Die verlorene Frau - Franz Lenz - E-Book

Die verlorene Frau E-Book

Franz Lenz

4,8

Beschreibung

Dr. Wolfgang Sommer kann es kaum fassen. Die Schauspielerin Charlotte Schön ist wieder in seiner Stadt. Vor vielen Jahren waren sie ein Paar – bis er ihre leidenschaftliche Liebe mit Füßen tritt und die wohlhabende Carmen Ferres heiratet. Voller Verbitterung verschwindet die zutiefst Verletzte auf Nimmerwiedersehen. Und nun taucht sie plötzlich wieder in seinem Leben auf. Sein Verhalten bereuend, versucht er die ihm Verlorengegangene wiederzugewinnen. Als starke Frau zeigt sie ihm zunächst die kalte Schulter und weist ihn brüsk zurück. Am Ende gewährt sie ihm – und der romantischen Zeit von damals – eine zweite Chance. Doch über Charlotte schwebt ein bedrohliches Schicksal.

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Dr. Wolfgang Sommer kann es kaum fassen. Die Schauspielerin Charlotte Schön ist wieder in seiner Stadt. Vor vielen Jahren waren sie ein Paar – bis er ihre leidenschaftliche Liebe mit Füßen tritt und die wohlhabende Carmen Ferres heiratet. Voller Verbitterung verschwindet die zutiefst Verletzte auf Nimmerwiedersehen.

Und nun taucht sie plötzlich wieder in seinem Leben auf. Sein Verhalten bereuend versucht er die ihm verloren Gegangene wiederzugewinnen. Als starke Frau zeigt sie ihm zunächst die kalte Schulter und weist ihn brüsk zurück. Am Ende gewährt sie ihm – und der romantischen Zeit von damals – eine zweite Chance. Doch über Charlotte schwebt ein bedrohliches Schicksal.

Franz Lenz wurde 1953 als erstes von fünf Kindern geboren und trug schon in jungen Jahren Verantwortung, was ihn früh prägte. Als späterer Rechtsanwalt vertrat er mit besonderem Engagement die Scheidungsangelegenheiten von Frauen.

Mitte fünfzig begann er damit, sich seiner weiteren Leidenschaft zu widmen – dem Schreiben. Mit großer Hingabe verfasst er heute ebenso spannende wie äußerst gefühlvolle Romane, in denen seine Hauptfiguren empfindsame und zugleich starke Frauen sind, die ihrem tragischen Schicksal trotzen und am Ende die große Liebe erleben dürfen („Die verlorene Frau - Eine schicksalhafte Liebe“ sowie „Schweigende Augen - Eine geheimnisvolle Liebe“).

Als glücklich verheirateter Mann schreibt er zudem hoch emotionale Gedichte, Sinnsprüche und Kurzgeschichten über das, was uns alle am meisten bewegt – über die Liebe („1000 bunte Schmetterlinge – Liebesgedichte und mehr“; drei Bände).

Die Fertigstellung seines nächsten Romans erwartet er zum Weihnachtsfest 2016.

Mehr Informationen über ihn sowie die Inhalte und Hintergründe seiner Romane finden Sie unter: www.franzlenz-romane.de

All seine Werke widmet er seiner geliebten Frau Brigitte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Letztes Kapitel

Kapitel 1

Er stand am Metallgeländer der großen Dachterrasse seiner Penthouse-Wohnung. Sein unsteter Blick wanderte hinunter zum Fluss, gleich darauf hinüber zu den Laubwäldern in der Ferne, doch kaum eine Sekunde später gen Himmel; nirgendwo aber fanden die Augen des sichtlich aufgeregten Mannes einen Ruhepol. Fahrig fuhr er mit der Hand durch sein dunkelbraunes Haar und zerzauste es – so, wie es stets geschah, wenn er angespannt war. Was er soeben auf der Heimfahrt von seiner psychotherapeutischen Praxis für einen kurzen Augenblick aus seinem Wagen heraus sah, hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Vor einem Blumengeschäft stand eine Frau, die dabei war, die Ladentüre abzuschließen. Sie war für ihn keine gewöhnliche Frau; das war ihm sofort klar. Nein, es war eine, mit deren Auftauchen er im Leben nicht mehr gerechnet hatte.

Er atmete tief ein und blies die Luft kräftig durch die Nase aus. „Du bist wieder da?“, brach es aus ihm heraus. Seine Lippen bebten leicht, als er ihren Namen aussprach. „Lotte!“ Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf; Bilder aus der Zeit von damals, als sie ein Paar waren. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Beide waren sie junge Schauspieler, am Theater seiner Eltern – und total verliebt in einander. Drei lange Jahre hielt ihr Glück, bis …. Er seufzte schwer. Ja, bis alles anders kam. Sie verschwand auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben. Er hatte sie verloren.

„Und jetzt?“, rief er laut aus. „Bist du tatsächlich wieder in der Stadt?“ War das überhaupt vorstellbar, stutzte er? Nach dem, was damals geschah? Unschlüssigkeit warf einen Schatten über das, was er beobachtet hatte – und auch über seine Freude darüber; wie schön wäre es doch, wenn es wirklich Lotte war! Hatten ihn vorhin seine Sinne nur genarrt? Genarrt, weil er sich in der letzten Zeit so oft an sie erinnerte; an sie und an die Zeit ihrer großen Liebe. Nein! Ganz gewiss war jene Frau, die er wegen des Verkehrs nur kurz sehen konnte, nicht seine Charlotte Schön von damals! Sah sie nicht irgendwie anders aus? Er schloss die Augen und verglich die beiden Erscheinungen. Damals die hübsche Frau mit der beeindruckend weiblichen Figur, dem langen blonden Haar und den ebenmäßigen Gesichtszügen. Binnen weniger Minuten hatte er sich unsterblich in sie verliebt. Soeben aber jene unscheinbare Gestalt, deren halblanges, schwarzes Haar formlos unter einem braun gemusterten Kopftuch hervorlugte. Lotte hasste Kopftücher und Braun war ganz gewiss nicht ihre Farbe. Und das da knapp über ihrer Nase kannte er gar nicht – aufgeregt und irritiert zugleich hob er bei diesen Worten die Hand und wies mit erhobenem Zeigefinger in Richtung seines Kopfes; eine lange, hässliche Narbe. Auch diese Hornbrille - unmöglich! Charlotte liebte zierliche Metallgestelle. Seine Stirn legte sich in Falten. Auch wie sie sich so scheu umsah; wie ein … - er suchte nach der passenden Beschreibung – … verschüchtertes Reh. Wie sollte diese Person seine selbstbewusste Charlotte aus jener Zeit gewesen sein?

Genügte dafür tatsächlich alleine das, was ihn sofort an sie erinnert hatte? Diese Augen, die ihn tausendmal liebevoll angeschaut hatten. Diese Wangen, über die ein glückliches Lächeln kam, wenn sie auf ihn zulief. Dieser Mund, dessen volle Lippen er so oft küsste. Zudem sprach noch etwas anderes dafür, dass sie es tatsächlich war. Jene Frau vor dem Blumenladen hatte ein Bein nachgezogen; das erkannte er im Rückspiegel genau. So wie Charlotte; seit ihrem schweren Verkehrsunfall. War sie es also doch?! „Ach Lotte, du bist wieder da“, frohlockte er halblaut. Hoffnung zum einen und Unsicherheit zum anderen hielten sich dabei jedoch die Waage. Er musste es herausfinden. Unbedingt! Gleich Morgen würde er dorthin fahren – und sie dann hoffentlich freudig begrüßen können.

