben, Rory«, sagte Joe. »Komm schon, sei brav!«

Meine Augen brannten. Mein eigenes Kind sollte nicht dazu überredet werden müssen, Zeit mit mir zu verbringen.

»Aber …«, setzte Rory an, dann sah er mir ins Gesicht, und ich wusste, dass er den Schmerz darin erkannte. »Okay, aber spielst du Löwe? Du musst so knurren wie Dad.«

»Ich werde es versuchen«, versprach ich, doch als ich es tat, wurde ich den Erwartungen nicht gerecht.

Er bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. »Lass gut sein, Mum«, sagte er. »Dad kann es machen, wenn wir wieder unten sind.«

Ich ließ für Rory das Badewasser ein und setzte mich zu ihm, während er spielte, sang und planschte. Hoffentlich hatte er vergessen, dass ihm nur seine zweite Wahl Gesellschaft leistete. Meine Gedanken kreisten um die Arbeit, die ich an diesem Tag noch zu erledigen hatte. Ich versuchte immer, sofort nach Hause zu fahren, wenn das Büro um siebzehn Uhr schloss, um noch Zeit mit Rory verbringen zu können, bevor er ins Bett ging, wenngleich mir oft Besichtigungstermine am Abend einen Strich durch die Rechnung machten. Der Preis dafür war, dass ich spätabends noch einmal arbeiten musste. Sobald Rory im Bett war, beantwortete ich E-Mails, tätigte Anrufe, versuchte, Kunden Immobilien zuzuordnen, die ihnen gefallen könnten, verschaffte mir einen Überblick über die Finanzen und bereitete das Meeting vor, das wir jeden Morgen als Erstes abhielten. Auch aus juristischer Sicht musste alles auf dem neuesten Stand sein, und darum kümmerte ich mich meistens zu Hause, da es mir dort leichter fiel, mich zu konzentrieren, als im Büro. Oft blickte ich spätabends von meinem Laptop auf und sah Joe auf dem Sofa schlafen, während im Fernsehen etwas ohne Ton lief, was sich keiner von uns beiden angesehen hatte.

Rory war inzwischen drei, und ich war mir darüber im Klaren, dass Joe möglichst bald noch ein Baby mit mir wollte, damit die Kinder gemeinsam aufwachsen konnten. Er genoss es, mit Rory zu Hause zu sein, doch ich machte mir Sorgen, dass er überhaupt keine Arbeit mehr finden würde, wenn er noch ein paar Jahre wartete, nachdem er jetzt schon Probleme hatte. Und was würden wir tun, falls der Immobilienmarkt dann immer noch in der Krise steckte? In der wenigen Zeit, die ich jeden Abend mit Rory hatte, versuchte ich, diese Probleme auszublenden, doch in meinem Hinterkopf waren sie immer präsent.

Nachdem Rory zu Abend gegessen hatte, brachte ich ihn nach oben ins Bett und legte mich neben ihn, um ihm ein paar Geschichten vorzulesen.

»Mach die Stimmen nach«, drängte er mich. »Lass sie unheimlich klingen!«

Ich gab mir alle Mühe, doch er seufzte. »Nein, mach es so wie Dad, damit ich Gänsehaut bekomme!«

Ich versuchte es noch einmal, mit mehr Nachdruck, doch er lachte nur und sagte bestimmt: »Sag Dad, er soll raufkommen und es machen.«

Beschämt rief ich Joe, der daraufhin auf allen vieren knurrend und fauchend ins Zimmer kam, sodass Rory vor Begeisterung schrie. Ich stand da und sah zu, und obwohl es mir gefiel, war ich auch verletzt, dass er Joe mir vorzog.

Später, als Rory schlief, setzte mich an meinen Laptop und tippte ein paar Notizen ab, die ich bei der Immobilien-Wertermittlung gemacht hatte, nachdem ich David abgesetzt hatte. Ich wollte gerade Kunden mailen, die mir am Nachmittag Nachrichten geschickt hatten, als Joe aus dem Fitnessstudio zurückkam.

»Es stört dich doch nicht, wenn ich mir das anschaue, oder?«, fragte er und schaltete den Fernseher ein. Der Beginn eines Fußballspiels stand unmittelbar bevor. Großartig.

Da ich mich bei Hintergrundgeräuschen überhaupt nicht konzentrieren konnte, ging ich mit meinem Laptop in die Küche und setzte mich an den Esstisch. Joe kam herein und holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Er hob ein Glas hoch, um mir etwas davon anzubieten, doch ich schüttelte vehement den Kopf.

