Isabel - Franz Lenz - E-Book

Isabel E-Book

Franz Lenz

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Während einer Reise nach Mexiko gerät die junge, spanische Professorin für Geschichte, Isabel Méndez, durch einen mysteriösen Steinkreis unfreiwillig in das Dunkel des Azteken-Reichs des 16. Jahrhunderts zur Zeit der spanischen Konquistadoren und grausamen Inquisition. Dort wird sie zur Gefangenen des großen Herrschers Aztekán - und zum Spielball geheimnisvoller Mächte. Über drei Jahre lang ist sie gezwungen, lebensgefährliche Abenteuer auf sich zu nehmen, bevor sie - vielleicht - wieder in die Arme ihres geliebten Pedro Gonzáles zurückkehren darf.Die fiktionale Geschichte einer spannenden und aufregenden Zeitreise - eine fantasievolle Erzählung, die sich an wahre Begebenheiten anlehnt.

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Seitenzahl: 558

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Während einer Reise nach Mexiko gerät die junge, spanische Professorin für Geschichte, Isabel Méndez, durch einen mysteriösen Steinkreis unfreiwillig in das Dunkel des Azteken-Reichs des 16. Jahrhunderts zur Zeit der spanischen Konquistadoren und grausamen Inquisition. Dort wird sie zur Gefangenen des großen Herrschers Aztekán - und zum Spielball geheimnisvoller Mächte.

Über drei Jahre lang ist sie gezwungen, lebensgefährliche Abenteuer auf sich zu nehmen, bevor sie - vielleicht - wieder in die Arme ihres geliebten Pedro Gonzáles zurückkehren darf.

Die fiktionale Geschichte einer

spannenden und aufregenden Zeitreise -

eine fantasievolle Erzählung, die sich

an wahre Begebenheiten anlehnt.

Franz Lenz trug schon in jungen Jahren Verantwortung, was ihn früh prägte. Als späterer Rechtsanwalt vertrat er mit besonderem Engagement die Scheidungsangelegenheiten von Frauen.

Mitte fünfzig begann er damit, sich einer weiteren Leidenschaft zu widmen. Mit großer Hingabe verfasst er seitdem ebenso spannende wie gefühlvolle Romane, in denen seine Hauptfiguren empfindsame und zugleich starke Frauen sind, die ihrem tragischen Schicksal trotzen und am Ende die große Liebe erleben dürfen. So in den Romanen Die verlorene Frau - Eine schicksalhafte Liebe, Schweigende Augen - Eine geheimnisvolle Liebe, Der Fluch des Kea - Mörderische Abgründe.

Hoch emotionale Gedichte, Sinnsprüche und Kurzgeschichten über die Liebe veröffentlichte er in drei Bänden unter dem Titel 1000 bunte Schmetterlinge - Liebesgedichte und mehr.

Sein Anfang 2022 erschienener Zeitreise-Roman über das Schicksal der klugen Isabel Méndez, die durch einen Steinkreis in das 16. Jahrhundert der Azteken gerät, lautetIsabel - Reise ins Dunkel der anderen Zeit.

All seine Werke widmet er seiner

geliebten Frau Brigitte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Panik

Kapitel 2: Wenige Stunden zuvor

Kapitel 3: Blitzeinschlag

Kapitel 4: Pedros verlorene Nachricht

Kapitel 5: Der geheime Plan

Kapitel 6: Das Erbe der Schamanin

Kapitel 7: Hinter Klostermauern

Kapitel 8: Eine heiße Spur

Kapitel 9: Gaumenfreuden

Kapitel 10: Rätselhafte Entdeckung

Kapitel 11: Der lange Arm des Bösen

Kapitel 12: Die Weissagung

Kapitel 13: Gefährliche Flucht

Kapitel 14: Die zerbrochene Sonnenscheibe

Kapitel 15: Begegnung in Madrid

Kapitel 16: Sturmflut der Ereignisse

Kapitel 17: Die Verwandlung

Kapitel 18: Die Offenbarung

Kapitel 19: Die Verräterin

Kapitel 20: Alles verloren?

Kapitel 21: Das Wiedersehen

Kapitel 22: Der zweite Steinkreis

Kapitel 23: Tödliche Rache

Kapitel 24: HAPPYEND …….. lich

Kapitel 1

Panik

Ich öffne die Augen. Kann nichts erkennen.

Um mich herum ist es dunkel - stockdunkel!

Mir ist schwindlig; fühle mich wie ohnmächtig.

Schließe sie wieder - muss mich konzentrieren.

Wo bin ich?

Keine Ahnung!

Was ist nur mit mir passiert?

Das Erste, was ich begreife, ist, dass ich auf dem Rücken liege und Schmerzen habe; im Bein. Das Atmen fällt mir schwer - modriger Geruch verbrauchter Luft setzt sich in meiner Lunge fest.

Taste mit der Rechten neben mich. Spüre kaltes Nass; liege ich etwa im Wasser? Oder in einer Pfütze? Fahre mit der Hand vorsichtig darüber; scharfkantige, kleine Steine bleiben zwischen meinen Fingern kleben - eine Pfütze also!

Panik erfasst mich. „Wo bin ich?“, quillt die an mir nagende Frage aus dem Mund.

Wie komme ich überhaupt hierher - in diese Finsternis; dunkel wie die rabenschwarze Nacht.

Kapier es nicht!

Soeben war doch helllichter Tag. Spüre noch die gleissende Sonnenhitze auf der Haut; 50 Grad mindestens.

Unerträglich, diese schwül-heiße Luft! Gift für mein Asthma - das wird mich wohl mein Leben lang quälen.

Für ein paar Sekunden huschen dazu ältere Erinnerungsfetzen an mir vorbei; ihre mahnenden Worte; vor der Reise.

´Gerade deshalb dürfen Sie nicht in dieses tropische Klima!`, riet mir Pedros Frau beim letzten Besuch in ihrer Praxis.

´Gewiss, Sie sind meine Ärztin und sorgen sich um meine Gesundheit. Aber ich bin Professorin für präkolumbische Geschichte`, gab ich ihr entschieden zurück.

´Wie kann ich dann darauf verzichten, die historischen Tempel- und Palastanlagen der Inka, Maya und vor allem der Azteken zu besichtigen? Nein, ganz bestimmt werde ich nächste Woche auch dort in Mexiko auf der Halbinsel Yucatán sein, Frau Doktor! Die alte Kultstätte von Chichén Itzá muss ich wiedersehen!`

Ausgerechnet sie ist seit vielen Jahren meine Lungenfachärztin! Oh weh, Pedro - wohin wird uns unsere heimliche Liebe führen?! Wie konnten wir nur…?!

Automatisch fasse ich an mein rechtes Ohrläppchen. Es ist noch da - dein Geschenk zu unserem Jahrestag. Der goldene Ohrstecker mit einem funkelnden Brillanten.

Nur einer, hatte ich mich irritiert gefragt, als ich das kleine Schmuckkästchen öffnete - bevor ich las, was auf der kleinen Karte stand: Trag du ihn rechts.

Hat er abends einfach in meine Schublade gelegt, nachdem ich das Büro verlassen hatte. Natürlich wußte ich morgens sofort, von wem das Geschenk war! Nicht erst, als er wenig später vor meinem Schreibtisch erschien - und ich sah, dass er denselben Brilli links trug.

„Du fehlst mir! Ich liebe dich, Pedro!“, flüstere ich - so, als dürfe es niemand hören; wie stets, wenn wir im Büro Angst vor Entdeckung haben.

Aber hier ist nicht unser Büro, sondern ….

Rasch holt mich meine gegenwärtige Situation wieder ein. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

Oh Pedro, warum kannst du mich jetzt nicht aus diesem dunklen Loch retten? Kann mich nicht wenigstens irgendwer hören, verdammt?

„Hallo! Ist da wer?“ rufe ich ängstlich ins Dunkel hinein. Nur ein dumpfes Echo antwortet mir; wie der Widerhall meiner Verzweiflung, wie Hohn klingt es, als wolle es mir die Hoffnungslosigkeit meiner Situation klarmachen.

Prompt reagiert mein Verstand mit einem energischen ´Du wirst ganz sicher gerettet!` und fegt meine angstvollen Gefühle weg. Reiss mich zusammen und suche die erneute Erinnerung an Pedro.

Conde Pedro González - mein adliger Geliebter; ich weiß, du legst auf den spanischen Titel - außer aus notwendigen beruflichen Gründen - keinen Wert; klar, dass er für die Institutsleitung von Bedeutung ist! Dennoch nenn ich dich gerne so. Bin irgendwie stolz darauf, dass mein Liebster ein Graf ist.

Ach, Pedro! Mein sehnsuchtsvoller Seufzer tut mir in den Lungenflügeln weh; kann nicht tief durchatmen und fang an zu husten.

Wieder greift Angst nach mir. Bin ich wirklich dazu verdammt, hier völlig allein im Dunklen zu liegen - ohne zu wissen, wieso? Meine Gedanken rasen weiter - suchend nach dem, was noch eben war. Wo nur sind die anderen? Und unser Tour-Guide?

Muss trotz meiner unbegreiflichen Lage bei der Frage danach über diesen hochgewachsenen, streng blickenden Kerl mit der bemerkenswerten Hakennase schmunzeln.

´Ich heiße Diego Miguel Fernando Zuma und bin ein direkter Nachfahre unseres letzten, großen Azteken-Herrschers`, behauptete er, als er sich uns vorhin vorstellte.

Nun ja, vielleicht stimmt’s sogar; Moctezuma II. soll ja neben seinen offiziellen vier Kindern mit seinen vielen Nebenfrauen und Konkubinen an die hundert weitere Kinder gezeugt haben.