Ohne es zunächst wahrzunehmen, bewegte er seinen Kopf erst sachte, dann heftiger hin und her. Durfte er es überhaupt wagen, ihr wieder unter die Augen zu treten? Nie hatte er jene erbosten Zeilen ihres Abschiedsbriefs aus seinem Gedächtnis verdrängen können. Zwar hatte er ihn in seinem Ärger über ihr Verhalten in tausend Stücke zerrissen, diese allerdings wegzuwerfen nie fertiggebracht. In einem Anflug von Wehmut fügte er die Schnipsel irgendwann Jahre später sorgfältig auf zwei Bögen Papier wieder zusammen. Wolfgang spürte, wie sich die Finger seiner Rechten schon wieder in sein Haar wühlten. In seiner Vorstellung sah er, wie Charlotte seinerzeit jene Zeilen an ihn voller Zorn auf ihren Schaukelstuhl gelegt haben musste, bevor sie ihre Wohnung verließ und für immer aus seinem Leben verschwand. Ja, jene bitterbösen Worte schmerzten ihn noch immer: ´Wolf, ich hasse dich! Dafür, dass du mich so eiskalt abservierst, um diese eingebildete Ziege Carmen zu heiraten. Ich will dich nie mehr wieder sehen. Hörst du – nie wieder!` Dieser Schaukelstuhl, der später seinen neuen Platz hier in seinem Wohnzimmer vor dem Fenster fand, war das Einzige, das er noch vorfand, als er in mitten der gähnenden Leere ihres ausgeräumten Apartments stand. Das hölzerne Ding schien hin- und her zu wippen - so, als hätte Lotte gerade noch darin gesessen und es zum Schaukeln gebracht.

Starr richtete sich sein Auge wieder auf den gegenüber liegenden, bewaldeten Hügel. Warum musste das damals alles so kommen? Es sah so gut für ihre Liebe aus - bis diese Carmen auftauchte. Für ihn war sie nur eine Kollegin; nie sah er in ihr die attraktive Frau, die sie ohne Zweifel war. Sicher, für das elterliche Theater war sie ein Gewinn, denn ihre Ausstrahlung begeisterte das Publikum. Eine ganz andere Eigenschaft aber interessierte seinen Vater weit mehr; sie war wohlhabend. Er schüttelte sich, weil ihm Vaters harte Worte in den Sinn kamen. ´Du hörst mir jetzt ganz genau zu! Du wirst die Sache mit dieser kleinen Schön beenden. Du kennst die finanziell angeschlagene Lage unseres Hauses. Du trägst als unser Sohn und künftiger Erbe des Familienvermögens eine besondere Verantwortung.` Wie er dieses befehlende ´Du` hasste! Und auch das nachfolgende Ultimatum. ´Sohn, Carmen Ferres ist unser bestes Pferd im Stall; und sie ist reich. Also kümmere dich gefälligst mehr um sie und zieh sie an Land; auf Dauer, meine ich! Und das spätestens bis Weihnachten, damit wir sie zum Familienfest als Schwiegertochter in die Arme nehmen können. Verstanden?! Sonst ….` Ausgeführt hatte er seine Drohung nicht, doch die Art seiner Eltern, mit Ungehorsam umzugehen, kannte er sehr wohl. Er stampfte mit dem Fuß auf den Steinboden. Seine Fingernägel bohrten sich in die Handballen. Was war das nur für ein Vater?! Und … - sich das einzugestehen, fiel ihm schwer - … warum hatte er ihm am Ende nur nachgegeben? War es eigene Schwäche? War es Vaters unnachgiebiger Wille? Oder eben nur seine strenge Erziehung? Einerlei – heute wusste er, dass er seine Gefühle zu Lotte zugunsten der Familienräson aufgab. Ob das, gemessen an dem, was finanziell auf dem Spiel stand, richtig oder falsch war, vermochte er bis heute nicht klar zu entscheiden. Tatsache aber war, dass er es getan hatte. Niedergeschlagen wandte er sich ab, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Nachdem er geduscht, sich umgezogen und etwas gegessen hatte, setzte er sich in den alten, aus schwerem Mahagoni gefertigten Schaukelstuhl. Er kuschelte sich in das im Rücken liegende große Kissen und fühlte sich irgendwie ganz nah bei seiner Lotte von damals. Wehmut überkam ihn. Wie oft hatte sie selbst darin gesessen; nur mit jenem dunkelfarbigen Morgenmantel aus Chinesischer Seide bekleidet, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Wie verführerisch sie ihn ansah, wenn sie dann aufstand, den fast durchsichtigen Stoff zu Boden gleiten ließ und ihn mit einer eindeutigen Geste ins Schlafzimmer lockte! „Oh Lotte!“ Ein wohliger Seufzer verließ seine Brust. Im selben Moment aber tauchte in seinem Kopf wieder Vaters Stimme auf. ´Sohn, du wirst einmal mit unserer Bühne das wertvolle Erbe deines Großvaters übernehmen.` Das war an seinem sechzehnten Geburtstag. Mein Gott, wie stolz er damals war – und wie dumm! Doch das begriff er erst, als es dafür schon viel zu spät war. Nie hätte er sich träumen lassen, wohin ihn diese Familientradition führen würde. Zu seiner Geldheirat mit einer Frau, die er nicht liebte; nur, um damit den elterlichen Betrieb zu sanieren. Verdammt - was hatte ihm das letztlich eingebracht? Aufgebracht schlug er mit der flachen Hand auf die Armlehne. Er hatte dafür Lotte aufgegeben. Und kaum mehr als zwei Jahre nach der pompösen Hochzeit folgte die Scheidung - und die hatte es in sich; mit einem Kopfschütteln dachte er unwillkürlich an den Film ´Der Rosenkrieg`. Ohne Carmen und ihr Geld war zudem das Theater auch nicht mehr lange zu halten gewesen.

Mit einem energischen Ruck wippte er nach vorne und griff nach dem Glas, das auf dem kleinen Tischchen aus Indien stand; er leerte es in einem Zug und schüttelte sich – das war zu viel Kubanischer Rum auf einmal. Unruhig nestelte er an den Knöpfen seines Hemdes. Lottes ´Ich hasse dich!` begann erneut den Raum seiner Erinnerungen an das Ende ihrer Liebe zu füllen. Konnte er es damit überhaupt wagen, morgen in jenen Blumenladen zu gehen? Was nämlich, wenn es sich bei jener Frauengestalt tatsächlich um Lotte handelte? Sie würde ihn doch augenblicklich erbost auffordern, das Geschäft zu verlassen. Im besten Fall würde sie ihn kühl begrüßen, um ihn gleich darauf mit einem entschiedenen ´Du, für dich gibt´s hier keine Blumen. Mach´s gut!` hinaus zu komplimentieren. Bei der Vorstellung daran blähte er die Backen auf und atmete laut aus. Musste er sich das wirklich antun? Oder? Hoffnung flackerte in ihm auf. Machte er sich zu viele Gedanken? War nicht inzwischen so viel Zeit vergangen, dass sie über dem stand, was er damals tat? Vielleicht würde sie ja sogar mit zitternder Stimme ´Oh mein Gott – Wolf! Wie schön, dich zu sehen!` ausrufen. Sicher würde sie ihm irgendwann vorwerfen, dass er sie damals in die Wüste schickte, dann aber tatsächlich sagen: ´Schwamm drüber – das ist ja schon so lange her; und schließlich konntest du damals ja auch gar nicht anders.` Oh, wie sehr wünschte er sich das, hatten sie beide doch eine wundervolle Zeit miteinander! Wer weiß – vielleicht würden sie beide ja …. Sein Blick richtete sich bei diesem wagemutigen Gedanken nach draußen in den mittlerweile dunkel gewordenen Abendhimmel, an dem in der Ferne die Venus aufgegangen war und hell zu ihm hinüber strahlte. Dabei war es ihm so, als wollte sie ihm ein Zeichen senden; eines, das ihm Mut machen sollte, morgen einfach dorthin zu gehen.