»Komm schon, Gem«, sagte er. »Es ist Freitagabend. Das Wochenende fängt an.«

Ich war versucht zu fragen: Welches Wochenende?, und offenbar deutete Joe meinen Gesichtsausdruck richtig, denn er stellte den Wein zurück in den Kühlschrank und setzte sich neben mich.

»Gib mir eine Aufgabe«, sagte er. »Irgendeine Aufgabe. Komm schon, ich kriege das hin.«

Ich lachte, und er stieß mich an, sein gebräuntes Bein fest an meinem. Ich stupste zurück, und als sich unsere Körper berührten, spürte ich einen Schauer von Verlangen. »Ich habe hier sämtliche Kontoauszüge«, sagte ich. »Und hier ist eine Liste mit allen Honorarzahlungen an Anwälte. Ich muss sie zuordnen und nach ausstehenden Forderungen suchen. Du würdest das nicht für mich übernehmen, oder?«

Er rückte ein Stück näher an mich heran. »Vielleicht. Was ist es dir denn wert?«

Ich beugte mich hinüber und flüsterte ihm ins Ohr.

»Gib mir den Ordner und meinen Laptop«, sagte er. »Und gib mir eine halbe Stunde, dann nehme ich dich beim Wort.«

3

Montag, 19. Juni

»Dann können Sie also am Freitagnachmittag ganz sicher arbeiten?«, fragte ich Rachel am darauffolgenden Montag.

Sie nickte. »Das Seminar findet am Samstag statt?«

»Ja, in einem Hotel in London, Covent Garden. Ich fahre am Freitag am Spätnachmittag hin und komme am Samstagabend zurück.«

Sie betrachtete den Dienstplan, der vor uns lag. »Und Sie arbeiten am Sonntag? Sind Sie sicher, dass Sie nicht einen Tag zu Hause bleiben wollen?«

»Das geht nicht. Brian hat am Sonntag frei. Nehmen Sie statt Freitag den Mittwoch frei?«

So ging das jede Woche. Wir waren unterbesetzt, doch wenn sich die Situation auf dem Immobilienmarkt nicht bald änderte, konnte ich es mir nicht leisten, noch jemanden einzustellen. Ich musste mit dem Dienstplan jonglieren, um es allen recht zu machen und dafür zu sorgen, dass das Büro immer besetzt war. Das war das Problem daran, ein Geschäft zu besitzen, das an jedem Wochentag geöffnet sein musste. Ich arbeitete an den meisten Tagen, und wann immer es möglich war, nahm ich mir einen halben Tag frei. Trotzdem war es hart, und ich fühlte mich ständig erschöpft.

Ich hatte nichts dagegen, Überstunden zu machen, aber ich vermisste Rory und liebte nichts mehr, als einfach nur mit ihm allein zu sein. Ich genoss die Zeit mit ihm im Park oder im Schwimmbad oder im Café um die Ecke, wenn wir einen Milchshake tranken. Joe kam meistens auch mit, und das gefiel mir, wirklich, aber manchmal … nun ja, wenn Joe dabei war, ging Rory oft zu ihm, wenn er aufgelöst war, und ich stand da und fühlte mich nutzlos. Wenn wir alleine waren, war er dagegen ganz auf mich angewiesen. Das mag egoistisch klingen, aber es ist hart für eine Mutter, mit ansehen zu müssen, wenn ihr Kind bei jemand anderem Hilfe sucht, selbst wenn es sich bei dieser Person um seinen Vater handelt.

Oft malte ich mir aus, wie es einmal sein würde, wenn Rory älter war, wenn er nach der Schule allein zu mir ins Büro kommen konnte, um dort eine Stunde lang Hausaufgaben zu machen, während er darauf wartete, bis ich fertig war. Joe war bei der Arbeit, und später war ich in meinen Tagträumen mit Rory allein in der Küche, wo wir gemeinsam das Abendessen zubereiteten, während er mir von seinem Tag erzählte.

Mir war bewusst, dass es sich dabei um eine seltsame Fantasie handelte. Die momentane Situation war schließlich nicht schlecht, ich hatte aber dennoch das Gefühl, dass ich die wunderbare Zeit zu zweit verpasst hatte, die den meisten anderen Müttern vergönnt war. Ich schüttelte mich. Ich liebte Joe. Ich liebte Rory. Ich liebte meinen Job – zumindest meistens. Es gab keinen Grund, in einer Fantasiewelt zu leben.

Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass Rachel mich anstarrte.

»Entschuldigung!«, sagte ich. »Ich war gerade ganz weit weg.«

»Irgendwo, wo es schön ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe an Rory gedacht und ihn mir als Teenager vorgestellt. Im Gymnasium.«

Sophie erkannte die Chance auf Tratsch und kam herbeigeeilt. »Er wird bestimmt umwerfend aussehen. Absolut umwerfend.«

Ich betrachtete das Foto auf meinem Schreibtisch. Rory fuhr darauf mit seinem Dreirad im Park, mit ernstem und konzentriertem Gesichtsausdruck. Sein Haar war blond, wallend und glänzend und viel, viel zu lang. Das Foto war einen Monat zuvor entstanden, als der Sommer gerade begonnen hatte, und schon war seine Haut gebräunt gewesen, sein Körper gelenkig. Joe und Rory hatten mir das Foto überreicht, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Rory war gerade auf dem Weg ins Bett gewesen, und als er eingeschlafen war, hatte ich angefangen zu weinen, weil mir so viel entging.

»Er sieht aus wie Joe, nicht wahr?«, stellte Sophie fest.

Ich lächelte. »Ja, wunderschön!«

Die beiden lachten.

»Möchten Sie noch ein zweites Kind?«, fragte Rachel aus heiterem Himmel. Sie errötete, da sie vermutlich glaubte, zu direkt gewesen zu sein.

Die beiden sahen mich erwartungsvoll an.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich langsam. »Aber ich denke schon. Ich glaube, Rory hätte sehr gern ein kleines Geschwisterchen.«

»Und das würde ihn lieben«, sagte Sophie mit sentimentalem Gesichtsausdruck.

»Eigentlich wollte ich kein zweites Kind, nachdem ich Vollzeit arbeite«, erklärte ich. »Aber meine Mutter hat mich ins Grübeln gebracht.« Ich dachte an Weihnachten zurück, als sie und mein Vater uns besucht hatten. »Sie meinte, das beste Geschenk, das ich Rory machen könnte, wäre ein Bruder oder eine Schwester. Ich habe einen älteren Bruder, und wir haben uns als Kinder richtig gut verstanden. Er arbeitet jetzt in Edinburgh, deshalb sehe ich ihn nicht so oft, wie ich gerne möchte, aber wir sind nach wie vor dicke Freunde.«

»Sie hat recht!«, sagte Sophie. »Er hätte einen Freund fürs Leben.«

Ich lächelte. »Das ist ein schöner Gedanke.«

Rachel sammelte die Kaffeebecher ein. »Ich spüle ab«, sagte sie und ging in die Küche.

»Dann haben Sie sich also dagegen entschieden, nur für den einen Tag hinzufahren?«, fragte Sophie.

»Ich konnte mich einfach nicht überwinden, den Sechs-Uhr-Zug zu nehmen. Joe wollte, dass ich es mache, damit er am Freitagabend in den Pub gehen kann, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen.« Ich machte eine Pause, dann gab ich zu: »Also habe ich ihm gesagt, dass ich so nicht rechtzeitig ankommen würde.«

Sie lachte.

Rachel kam wieder herein, um die Keksdose aufzuräumen. »Was haben Sie ihm denn gesagt, wann es losgeht?«

»Neun Uhr statt halb zehn. Der Zug kommt um zehn vor neun an, also müsste ich mich sehr beeilen, um rechtzeitig da zu sein.«

Sie schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf. »Den eigenen Ehemann anlügen. Und was kommt als Nächstes?«

Ich lachte mit den beiden, war mir aber darüber im Klaren, dass ich Joe in letzter Zeit immer häufiger anlog. In manchen Nächten schlief ich im Gästezimmer und sagte ihm, ich hätte Kopfschmerzen, obwohl ich nur eine Weile allein sein wollte. Oder ich schlich mich zu Rory ins Zimmer, nur um etwas Zeit mit ihm zu verbringen, auch wenn er schlief. Und mir war bewusst, Joe hatte den Verdacht, dass ich nicht glücklich war. Manchmal fiel mir auf, dass er mich beobachtete, und wenn ich ihn dann anlächelte, wirkte er gedankenverloren und brauchte einige Zeit, bis er reagierte.

