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Immer mehr Menschen leiden unter chronischen psychischen Erkrankungen, und dennoch: Wer nicht »normal funktioniert«, stößt auf Unverständnis und muss hart um Anerkennung kämpfen. Kea von Garnier begibt sich schon mit zwölf Jahren das erste Mal in eine Therapie. Depressionen und Angststörungen machen ihr das Leben schwer. Doch sie lernt, sich gegen die dunklen Tage zu behaupten und mit ihnen zu leben. Und sie zeigt, wie man als junger Mensch, der das Leben noch vor sich hat, trotz der Diagnose »psychisch krank« seinen Weg finden kann. Mit ihren Texten macht sie vielen Menschen Mut. In ihrem Buch lässt sie uns nah an sich heran, wir begleiten sie auf der Suche nach einer Diagnose, auf ihrem Weg durch schwere Zeiten, die sie auch ihr Leben hätten kosten können. Sie beschreibt, welche Tipps und Therapieansätze ihr am meisten geholfen haben. Und wie viel Geduld und Zeit der Prozess der Heilung braucht, aber auch, dass es sich lohnt, durchzuhalten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 284
Prolog
Halbschatten
Hunger
Gespenster
Dürre
Winterschlaf
Saat
Wetterwechsel
Sturmzeit
Sternentäler
Gezeiten
Vogelflug
Epilog
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.1
R. Frost
Dieses Buch enthält das geronnene Wissen aus 35 Jahren Leben mit psychischen Erkrankungen. Es soll aufklären und sensibilisieren, aber vor allem soll es Mut machen. Und hinterfragen, ob die Normalität, die wir als Gesellschaft definiert haben, am Ende nicht ein Zustand ist, dem eigentlich niemand entspricht. Das Buch ersetzt keine Therapie – aber es kann ein zusätzlicher Wegbegleiter und Kraftspender sein. Um den Prozess der Enttabuisierung psychischer Erkrankungen voranzutreiben, erzähle ich in diesem Buch meine Geschichte. Eine Geschichte, in der sich einige Leser*innen vielleicht in Teilen wiederfinden können.
Mir ist wichtig, dass dieses Buch mehr bietet als eine spannende Lektüre. Deshalb ist das 10. Kapitel explizit als konkrete Hilfestellung für meine Leser*innen gedacht. Darin gebe ich das KEN-Programm wieder, mit dem ich therapeutisch am erfolgreichsten gearbeitet habe. Dieses Kapitel funktioniert auch für sich genommen, unabhängig von meiner individuellen Lebensgeschichte. Es soll immer wieder aufgeschlagen werden können, um hilfreiche Passagen nochmals zu lesen oder zu markieren und für sich mit den darin beschriebenen Schritten zu arbeiten. Es ist ein komprimierter Überblick über eine Herangehensweise, die vielleicht als Einstieg in einen gesünderen Umgang mit den eigenen Gefühlen dienen kann.
Die übrigen Kapitel erzählen die Geschichte eines Lebens, das meine Erkrankungen geprägt haben. Kindergarten und Schule zu besuchen, Freund*innen zu treffen, einen Beruf zu ergreifen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen – vieles, was für andere selbstverständlich ist, war in meinem Leben mit heftigen Kämpfen verbunden.
Trotzdem ist es auch eine Geschichte von Fortschritt, von Versöhnung und davon, dass das Leben manchmal Umwege nimmt, die sich am Ende als entscheidende Weichenstellungen herausstellen. Eine Geschichte von vielen, die zeigt, dass es trotz und mit einer solchen Erkrankung möglich ist, ein erfülltes und kreatives Leben zu führen. Weil unser persönlicher Erfolg eben nicht nur daran hängt, ob wir den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Sondern weil ein erfolgreiches Leben vor allem eines ist, in dem wir uns wahrhaft lebendig fühlen. Lebendigkeit ist flüchtig, sie hat keine bekannten Namen, sie blitzt hervor, ein Schlaglicht, ein Ton, eine Wolke, die Stille nach den letzten Worten eines Gedichts. Wir wollen an ihr festhalten, aber ihre Natur ist es, immer wieder neu gefunden werden zu müssen.