Er drückte sich tiefer in das Kissen seines Schaukelstuhls, um seinen Erinnerungen noch näher zu kommen. Vor ihm tauchte die junge Schauspielerin Charlotte Schön auf, die sich um eine Stelle am Theater bewarb. Als er in der Türe zum kleinen Konferenzsaal stand und sie das erste Mal sah, verschlug es ihm den Atem. Schön war sie tatsächlich, jene Frau Schön. Ihre anmutige Erscheinung traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er spürte, wie Nervosität in ihm aufkam, wie sein Herz heftig zu schlagen begann, wie sein Mund trocken wurde, wie sich seine Augen in den ihren zu vergraben suchten. In der nächsten Minute wusste er, dass er sich soeben verliebt hatte, noch bevor er überhaupt ein einziges Wort mit ihr austauschen konnte.

Mit geschlossenen Lidern ließ er seine Gedanken lebendig werden. ´Guten Tag! Wolfgang Sommer mein Name. Ich bin der zweite Intendant unseres Theaters. Vielen Dank für Ihre Bewerbungsunterlagen, Frau Schön.` Er machte nach seiner Begrüßung eine Pause – er brauchte sie! Wie sehr ihn seine innere Aufregung doch in diesem Moment verunsicherte! In seinem Kopf sauste ein Karussell um dessen eigene Achse. Was geschah da? Welcher süße Zauber lag plötzlich auf ihm! Der Liebreiz dieser jungen Frau zog ihn von Minute zu Minute mehr an. Trotz der Kürze dieser Zeit fühlte er sich in ihrer Gegenwart unerklärlich wohl. Beinahe schien es ihm, als kannte er sie schon eine halbe Ewigkeit. Ihr Blick ruhte auf ihm, der seine auf ihr. Er glaubte fast, sein Herz pochte im Gleichklang mit ihrem - ganz leise, ganz laut, ganz langsam, ganz schnell, bedächtig und rasend zugleich. Er erinnerte sich, während er sein Glas erneut füllte, noch genau an ihre ersten Worte. ´Vielen Dank, Herr Sommer, dass ich kommen durfte.` In ihrer Stimme lag ein Zittern, das ihn ahnen ließ, dass auch ihr Herz schneller schlug. War er etwa nicht alleine mit dem Durcheinander seiner Empfindungen, hatte er damals gedacht, ja sogar gehofft. Er nahm einen Schluck und folgte seinen Gedanken. Sie saß da, mit übergeschlagenen Beinen. Die rechte Hand lag auf der Lehne des schwarzen Ledersessels. Wie ein Gemälde im goldenen Rahmen kam sie ihm vor. Schulterlanges, blondes Haar; etwas wild zerzaust. Helle, zarte Haut. Leichte Röte auf den Wangen. Bildschön einfach!

Ja, er hatte es sofort gefühlt; sein Herz ließ keinen Zweifel zu. Er hatte es sofort gewusst; sein Kopf ließ keinen Zweifel zu. Er hatte es sofort gespürt; sein Bauch ließ keinen Zweifel zu. Es gab keinerlei Ungewissheit darüber, dass er sich verliebt hatte. Nie zuvor hatte er eine Frau getroffen und dabei auf Anhieb gewusst, dass ihm gerade die Liebe auf den ersten Blick begegnet war. Seit dem Moment, in dem er ihr gegenüberstand, konnte er sich dem von ihr ausgehenden Zauber nicht mehr entziehen – so, als stünde er Circe gegenüber, der aus der griechischen Sagenwelt entsprungenen Schönen, die ihn unweigerlich in ihren Bann zog. Wolfgang sog die Luft um ihn ganz tief ein – und hatte dabei die Vorstellung, nochmals jenes betörende Parfüm zu riechen, dessen Duft die junge Schauspielerin von damals umhüllte. Ja, für ihn gab es seit ihrer ersten Begegnung kein Entrinnen mehr; Charlotte hatte ihn verzaubert! „Ach Lotte“, stöhnte er, „warum mussten wir uns nur verlieren?“

Nach Stunden des Schwelgens in seinen Erinnerungen – die Kirchturmuhr hatte soeben elf geschlagen - unterbrach ihn sein Gähnen. „Ich glaube, mein Junge, es wird Zeit für dich“, ermahnte er sich halblaut. Er erhob sich, löschte die Kerze auf dem Tisch und lag wenige Minuten später mit dem festen Willen im Bett, in seiner Fantasie seine Liebe von damals mit in den Schlaf zu nehmen.

Kapitel 2

„Hallo Liebster, wach auf!“ Laut drang dieser Ruf in sein Bewusstsein. Schlaftrunken fuhr er hoch. Was war das? Aufgeregt riss er die Augen auf – und blickte in das Stockdunkel seines Schlafzimmers. Woher kam diese Stimme? Eine Stimme, die er kannte und deren Süße er nie vergessen hatte. „Lotte?“, hauchte er in die Dunkelheit hinein. Wie ein Widerhall klangen die Worte noch einmal in seinem Kopf: „Hallo Liebster, wach auf!“ Seine linke Hand tastete über die andere Hälfte seines Französischen Bettes. Sanft und vorsichtig forschten seine Fingerspitzen nach dem, was er – noch halb betäubt von der Macht des Schlafes - dort neben sich zu finden hoffte. „Bist du es?“ Statt der ersehnten Antwort durchdrang nur Stille den Raum – ebenso wie seine langsam klar werdende Erkenntnis, nur geträumt zu haben. Er drehte sich zur Seite und knipste die Nachtischlampe an. Gleißendes Hell riss ihn in die nüchterne Wirklichkeit - sein nächtliches Wunschdenken hatte ihm einen Streich gespielt. Dort lag niemand. Natürlich nicht!

Er stand auf, ging ins Bad, ließ aus dem Hahn eiskaltes Wasser in beide zu einer Schale geformten Hände fließen – und schüttelte sich, als er sich alles mit Wucht in sein Gesicht goss. Er wollte einen klaren Kopf bekommen. Warum hatte er so intensiv und gefühlvoll von Lotte geträumt? Nachdenklich schaute er in den Spiegel. Bewegten sich da nicht seine Lippen? Ihm schien es so, als spreche sein Konterfei zu ihm: ´Wolf, warum lässt dich der Gedanke an sie nicht los? Frag doch mal dein Herz!` Starr vor Staunen fixierte er sein Spiegelbild. Unwillkürlich legte sich seine Hand flach auf seinen Brustkorb. Er spürte das heftige Pochen und wusste im selben Moment, was das zu bedeuten hatte. Sein Herz hatte ihm mit diesem freudigen Schlagen geantwortet. Glücklich ging er wieder ins Bett und schlief rasch ein.