Als wir am Abend zuvor im Bett lagen, hatte ich das Gefühl, dass er mich jeden Moment danach fragen würde, und plötzlich dachte ich mir: Ich sage es ihm einfach, sage ihm genau, was ich empfinde, doch dann drehte er sich von mir weg und schlief ein. Ich saß noch aufrecht da, weil ich gerade meine Gesichtscreme auftrug, und hätte mich gern zu ihm hinübergebeugt und ihn auf die Wange geküsst, um einen Teil unserer Nähe zurückzugewinnen, brachte es aber einfach nicht fertig. Deshalb drehte ich mich ebenfalls von ihm weg, konnte jedoch nicht einschlafen.

Ich hatte das Gefühl, mich von jemandem, der immer ehrlich gewesen war, in jemanden verwandelt zu haben, der sagte, was auch immer nötig war, um sich das Leben leicht zu machen. Wie es dazu hatte kommen können, war mir ein Rätsel.

4

Am Abend ging ich auf Joes Angebot ein, Wein zu trinken. Es war Montag, lautete seine Ausrede, und mir wurde bewusst, dass er in letzter Zeit fast jeden Abend irgendeine Ausrede gehabt hatte, um eine Flasche aufzumachen. »Es ist Donnerstag!«, rief er zum Beispiel aus der Küche. »Fast schon Wochenende! Komm schon, trinken wir ein Gläschen.« Er war allerdings ziemlich gut darin, sich mit einem oder zwei Gläsern zu begnügen, und ich inzwischen ebenfalls. Das war bei mir nicht immer der Fall gewesen.

An diesem Montagabend schenkte Joe uns beiden also ein Glas Wein ein, und wir taten, was wir am liebsten taten, machten es uns jeder an einem Ende des Sofas bequem, die Beine miteinander verflochten, und unterhielten uns. Wir legten Musik auf und zündeten ein paar Kerzen an, und eine Zeit lang existierte nichts außer uns. Außer unserer Familie. Wir sprachen über alles und nichts, wie wir es immer taten, doch das Gespräch kehrte immer wieder zu Rory zurück. Er war unser Lieblingsthema, das bei mir stets für gute Laune sorgte. Joe erzählte mir vom Schwimmbad und vom Park und dass Rory Freundschaft mit dem Hund von gegenüber geschlossen hatte, und ich saugte diese Geschichten auf. Ich konnte nie genug davon hören.

Ich erzählte ihm, was meine Mitarbeiterinnen über ein zweites Kind gesagt hatten. »Denkst du, wir sollten noch eines bekommen?«, fragte ich ihn in einem plötzlichen Anflug von Sentimentalität. »Meinst du, Rory würde sich über ein kleines Geschwisterchen freuen?«

Joe wirkte überrascht. »Natürlich! Sehr sogar. Ich würde mich auch freuen!« Er streckte die Arme aus und zog mich zu sich. »Ich dachte, du möchtest nicht. Du hast deine Mutter richtig angefahren, als sie es erwähnt hat, weißt du noch?«

Ich zuckte zusammen, als ich mich an den schockierten Gesichtsausdruck meiner Mutter an Weihnachten erinnerte, nachdem sie mir einen Rat gegeben und ich aus beiden Läufen zurückgefeuert hatte. Sie hatte den Blick sofort auf das Glas in meiner Hand gesenkt, und ich wusste, dass sie dachte, ich würde zu viel trinken. Das hatte mich noch wütender gemacht. Rückblickend konnte ich mir nicht erklären, warum ich so reagiert hatte. Ich hatte bei der Arbeit enorm unter Druck gestanden, und die Vorstellung, dazu auch noch schwanger zu werden, hatte das Fass anscheinend zum Überlaufen gebracht.

Doch jetzt, bei Kerzenschein, während Rory in seinem Bett schlief und meine Arbeit für diesen Abend erledigt war, kam diese Mischung von Wut und Frustration nicht wieder auf.

»Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?«, wollte Joe wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mitarbeiterinnen, glaube ich. Sophie … sie hat meiner Mum recht gegeben. Sie meinte, er hätte dann einen Freund fürs Leben, und das stimmt. Sieh dir Caitlin und dich an. Oder sieh dir Brendan und dich an.«

Joe lachte. Er war vermutlich der größte Fan seines älteren Bruders; wenn die beiden zusammen waren, war er so glücklich wie sonst nie. »Einen wie ihn würde ich nicht haben wollen. Das wäre ein Albtraum.«

Trotz des Schleiers von Wein und Sentimentalität konnte ich mir den Gedanken nicht verkneifen, wie hart ich würde arbeiten müssen, um das nötige Geld für eine größere Familie zu verdienen. Vielleicht konnte ich das Geschäft noch ausbauen? Doch wie sollte das funktionieren, wo sich Immobilien momentan kaum verkaufen ließen? Mein Mut sank. Ich war ohnehin bereits erschöpft, auch ohne mich noch mehr unter Druck zu setzen.

Und dann dachte ich an die Zeit zurück, als ich mit Rory schwanger gewesen war. Es war das erste Mal gewesen, dass ich mich in meinem Körper wohlgefühlt hatte, seit … tja, ich konnte mich nicht mehr erinnern. Das Gefühl, ein Kind in mir zu tragen, die ersten zaghaften Bewegungen, die ich schon früh gespürt hatte wie Schmetterlingsküsse. Von jenem Moment an hatte ich ihn geliebt. Eigentlich schon davor. Er war damals bereits ein Teil von mir gewesen; er wird immer ein Teil von mir sein. Und der Gedanke, das alles noch einmal zu erleben, war beglückend.

»Denkst du, wir könnten ein anderes Kind genauso lieben?«, fragte ich.

»Natürlich könnten wir das.« Joes Hände waren in meinem Haar, und ich schloss die Augen, als er mich küsste. »Vor allem, wenn es ein Rotschopf wird.« Er fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und küsste mich noch einmal. »Ein Rotschopf mit grünen Augen, genau wie du.«

»Vielleicht können wir uns das später im Jahr noch mal durch den Kopf gehen lassen«, sagte ich.

»Das wäre großartig.«

»Und vielleicht könnte ich versuchen, meine Stunden zu reduzieren, damit ich mehr Zeit zu Hause verbringen kann.«

Ich verfing mich in seiner Umarmung, doch später, als wir im Bett lagen und er fest neben mir schlief, war ich wach und zerbrach mir den Kopf, wie ich es schaffen könnte, weniger zu arbeiten. Als Joe mich geküsst hatte, war ich abgelenkt gewesen; erst später wurde mir bewusst, dass er mir nicht zugestimmt hatte.

5

Freitag, 23. Juni

Am folgenden Freitag nahm ich den Nachmittagszug von Chester nach London, und dieser war brechend voll. Als ich durch das vergleichsweise leere Erste-Klasse-Abteil eilte, sah ich zwei Frauen, die sich auf den großen, bequemen Sitzen entspannten, beide bereits mit einem Glas Gin Tonic in der Hand, und wünschte mir, ich hätte beim Kauf meines Tickets den Aufpreis bezahlt. Das hätte ich allerdings nicht rechtfertigen können; das Geschäft lief nicht so gut, dass ich Geld zum Fenster hinauswerfen konnte.

In Euston sank mein Mut, als ich Scharen von Leuten am Aufzug zur U-Bahn Schlange stehen sah. Einem Aushang zufolge war eine der U-Bahn-Linien außer Betrieb, und ich wusste, dass Chaos herrschen würde. Der Bahnhof war proppenvoll und stickig in der sommerlichen Hitze. Bis ich beim Aufzug angelangte, war mir deshalb so heiß, dass ich beschloss, stattdessen zu Fuß zu gehen.

Ich trat vor die Tür auf den Euston Square. Inzwischen war früher Abend, und ich ging die Tottenham Court Road zu meinem Hotel in Covent Garden hinunter. Scharen von Büroangestellten vermischten sich mit den Touristen. Ich dachte an die Tage zurück, als ich mit Anfang zwanzig hier gearbeitet hatte. Ich vermisste diese Zeit. Damals arbeitete ich für einen Immobilienmakler im Norden von London, und es ging richtig rund, bevor der Abschwung begann. Wohnungen und Häuser ließen sich schnell für mehr als den ursprünglich geforderten Preis verkaufen, und die Maklerfirma konnte es sich leisten, großzügig zu sein mit Boni und Freigetränken nach der Arbeit.

Mir war bewusst gewesen, dass es nicht so weitergehen würde, wenn ich nach Chester zog. Und als ich Joe kennenlernte, war ich bereit, den nächsten Schritt zu machen. Ich war damals sechsundzwanzig, hatte fünf Jahre Berufserfahrung auf dem Konto und war bereit für eine Herausforderung.