Für meine Eltern
Je höher ich komme, desto langsamer werden meine Schritte. Der Boden im Treppenhaus ist hässlich, liebloses Terrazzo aus den Fünfzigerjahren, rot-graue Splitter in schmutzigem Weiß. Ich hätte auch den Aufzug nehmen können, aber in Aufzügen kriege ich Beklemmungen. Vor der Tür im zweiten Stock bleibe ich stehen. »Berliner Krisendienst« steht neben dem Klingelschild. Ich höre Schritte hinter mir. Eine Frau schnauft die Treppen herauf, ich tue unbeteiligt, krame in meiner Handtasche, senke den Blick. Sie verschwindet in der Lungenfacharztpraxis nebenan.
Unschlüssig trete ich einen Schritt zurück und schaue aus dem Fenster. Es regnet, die Pfützen stehen auf der Straße wie ganze Teiche. Noch ist nicht Abend, aber es kommt mir vor, als wäre ich in die dunkelste Stadt der Welt gezogen. Voller Sprühregen und hängender Mundwinkel und voller Hundekot und einsamer Mädchen mit weinrotem Lippenstift. Nur diese großen, weiten Plätze, auf denen man atmen kann, die sind meine Rettung. Aber auch das klappt in letzter Zeit nicht mehr so gut und hier, in dem Treppenhaus, das nach billigem Parfum riecht und nach Schweiß, schon gar nicht.
In meiner rechten Manteltasche suchen meine Finger nach dem Pfefferminzöl. Ich drehe die Verschlusskappe auf, lege den Kopf in den Nacken und lasse einen Tropfen auf meine Zunge fallen. Tränen schießen mir in die Augen. Der ätherische Nebel zieht in Sekundenschnelle durch meinen ganzen Kopf, den Rachen, die Nebenhöhlen, bis in die Ohren. Ich lehne mich an die Wand und schließe die Augen. In meinem Kopf wird es still. Langjährige Konditionierung macht das möglich. Allein der Geruch von Pfefferminze hat mittlerweile eine beruhigende Wirkung auf mich. Skill nennen das die Therapeuten: einen Reiz setzen, der die überstarke Spannung im Körper bei Angstzuständen regulieren soll. Es funktioniert. Nicht immer, aber zumindest jetzt, für den Moment. Langsam öffne ich meine Augen, wische mit dem Handrücken die Tränen ab. Was jetzt? Klingeln oder umkehren?
Berliner Krisendienst. Ich starre auf die Schrift, blau auf weiß. Darüber das Logo, konzentrische Kreise mit Lücken darin, wahrscheinlich wie in den Köpfen der Menschen, die hier klingeln. Die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll.
Wer hat wohl schon alles auf diesen Knopf gedrückt und warum? Ist es bei mir überhaupt schlimm genug?
Ich bin doch nur eine von Hunderten junger Frauen, die jedes Jahr nach Berlin ziehen, um sich ein besseres Leben aufzubauen, und die schließlich an einem Sonntagnachmittag feststellen, dass sie ihren ganzen seelischen Grießbrei in ihrem Koffer mitgebracht haben. Zählt das überhaupt in der Hauptstadt der Einsamkeit?
Immerhin, eine kaputte Ehe steht schon in meiner Bilanz. Und eine hübsche Reihe von Psychotherapien, aufgereiht in meinem Lebenslauf wie auf einer Perlenschnur, zwischen den Jahren 12 und 32. Sie alle haben geholfen, aber keine genug. Die Leere ist immer noch da, die wehtut, wenn alles andere still wird und man im Bett liegt und so früh wach wird, dass die feierwütige Nachbarin schräg unten links noch nicht einmal zu Bett gegangen ist. Wenn ich in letzter Zeit allein in meiner Wohnung bin, bekomme ich ernsthaft Angst, verrückt zu werden. Deshalb renne ich seit Wochen durch die Stadt, studiere Schaufenster in Einkaufscentern und Bildbände über längst verstorbene Schauspieler in den Bibliotheken, laufe über Wochenmärkte und Stadtteilfeste, nur um unter Menschen zu sein. Betont langsam, damit der Kontakt zur Welt möglichst lange hält. Abends bin ich davon so erschöpft, vom Einsam-unter-vielen-Sein, dass ich gerade noch so die Futterdosen für die Katzen öffnen kann, bevor ich mich im Mantel aufs Bett lege und bei laufendem Radio einschlafe. Mich weckt der Wetterbericht, und er ist immer schlecht. Wegen der Ängste und der Leere kann ich nicht mehr arbeiten, und ich weiß nicht, wovon ich im nächsten Monat meine Miete zahlen soll. Okay, es ist doch schlimm genug. Mein Finger ruht für drei Sekunden auf dem Klingelknopf. Nichts passiert. Ist niemand da? Gerade als ich mich umdrehen will, geht die Tür auf. Ein Mann Mitte vierzig im Wollpullover, mit Bart und Brille schaut mich an, ohne zu lächeln.