Am nächsten Morgen war er nicht ohne Grund schon vor acht in der Praxis. In Kürze würde seine nächste Patientin kommen; gerade bei ihr war es ihm besonders wichtig, sich rechtzeitig in ihre seelische Konfliktlage zu versetzen; sie war nun einmal sein derzeit schwerster Fall, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie aus ihrer familiären Umklammerung zu befreien. Es war eine solche, die er aus seinem eigenen Leben im elterlichen Theater leider selbst sehr gut kannte. Immer wieder spiegelte sich für ihn in der Schicksalsgeschichte dieser Frau in gewisser Weise das Leben des jungen Sohns Wolfgang wider. „Bist ein ganz armes Ding, Henriette“, murmelte er, als er ihre Krankenakte aufschlug. Mitte dreißig, recht hübsch, aber schrecklich altmodisch gekleidet, dachte er. Spätes Kind erzkonservativer Leute; ihr alter Herr ein despotischer Moralapostel, wie er im Buche steht. Lässt ihr kein Fitzelchen freien Willen. Unbedingter Gehorsam ist für ihn das Erste Gebot. Nun, irgendwie würde er es schon schaffen, sie seinen Klauen zu entreißen!

Dr. Wolfgang Sommers zweiter Beruf erfüllte ihn sehr; das wurde ihm an jedem einzelnen Arbeitstag wieder bewusst. Besonders dann, wenn er nach einer Behandlungsstunde bei der Verabschiedung in die dankbaren Augen einer Patientin schaute und dabei erkannte, dass es ihr vor einer Stunde bei weitem schlechter gegangen war. Gut, dass er sich damals, als er seinen Posten am Theater verlor, seinen alten Traum erfüllte und Psychologie studierte. Heute hatte er seine eigene Praxis mit einem stets vollen Terminkalender.

„Hallo, Frau Söderberg.“ Er schaute in zwei verheulte, tränennasse Augen. Noch in der offenen Türe nahm er sie fürsorglich in seine Arme. „Na, na, wer wird denn weinen. Kommen Sie erst einmal herein, setzen Sie sich auf Ihre Couch und erzählen Sie mir alles.“ Heftig schluchzend begann sie ihm gleich darauf ihr Leid zu klagen. Am Ende ihres Wortschwalls packte sie augenscheinlich die Wut und sie schimpfte lauthals: „Das muss ich mir doch von dem alten Mann nicht bieten lassen, Herr Doktor, oder?“ Seine Antwort gar nicht abwartend tobte sie weiter. Gut so, Mädchen, dachte er; endlich fängst du an, dich gegen deine herrschsüchtigen Eltern zu wehren. Er hörte ihr weiter aufmerksam zu. Nach einiger Zeit aber ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken abschweiften. Seine Fantasie führte ihn in einen Raum voller bunter Blumen, deren verschiedene, betörende Düfte ihm in die Nase zu steigen schienen. In mitten all der Pflanzen stand seine Lotte und hielt ihm einen hübsch gebundenen Strauß entgegen. Wolfgang spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

Doch kaum beglückte ihn dieser Tagtraum vollends, da erlebte er, warum ihm das besser nicht hätte passieren sollen. Seine Patientin brach ihren begonnenen Satz ab und fragte irritiert: „Habe ich etwas Falsches gesagt, Herr Doktor?“ Er stutzte. „Äh, nein; wieso?“ „Weil Sie …, na ja, Sie haben so komisch gelächelt. Und das, wovon ich ihnen gerade berichte, ist doch wirklich nicht zum Lachen, oder?!“ Nimm dich zusammen und konzentriere dich gefälligst, rügte ihn sein Verstand. „Nein, nein! Das hatte doch nichts mit Ihnen zu tun. Erzählen Sie nur weiter, liebe Frau Söderberg.“

Ich muss sehr bald wissen, ob jene Frau tatsächlich Lotte ist, ging es ihm allerdings kaum fünf Minuten später durch den Kopf. Ungeduld beschlich ihn; wann war diese Sitzung endlich vorüber. Am liebsten würde er die Zeit nur damit verbringen, an Charlotte zu denken – und daran, ob er sich trauen sollte, in jenem Blumenladen aufzutauchen. Seine Gedanken schweiften immer wieder dorthin, wo er seine Lotte wähnte. Hin und her gerissen zwischen seinem wohligen Blick in die Vergangenheit und dem mulmigen Gefühl, das ihm seine Angst vor Lottes barscher Reaktion bereitete, blieb er bis zum Ende seines Arbeitstages unentschlossen.

Endlich zu Hause und allein mit sich und seinen Überlegungen saß er in seinem Schaukelstuhl und ließ den Tag an sich vorüber gleiten. „Warst heute wirklich nicht bei der Sache, mein Lieber!“, gestand er sich kleinlaut ein; er sprach oft mit sich selbst, wenn er alleine war. „Das muss aufhören, hörst du! Geh morgen in diesen blöden Laden, damit du endlich weißt, ob sie es überhaupt ist! Und wenn ja, dann begrüße sie mutig mit einem ´Hallo Lotte, wie geht´s dir?` Dann wirst du schon sehen, ob sie noch immer verletzt und böse ist.“ Doch genau dieses kleine Wörtchen ´böse` hatte es in sich, denn es brachte ihm ihre Wut in Erinnerung, mit der sie ihn damals mit bebenden Lippen angeschrien hatte. ´Wolf, wenn du mir …` - sie hatte gestockt, weil ihr die Stimme den Dienst versagte - ´wenn du mir nicht sofort hoch und heilig versprichst, deinem Vater und diesem Miststück von Ferres klarzumachen, dass du sie auf keinen Fall heiratest, dann …, dann ….` Wolfgang sah vor seinem inneren Auge förmlich, wie Lotte ihre zitternden Hände über ihren Mund legte, als wollte sie eigentlich nicht aussprechen, was sie sich offensichtlich zu sagen vorgenommen hatte. ´… dann wirst du mich nie mehr wieder sehen! Das schwöre ich dir! Oder bildest du dir etwa tatsächlich ein, ich wäre dann neben der da als die Nummer zwei nur deine heimliche Geliebte? Das, mein Lieber, kannst du vergessen!`

Wolfgang stöhnte laut auf und warf die Arme in die Höhe. Wie hatte er sich nur auf so etwas einlassen können? Warum hatte er es nicht geschafft, aufzubegehren? Wäre es nicht seine Pflicht gegenüber Charlotte und sich selbst gewesen, den Eltern sein klares ´Nein!` entgegen zu halten? Warum waren ihm sein Gehorsam und das wirtschaftliche Überleben des verfluchten Familienbetriebs wichtiger als sein eigenes Glück? Oder hatte er überhaupt keine Wahl? Als einziger Sohn musste er doch das Theater vor dem wirtschaftlichen Absturz retten. Zehn Finger begannen wild durch sein Haar zu fahren. Dass er Lotte damit wehtat, war eben der Preis dafür. Das Leben war nicht immer gerecht. Doch damit hatte sie allen Grund dazu gehabt, ihn zu hassen! Sein morgiges Auftauchen im Blumengeschäft konnte er also vergessen!

Doch irgendwie musste er doch herausfinden, ob jene Frau vor dem Laden seine Lotte war! Er runzelte die Stirn und sein rechter Zeigefinger trommelte gegen seine Unterlippe. Ihm kam eine Idee. Warum schrieb er nicht einen Brief? Dann könnte Lotte – sollte sie es tatsächlich sein - ihm antworten, ohne dass er ihrem Zorn unmittelbar ausgeliefert wäre. Ja, das ginge. Vielleicht. Zu überzeugen vermochte ihn dieser Gedanke jedoch nicht wirklich. Schwerfällig erhob er sich und ging hinaus auf die Dachterrasse, dort hinüber, von wo aus er am Vorabend völlig durcheinander hinunter ins Tal geschaut hatte. Ach, warum war das Leben immer so schwierig? Sie dort aufsuchen ging nicht; und einen Brief an eine Frau schicken, von der nicht einmal wusste, ob sie Lotte war, war auch Unsinn. Sollte er das Ganze nicht besser einfach vergessen? Gestern war gestern, heute war heute – und Schluss damit!