Stutze; heißt die Kleine im Sekretariat nicht auch Zuma? Ja, Rosalia Zuma! Etwa auch eine seiner Nachkommen? Ach Unsinn! Zufall! Obwohl, wer weiß?

Mit durchdringender Stimme hat er uns als Erstes verboten, sich von der Gruppe zu entfernen. Komisch, dass er dabei seinen ernsten Blick auf mich richtete.

War mir aber nach einer guten halben Stunde des Weges durch die mexikanischen Ruinen von Chichén Itzá einerlei; musste unbedingt in den Schatten; meine Atemnot raubte mir bei dieser unerträglichen Hitze die Luft. Außerdem hatte ich ja etwas ganz Bestimmtes vor.

Während er also an dieser gruselig anmutenden Mauer mit Hunderten von Totenschädeln weit schweifend deren grausame Bedeutung erklärte, nutzte ich die Gelegenheit, mich durch die zahlreichen anderen Touristengruppen hindurch davon zu schleichen - den Prozessionsweg entlang zum Heiligen Cenote, dem großen Opferbrunnen.

Dort wurden vor 500 Jahren gefangene Feinde hinab in den Tod gestürzt, um den Göttern aus Dank für den Sieg ein Opfer zu bringen.

„Schlimme Zeiten damals; zum Glück heute nicht mehr“, murmele ich. Lange her und dennoch ein schrecklicher Gedanke!

Sehe mich jetzt, auf meiner verzweifelten Suche nach dem Grund für mein Schicksal, dort am Brunnen ankommen und ängstlich vor Entdeckung rasch die hölzerne Absperrung übersteigen; hinüber zu dem zweiten, jedoch vor den Augen der gewöhnlichen Touristen verborgen gehaltenen, hinteren ´Großen Heiligen Brunnen` der Azteken.

´Zutritt verboten` steht auf dem Schild; hat seinen Grund! Total verfallen, dessen etwa einen Meter hohes Gemäuer. In der Zeit von damals muss das alles hier jedoch sehr prunkvoll und beeindruckend gewesen sein.

Erkenne ihn schon von weitem wieder; diesen Brunnen nach Jahren erneut zu besichtigen hatte ich mir fest vorgenommen. Zur Not heimlich, weil der Zutritt sicher, wie schon vor vier Jahren, noch immer verboten ist. Meine Studenten warten schon auf meine neuesten, genauen Beschreibungen.

Meine Erinnerung an vorhin, als ich noch nicht hier in der Dunkelheit lag, wandern weiter: Gehe entschlossen voran, muss dabei aber mächtig aufpassen; der Pfad dorthin ist noch immer nicht mehr als einen Fuß breit.

„Au!“, schreie ich jetzt auf. Der Schmerz in meinem Bein ist so heftig, dass er meine Versuche, mir das vorhin Erlebte hautnah vorzustellen, kurz unterbricht. Hoffentlich hab ich mir hier unten nichts gebrochen.

Nur mit Mühe folge ich nochmals meiner Erinnerung und sehe alles vor mir - wenn auch etwas verschwommen, weil ich noch immer benommen bin.

Komme dort an. Die großen Steine der runden Brunnenmauer sind in gefährlich losem Zustand. Beinahe fällt mir ein großer Brocken auf den Fuß, als mich für einen Moment ein raschelndes Geräusch ablenkt und ich zusammenzucke.

Sehe den Grund dafür gerade noch im Augenwinkel und mache erschrocken einen Satz zur Seite - eine Schlange, die vor mir durch das verdorrte Gestrüpp das Weite sucht. Zum Glück; hab eine Schlangenphobie; ob sie giftig sind oder nicht, ist mir bei meiner panischen Angst einerlei.

Nicht nur der Anblick dieses uralten hinteren Opferbrunnens belohnt mich; der ersehnte Schatten dort unter dem Baum mit erstaunlich großen, fleischigen Blättern tut meinen angestrengten Lungenflügeln so gut!

Dann aber …

Mit Grausen denke ich jetzt in meinem dunklen, feuchten Loch an das, was plötzlich geschah; kralle dabei meine Finger in den Stoff meines Kleids.

Dann aber …, dann aber dringt wie aus dem Nichts etwas an mein Ohr, das ich noch immer nicht begreifen kann. Eine unheimlich klingende Stimme ruft:

´Komm näher zum Brunnenrand, Isabel!`

Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sich mein Mund öffnet, um meinem Schrecken Luft zu machen; doch kein Laut verlässt ihn.

Wieder spricht diese urplötzlich aufgetauchte Stimme zu mir:

`Profesora Méndez, kommen Sie hinunter in unser Reich!`

Eiskalt jagt mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Mit einem lauten „Wer spricht da?“ schreie ich meine Panik heraus.

Ein weiteres Mal stört der schlimme Schmerz im Bein meinen Rückblick. Konzentriere mich trotzdem weiter - auf der Suche nach dem, was dort am Brunnen mit mir geschah.

In meinem Gedächtnis höre ich mich fragen, wie es sein kann, dass mich hier am Brunnen jemand kennt - auch noch mit Namen; dabei drehe ich mich suchend nach dieser unheimlichen Stimme um, ohne sie allerdings orten zu können.

Liege hier unten in einer Pfütze und falle ins Grübeln, weil ich’s nicht kapier.

Jemand … wer?

Diese Stimme …

… einer Frau?

… eines Menschen?

… oder?

… eines Geistes?

Unsinn! Merke, wie ich mich in etwas hinein steigere, das es überhaupt nicht geben kann! Ein Geist? Quatsch! Lebe doch im aufgeklärten 21. Jahrhundert!

Oder doch?

„Oh Gott!“

Noch mehr panische Angst greift mit Macht nach mir, schnürt mir die Brust zu, sodass mein Atem in kurzen Stößen zu rasen beginnt und ich kaum noch richtig Luft bekomme.

Zu viele Fragen auf einmal legen sich wie eine schwere Decke über mein Gesicht; fühle mich, als ersticke ich.

Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet. Auch dazu, was das für eine Stimme dort am runden Mauerwerk des Brunnenschachts war, das mir in meiner Fantasie jetzt wie ein mystischer Steinkreis vorkommt?

Und wieso lieg ich hier im dunklen Nass?

Muss ich nun sterben, weil mich niemand retten wird?

Streng meine Augen an. Vergeblich! Wirklich nichts zu sehen. Meine Ohren versuchen etwas zu hören. Ist da jemand? Vielleicht erneut diese unheimliche Stimme vom ´Großen Heiligen Brunnen`?

Oder wenigstens ein Geist, der mir hier zu Hilfe kommt? Ein Geist? Oh weh, glaube ich etwa schon an so einen Unsinn?!

Merke, wie ich zu zittern anfange.

Schreie meine Angst heraus:

„Hiiilfe!“

Kann schon gar nicht mehr vernünftig denken; am Ende gar kein guter Geist, sondern ein böser.

Einer, der mich töten will; einer, der mich - wie es in früherer Zeit den Feinden der aztekischen Krieger erging - in den Brunnen werfen und dann …, … dann gleich kommt, um mir bei lebendigem Leib das Herz herauszuschneiden. So, wie es damals üblich war.

Wie ein Reflex legt sich meine Hand über meine Brust.

Wo ist er? Der Geist.

Ganz in der Nähe…

Versteckt im Dunkel …

Irgendwo hinter mir …

Mich beobachtend…

Mit starrem Blick …

Sein scharfes Messer zückend …

Lauernd, um mir sogleich …

Isabel, ruft mich mein Verstand zur Ordnung!

Lass diesen Unsinn! Bilde dir so etwas nicht ein!

Richte dein rationales Denken wieder auf das Aussehen des ´Großen Heiligen Opferbrunnens`. Diese Stimme war nur Einbildung; doch verständlich, bei der brütenden Hitze.

Oh nein! Die Stimme hab ich mir ganz sicher nicht eingebildet, widerspreche ich tonlos. Höre sie sogar jetzt noch in meiner Erinnerung sagen:

`Profesora Méndez, kommen Sie hinunter in unser Reich!`

Ja, genauso redete dieses unheimliche Wesen auf mich ein, lockte mich mit stets neuen Worten, drohte mir, befahl mir, und …

Spüre den Kloß im Hals, den ich dabei hatte, noch immer.

… und zog mich mit seiner geheimnisvollen Kraft ganz nah an den Rand des Brunnenschachts. Nichts konnte ich tun, um dem Bann dieser Stimme zu entgehen; keine Gegenwehr gelang mir.

Sehe jetzt genau dem zu, was mir dort geschah.

Immer fester zieht sie - wie mit einer kräftigen Hand - an mir …; an meinem Hals …; an meiner Goldkette mit dem Anhänger.

Vor meinem inneren Auge tut sich bei dem Rückblick an jenen Moment des Schreckens ein schlimmer Gedanke auf. Greife hektisch zwischen meine Brüste. Ist sie noch da? Oder hat diese unheimliche Geisterhand tatsächlich so fest an ihr gezogen und …, … und sie mir entrissen?

Taste nach ihr; nach der wertvollen Kette mit dem uralten, goldenen Sonnenstein aus der Zeit der Ureinwohner der Halbinsel Yucatán - aus der Zeit, bevor die spanischen Eroberer über das Meer kamen; damals im 16. Jahrhundert.

Aus jener Zeit, als die vor Hunderten von Jahren hier lebenden Männer, Frauen und Kinder auch schon nicht mehr sicher vor den Tod bringenden Invasoren waren. Auf der Suche nach Gold waren sie mit unzähligen Kanonen und Musketen auf großen Schiffen aus Osten gekommen.

Meine Finger legen sich um das goldene Rund - es ist noch da. Gott sei Dank!