»Hallo«, sagt er. »Haben Sie einen Termin?«
Mir wird heiß und kalt zugleich.
»Nein, äh, ich komme einfach so.«
Er nickt.
»Na, dann kommen Sie rein.«
Ich mache zwei Schritte über die Türschwelle. Meine Stiefeletten sinken in blaugrauen Filzteppich.
»Einen Augenblick bitte.«
Der Krisendienstmitarbeiter deutet auf eine Reihe Sessel ohne Armlehne und verschwindet. Ich nehme Platz und sehe mich um. An der Wand hängt ein Regal mit Flyern von Selbsthilfegruppen. Rote, pinke, gelbe, blaue. Als ob Probleme weniger wiegen würden, wenn man sie auf farbiges Papier druckt. Hilfe für Depressive, Unterstützung bei Partnerschaftskonflikten, eine Selbsthilfegruppe für Alleinerziehende, eine Gruppe für Angehörige von Alkoholiker*innen, Austausch für Betroffene von Esssucht, eine Trauergruppe. Es scheint, als ob es in Berlin eine ganze Menge Menschen mit Lücken gäbe.
Der Kopf des Mitarbeiters erscheint um die Ecke: »Kommen Sie bitte?«
Ich folge ihm. Ein kleines quadratisches Zimmer, zwei sich gegenüberstehende Sessel. Typisches Therapiesetting, denke ich. Damit kenne ich mich aus. Ich schäle mich aus meinem Mantel. Interessiert, aber ohne sensationslustigen Beigeschmack, richtet der Berater seinen Blick auf mich und faltet seine Hände im Schoß.
»So …«, sagt er. »Was kann ich für Sie tun? Warum sind Sie hier?«
Eine einfache Frage. Tausend Antwortmöglichkeiten: die Trennung von meinem Mann. Der Umzug, weit weg von allem Vertrauten, ins sechshundert Kilometer entfernte Berlin. Mein Kontostand. Die Unfähigkeit, allein zu sein. Die Unfähigkeit, mit anderen zusammen zu sein. Oder die starke Anziehung, die Bahngleise und Hochhausdächer in letzter Zeit manchmal auf mich ausüben. Dabei will ich dieses Leben. Ich will es wie jemand, der Bäume umarmt und sich nicht darum schert, ob sie nass sind.
Ich seufze. Schüttele den Kopf. Öffne den Mund und schließe ihn wieder.
»Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Ich weiß einfach nicht … Wie findet man den Mut, trotz all der Angst zu leben?«
Ich wurde nicht plötzlich krank. Nicht von einem Tag auf den anderen. Obwohl manches durchaus überraschend begann. Die Panikattacken zum Beispiel. Sie kamen lautlos wie ein Greifvogel, der maximal einen Schatten vorwegwirft, bevor er zupackt. Dann waren sie da und gingen nieder, wann immer es ihnen passte. Anderes glich mehr einem langsamen Dämmern, einem kaum merklichen Verschwinden von Tageslicht. Die Depression, die dem Leben nach und nach die Leuchtkraft nahm, bis ich eines Tages aufwachte und alles nur noch eine einzige Farbe hatte: grau. Und dann war da noch das, was gar keinen richtigen Anfang hatte, sondern gefühlt schon immer da war, meine Angst vor dem Leben, meine Angst vor der Welt jenseits der Wohnungstür, Bestandteil eines jeden Tages, selbstverständlich wie das Atmen oder Niesen, und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es jemals anders gewesen war.
Therapeut*innen kritzelten Diagnosekürzel auf Klemmbretter, F 40.01, F 48.1, F 60.31, F 40.2., F 45.2, F 33. Auf dem Papier nur ein paar Buchstaben und Zahlen, würfelten meine psychischen Erkrankungen in der Realität meine Träume, Wünsche und Pläne durcheinander und machten mich zu einer, die immer ein bisschen »anders« war.