Kapitel 3

Am folgenden Samstag stand er schon vor dem Morgengrauen auf. Wolfgang fühlte sich wie gerädert. Sein Herz pochte hart gegen seine Brust. Er hatte wieder eine unruhige Nacht. Die Erlebnisse der letzten Monate seiner gemeinsamen Zeit mit Charlotte verfolgten ihn. Wie so viele Gespräche hatte auch jener zermürbende Dialog, der ihn im Bett geplagt hatte, nichts mehr von der Glückseligkeit, mit der ihre Liebe begonnen hatte: ´Ach Wolf, ich kann nicht ohne dich leben, weil ich dich so sehr liebe. Ich werde jedoch niemals nur die Geliebte eines Verheirateten sein können. Du wirst dich entscheiden müssen, zwischen …;` - wie hässlich ihr Lachen geklungen hatte; und auch ihr nachfolgendes – ´… zwischen Geld und Liebe.` ´Aber du weißt es doch, Liebes; ich trage die Verantwortung für das alles,` hatte er gekontert. ´Ja, die trägst du; vielleicht. Aber hast du sie nicht auch für uns beide? Ich glaube fast, du liebst mich gar nicht richtig.` Wie bitter ihm nun dieser Vorwurf aufstieß! War Lotte damit nicht ungerecht gewesen? Natürlich liebte er sie. Das mit dem Theater und Carmen hatte doch eigentlich gar nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun. Hätte sie ihn in seiner schwierigen Lage nicht besser verstehen müssen? Musste sie deshalb gleich weglaufen?

Nach dem Mittagessen dachte er wieder an die Idee, jener noch Unbekannten im Blumengeschäft einen Brief zu schicken. Sollte er es nicht trotzdem einfach tun? Kurz entschlossen holte er aus seinem antiken Sekretär einen Bogen Schreibpapier, setzte sich und begann:

Liebe Leserin! Ich sah Sie neulich vor dem Blumenladen, in dem Sie offensichtlich arbeiten. Nun bin ich mir nicht sicher, ob Sie eine mir Unbekannte oder die Frau sind, welche ich von früher kenne. Sollte Ihr Name Charlotte Schön sein, so würde ich mich sehr über eine Antwort freuen.

So begann er seine Zeilen an die Gestalt seiner großen Hoffnung. Schon wollte er davon erzählen, dass er das bedauerte, was damals geschah. Doch noch während er seine Worte zu formulieren begann, begriff er es; er konnte doch einer Fremden nicht sein Gefühlsleben offenbaren; was nämlich, wenn jene Frau nicht Lotte war?! Enttäuscht ließ er den Kugelschreiber auf die Platte mit dem edlen Vogelaugenahorn-Furnier sinken, zerknüllte den Briefbogen und warf ihn kraftlos in den auf dem Boden stehenden Papierkorb.

Am Nachmittag erledigte er die Einkäufe und schlenderte danach ziellos und in Gedanken versunken die Gassen der Altstadt entlang – bis er plötzlich stutzte. Er hatte sich Straßenzug um Straßenzug jenem Blumengeschäft genähert, so, als hätte ihn eine magische Kraft dorthin gezogen. Ebenso verwundert wie erfreut blieb er stehen und schmunzelte; der Wunsch in ihm, sich Gewissheit zu verschaffen, war doch größer gewesen als seine Sorge vor einer bitterbösen Abfuhr. Schon sah er den Laden an der Straßenecke vor sich auftauchen. Nach einigen weiteren Häuserreihen stand er, von einer Litfaßsäule verdeckt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Neugierig spähte er nach drüben – und fuhr zusammen.

Die Glastür öffnete sich und eine Frau trat, gefolgt von einer zweiten, aus dem Geschäft. Das ist doch …! Er schaute genauer hin; grelles Sonnenlicht blendete ihn. Verdammt, warum hatte er seine Brille nicht mitgenommen?! Er hielt seine flache Hand über die Stirn und versuchte die Person, die er zu erkennen glaubte, genauer zu sehen. Doch da schob sich schon die andere vor sie. Diese war hager, trug einen kurzen Rock und eine weit ausgeschnittene Bluse. Mit ihrem grellroten, kurz geschnittenen Haar kam sie ihm wie ein Leuchtturm vor, der die Aufmerksamkeit aller Seemänner auf sich ziehen sollte. Trotz seiner Aufregung entlockte ihm diese Vorstellung ein Lächeln. In ihrer Linken hielt sie eine Leine, an der ein kleiner Hund mit weißem Fell verspielt zerrte. Sie gab seinem Drängen nach und ging einige Schritte nach vorn.

Da konnte er sie endlich erkennen - die Schwarzhaarige von neulich. War das Lotte? Sie trug eine graue Hose, einen ebensolchen kurzärmligen Pullover und … - „Aha!“, entfuhr es ihm – „ … wieder so ein albernes Kopftuch.“ Zwischen ihrem Brustkorb und dem Oberarm klemmte der untere Teil eines großen, in Folie gehüllten Blumenstraußes mit … „Nein!“, rutschte es ihm ein weiteres Mal heraus; es waren gelbe, rote und weiße Calla, die Blumen, die Lotte am liebsten mochte, und die er ihr so oft mit nach Hause brachte. Sprach das nicht dafür, dass sie es war? Während sie die Ladentüre abschloss, spornte ihn der Gedanke zum sofortigen Handeln an; sollte er diese Gelegenheit nicht augenblicklich nutzen? Geh rüber und begrüße sie!, schallte es in seinem Kopf; einem Echo gleich wiederholte sich diese innere Aufforderung. Geh rüber, geh rüber! Als überforderte ihn dieser Befehl, drehte er sich abrupt um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die runde Werbesäule. Für einen Moment schloss er die Augen. Mutlosigkeit lähmte ihn. Lotte war doch nicht alleine. Und sich am Ende auch noch vor dieser anderen beschimpfen zu lassen – wozu sollte er sich das geben?

Lautes Bellen lenkte ihn von diesem Gedanken ab. Er löste sich von der ihm Schutz gewährenden Säule, machte einen Schritt zur Seite, schaute neugierig hinüber auf den gegenüberliegenden Gehweg – und spürte Blässe in seinem Gesicht aufkommen. Der kleine Hund jagte über die Straße, direkt auf die Litfaßsäule zu; die Frau mit der langen Hundeleine vermochte ihm kaum zu folgen. „Lass ihn, Sabine; er will doch nur zu seinem Schnüffelplatz.“ Wolfgang begriff; damit war sein Versteck gemeint! Nun überquerte auch die Schwarzhaarige die Straße. Langsamer als jene aufreizend Gekleidete. Er erkannte, warum. Sie zog ihr rechtes Bein nach. Ja! Sie musste seine Lotte sein. Er stand jetzt keine vier Meter entfernt von ihr, allein verdeckt durch das mit Plakaten beklebte, steinerne Rund und den mannshohen Busch daneben – an dem der kleine Bello zu Wolfgangs größtem Unbehagen schon herum schnüffelte. „Komm, Tarzan, wir müssen heim!“ Erneut vernahm er diese Stimme. Lottes Stimme! Kein Zweifel – oder? Sein Herz begann zu rasen, als er einen weiteren Blick riskierte. Zwar vermochte er wegen der großen Sonnenbrille ihre Augen nicht zu erkennen; doch ihre Gesichtszüge und dieser Mund mit den vollen Lippen - wie gut kannte er das alles! Das schwarze Haar aber …? Lotte, das steht dir überhaupt nicht, dachte er enttäuscht. Wo ist dein wunderschönes Blond? Und dieses hässlich gestreifte Kopftuch! Er wich zurück und verschwand wieder vollends hinter der Säule. Auf keinen Fall durfte sie ihn jetzt sehen.