Hatte die Kette vor Tagen auf der Tour durch Guatemala zum Kultzentrum von Tikal mit seiner 47 Meter hohen Pyramide und weiter zur dortigen Stadt Antigua bekommen; von einer uralten Frau.

Schüttele unweigerlich den Kopf. Unheimliche Sache war das!

Die Frau mit tausend Runzeln im Gesicht war gewiss bald hundert Jahre alt. Sie sprach mich an, nachdem ich aus der Kathedrale San José gekommen war und hinüber in den Parque Central ging, um mich auf einer der Bänke im Schatten der Bäume auszuruhen.

Es schien mir irgendwie, als hätte sie in der Nähe auf mich gewartet und würde mich kennen - so vertraut, wie sie mich ansprach.

Auf Náhuatl, der alten Sprache der Azteken, die ich nur bruchstückhaft beherrsche, murmelte sie geheimnisvoll: „Ich bin Atira und möchte, dass du das hier um deinen Hals legst.“

Sie hob die Arme und reichte mir eine Halskette mit einem goldenen Sonnenstein, einer Art Münze.

Sofort erkannte ich in ihr die aus Gold getriebene Scheibe, die vor Jahrzehnten in einer Höhle in Chichén Itzá von mexikanischen Archäologen gefunden worden - einige Monate später jedoch aus dem Museum gestohlen worden war.

Ein toller Fund war das damals! Nach dem Diebstahl aber nie wieder aufgetaucht.

Hatte damals die Bilder in der Fachliteratur genau studiert. Auch gemeinsam mit Vater; er ist schließlich Experte für historisches Gold und antike Münzen; ein in der Fachwelt hoch anerkannter sogar!

Wegen der feinen Ausarbeitung der Sonnenstrahlen, der zierlichen Visions-Schlange und der Vogel-Krieger war mir deren Echtheit augenblicklich klar. Als ich die Goldscheibe in Händen hielt, zitterten sie vor Aufregung.

Ja - nie wieder aufgetaucht; bis zu jenem Tag, als die Alte mir die Kette gab. Weiß noch sehr gut, was mir damals durch den Kopf ging: Total verrückt! Toll!

Wahnsinn! Ich habe die gesuchte Schlangenscheibe - wie sie bei uns Historikern kurz genannt wird.

Toll, klar! Aber auch gefährlich; wie soll ich erklären, woher ich sie habe? Am Ende würde ich des damaligen Diebstahls aus dem Museum bezichtigt!

War mir dennoch in dem Moment völlig egal! Musste dieses wertvolle Zeugnis einer untergegangenen Kultur unbedingt behalten.

Sehe mich noch nach meiner Geldbörse greifen und all meine US-Dollar herausholen, die ich ihr dafür geben will. Als ich wieder aufblicke, da … - … da ist sie verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Kann es noch immer nicht fassen!

Während meine Hand jetzt die Kette noch fester umklammert, wandern meine Gedanken wieder zurück zu dem unheimlichen Erlebnis - dem von soeben am Opfer-Brunnen; sehe zu, wie ich gegen diese unheimliche Geisterkraft ankämpfe.

Immer fester zerrt sie an mir, an meinem Hals, an meiner Kette; diese mysteriösen Gewalt; diese mir Angst machende Stimme. Zieht und zieht - solange, bis ich am Rand des brüchigen Brunnengemäuers etwas Halt finde.

Das jedoch nur für die Dauer eines Atemzugs - der mir wegen der Hitze so weh tut. Gleich darauf liege ich zitternd vor Angst und Machtlosigkeit vorgebeugt über der steinernen Mauerkante.

Nochmals ruft die Stimme nach mir, während - so kommt es mir in meiner Panik vor - auch kräftige Männerhände an mir zerren. Dann gibt es keine Rettung mehr für mich; merke, wie sich mein Gleichgewicht von mir zu verabschieden beginnt und ich …

Unsinn! Blanker Unsinn, Isabel, schreit mich jetzt die Stimme der Vernunft lauthals an und reißt mich aus meiner verrückten Vision.

Alles Einbildung! So etwas gibt es nicht, hörst du?!

Das hilft! „Ja, Unsinn!“, gebe ich laut und scheinbar beruhigt zurück. „Hast ja Recht! Die Brunnenöffnung ist doch vergittert gewesen. Ich konnte gar nicht hinab stürzen.“

Stimmt genau, jagt meine Einsicht diesen Unfug erneut in die Flucht. Durch die Eisenstäben hätte ich gar nicht nach unten fallen können!

Doch der Zweifel bleibt: Wieso liege ich dann mit Schmerzen am Bein hier im Dunklen? Hier unten auf dem nassen Boden - dem Boden des Brunnenschachts, wie ich nach all dem Erlebten annehmen muss.

Das alles verwirrt mir die Sinne. Versuche trotzdem angestrengt, einen klaren Kopf zu bewahren. Allerdings nicht lange. Der Kampf um die Wahrheit geht in eine weitere Runde.

Schon taucht - einerseits - im Rückblick diese gespenstische Stimme wieder auf; und die Worte; dieses unheimliche ´Komm näher zum Brunnenrand; hinunter zu mir. In mein Reich!`

Auch die böse klingende Drohung ´Gehorchst du nicht, dann …`

Andererseits ist das Wissen, dass das Brunnenloch vergittert war, ist eine unumstößliche Wahrheit.

Ja, vergittert! Zunächst. Dann aber …

Wie ein Blitz jagt mit diesem ´Dann aber …` der erschreckende Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf, der mir die Bedeutung dieser beiden Worte erklärt:

Dann aber verlor ich - oder bilde ich mir das etwa auch nur ein? - vollends das Gleichgewicht und stürzte tatsächlich nach unten, weil …

… weil sich wie von Geisterhand das schwere Gitter aus Eisenstäben öffnete. Keine Einbildung! Höre dort oben noch das laute Quietschen und meinen Hilfeschrei, der vom Hall der weit nach unten in die Tiefe reichenden Brunnenmauern verstärkt wurde!

Ich stürzte … ohne Zweifel! Ich fiel und fiel und fiel - eine Ewigkeit lang dauerte mein Sturz ins Ungewisse. Das Gefühl für Zeit ging mir vollends verloren. Beim Aufschlagen auf dem harten Boden verlor ich die Besinnung.

So liege ich nun hier, im Nass einer Pfütze; verlassen, hilflos … und mit Schmerzen.

Erneut dreht sich das Karussell meiner Erinnerungen.

Soeben noch hatte ich die reale Gegenwart dieses steinernen Runds des verborgenen Brunnengemäuers vor Augen; genau am späten Vormittag des 21. März 2018.

Wenige Minuten später jedoch musste ich mich - ohne mich zur Wehr setzen zu können - der übermächtigen Kraft jener geheimnisvollen Stimme geschlagen geben, die meinen Namen nannte … und deren Mystik sicher nicht der mir bekannten Wirklichkeit meiner aufgeklärten Zeit entspricht.

Mir ist, als wäre ich aus der Realität meiner Besichtigung des uralten Heiligtums von Chichén Itzá auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán auf direktem und unheimlichem Weg in ein unbekanntes Irreales gestürzt, getrieben von einer geheimnisvoll zu mir sprechenden Frau? Einer Frau, die von Geisterhand schmiedeeiserne Gitterstäbe verschwinden lassen kann.

Wie verrückt ist das denn?!

Was aber, wenn das wahr ist?

Es ist wahr!

Panik greift erneut mit Macht nach mir und schnürt mir den Hals zu; atme wieder schwer. Entsetzen packt mich; was ist da nur mit mir geschehen?

Verwirrt konzentriere ich mich auf meine Lage. Muss unbedingt von dem schmutzigen Boden aufstehen; sicher ist mein neues Kleid völlig verdreckt.

Ernesto wird sich diese Chance nicht nehmen lassen - und verärgert schimpfen:

´Was hast du mit dem Kleid gemacht? Das war teuer!

Kannst du denn nicht aufpassen, du …`

Pah! Als hättest du es bezahlt. Kenn dein bösartiges Getue schon auswendig. Jedesmal dasselbe Theater mit dir. Hab die Nase gestrichen voll von dir! Will deine Beleidigungen und dein ständiges Streiten nicht mehr hören; verletzt mich schon viel zu lange!

Mein Geld nimmst du gerne; Wertschätzung aber deiner Frau gegenüber ist für dich schon lange ein Fremdwort. Hab’s doch nicht mit Absicht gemacht, das mit dem sicher völlig verschmutzten Kleid.

Kannst so gemein sein!

Erinnere mich an etwas; als mir letzten Monat an der Kreuzung einer in meinen nagelneuen Tesla gerast ist, gab mein feiner Göttergatte mir die Schuld.

Verdammt noch mal - ich hatte grün!

Verschwinde endlich aus meinem Leben, du …!

Kein Fluch würde ausreichen, um meine Enttäuschung von ihm zu besänftigen.

Versuche mich aufzurichten - und schreie laut auf, weil es so weh tut. Lande wieder auf dem nassen Boden.

Greife nach dem Schmerz, der mich so höllisch peinigt; am Oberschenkel. Ziehe die Hand zurück; etwas klebt daran. Blut? Rieche daran - und merke, wie ich blass werde.

Oh Gott! Das auch noch! Fühle mich unendlich hilflos.

Ohne es verhindern zu können, öffnet sich mein Mund zu einem erneuten Schrei.

„Hilfe. Hilfe. Ist da wer? Hört mich denn keiner?“

Krampfhaft durchforste ich erneut meine Gedächtnis.

Eben noch war es doch helllichter Tag. Wo sind die anderen?

Ach, wäre Ernesto nur mitgekommen. Trotz allem.