Was würden die meisten Menschen erzählen, die man nach ihrem Leben fragen würde? Vielleicht würden sie auflisten, was sie erreicht haben. Die anerkannten Punkte auf der Liste: der höchste Schulabschluss, der erste Job und der beste, die Hochzeit, die Flitterwochen auf Bali, die Kinder, erst eines, dann zwei, der Hausbau, der Labrador, die Beförderung. Mit meinen 35 Jahren kann ich nicht sehr viele Punkte davon abhaken. In meinem Fall geht es um ein Trotzdem, weil ich nicht einfach auf das Leben drauflos habe gehen können, sondern weil es immer irgendeine Umleitung gegeben hat, spärlich ausgeschildert, weil nichts sich einfach so ergab, wie es sich im Leben anderer Leute ergibt, weil da stets ein Fragezeichen stand, auch vor den Ereignissen, die selbstverständlich scheinen. Statt ins Leben zu stürmen, begab ich mich auf den Weg der Heilung, zu meinen Gefühlen, zu meiner Verletzlichkeit. Die Reise ging nach innen. Eine Richtung, die unsere Gesellschaft fast vergessen hat.
Dabei erkrankt jeder vierte Mensch in Deutschland im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung. Trotzdem trauen sich viele Betroffene nicht, offen darüber zu reden. Seelisch nicht gesund zu sein, ist noch immer mit Scham und Schuld besetzt und der Angst, im privaten und beruflichen Umfeld abgelehnt zu werden. Wer psychisch krank ist, gilt in den Augen vieler immer noch als schwach. Die Leistungsgesellschaft gibt den Ton vor. Nur wer funktioniert, ist etwas wert. Und man wird sich doch wohl ein bisschen zusammenreißen können!
Aber psychische Erkrankungen sind nicht das Resultat fehlender Willensstärke. Ganz im Gegenteil. Ein Leben mit ihnen erfordert viel Kraft. Kraft, sich auch nach Rückschlägen immer wieder aufzurappeln, den Dreck aus den Zähnen zu bürsten und weiterzumachen. Kraft, um an manchen Tagen nur robbend voranzukommen. Und Kraft, weil es immer noch viel Mut braucht, um in unserer Gesellschaft trotz und mit ihnen zu leben.
Die Schriftstellerin Virginia Woolf, die selbst an Depressionen und Schizophrenie litt, schreibt, dass die meisten autobiografischen Texte an einem Fehler kranken: Sie stellen ihre Figuren nicht vor. Die Protagonisten dieser eigenen Erinnerung beginnen einfach irgendwo, ohne Kontext, ohne Eltern, ohne Verortung, als seien sie von der Milchstraße direkt herunter auf die leeren Seiten gefallen. Dabei sind wir, was wir heute sind, nur weil wir genau die Erfahrungen in genau diesem einzigartigen Umfeld gemacht haben, in das wir hineingeboren wurden. Und um zu verstehen, warum ich mich heute so engagiert dafür einsetze, das Tabu rund um psychische Erkrankungen abzubauen, muss ich 35 Jahre zurückspulen. In eine Winternacht im Februar 1985.
Köln im Karneval, die Straßen gefüllt mit Luftschlangen und bemalten Gesichtern. Nach einem wolkenlosen Tag sank die Temperatur in der Nacht auf bis zu minus 18 Grad. Während sich in den Bars und Tanzlokalen die maskierte Menge Küsse auf diverse Körperteile drückte, kämpften mein Vater und die Hebamme mit der Heizung im Geburtshaus, die einfach nicht anspringen wollte. Mein Vater schwitzte, trotz der Kälte. Schließlich gab er das Unterfangen auf, weil meine Mutter aus dem Nachbarzimmer brüllte: »Zum Teufel mit der Heizung! Das Kind kommt!«
Erst als ich schon auf der Welt war, traf der Arzt ein, sein Gesicht geschmückt mit einem beachtlichen Veilchen.
»Habe mich das erste Mal in meinem Leben geprügelt, für meinen Sohn«, sagte er, während er meine Arme und Beine auf funktionierende Reflexe abklopfte. Und dann weinte er ein bisschen, aus Rührung, aus dem Bedauern, nicht dabei gewesen zu sein, während die Hebamme ein goldenes Herz auf meine rechte Wange malte. Als es dämmerte und sich ein weiterer sonniger Tag ankündigte, der Himmel rot, die heiseren Rufe der Raben in der Morgenluft, fuhren wir nach Hause – zu meiner großen Schwester und dem gut beheizten Wohnzimmer.