„Tarzan! Hopp, hopp. Daheim gibt´s auch ein feines Futter für dich. Ach, Sabine, was ich dir noch erzählen wollte: Die Blumenbestellung für Schmidsohn wurde storniert; ruf bitte gleich am Montag den Großhändler an und ….“ Mehr verstand er nicht; Lottes Worte verloren sich Schritt um Schritt mehr in der Ferne. Erleichtert, nicht entdeckt worden zu sein, sowie glücklich über eine nun klare Erkenntnis atmete er tief durch und blies die Luft laut aus. Ja! Das war Lotte! Seine Lotte!

Und nun? Warum … - ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Einer, der ihm gefiel. Wenn er sie soeben nicht hatte ansprechen wollen, so konnte er ihr doch wenigstens heimlich folgen. Dann wüsste er, wo sie wohnte und könnte sie vielleicht sogar dort … - zu verwegen kam ihm diese hoffnungsvolle Idee vor, als dass er sie zu Ende denken wollte. Stets in gebotenem Abstand hinter den beiden Frauen bleibend und immer den Schutz einer der Platanen am Straßenrand oder der parkenden Autos nutzend ging er hinter den beiden her. Am Marktplatz angelangt trennten sich die Frauen. Als Lotte kurz darauf nach links in eine schmale Gasse abbog, ahnte Wolfgang, welchen Weg sie einschlagen würde. Diese Strecke hatte nur ein Ziel: Die Alte Brücke über den Fluss hinüber zu dem am Hang liegenden Wohngebiet. Aha, dort wohnst du also; dort, von wo aus man die schönste Aussicht auf das Schloss da oben hat. Er lenkte seinen Blick für einen Moment dorthin, wo der steile Pfad hinüber zum Schlossberg führte.

Während er tief durchatmete, verließ ihn ein wehmütiges „Ach!“ Wie oft hatten sie sich damals dort oben ihrer Verliebtheit hingegeben, waren Arm in Arm durch den Park gewandelt und hatten sich von der Sommersonne bescheinen lassen, während Amor Pfeil um Pfeil auf sie abschoss. Sie standen dann dort hinten an der Mauerecke mit dem Ausblick auf die Dächer der Altstadt. Zeitlos lang, wortlos still, tonlos ruhig, einander umarmend, bis ihre Seelen miteinander eins wurden und ihre Herzen im Gleichklang schlugen. Lotte flüsterte dabei schweigend, was er gerade dachte; seine Hände taten das, wonach sie gerade gierte; ihre Küsse waren zärtlich und wild zugleich und verlangten nach mehr. In jenen Momenten war ihre kleine Welt der Liebe in Ordnung; dann schwebten sie im siebten Himmel. In Ordnung wenigstens, bis …. Eine dunkle Wolke legte sich über seine Gedanken, und er riss sich vom Anblick des Schlosses los. Warum hatte damals alles so kommen müssen?

Nach weiteren wohl fünfzehn Minuten Fußwegs blieb Lotte vor einem in die Jahre gekommenen Haus stehen. Von weitem beobachtete er die Szenerie. Es war eine rot eingedeckte Jugendstil-Villa. Neben dem hölzernen Eingangstürchen, das von einer mit schräg aufgelegten Ziegeln bedeckten Mauer eingefasst war, stand ein breiter und hoher Lebensbaum. Als Lotte die Pforte öffnete, quietschten deren Angeln laut; sie taten es erneut, als sie und ihr Hund dahinter verschwanden. Nun wusste er wenigstens, wo seine Liebe von damals zu Hause war.

Wolfgang ließ seinen Blick nach rechts schweifen; auf der gegenüber dem Haus liegenden Straßenseite bildeten vielfarbig angelegte Blumenbeete, dichte Büsche und eine Reihe alter Linden einen kleinen Park, in dem einige Bänke Spaziergänger zum Ausruhen einluden. „Hübsch hast du´s hier!“, murmelte er. Ein warmes und liebevolles Gefühl durchfuhr ihn, und er verharrte in dem glücklichen Gedanken daran, seine Lotte in dieser schönen Stadt wiedergefunden zu haben. Erst Minuten später betrat er den Park und ging im Schutz der Büsche weiter, solange, bis er die Hausnummer jener alten Villa erkennen konnte. Er entzifferte an der Mauer, deren Putz an einigen Stellen schon abbröckelte, eine ´8` – und stutzte; die Acht war Lottes und seine Lieblingszahl; sie hatten sich an einem Achten kennen gelernt.

Kapitel 4

Während der folgenden Arbeitswoche nahm sich Wolfgang täglich vor, seine Aufmerksamkeit wieder deutlich mehr seinen Patientinnen zu widmen – doch gelingen wollte es ihm nicht wirklich. Immer wieder sah er Charlotte vor seinem geistigen Auge - in jenem Blumenladen, bunte Sträuße bindend und ihren Kunden damit Freude schenkend. Auch beobachtete er sie in seiner Fantasie auf dem Weg zu ihrem Haus, begleitet von diesem kleinen, wuseligen Hund. Selbst von ihrer Wohnung machte er sich eine Vorstellung. Und wie schön Lotte doch noch immer war, nach so unendlich vielen Jahren! Selbst ohne ihr blondes, langes Haar. Allein, das Fröhliche in ihren Gesichtszügen, das er so an ihr liebte, hatte er nicht entdecken können, als er sie vergangene Woche sah. Etwas Bitteres schien ihre frühere Lebensfreude zu verdecken. Auch jener eigenartig geduckte Gang und der scheue Blick, mit dem sie die Passanten um sich herum beäugte, wunderte ihn sehr. Sie war doch immer so ein lebensbejahender und offenherziger Mensch gewesen. Was hatte sie nur so verändert? Eine Mischung aus Neugierde und Sorge befiel ihn. Wie gern wüsste er mehr über sie und darüber, wie es ihr seitdem ergangen war. Du musst über deinen Schatten springen, schimpfte seine innere Stimme mit ihm! Geh endlich zu ihr!

Aber konnte er ihr denn wirklich ohne jede Vorwarnung gegenüber treten? Würde er Lotte damit nicht völlig überfahren? Er selbst war schließlich auf ein Wiedersehen vorbereitet; sie aber nicht. Dieser erste Moment würde ja letztendlich auch darüber entscheiden, wie heftig ihre Reaktion ausfiele. Wie aber könnte er sich ihr nähern, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen? Er legte die Stirn in Falten und überlegte, während er auf seine nächste Patientin wartete. Ihm wollte nichts einfallen. Nach Minuten des Grübelns aber verließ seinen Mund - wie aus der Pistole geschossen – ein erfreutes „Ja!“ Eine Eingebung hatte ihm die Lösung gebracht. War er nicht Schauspieler gewesen?!

Am Samstagnachmittag kam ein älterer, am Stock gehender Mann langsam die Straße entlang gelaufen. Er trug einen für die warme Jahreszeit viel zu dicken, altmodischen Anzug mit Krawatte. Als er den kleinen Park vor dem Haus mit der ´8` erreicht hatte, wählte er eine freie Parkbank aus, die von einer halbhohen Hecke verborgen war, ihm dennoch einen guten Blick auf jene alte Villa gewährte. Den Stock mit dem Silber beschlagenen Griff legte er neben sich ab, lehnte sich selbstzufrieden zurück und wartete. Irgendwann demnächst würde es ja geschehen! Eine gewisse Frau Schön käme mit ihrem kleinen Hund an der Leine aus dem Haus. Er könnte sie beobachten, ohne erkannt zu werden. In aller Ruhe würde er dann den geeigneten Augenblick wählen, um sie - all seinen Mut zusammennehmend – anzusprechen.