Dann könnte er mir helfen - wenigstens das.

Doch würde er es tun?

Besser, unterbricht mein Herz sogleich diesen Wunsch, wäre statt seiner jetzt dein geliebter Pedro hier bei dir!

Pedro - oh ja, Herz, wie recht du damit hast! Pedro passt so gut zu mir; in allem! Ich auch zu ihm.

Ernesto dagegen ist inzwischen zu einem bösartigen und an jeglicher Kultur desinteressierter Snob mutiert. Zum Golfspielen eine gemeinsame Kreuzfahrt mit mir buchen … - schüttle den Kopf. Kann man das in Madrid denn nicht?!

Offensichtlich nicht! Nein, ausgerechnet während unseres Urlaubs in der Karibik muss er es tun. Selbst heute wieder; obwohl ich hoffte, er nähme sich wenigstens an meinem heutigen Geburtstag Zeit für mich.

Nein, immer dann, wenn das Schiff in einem neuen Hafen anlegt, geht er mit anderen Sportfanatikern zum Golfen auf irgendeinen Platz in der Pampa.

Höre noch, wie ich ihn begeistern will: ´Zwei Wochen auf einem so tollen Schiff; zwei Wochen täglich ein neues Ziel, das erobert werden will; von uns gemeinsam. Einfach großartig! So viele historische Orte sind zu entdecken; solche, von denen ich im Institut für präkolumbische Geschichte oder an der Madrider Universität meinen Studenten berichten kann; und du deinen Freunden zu Hause.`

Aber Golfen - und mich dabei jeden Tag alleine lassen - das ist ihm lieber! Warum nur hab ich diese Kreuzfahrt mit ihm gemacht? Hm? Hatte wohl darauf gehofft, dass …

Ach was! Das ist definitiv die letzte Reise mit diesem Mann, in den ich mich mal verliebt hab; vor so vielen Jahren. Es wird Zeit! Zeit für das endgültige Aus. Zu Hause werde ich ihm meine Entscheidung mitteilen - Scheidung!

Pedro wäre gerne mitgekommen! Mein wunderbarer Kollege und …

Ein sehnsuchtsvoller Seufzer verlässt meine Brust.

Wegen meiner innigen Liebe zu ihm hab ich mittlerweile kein schlechtes Gewissen mehr. Er ist ganz anders als der Mann, den ich vor acht Jahren geheiratet hab. Ganz anders - auch im Bett. Oh ja!!

So etwas wie Ernesto hätte Pedro niemals gesagt; echt sauer auf ihn war ich deswegen heute in der Früh nach dem Aufstehen. Einen letzten Versuch, ihn umzustimmen, riskierte ich, damit er vielleicht doch auf die Exkursion ins Reich der alten Azteken nach Chichén Itzá mitkommt.

Keine Chance! Hätt’s mir ja denken können.

´Das ist schliesslich eine Kreuzfahrt unter dem Motto #Internationale Golfturniere#`, hat er mich angeblafft.

´Aber wir sind heute in Mexiko. Interessiert dich die dortige Kultstätte denn gar nicht, Señor Méndez?´

Seinen Augen hab ich sofort angesehen, dass ich ihn wütend machte; er hasste es, wenn ich ihn mit unserem Ehenamen ansprach.

Prompt wurde sein Tonfall hässlich. ´Ganz bestimmt nicht! Dieser Azteken-Kram geht mir echt am Arsch vorbei! Du hast ja nichts anderes im Kopf als diesen Moctezuma-Mist und die Spanischen Konquistadoren des 16. Jahrhunderts. Alles unnützes, altes Zeug!`

Seine Augen blitzten vor Zorn, als er weiter ungezügelt weiter wetterte:

´Für mich zählt einzig und allein, dass mir die Mexis ihren Kaffee zu super Dumping-Preisen …`

Den Rest verschluckte er; hatte wohl gemerkt, was er da in seiner Wut ausplaudert.

´Pfui schäm dich, Señor Méndez; diese Menschen so zu nennen und sie, das wird mir immer klarer, auch noch mit offensichtlich zwielichtigen Geschäften auszubeuten. Schande über dich! Trittst ja perfekt in die Fußstapfen der spanischen Eroberer von damals!`

Schon hatte er die Kabinentür hinter sich zugeschlagen und war verschwunden. Typisch!

´Ist eben mein Beruf`, schrie ich ihm noch nach, obwohl … Alles dreht sich doch sowieso nur um ihn; um sein Scheiß Golfen; um seine Geschäftspartner, mit denen er, wie mir immer klarer wird, offensichtlich schmutziges Geld macht; und um mein Vermögen, dessen er sich ach so gerne bedient. Aber damit ist bald Schluss!

Hatte Vater wohl doch Recht, als er mir …

Aber wissen wollte ich nichts davon.

War, glaubte ich damals fest, doch wieder nur einer seiner Versuche, mir meinen Mann auszureden.

Das mit dem Kaffee der Mexis ist ihm heute früh ja mit erschreckend deutlichen Worten rausgerutscht; das, was ich schon einige Zeit ahne, wenn er zum Telefonieren in unseren Garten geht, weil ich nicht zuhören soll. Einige Brocken hab ich dennoch mitbekommen!

Schrecklich, wenn das, was Papa sagt, wahr wäre!

Manchmal frage ich mich wirklich, wie sich ein Mensch im Laufe der Zeit so verändern kann und …

Der stechende Schmerz im Bein unterbricht meine binnen weniger Minuten rasend schnell durch den Kopf jagenden Gedanken. Wieder entfährt mir ein Klageschrei. „Au, au! Tut so weh. Hilfe!“

Niemand antwortet, keiner kommt! Außer meinem Stöhnen, das mir die Brust zuschnürt, ist nichts zu hören. Dennoch muss ich es nochmal versuchen!

„Hilfe!“, rufe ich, so laut es mir mein schweres Atmen erlaubt, ins Dunkel hinein.

Nichts!

Meine innere Stimme ermahnt mich: Du musst aufstehen, Isabel! Probier es nochmal. Vielleicht gibt es irgendeinen Ausweg aus diesem dunklen Verlies.

Versuche es erneut; dieses Mal vorsichtiger; dreh mich zur Seite, stütze mich auf den Unterarm und vorsichtig auf das angewinkelte Bein.

„Au!“

Ein noch heftigerer Stich raubt mir jede Kraft; als würde mir ein Messer in den Schenkel gerammt werden. Lande wieder auf den Rücken. Jetzt tut mir auch noch der Arm weh. Fahre mit der anderen Hand tastend darüber … und bemerke erschrocken etwas.

Mein Armreif … ist weg!

Oh nein, nicht auch das noch! Hab ich zusammen mit Pedro gekauft. Sollte sein Geschenk an mich sein; einfach so, ohne besonderen Grund. Obwohl …, natürlich aus einem Grund - seiner Liebe zu mir!

Der Reif ist die Replik einer Grabbeigabe, die auf der mexikanischen Insel Cozumel gefunden wurde. Überlege; muss ihn verloren haben, als ich mich krampfhaft am Mauerrand festhielt; vor dem Sturz nach unten.

„So ein verflixter Mist!“

Allerdings ist das im Augenblick wirklich mein kleinstes Problem! Halte die Schmerzen nicht mehr aus! Am Ende ist das Bein gebrochen …?

Verdammt - kann mir denn niemand helfen?“

„Hilfe! Hilfe!“

Schreie so laut ich kann; merke aber, wie mir die Sinne schwinden. Mir wird schwarz vor Augen; Augen, die wegen dieser Schmerzen im Bein aus ihren Höhlen hervorzuquellen scheinen; alles dreht sich um mich.

Nehme nichts mehr wahr.

Ohnmacht greift nach mir.

Kapitel 2

Wenige Stunden zuvor

„Hört her, ihr Götter unserer Väter! Hört her, die ihr uns nach so vielen Schlachten gegen die Fremden auf ihren hohen Pferden noch geblieben seid! Hört her und vernehmt unsere verzweifelten Anklagen und unser Begehren nach Rache!

Mit diesen meinen Worten eröffne ich unser heimliches Treffen und flehe die Götter an, uns mit ihrem Ratschluss den richtigen Weg aus unserer verzweifelten Lage zu zeigen.“

Laut erschallen Aztekáns Worte, brechen sich an den steinernen Quadern der viele Meter hohen Wände sowie an den mächtigen Säulen, welche die vom Rauch dutzender Flammen geschwärzte Decke tragen, und hallen wider, wie ein unüberhörbar tönendes Echo.

Flammen sind es, die auch in dieser späten Stunde im Gewölbe des Totenkopf-Grabs des Chac Mool die Nacht zum Tag machen; sie heizen die Glut der Wut und Verzweiflung der hier knienden, von der Übermacht der spanischen Conquistadores unterdrückten Krieger unaufhaltsam an.

Schweißnass sind ihre mit glitzernden Steinen besetzten, golden glänzenden Umhänge, die sie direkt auf ihrer nackten, muskulösen Haut tragen.

Der Große Aztekán ist der erste Sprecher in dieser Nacht der heimlichen Zusammenkunft aller noch lebender Azteken-Kämpfer; sein Rang gebietet den anderen, sich erst nach ihm zum Reden zu erheben.

Das Gesicht des hochgewachsenen Manns ist gezeichnet von einer breiten Narbe über seinem rechten, kantigen Backenknochen; die schwarze, lange Haartracht liegt in voller Pracht auf starken, muskulösen Schultern.

Am ledernen Gürtel hängt eine Machete, deren Schärfe gewiss schon Dutzenden von Gegnern zum tödlichen Verhängnis geworden ist. Alle seine Krieger kennen die Tod bringende Kampfkunst ihres höchsten Anführers!