Die Erdgeschosswohnung in der Kölner Südstadt war einfach, aber gemütlich. Die Nachbar*innen ließen ihre Kinder zusammen spielen, meine Mutter malte Fensterbilder an die Glasscheiben, erst Schneemänner, dann Osterhasen. Tagsüber ging mein Vater in die Bank, abends träumte er davon, Musiker zu sein, und wenige Monate nach meiner Geburt verschwand das Lachen in seinem Vollbart und sein Mund wurde zu einem nicht mehr auffindbaren Strich darin.
Sowohl mein Vater als auch meine Mutter machten im Laufe ihres Lebens wiederkehrende Erfahrungen mit Depressionen, rezidivierend, also immer wieder auftretend, nennt man sie dann. Die Depressionen machen manchmal eine Pause, aber nach beschwerdefreien Phasen schleichen sie sich neu von hinten an.
Die Depressionen meines Vaters verschlimmerten sich, als er Mitte dreißig war, derart, dass er sich gezwungen sah, komplett aus seinem Beruf auszusteigen. Um das Einkommen der Familie zu sichern, kehrte meine Mutter in ihren alten Job im Arbeitsamt zurück. Wir zogen nach Frankfurt, in die Bankenstadt an den Ufern des Mains. Neues Domizil wurde eine Wohnung im Norden, in Sichtweite der Müllverbrennungsanlage, deren hohen Turm mit den zwei roten Lichtern an der Spitze ich später für den lieben Gott höchstpersönlich hielt. Einen Gott, vor dem es mich immer auch ein bisschen gruselte, weil der rote Blick ohne Mund nie lächelte. Kinder depressiver Eltern entwickeln nicht zwangsläufig selbst eine depressive Erkrankung – aber sie haben ein erhöhtes Risiko, ebenfalls daran zu erkranken. Viele Jahre später zeichnete eine meiner Therapeutinnen in der Klinik ein Schaubild auf ihr Flipchart: Es veranschaulicht, welche Auslöser dazu beitragen können, dass die Grenze zwischen seelischer Gesundheit und psychischer Erkrankung im Laufe eines Lebens überschritten wird. Wie ein Turm aus Bauklötzen stapeln sich diese Auslöser übereinander. Die erbliche Vorbelastung ist dabei quasi der Sockel. Andere Faktoren, wie Belastungen durch Trennungen, körperliche Krankheiten, finanzielle Sorgen oder Ähnliches kommen dazu. Addieren sich zu einer erblichen Vorbelastung noch viele weitere Bausteine, ist irgendwann ein Punkt erreicht, an dem man nicht mehr auf gesundem Weg mit den Problemen fertigwerden kann – die Seele wird krank. Gibt es neben der erblichen Belastung keine oder nur wenige Faktoren, kann eine Erkrankung aber trotz des genetischen Risikos auch ausbleiben.
Ich war keines dieser blassen, durchsichtigen Kinder, die von Anfang an sichtbar kränklich sind. Im Ostseeurlaub bei meinen Großeltern nahm meine Haut ein sattes Braun an. An jedem Strand, in dessen Sand ich meine Förmchen schlug, hatte ich schnell eine Handvoll neuer Freunde. Ich liebte Eiscreme und Pommes und die roten Hüpfbälle, die es im Kindergarten meiner Schwester gab. Nichts deutete darauf hin, dass mein Leben eine solche Berg- und Talfahrt werden würde. Das blonde Mädchen im Familienalbum stieg unerschrocken auf Kinderkarusselle und Pferderücken.
Und dann ging meine Mutter. Sie strömte mit ihren Habseligkeiten aus der Tür, eine Welle spülte sie fort, ihren Geruch, ihre Arme, ihre Lieder. Zurück blieben mein Vater, meine Schwester und ich und ein zu großes Familienbett. Alle zwei Wochen sollte es von jetzt an ein Mama-Wochenende geben, so stand es im Küchenkalender, der über der Obstschale hing, auf einer Höhe, die Kinderarme noch nicht erreichten, und gefüllt mit Buchstaben, die für mich nur rätselhafte Bilder waren.