Die Zeit verging. Nach einer Stunde begann Ungeduld an seinen Nerven zu zerren. Und nach weiteren auf seiner Armbanduhr abgelesenen dreißig Minuten überkam ihn wieder seine alte Unsicherheit. Nervös fuhr seine Hand zum Haar hinauf, um darin zu wühlen; gerade noch rechtzeitig besann er sich darauf, dass sein Kopf von einer Perücke bedeckt war, die er dadurch unweigerlich verschoben hätte. Am liebsten hätte er sie sich herunter gerissen, so sehr spürte er unter ihr die Hitze der Sonne, die an diesem Nachmittag unbarmherzig brannte; doch seine Tarnung, das wusste er, war der Kompromiss gewesen, auf den er sich innerlich geeinigt hatte. Es war der Mittelweg zwischen seinem fehlenden Mut einerseits, mit seinem unerwarteten Erscheinen Lottes Wut auf ihn zu steigern und seinem innigen Wunsch andererseits, sich ihr zu nähern. Zu mehr hatte er sich nicht durchringen können. Und eigentlich fand er seinen Einfall, so wie früher am Theater verkleidet als älterer Herr hier her zu kommen, gut.

Auf dem Weg hierher hatte er sich im spiegelnden Schaufenster eines Modegeschäfts ein letztes Mal mit kritischem Blick geprüft. Saß alles richtig? Würde sie ihn auch wirklich nicht erkennen, obwohl sie ja selbst als talentierte Schauspielerin genug von der Kunst des Verkleidens verstand? Was er sah, hatte ihn beruhigt. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte und goldener Nadel, schwarze Lederhalbschuhe und eine Halbbrille mit Horngestell. Mit seinem silberfarbenen, schulterlangen Haar sah er irgendwie interessant aus – sympathisch, anziehend und dennoch ziemlich sonderbar. Sein Bart bedeckte das Kinn bis fast zum Halsansatz. Wuschelige, graue Augenbrauen lagen schwer auf seinen Lidern. Vorsichtig hatte er an den aufgeklebten Brauen gezupft; ja, sie hielten. Das aufgetragene Make-up mit den Altersflecken war zu einem Teil seines Gesichts geworden. Die Hände schauten viel zu weit aus dem kurzen Ärmel der Jacke mit den ausgebeulten Seitentaschen heraus. Der alte, leicht gebeugt und am Stock gehende Mann vor ihm war ganz gewiss nicht mehr der agile Psychotherapeut Dr. Wolfgang Sommer. Beruhigt erkannte er, dass er noch nichts verlernt hatte; wie viel Spaß ihm damals das Verkleiden machte! Ilona, die Theater-Visagistin, hatte ihm sehr viel beigebracht. Nie hätte er gedacht, diese Fähigkeiten noch einmal gebrauchen zu können.

Voller Unrast schaute er wieder hinüber zu dem alten Haus. Zweifel kamen in ihm auf; vielleicht war sie gar nicht daheim? Dann wäre er heute ganz umsonst hierhergekommen. Seine Ungeduld wuchs; wieder schaute er auf die Zeiger seiner Armbanduhr - Zeiger, die nicht Halt machen wollten, sich rücksichtslos vorwärts bewegten, ohne dass etwas geschah. Er rutschte auf der harten Holzbank hin und her. Eine weitere halbe Stunde verging. Wolfgang saß mittlerweile in sich zusammen gesunken da, mit halb geschlossenen Augen, bar jeder Hoffnung, Lotte heute zu sehen. Langsam, aber sicher kam er zu dem Schluss, dass seine Idee zwar gut, jedoch nicht gut genug gewesen war. Offensichtlich war Charlotte nicht da, sodass sie mit ihrem kleinen Hündchen auch nicht herunter kommen würde, um mit ihm Gassi zu gehen. Genau darauf hatte er aber spekuliert, wohl wissend, dass auch Hunde Bedürfnisse hatten.

So gab er frustriert auf und erhob sich schwerfällig. Er warf einen letzten, enttäuschten Blick auf den Hauseingang – und zuckte zusammen. Genau in diesem Moment vernahm er das schrille Quietschen des hölzernen Törchens. Zuerst sah er den kleinen Hund mit dem weißen Fell herauskommen, dann sie. Es hatte doch noch geklappt! Ganz vorsichtig ließ er sich wieder auf die Bank nieder und beobachtete, wie Charlotte die schmale Straße überquerte, wobei der Hund sein Frauchen an dessen Leine zu ziehen schien. Der weiße Zwerg steuerte geradewegs auf die Parkanlage zu. Unbehagen erfasste den heimlichen Beobachter; dieser neugierige Vierbeiner würde doch nicht etwa …! Kaum hatte Wolfgang diese Sorge gedacht, verwirklichte sie sich auch schon; das Hündchen erreichte den Rand des kleinen Parks und hob sofort sein Beinchen - an diesem Baum, an jener Hecke. Unaufhaltsam näherten sich Hund und Frauchen seiner Bank. Panik überkam ihn - und die Erkenntnis, seinen Mut, hierher zu kommen, überschätzt zu haben. Hoffentlich würde sie ihn nicht gleich erkennen. Doch war seine Maskerade, beruhigte er sich, nicht viel zu professionell, als dass sie ihn als jenen Wolfgang Sommer von damals entlarven könnte?! Hoffentlich, sonst …. Rasch drehte er seinen Kopf weg und schaute angestrengt in die entgegengesetzte Richtung. Aus dem Augenwinkel heraus verfolgte er den kleinen Schnüffler - und fluchte innerlich. Es war passiert! An seinem Hosenbein spürte er die Hundeschnauze. Wolfgang erstarrte zur Salzsäule.

„Tarzan! Kommst du sofort hier her. Lass den Herrn in Ruhe! Ach, entschuldigen Sie bitte; aber er ist halt so neugierig.“ Blitzschnell wog er seine Chancen ab. Einfach mit ein paar belanglosen Worten aufstehen und die Flucht ergreifen? Nein! Nun musste er die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hatte. Einen Sekundenbruchteil später drehte er sich vermeintlich überrascht zu der Frau neben sich um, tat, als stutzte er und meinte mit einem Seitenblick auf den ihm gefährlich gewordenen Köter: „Ach, das ist doch nicht schlimm.“ Dabei ließ er seine Hand nach unten gleiten und strich dem Tier übers Fell. „Bist aber ein braver Hund“, heuchelte er. „Ein Yorkshire?“ „Ja. Sie kennen sich wohl mit Hunderassen aus?“ „Nur ein wenig.“ „Ein schöner Tag heute, nichtwahr. Und ziemlich heiß; selbst Tarzan wollte heute gar nicht zu seiner gewohnten Zeit Gassi gehen. Na, Hunden macht diese Sommerhitze eben auch was aus. Und Sie ….“ Die Frau schien kurz zu überlegen, denn sie schaute ihn ebenso verwundert wie scheu an. „Sie sonnen sich hier im dunklen Anzug?“