Voller Ehrfurcht ruhen aller Männer Augen auf seinem ausladenden Kopfschmuck aus Mahagoni mit dessen zwei gefährlich anmutende Tier-Schnitzereien.

Zum einen der weiß gefiederte Adler mit dem scharfkantigen, vom Blut der Feinde rot gefärbten Schnabel.

Zum anderen der markante Kopf eines Jaguars mit seinem die Zähne fletschenden Gebiss; allein dessen stechende Augen aus geschliffenen Rubinen versetzen seine Gegner in Angst und Schrecken - den sicheren Tod vor Augen; einen Tod, den der Große Aztekán schon ungezählten Gegnern brachte.

Sein Anblick lässt keinen der mit Speeren bewaffneten, in der Runde kniend verharrenden Kämpfer im Ungewissen darüber, dass der Stimmgewaltige noch immer der mächtige Nachfolger ihres getöteten, stolzen Azteken-Königs Moctezuma ist - auch, wenn er unter den das Land besetzt haltenden Eroberern keinen Palast bewohnen und über kein Heer verfügen kann.

Außer dieser lautstarken Stimme gibt es im hohen Gewölbe des im Fels versteckten, steinernen Tempelgrabs keinen einzigen Ton, der die Lauschenden von seiner Rede ablenkt. Sie alle knien in Ehrfurcht schweigend in einem großen Kreis aus lodernden Flammen, die bis zur Decke schlagen.

Erst als sich der Große Aztekán auf dem Steinboden niederlässt, steht der Mann links neben ihm auf und beginnt mit markigen Worten, die verhassten Conquistadores anzuklagen.

„Wir müssen uns erheben und sie verfolgen, sie töten, wo immer sie unser Gold rauben, unsere Frauen schänden, unsere Kinder versklaven. Ja, Brüder, das ist unsere Pflicht! Im Namen der Götter unserer Urväter müssen wir …“

Inmitten seiner harten Forderung nach Vergeltung pflichtet ihm sein Vorredner bei:

„Wie Recht du hast, Mochac, du Sohn des ehrwürdigen Kicah, dem Tapfersten aller Tapferen; nach ihm bist nun du der Erbe dieses Königs von Quiché und …“

Ein heiseres Röcheln unterbricht seine Worte - die eiserne Musketen-Kugel steckt noch immer in seiner Brust.

„… und der Hass in deiner nach Vergeltung schreienden Stimme ist unser aller Hass, die wir heute im Gedenken an das mörderische Massaker auf dem großen Platz von Cajamarka vor dreissig Zeiten unseres Sonnensteins zusammengekommen sind.

Nie vergessen werden wir, dass diese Teufel mit ihren Blitze speienden Waffen die Strände unserer Erde mit einem Lächeln betraten und uns billigen Tand zu Füßen legten, um uns in unserem arglosen Irrglauben, diese Weißen auf ihren hohen Pferden seien Götter, zu bestärken. Doch dann …“

Das Raunen der erzürnten Männer des heiligen Feuerkreises ist das Wenigste, womit sie ihm beipflichten wollen.

„Zu spät verschwand der trügerische Schleier vor unseren Augen und wir sahen die silberglänzende Helme tragenden Barbaren mit ihren scharfen Schwertern und Kugelgeschossen das Blut unserer Helden, Frauen und Kinder vergießen.“

Ein heftiger Hustenanfall unterbricht seine feurige Rede, bevor er seine Stimme wieder beherrscht.

„Sprich du nun, mein Bruder im Blute!“, fordert Aztekán den auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises Knienden auf, da ihm das Metall in seiner Brust zu schweigen gebietet.

„Und, weiser Teteo Atlan, verbirg dabei die Feuchte deiner geblendeten Augen nicht vor uns; den Folterknechten mit ihrem glühenden Stahl war dein Blick hilflos ausgeliefert. Dennoch bist du mit der Fülle deiner Ratschläge der Hüter der Klugheit unter uns!

Sprich nun und lass uns an der Weisheit deines hohen Alters teilhaben.“

Aztekán kennt ihn schon seit seiner Kindheit; die bald acht Jahrzehnte dauernde Lebenszeit des Aufgeforderten mit dessen weißem Haar und dem mittlerweile krumm gewordenen Rücken lässt ihn noch immer nicht daran zweifeln, wer wem an Lebenserfahrung überlegen ist. Schon Aztekáns Vater diente er mit seiner Kenntnis aller Kriegslisten als kluger Berater.

Trotz aller erkennbarer Mühe erhebt sich der erblindete Alte.

„Hört nun, all ihr Helden unserer Heimaterde, was ich zu berichten habe. Dreissig Zeiten ist es nun her, dass sie auf dem Marktplatz von Cajamarka ganze Familien in Stücke hieben. Wut und Schmerz geben sich noch immer mit der Kraft zweier Tiger die Hände. Alles in mir schreit nach Rache, glaubt es mir - auch wenn ich die Waffen nicht mehr tragen kann, um sie den Feinden in ihre Leiber zu rammen.“

Rundherum erheben die Männer ihre Fäuste und rufen: „Tod den Barbaren!“

„Doch weit schlimmer als der schmerzliche und niemals zu vergessende Verlust unschuldiger Frauen und Kinder ist, dass sich damals Prinzessin Xipa einem dieser fremden Kämpfer hingab und mit ihm unter geblähten Segeln gen Osten davon flog. Die verräterische Schande dieser Tat mögen die Götter ihr niemals vergeben!“

„Niemals! Niemals!“, schallt es hasserfüllt aus allen Mündern.

„Doch, Freunde im Blut - und du, Sohn des Kicah, bist dafür mein Zeuge -, weit frevelhafter ist, dass die Verräterin jenem Soldaten des verhassten General Hernán Cortés den Heiligen Schatz unseres ermordeten Herrschers aller Herrscher übergab. So berichten es unsere Götter und so glauben wir es ohne jeden Zweifel!“

„Stimmt das tatsächlich, Mochac?“, erheben sich gleich drei entsetzte Stimmen.

„Ja - natürlich sind Teteo Atlans Worte die pure Wahrheit! Kicah, mein ehrwürdiger Vater, der nun an der Seite des Göttlichen Kukulkán sitzend auf seine Wiedergeburt wartet, berichtete mir davon.

Zu jener Zeit, als sich Moctezumas Tod schon am von nahender Trauer geschwärzten Nachthimmel abzeichnete, gab der Herrscher aller Herrscher meinem Vater durch einen Boten auf, den vor den Augen der Eroberer bislang verborgen gehaltenen Goldschatz aus seinem Versteck zu bergen und vor dessen Raub zu retten.“

Teteo Atlan hebt und senkt zum Zeichen seiner Bestätigung bedächtig sein Haupt.

„So geschah es. Seine herbei eilenden Männer“, übernimmt der Alte die Erzählung, „kamen jedoch zu spät; die nicht nur den Glauben an unsere Götter verratende Xipa hatte ihn schon durch die fremden Schergen auf das Schiff bringen lassen.“

„Schande und Fluch über sie!“, schreit Mochac mit erhobenem Speer.

„Doch viel mehr als der deinem Vater geschilderte Raub unermesslicher Mengen Goldes und Silbers“, fährt der Alte fort, „schürt meinen Hass der Diebstahl des Wertvollsten des gesamten Schatzes.“

„Welches Wertvollste?“

„Es ist der heilige Ring des Herrschers aller Herrscher; er stammt vom Vater seines Vaters; dessen Vater wiederum erhielt ihn von Choc-Fan, dem vierfüßigen Himmelsvogel, der den Ring am Fuß des Weltenbaums Wacah Chan, auf dem sich sein übergroßes Nest aus starken Ästen befindet, verwahrte.“

„Oh, wie ich Euch für Euer bis in die Urwelt unserer Ahnen reichendes Wissen beneide, hochverehrter Teteo!“

„Ganz gewiss - der Ring ist etwas ganz Besonderes und eine mächtige Schutzwaffe. Geschmiedet aus gesalbtem Gold trägt er in der Krone einen rötlichschwarz gefärbten, rund geschliffenen Obsidian mit einem goldenen Einschluss, der wie unsere Himmelsgöttin Venus strahlt.“

„So schön ist dieser Obsidian-Ring? Doch was meint Ihr mit dem, was Ihr ´Schutzwaffe` nennt?“, fragt Mochac.

„Ja, noch schöner, als man es sich vorstellen kann. Er ist wahrlich ein Schutz- und Heilstein; er gleicht einem Schild gegen feindliche Energien, indem er die Fähigkeit stärkt, Gefahren wahrzunehmen, die in der Zukunft lauern.

Sicher würde der Herrscher aller Herrscher noch leben, hätte ihm diese Elende den Schatz und damit den Ring nicht schon vor seinem traurigen Tod gestohlen.“

„Wie ich sie hasse!“, schreit sein Zuhörer ungestüm.

„Doch auch unser Heiliges Goldenes Buchs der Götter ist verschwunden. Das ist ein folgenschweres Elend für unser Volk!“

Wütende Worte der übrigen Männer geben ihm Recht.

„Die Kenntnis unserer Vorfahren um die Magie dieser Heiligen Schriftblätter geht uns damit für immer verloren, weil wir diese nicht mehr in Händen halten können.“

„Schande über sie!“, schreien viele.

„Doch hört! Darüberhinaus könnten wir durch das Buch ein ganz besonderes Wissen erlangen.“

Manche Blicke aus der Runde verraten ihm, dass er das genauer erklären muss; nämlich die Bemerkung um jenes ganz besondere Wissen. Sogleich will er damit beginnen zu erklären, dass das Heilige Buch den Weg zu dem geraubten Goldschatz aufzeigen kann, sofern …

Doch ein Zwischenruf lenkt ihn davon ab.