Immer wenn ich später in meinen Therapien von diesen Ereignissen erzählte, davon, dass meine Mutter die Familie verließ, als ich zwei Jahre alt war, wurden sie mit wissendem Nicken von meinem jeweiligen Gegenüber notiert. Als erkläre das bereits alles. Dabei kann ich mich an diese Zeit, in der unsere Familie zerbrach, gar nicht bewusst erinnern. Nicht an die neun Wochen, die der endgültigen Trennung folgten und in denen es keinen Kontakt zu meiner Mutter gab, weil die Enttäuschungen zwischen meinen Eltern Schatten warfen, die zu groß waren, um darüberzuspringen. Nicht an das Packen von Taschen und an die Ausziehcouch in der neuen Singlewohnung meiner Mutter. Auch die Zeit danach bleibt lückenhaft. Die Übergaben zum Beispiel. Ich erinnere mich an Mama-Zeit und an Papa-Zeit. Die Zone dazwischen ist ausgelöscht. Als hätte es sie nie gegeben. Als wäre diese Transitzone eine Art Bermudadreieck, in dem schmerzhafte Erinnerungen und Gefühle einfach verloren gehen.
Was ich aus dieser Lebensphase weiß, erzählen meine Eltern mir getrennt voneinander, mit dem gleichen schuldbewussten Ausdruck im Gesicht. Sie hätten es gerne besser gemacht. Es bleibt eine Kindheit, in der ich lerne, dass tiefe Verzweiflung keinen geeigneten Trost erfährt. Dass Angst nicht gelindert werden kann. Dass es emotional gefährlich ist, schwach zu sein. Sich wiederholende Momente der Nähe und des Abschiednehmens, eine nicht enden wollende Schleife aus emotionalen Wechselbädern. Meine Bindungserfahrungen im Alter von zwei Jahren fallen, das lerne ich erst mit Anfang dreißig von einer Traumatherapeutin, durchaus in die Kategorie Bindungstrauma. Die meisten Menschen verbinden den Begriff Trauma mit lebensbedrohlichen Situationen, zum Beispiel Naturkatastrophen, Kriegen oder Unfällen, die in der Folge eine seelische Krise auslösen. Heute wird der Begriff von vielen Therapeut*innen noch breiter gefasst – sie unterscheiden in Schocktraumen und Entwicklungstraumen. Während Schocktraumen in wenigen Augenblicken entstehen, werden Entwicklungstraumen in der Kindheit über einen längeren Zeitraum verursacht. Wenn ein Kind dauerhaft Angst und Stress ausgesetzt ist, kann es keine oder keine ausreichend sichere Bindung zu seinen Bezugspersonen aufbauen. Oft reichen die Ereignisse bis in die Zeit zurück, in der sprachliche Entwicklung und Erinnerungsvermögen noch gar nicht ausgereift sind, und entsprechend schwer ist es später, Bilder oder gar Worte für diese Gefühle zu finden. Dennoch bilden diese ersten Erfahrungen die Grundlage für emotionale Muster und Schmerztrigger, die auch viele Jahre später immer wieder aktiviert werden können.
Diese frühkindlichen Verletzungen sind emotionale Seebeben, die zunächst unbemerkt ablaufen, irgendwo in der Tiefe. Etwas verschiebt sich, große, schwere Massen, aber die Wasseroberfläche beruhigt sich scheinbar, schließt ihr leuchtendes Blau über den Verwerfungen. Was mir aus diesen ersten Lebensjahren blieb, war eine Seele, in die Schönes wie Schlimmes gleichermaßen stärker sickerte als vor diesem Ereignis. Ich begann, den Tagen skeptisch zu begegnen, tastete mich bis zu ihren Rändern vor und spähte hinein – würde es ein harmloser Tag werden oder einer, der mir wehtat? Die Welt war keine Selbstverständlichkeit mehr, ihre Weite machte mir Angst, eine Angst, die nichts Konkretem galt, sondern allem. Sie lagerte sich überall ab, an manchen Stellen in höherer Konzentration, an der Wohnungstür zum Beispiel. Jedes Mal, wenn ich die Tür unserer Wohnung im zweiten Stock hinter mir zuzog, erfasste mich ein namenloses Unbehagen.
Bei Kindern kann der Zusammenhang zwischen Körperempfindung und seelischer Stimmung oft ganz offensichtlich sein – manchmal sind sogar die körperlichen Symptome das Einzige, was auf ein Gefühl hindeutet, weil die Fähigkeit zur Benennung von Angst, Wut oder Traurigkeit noch fehlt. Dann bleibt nur noch das Körpersignal übrig. Somatisieren heißt der Fachbegriff dafür: Die Emotion drückt sich über den Körper aus. Als psychosomatisch werden immer wieder auftretende Beschwerden dann bezeichnet, wenn keine ausreichende organische Erklärung gefunden werden kann – so auch in meinem Fall.