Diese Frage gefiel Wolfgang gar nicht. Verlegen schaute er auf der Suche nach einer einigermaßen vernünftigen Antwort an sich herab, konnte aber nur ausweichend reagieren: „Nun, ich genieße einfach von hier oben die wunderschöne Aussicht …“ - er streckte den Arm aus und zeigte ins Tal - „… auf den Fluss und das Schloss.“ „Na, da haben Sie aber Recht. Ich sitze auch gerne hier auf der Bank, solange Tarzan den kleinen Park nach Botschaften seiner Artgenossen absucht – so wie jetzt wieder. Schauen Sie nur! Ich nenne das immer ´Zeitung Lesen für Hunde`.“ Ein Lächeln huschte über ihre blass wirkenden Wangen. Sicher, dachte Wolfgang, glänzen ihre großen Augen jetzt unter ihrer Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern erfreut - so wie früher, wenn wir gemeinsam lachten. „Ob ich mich …“; die Frau schaute ihn unsicher an; „… kurz setzen dürfte. Tarzan ist ja noch beschäftigt.“

Oh nein! Was sollte er tun? Einerseits genoss er Lottes Nähe sehr, andererseits fühlte er sich verflixt unwohl in seiner zweiten Haut. „Aber natürlich“ brummelte er etwas verhalten in seinen künstlichen Bart und versuchte dabei, so locker und unbeteiligt wie möglich zu wirken. Er nahm seinen Stock von der Bank und klemmte ihn zwischen die Beine. Sie ließ sich auf der äußersten Ecke nieder. „Wohnen Sie hier, wenn ich fragen darf? Ich habe Sie in dieser Gegend noch nie gesehen.“ Ihre Stimme kam ihm irgendwie besorgt vor. „Nein, nein. Ich hatte nur in der Nähe Bekannte besuchen wollen; die waren aber nicht zu Hause.“ Wolfgang gönnte seiner inneren Aufregung eine kleine Pause, bevor er weiter sprach; sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er merkte, wie seine Aufregung es ihm schwer machte, seine Stimme zu verstellen – so, wie er es an der Schauspielschule gelernt hatte. „Und Sie? Wohnen Sie hier?“ Er fühlte, wie er unter seiner Maskerade rot wurde. Weißt doch, dass sie da drüben zu Hause ist, rügte er sich. Lotte gab keine Antwort. Mit fragenden Augen wandte er sich zu ihr. Warum sagt sie nichts? Ist doch kein Geheimnis, hier zu wohnen, oder? Sie nahm seinen Blick auf – und wich ihm sofort aus. Stattdessen traf ihn mit eigenartig scharfer Stimme eine Gegenfrage. „Wo genau wohnen denn Ihre Bekannten?“ Was sollte das denn? Warum wollte sie das wissen? Was konnte er ihr antworten? Er kannte doch keinen einzigen Straßennamen hier oben. „Unten in der Stadt, kurz hinter der Brücke in dem alten Haus, in dem im Parterre diese Pizzeria ist“, log er. Die Frau neben ihm hob leicht den Kopf und runzelte die Stirn. „So! Und dann machen Sie den weiten Weg hier hoch?“ Ihm wurde noch heißer – und das kam nicht von der sengenden Sonne am Himmel! Irgendwie lief das Ganze gerade aus dem Ruder. Wieso klangen ihre Worte plötzlich so sehr nach Misstrauen? Ihr prüfender Blick lag schwer auf ihm. „Ich dachte mir eben, hier oben wäre es nicht so heiß wie unten im Tal.“ Etwas Besseres fällt dir wohl nicht ein, beschimpfte ihn seine innere Stimme; das glaubt sie dir doch nie.

Umso beruhigter war er, als nach einigen Sekunden ihres Schweigens doch noch ihre offen gebliebene Antwort kam. „Dort hinten in dem Haus mit dem roten Ziegeldach und den Gauben; da habe ich eine kleine Dachwohnung.“ Erleichterung erfasste ihn. „Lebt sich sicher sehr gemütlich unter dem Dach. Hat so etwas Kuscheliges.“ Wie vom Teufel geritten und völlig unkontrolliert fügte er hinzu: „Sie lieben ja genau wie ich Dachwohnungen!“ Bist du total verrückt geworden, jagte es durch sein Gehirn! Wie kannst du nur dieses Detail aus eurer gemeinsamen Vergangenheit erwähnen?! Sofort sah er, wie sich der Oberkörper der Frau neben ihm aufrichtete; in hartem Tonfall entgegnete sie: „Wie meinen Sie das bitte? Woher wollen Sie das wissen, he?“ Jetzt war er verloren; er befand sich in einer Sackgasse, in der es keine Umkehr gab. Was konnte er nur sagen? Sollte er jetzt nicht die Karten auf den Tisch legen und sich zu erkennen geben, um zu verhindern, dass sich die Misere, in die er sich ganz offensichtlich hinein manövriert hatte, noch schlimmer wurde? Nun war wohl der Augenblick gekommen, auf den er gewartet hatte, um sich Lotte gegenüber zu offenbaren.

Sein Mund öffnete sich zum ersten Wort seines großen Geständnisses, doch noch bevor er es aussprechen konnte, drang laut keifendes Gebell an sein Ohr. Ebenso schnell wie Lotte riss er den Kopf herum. Zwei Augenpaare suchten nach dem Grund für das gefährlich klingende Bellen und leidvolle Jaulen. Den Bruchteil einer Sekunde später sprang sie aufgeregt auf und rannte quer über den Platz zur gegenüber stehenden Bank. Ihr Hündchen versuchte sich verzweifelt gegen einen die Zähne fletschenden Bullterrier zu wehren. Mit einem für Wolfgang überraschend energischen Tritt traf Lotte das aggressive Tier, das sofort jaulend zurückwich. Doch im selben Augenblick drang eine tiefe, lallende Männerstimme aus der hinteren Ecke des Parks an sein Ohr. „Hey Alte, bist wohl verrückt, meinen Hund zu treten.“ Sofort gab sie bissig Kontra: „Halten Sie gefälligst ihren Köter an der Leine!“ Schon schoss ein kräftig aussehender Kerl in einem eng anliegenden, schwarzen Muskelshirt auf sie zu und baute sich wenige Zentimeter vor ihr auf. „Du blöde Ziege, du. Soll dir wohl eine verpassen?“ Der Mann hob drohend seine rechte Hand.

„Was soll das!“, schrie Wolfgang hinüber, sprang auf und hechtete mit vier, fünf großen Schritten auf die beiden zu. Mit mächtigem Schwung stieß er den Kerl zur Seite. „Verschwinde, du Flegel!“, herrschte er ihn an. Der aber fing sich rasch und stürzte sich bedrohlich schnell auf Wolfgang. „Opa! Was mischst du alter Sack dich in Dinge ein, die dich einen Scheißdreck angehen.“ Schon traf seine Pranke Wolfgangs Kopf hart. Kräftige Finger krallten sich gleich darauf in sein Haar und zerrten daran. Im nächsten Moment hatte ihn der weit Größere mit beiden Händen am Kragen und begann ihn zu würgen. Wolfgang aber wusste sich zu wehren; blitzschnell breitete er die Arme zur Seite aus, ballte die Hände zu Fäusten, holte Schwung und traf dann mit aller Wucht beide Nierengegenden des Angreifers. Gleichzeitig ließ er sein rechtes Knie hochschnellen. Die Hände des Burschen vor ihm fielen herab. Laut aufschreiend krümmte er sich – das Knie hatte perfekt getroffen! Wolfgang stieß ihn zu Boden. „Hau bloß ab, sonst ruf ich die Polizei!“ Dann drehte er sich um und meinte: „Komm Lotte, wir gehen. Sei ganz ruhig; der hat genug.“ Wolfgang wusste, dass von dort keine Gefahr mehr für sie drohte; einen guten Tritt in diese Gegend hielt nicht einmal der stärkste Mann aus.