„Hat denn überhaupt schon irgendwer danach gesucht?“, will ein noch junger Krieger mit bissigem Unterton wissen.

„Schweig, Chico! Natürlich haben wir!“ reagiert der Gefragte erzürnt. „Doch trotz sorgfältigen Suchens im alten Palast des toten Königs entdeckten wir es bislang nicht; allein den Verdacht darüber fanden wir als bestätigt, dass es tatsächlich in die Hände der Diebe und Zerstörer unserer Kultur gefallen ist.

Nicht auszudenken, wenn zu allem Elend auch diese Schriften dem Verbrennen zum Opfer gefallen sind.“

Zu Totec gerichtet schimpft er: „Das hindert uns jedoch nicht, alles daran zu setzen, unser Heiliges Buch zu finden. Verstanden, Chico?!“

Das Feuer seines Blickes bringt den Zurechtgewiesenen, den er nur abfällig Chico nennt, zum Schweigen; zunächst.

Wutgebrüll der Krieger hallt durch das steinerne Gewölbe unter der Erde.

Mit sich überschlagender Stimme fährt der weise, alte Mann fort: „Das schändliche Verbrennen unzähliger unserer Schriften durch den Schwarzen Mönch, diesen Priester des Bösen, muss uns jetzt zu entschlossenem Handeln zwingen, Brüder im Blut! Gewiss ist unser Heiliges Götterbuch in seinen Händen; wir müssen es ihm entreissen, bevor es ebenfalls den Flammen dieses Mönchs zum Opfer fällt!“

„Der Peiniger unseres Glaubens soll selbst brennen!“, kommt wutentbrannt von Mochac.

„So ist es, Bruder! All das muss uns dazu bringen, ihn - zur Not bis hinein in seine Welt auf der anderen Seite des großen Meeres - zu jagen, um diese heiligen Worte unserer Götter als Zeugen unserer Kultur zurückzuerlangen; das Goldene Buch muss unbedingt wieder in unseren Händen liegen!“

„Bis hinein in seine Welt … So ein Unsinn! Wie sollen wir das tun - ohne derartig riesige Schiffe?“, wendet der junge Störenfried ein, wodurch er erneut den Unmut der anderen hervorruft. Keiner kann ihn mit seiner vorlauten und ungestümen Art leiden.

Sie schwenken ihre Speere drohend in die Höhe. Dabei sehen sie auch, wie das Gesicht des Alten rot vor Wut wird und die Zornesader seiner Schläfe anschwillt.

„Chico, ich dulde keinen einzigen Zweifel! Dein Argwohn sät am Ende noch Zwietracht unter uns, hörst du?! Wir müssen und wir werden mit der Hilfe unserer allmächtigen Götter einen Weg finden!“

Er holt tief Luft und schreit mit vibrierender Stimme los: „Dieser uns gegenüber unbeschreiblich grausame Padre Diego soll selbst im Dunkel seines Todes das Leid sehen, das er uns in seiner Verblendung antut; wieviele Männer und Frauen hat er wegen dem, was er heidnische Hexerei nennt, schon auf dem Gewissen!“

Seine Wut begleiten die Krieger dadurch, dass sie ihre Speerspitzen vor sich auf den harten Boden schlagen und den fanatischen Feind ihres Volkes erneut mit „Brennen soll er!“ verfluchen.

„Ja, das soll er! Nun will ich euch aber auch das genauer erklären, wovon ich soeben sprach.

In unserem verlorenen Goldene Buch, so hört meine Worte, werden wir nämlich über all unsere Legenden und Mythen hinaus lesen, wo der von der elendigen Xipa gestohlene Schatz zu finden ist. Dann, wenn uns die Götter ihre Hilfe schicken.“

„Wirklich? Woher willst du das wissen?“, zweifelt der aufsässige, junge Krieger erneut.

„Ja - woher?“ pflichten ihm nun sogar einige andere aufgeregt bei.

Deshalb um einen gelassenen Ton bemüht, antwortet Teteo Atlan ruhig: „Nun, ihr kennt meine Nähe zur gesalbten Regenbogenfrau Ix-Chel, unserer erhabenen Mondgöttin. Wie ihr wisst, schenkte Venus ihr einst auch die Gabe, in die Zukunft sehen zu können.“

Als hätte er es ihnen befohlen, erheben sich alle im Feuerkreis Knienden und verneigen sich mit vor der Brust gekreuzten Armen und sprechen im Chor: „Oh Venus, du Hellste am Himmel. Du gibst uns stets dein heiliges Zeichen zum Angriff. Oh Venus, wir danken dir für dein Licht!“

„Ja, Brüder; in wenigen Zeiten wird sie sich wieder mit Mars, ihrem geliebten Mitstreiter am Himmel, vereinen.

Nun höret weiter; so kam es, dass mir die Gesalbte im nächtlichen Traum ihren weisen Orakelspruch schickte.“

„Ein Orakel?“ kommt vielfach aus der Runde. Alle schauen ihn fragend an. Doch Aztekán weiß um die Wahrhaftigkeit seines alten Freundes und lobt ihn mit fester Stimme:

„Oh, Segen möge über dir liegen, weil du als Einziger von allen den Vorzug in dir trägst, den Ratschluss der Göttin erfahren zu dürfen. Aber lass mich dich nicht unterbrechen - sprich du nun weiter! Was sagte die Heilige Regenbogenfrau, die Gefährtin des übermächtigen Izamna?“

„Ich danke dir! So hört, mit welchen Worten sie mir weissagte:

´Auf der Erde unseres über tausend Zeiten alten Chichén Itzá auf Yucatán wird eine Frau mit weißer Haut in eigenartigem Gewand erscheinen, die sehr viel mehr Wissen über die weit entfernte Zukunft in sich trägt als wir es haben können.

Das wird schon sehr bald, weniger als in einem Viertel Kin, geschehen; dann nämlich, wenn sich draußen das totale Dunkel des heute wiederkehrenden Treffens der Tag- und Nachtgleiche über das untergegangene Sonnenhell legt.

Von weit her kommt diese Frau zu uns - von so weit, dass mehr als sieben Geschlechter leben und sterben müssen, um die Zeit zu erreichen, aus der sie uns erscheinen wird. Durch einen Steinkreis wird sie hinabfallen; unweit der Schlangenkopf-Pyramide; und ankommen in unserer Welt.`

So sprach, ihr Brüder unseres Blutes, die Göttliche Ix-Chel in ihrer großen Güte zu mir.

Wundert euch nicht, dass sie dabei die Erde unserer Heimat ´Yucatán` nennt; so werde, erklärte mir die Allwissende in ihrem Orakel-Spruch, unser Land in jener fernen Zeit, aus der die weiße Frau kommen wird, in aller Welt heißen.“

Während er so berichtet, schaut er in vor Erstaunen geöffnete Münder, aus denen kein einziger Laut kommt.

„Erkannt wird sie an einem aus Gold getriebenen Stein, den sie um ihren hellhäutigen, langen Hals trägt; ein Sonnenstein so alt, dass ihn nur unsere Urväter kannten.“

„Ein Stein aus Gold?“, fragt einer aus dem Kreis.

Mit einem aggressiv klingenden „Aus einer solch weit entfernten Zeit … Wie soll das möglich sein?“, lässt ein anderer sein Misstrauen hören; natürlich ist es erneut Totec!

„Ja, ein goldener Sonnenstein; von einer ebensolchen Kette gehalten.

Und tatsächlich, du Ungläubiger! Aus der Zukunft wird sie kommen, aus einer Zeit, die unser Geist nicht zu begreifen vermag - und dein kleiner erst recht nicht, Chico!

Von so weit wird die Wissende wie ein Geschenk der Götter durch einen Kreis von Steinen in die Tiefe hinabfallen - so, als fiele sie aus der Zeit, aus ihrer Zeit in die unsrige.“

„Wo genau nur können diese Steine ihres mysteriösen Erscheinens sein?“, flüstern sich die beiden Krieger Carrafón und Chocmál Schulter zuckend zu.

Als hätte er die Frage vernommen, beruhigt der alte Mann sie: „Unser segensreicher Regen- und Gewittergott wird uns den Ort verraten; achtet in der frühen Nacht darauf, wo der gütige Tlaloc mit seinem Fackelstab einen feurigen Blitz zur Erde jagt. Dann geht dort hin und führt die weiße Frau zu uns.

Erweist ihr dabei alle Ehren, die einer von den Göttern Auserwählten zusteht. Bedenkt, dass sie für uns ihre eigene Gegenwart opfern muss und am Ende ihre eigene Zukunft verliert, weil sie vielleicht nie mehr in ihre Zeit zurückkehren kann. Vielleicht!“

Die Krieger sind beeindruckt von ihrer Erkenntnis über dieses Opfer der zu ihnen kommenden Frau.

„Nach dem heiligen Plan unserer weisen Ix-Chel ist sie dazu bestimmt, uns dabei zu helfen, die verschwundene Schrift unserer Götter ausfindig zu machen. So halten wir, wenn es ihr gelingt, am Ende dankbar das Goldene Buch wieder in Händen; und mit dem in ihm verborgenen Wissen können wir vielleicht tatsächlich erfahren, wo die verruchte Diebin den unserem Volk geraubten Goldschatz versteckt hat.“

Kapitel 3

Blitzeinschlag

„Wie lang war ich wohl bewusstlos?“, murmele ich immer wieder grübelnd vor mich hin; weiß es nicht. Hab jedes Zeitgefühl verloren. Eines ist aber sicher: Seit ich wieder aus meiner Ohnmacht erwacht bin, liege ich kraftlos und mit Schmerzen in dieser dreckigen Pfütze - und hab Angst! Angst, dass hier unten mein letztes Stündlein geschlagen hat.

Ade, mein geliebter Pedro! Ade, glückliche Zukunft mit dir! Tränen schießen mir aus den Augen.

Immer wieder zwingt mich der bohrende Schmerz aufzuschreien.

„Au; das tut so weh!“

Begreife dabei aber mittlerweile, dass mich in dieser Dunkelheit sowieso keiner hört. Mein Rufen nach Hilfe hab ich aufgegeben. Nutzlos!

Bin völlig allein. Niemand aus meiner Touristengruppe hat einen Schimmer, wo ich bin; nicht einmal dieser selbsternannte Nachfahre Moctezumas. Falls sie mich suchen, ist es sicher vergeblich; wie könnten sie ahnen, dass ich am Boden eines mit Eisen verschlossenen Brunnens liege?!

Merke, wie ich akzeptiert habe, dass ich trotz des Gitters in die Tiefe des Brunnens gestürzt bin; obwohl es völlig irreal ist.

Bald werden sie zuerst aufgegeben haben, auf mich zu warten, und dann zum Bus gelaufen sein; der muss wieder zum Schiff zurück, bevor es ablegt.

Bin … - ich schlucke den Brocken runter, den ich damit verdauen muss - … verloren!

Die Augen halte ich geschloßen; kann eh nichts sehen. Meine Tränen finden trotzdem ihren Weg über meine Wangen - es sind ganz sicher die Tränen meines bevorstehenden Todes. Muss hier unten sterben!

Denke in meiner Not an Grossmutter; was hat sie immer gesagt?

´Kind, wenn es dir schlecht geht, dann bete.`

Hab aber keine Kraft mehr - nicht einmal dafür.

Zu allem Elend werde ich seit gut zehn Minuten auch noch von oben nass; als wäre die Dreckpfütze unter mir nicht genug! Ganze Ströme von Wassertropfen ergießen sich auf meinem geschundenen Körper; scheint mächtig zu regnen, dort oben.

Hör jetzt sogar von weitem Donner. Gewitter also.

Oh nein!

Hab doch so ne Angst davor; schon als Kind. Werd es nie im Leben vergessen. Sie. Die arme Gloria. Waren zum Spielen im Park, als das Gewitter losbrach. Blitze überall um uns herum. Seh noch, wie sie losläuft.

Schrei ihr hinterher: ´Nicht unter den Baum!`, doch sie hört nicht auf mich.

Papa hat’s mir genau erklärt; nie unter Bäume; such dir eine Mulde und hock dich hin. Und noch was, Isabel; wenn du Blitz und Donner gleichzeitig hörst, dann …

Da ist er wieder, der Schauer, der mir über meinen völlig durchnässten Rücken läuft; werde diese Scheiß Angst gewiss nie los; kommt stets dann, wenn ich an meine kleine Freundin denk; hat nicht auf mich gehört. Oh, arme Gloria!

Als der Blitz in den Baum schlug, erwischte er sie - erst im Schädel rein, dann unten am Fuss wieder raus.

Sie war sofort tot, erklärte Papa später.

Nur zwei kleine Löcher, aber … tot; für immer weg!

Meine Hand verkrampft sich zur Faust - wie ungerecht! Sie hat es doch nicht besser gewusst.

Krieg jedesmal Panik, wenn die Blitze den Himmel hell erleuchten und irgendwo einschlagen - seitdem.

Warst so lebenslustig und klug. Hättest du nur …

Kann die Gedanken an sie nicht zu Ende bringen, weil ich wie vom Schlag getroffen zusammenzucke. Plötzlich ist es taghell. Da ist sie wieder - diese schreckliche Todesangst! Kann meinen Schrei nicht unterdrücken.

Taghell. Und … Oh nein! Glaub, mein Trommelfell ist geplatzt, so laut ist der Donnerschlag über mir; exakt im selben Bruchteil einer Sekunde. Der Knall trifft mich in meinem rund gemauerten Brunnenschacht unbarmherzig; wie tausend Echos rast der Schall immer wieder durch beide Ohren gleichzeitig in meinen Kopf.

Der winzige, vom Schreck noch nicht paralysierte Rest meines Verstands weiß augenblicklich, was passiert ist. Das, was Vater damals sagte: Wenn du Blitz und Donner gleichzeitig hörst und nicht mehr 21, 22, 23 zählen kannst, bis es kracht, dann schlägt der Blitz genau über dir ein.

Hab keinen Zweifel daran, dass ich gerade vom Blitz getroffen bin und sterbe. Alle noch vorhandene Kraft in meinen Gliedern scheint entwichen zu sein - meine Arme rutschen schlaff von meinem Oberkörper herunter in den nassen Dreck neben mir. Bin tot.

Falsch, Isabel! So brüllt mich meine innere Stimme allerdings augenblicklich lauthals an, als müsste sie meine Lebensgeister in letzter Sekunde wecken.

Das Gitter, schreit mein Verstand!

Kapier es nicht.

Die eisernen Gitterstäbe, wiederholt er hastig!

Kann die Worte einfach nicht begreifen.

Gitterstäbe? Eisen?? Was meinst du, verdammt???

Versuche mich zusammen zu nehmen.

„Denk nach!“, schreie ich mich an. „Schau nach oben!

Dann verstehst du es.“

Streng mich mit all meiner noch vorhandenen Energie an.

„Ach so! Natürlich!“

Meine Tränen laufen ungebremst - dieses Mal vor Erleichterung!

„Na klar! Faradayscher Käfig“, bricht es wie verrückt vor Glück aus mir raus. Die Eisenstäbe über mir haben den Blitz abgeleitet, bevor er mich treffen konnte, rast die befreiende Erkenntnis durch mein Gehirn.

„Ja, so ist es! Sonst wär ich jetzt logischer Weise schon tot … und bei Gloria im Himmel.

Trotzdem - ein Fetzen Zweifel krallt sich an mich. Also mach ich was; was Blödes - denk ich; aber wirksam!

Kneif mir fest in den verletzten Arm.

„Au, das tut doch weh!“ folgt automatisch; war ja zu erwarten! Gut, dass es weh tut; so weiß ich, dass ich noch lebe! Der Blitz hat mich nicht getroffen!

Bin so dankbar; schließe die Augen und fang an zu beten. Ganz still; ohne was zu sagen …

… und erschrecke im nächsten Moment fast zu Tode.

Etwas berührt meinen Kopf. Zucke zusammen.

Mein Mund will einen Angstschrei heraus pressen.

Meine Lippen versuchen sich zu einem Wort zu formen; was herauskommt, ist lediglich ein „Wer…?“

„Hab keine Furcht, Isabel! Du bist in Sicherheit.“

In Sicherheit? Hä? Wieso Isabel? Wer kennt da meinen Namen? Woher kommt diese Stimme…? Wieso ist da plötzlich jemand? Wer …? Dieser unsichtbare Geist von vorhin?

Tausend Gedanken auf einmal jagen durch mein Hirn.

„Ich bin Xochi, die aztekische Frau von Tlaloc, dem Gott mit der Feuerfackel, der mit seinem Blitz direkt über dem Brunnenschacht mir und unseren Kriegern zeigte, wo genau wir dich finden können.“

Ein verständnisloses „Bitte?“ quillt mir aus dem Mund; gleichzeitig huscht ein Gedanke durch meinen Kopf - ein Gedanke, den ich erst gar nicht fassen kann.

Diese Frau redet in der Sprache der Azteken des 16. Jahrhunderts, in Náhuatl, mit mir.

Und …, und ich verstehe sie!

Jedes einzelne Wort!

Wie soll das gehen?!

Ein Wunder? Oder bin ich schon verrückt vor Angst geworden und hab den Verstand verloren?

Klar konnte ich bislang eine Menge Worte dieser alten Sprache; schon im Studium gelernt. Aber zum perfekten Übersetzen, geschweige denn zum Sprechen hat es nie gereicht; viel zu schwer!

Aber jetzt … Jedes einzelne Wort verstehe ich - so, als hätte ich nie eine andere Sprache gehört.

Total irre! Kann’s kaum glauben.

Wie zum Beweis für mich selbst teste ich mich und versuch eine Antwort auf Náhuatl:

„Hab Angst! Fürchte, mein Bein ist gebrochen.“

„Keine Sorge!“

Wow! Sie versteht mich! Unglaublich!

„Keine Sorge, weiße Frau aus der Zukunft!

Was du da in deinen Knochen spürst, wird sogleich verschwinden. Gib acht; ich beuge mich jetzt über deinen Körper und heile dich.

Sei nicht erstaunt, wenn du mich siehst; ich bin eine Frau aus einer früheren Zeit; einer Zeit, die du Vergangenheit nennst; denn du bist im großen, von den räuberischen Conquistadores besetzten Aztekenreich vor vielen hundert Zeiten angekommen.“

Kapier kein Wort. Will die mich veräppeln?!

„Ich werde dir nun zunächst deinen Schmerz nehmen; mit meinen Händen streiche ich über deine verletzten Glieder; mit meiner göttlichen Kraft werde ich dir jede Pein nehmen.“

Göttliche Kraft? Was redet die denn?

Nur einen Atemzug später bin ich sprachlos; meine Schmerzen, die mich seit sicherlich Stunden plagen, sind verschwunden. Völlig erstaunt über meine wiederhergestellte Kraft richte ich mich mit einer mich überraschenden Leichtigkeit auf und blicke in ihr Gesicht.

Vor mir steht eine Frau mit ebenen, jung wirkenden Gesichtszügen und freundlich blickenden, großen, schwarzen Augen sowie dunkelbraunem, schulterlangem Haar. Über beide Wangen läuft ein breiter, himmelblauer Farbstreifen. Ihre hohe Stirn bedeckt ein Band aus glänzendem Stoff, in dem kleine, runde Goldstücke, wie mir scheint, eingelassen sind.

Stutze und schau genauer hin. Kann das sein, frag ich mich und reibe mir die noch vom Weinen verquollenen Augen. Tatsächlich - es sind genau sieben an der Anzahl, die die Form des Sternbilds ´Großer Wagen` bilden.

„Donnerwetter!“ rutscht mir vor Verblüffung raus.

„Aha! Großer Wagen; so nennst du sie; für uns ist es der vierfüßige Himmelsvogel Choc-Fan.“

Kann die etwa meine Gedanken lesen??

Sie reicht mir beide Hände. Zögernd ergreife ich sie.

„Ich übergebe dich nun der Obhut der Männer hinter mir, die, wie von nun an auch du, die Krieger unseres Volkes sind. Die Götter der Klugheit haben dich zu uns geführt, weil du eine Sehende mit einem weit größeren Wissen bist, als wir es besitzen können.“

Langsam fang ich tatsächlich an, diesen Unsinn zu glauben. Oder …?

Zu jenen gerade hinter ihr Auftauchenden höre ich - noch immer überwältigt vom hoffentlich doch glücklichen Wandel meines Schicksals - sie in befehlendem Ton anordnen:

„Nehmt unseren allwissenden Gast aus ferner Zeit zur großen Zeremonie mit und fleht sie um Hilfe an, auf dass wir das finden, was wir suchen.“

Wieder zu mir gewandt meint sie zu meinem Erstaunen ebenso bestimmend: „Doch zuvor musst du mir die Halskette mit dem Sonnenstein unserer Vorfahren geben.“

Ich hör wohl nicht recht! „Wieso das?“

„Ich gab sie dir nur zu dem Zweck, dich zu uns zu führen; an ihr solltest du von der Kraft der Geister-Stimme am Heiligen Brunnen erkannt werden.“

Merke, wie sich meine Stirn in Falten legt.

Was meint sie mit: ´Ich gab sie dir …`

Woher weiß die …?

Wieso von ihr?

Die Kette hab ich doch von …

In Guatemala.

Noch während ich zu verstehen versuche, höre ich sie sagen: „Ich lese deine Gedanken, Isabel. Damit du mir glaubst, schließe kurz deine Augen und schau mich dann wieder an.“

Ein unheimliches Gefühl beschleicht mich; eines, das mich hilflos macht - aber zugleich auch sauer.

Was soll das Ganze? Kapier es nicht. Außerdem - wieso kennt die meine Gedanken, verdammt?

Sie sieht mich mit durchdringendem Blick an; mit einem Blick, der mich nichts Gutes ahnen lässt.

Verunsichert gehorche ich - und schlage die Augen erst nach ein paar Sekunden wieder auf.

Was ich da vor mir wahrnehme, erschreckt mich; völlig verwirrt stülpe ich meine Hand über den Mund.

Vor mir steht …

Nein, das kann doch nicht sein! Das, was ich sehe und höre.

„Ich bin Atira und möchte, dass du das hier um deinen Hals legst.“

Verstört frage ich: „Bitte? Was soll das denn? Du bist doch nicht … Oder …?“

„Erinnerst du dich an diese Worte von damals?“

Mein Nicken ist ein einziges ungläubiges Zaudern - zu mehr bin ich nicht im Stande. Was ist das für ein Zauber?

Noch einer! Nach dieser plötzlich im Nichts verschwundenen, runzligen Alten in Guatemala. Auch nach der Geister-Stimme dort am Brunnen; und nach dieser unbegreiflichen Kraft, die mich nach unten zog.

Und … - wer weiß, was noch mit mir geschieht?!

„Ja, ich bin dir in der Gestalt jener alten Frau namens Atira erschienen. Also…!“

Ihr starrer Blick ruht auf der Kette. Dann legen sich ihre Hände um meinen Hals. Lasse es widerstandslos geschehen.

Im nächsten Moment schaue ich zu, wie sie sich wieder in die schöne, junge Frau von zuvor verwandelt.

„Ja, du siehst es: Ich kann mich in beliebig andere Personen verwandeln. Zudem musst du wissen, dass die Götter unserer Urväter diesem heiligen Schmuck, den ich wieder an mich nehme, mystische Kräfte verliehen haben.

Dich, Isabel, zogen nicht kräftige Männerhände in die Tiefe. Nein, es war allein die Macht der Kette mit dem geheiligten Stein, der das alles - mit ihrer dir sicher unheimlich vorkommenden Stimme - gelang, als du dich dem geweihten Steinkreis des gemauerten Opferbrunnens genähert hast.“

Kann nur noch staunen - auch, weil ich in diesem Augenblick etwas unglaublich Erschreckendes begreife.

Sie, also diese Atira, erschien mir … - tatsächlich, so ist es! - … im 21. Jahrhundert! Während meiner Reise in jene alte Stadt dort in Guatemala.

Und jetzt ist sie Xochi und lebt im alten Aztekenreich; an der Seite von Tlaloc, dem kriegerischen Gott mit der Feuerfackel.

Jenes Reich der Azteken, ebenso wie dieser Tlaloc, existiert ganz sicher nicht im 21. Jahrhundert!

Oh nein, ganz bestimmt nicht!

Kann’s nicht glauben. Das alles nicht. Nach dieser erschreckenden Erkenntnis erst recht nicht.

Bin ich durch meinen Sturz in die Tiefe dieses Steinkreises tatsächlich im 16. Jahrhundert gelandet?

Oh Gott! Oder bin ich tatsächlich verrückt geworden?

Im 16. Jahrhundert? Scheint wirklich so zu sein. Diese unheimliche Frau vor mir erwähnte vorhin tatsächlich die spanischen Konquistadoren; die gab es hier aber nur genau in dieser Zeit. Und noch eins zu all dem Unbegreiflichen: Wir sprechen auf Náhuatl, der Sprache dieser Indigenen aus jener weit zurückliegenden Zeit.

Wow! Unfassbar!

Diese Xochi merkt offensichtlich sofort, was ich erkannt habe, denn sie sagt: „Ja, genauso ist es! Deine Gedanken treffen zu. Du bist aus deiner Zeit in die unsrige gereist. Glaub es - es ist die Wahrheit!“

Ich schließe für einen Moment die Augen; will das alles nicht sehen - einfach nicht sehen! Das ist doch ein Alptraum!

„Isabel, so wie du deine Zeitreise heute erlebst, geht es übrigens auch mir - obwohl ich daran gewöhnt bin.

Ich kann durch die Zeit wandern; allerdings nur hier, im Land unserer Götter, sowie - mit der heiligen Erlaubnis meines Gefährten Tlaloc, dem Gewittergott mit der Feuerfackel - ausschließlich während meiner Zeit in das ferne Land der elendigen Conquistadores.

In deine Zeit, aus der du kommst, zu reisen, ist mir verwehrt. Deshalb …“

Als wäre mein Verstand urplötzlich vollständig klar, bringe ich ihren Satz zu Ende. „… deshalb braucht ihr mich. Für das, wovon du vorhin sprachst - mit den Worten ´… und fleht sie um Hilfe an, auf dass wir das finden, was wir suchen`. Richtig?“

Sie antwortet darauf nicht, nickt jedoch zustimmend, dreht sich um und sagt im Weggehen:

„Du bekommst die machtvolle Kette zurück, wenn du wieder auf die Reise in deine Zeit gehen darfst.“

Nach einer keine Sekunde dauernden Sprechpause wiederholt sie zunächst diesen Satz, worauf dann aber ein bedrohlich klingendes „Vielleicht“ mein Ohr erreicht.

Ihr ernster Blick richtet sich - als würde sie in eine nahe Zukunft schauen - bei dem letzten, mir echt Angst machenden Wort an mir vorbei, bevor sie mir befiehlt: „Komm jetzt in deine neue Gegenwart!“

´Vielleicht`, sagt sie.

Hallo! Was soll das denn heißen? Frau, du machst mir Angst! Angst davor, Pedro nicht mehr … Oh Gott!

Bei dem Gedanken an meinen Liebsten erscheint sein liebevolles Lächeln vor meinem geistigen Auge. Was soll dieses Wort ´Vielleicht` bedeuten, frag ich ihn in Gedanken? Klingt nicht gut, nichtwahr?! Oh Liebster, soll ich dich etwa nie mehr sehen dürfen?

Voller aufkommender Sorge über dieses unheilvolle Wort, aber auch mit staunenden Augen, folge ich ihr und den Männern, denen voran ein von Gestalt auffällig großer, muskulöser Kerl läuft, den sie respektvoll ´Oh, du ehrwürdiger Großer Aztekán` nennen, wenn sie mit ihm reden.

Jeder Dritte von ihnen trägt eine Fackel, die den Weg ausleuchten.

Mein Staunen steigert sich erst recht ins Unermessliche, als ich erkenne, auf welchem Weg sie mich aus meinem bislang dunklen Gefängnis herausführen.

Nicht den runden Steinschacht muss ich, wie auch immer, empor klettern; nein, etwas entfernt um eine unerwartet vor mir auftauchende Ecke ist ein mannshohes Loch im Gemäuer.

Dahinter erschließt sich meinem erstaunten Blick ein Labyrinth von Seitengängen, welches uns nach geschätzten zehn Minuten in eine riesig groß anmutende Säulenhalle führt. Zwar ist sie bei meinem ersten, überraschten Rundblick fensterlos, doch hell erleuchtet. Dutzende Feuerstellen sorgen dafür, den offensichtlich in den Felsen gehauenen Saal in taghelles Licht zu tauchen.