Mir wurde schlecht, wenn ich auf die Straße trat, mir wurde schlecht, sobald ich unser Zuhause verließ, und manchmal auch einfach auf dem Weg zu einer Freundin, im Auto oder wenn ich mit meiner Schwester unten im Hof mit Kreide Sonnen und Blumen und Regenbögen auf den Asphalt malte. Und je öfter mir schlecht war, umso mehr Angst entwickelte ich davor, mich übergeben zu müssen. Meine Befürchtung, jederzeit könne etwas Fürchterliches, Unkontrollierbares über mich hereinbrechen, das mich in großes Leid stürzen würde, schaffte es irgendwie, sich auf den Vorgang des Erbrechens zu übertragen. Kotzen wurde zu meinem Erzfeind. Kotzen, das war undenkbar, das war der schlimmstmögliche Fall. Es durfte einfach nicht passieren. Schon gar nicht vor anderen Menschen. Schon gar nicht irgendwo anders als zu Hause, dem einzigen Ort, an dem ich mich halbwegs sicher fühlte.
Vom Kindergarten musste mein Vater mich deshalb regelmäßig abholen. Als ich in die Grundschule kam, wurde daraus ein tägliches Ritual: jeder Schultag ein Kampf, selbst der Freitag, an dem nur eine Doppelstunde Deutsch auf dem Stundenplan stand. Etliche Stunden verbrachte mein Vater in Elternsprechstunden, um mit den Lehrer*innen und der Schulleiterin eine Lösung zu finden. Trotzdem blieb es ein wackeliges Unterfangen, ein tägliches Hoffen und Bangen, wenn er mich morgens mit einem kleinen Schubs durch das Schultor schob und nie wusste, ob ich nicht schon eine Stunde später wieder an der Tür klingelte. Natürlich bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Natürlich fiel mir immer mehr auf, dass ich die Einzige war, die von den Kindergeburtstagen früher abgeholt werden musste. Es wunderte niemanden mehr, wenn mein Vater seinen Kopf durch die Tür unseres Klassenzimmers steckte, um mich abzuholen. Aber der Tag, an dem ich begann, mich wirklich dafür zu schämen, war der Tag der Schultheateraufführung.
»Haben Sie irgendjemanden in der Nähe des Löwenkäfigs bemerkt?«
Als diese Worte meinen Mund verließen, spürte ich, es würden die letzten sein, die ich an diesem Nachmittag auf der Bühne in der Mitte des Musiksaals meiner Schule sprechen würde. Meine Stimme klang dumpf in meinen Ohren. An meinem etwas zu großen Jackett glänzten goldene Knöpfe. Ich saß auf der Bühne an einem Holztisch, mir gegenüber eine Klassenkameradin.
»Nein, ich habe niemanden gesehen«, sagte sie. Und lächelte. Sie lächelte und ihre Arme lagen auf dem Tisch, schwer und weich. Wie anders sie war! Oder besser, wie anders ich war! Nichts an mir war weich, jeder Muskel an meinem Körper schmerzte. Ich konnte kaum noch etwas anderes denken als: Wie komme ich hier raus? Dabei war es mein großer Tag. Ich war die Kommissarin im Schultheaterstück. Die Kommissarin, das war die Hauptrolle. Entsprechend stolz war ich, hatte wochenlang meinen Text geübt, konnte ihn im Schlaf aufsagen. Aber jetzt, mitten im Verhör der Löwendompteurin, stockte ich. Was ich hatte, war kein Lampenfieber. Ich war neun Jahre alt und hatte eine Angststörung mit Emetophobie, einer Phobie vorm Erbrechen. Allerdings wusste das keiner, ich zumindest nicht, und es sollte noch fast acht Jahre dauern, bis ich herausfinden würde, dass diese Angst einen Namen hat, acht Jahre, bis das Internet langsam die heimischen Wohnzimmer erobern und ich »Angst vorm Erbrechen« in das freie Feld einer Suchmaschine eingeben würde.
Für den Moment der Theateraufführung half das wenig. Ich rutschte auf meinem Holzstuhl hin und her. Meine Klassenlehrerin, Frau Schmalenbeck, saß mit dem Text in der ersten Reihe, um uns im Notfall zu soufflieren. Sie nickte mir aufmunternd zu. Alle Augenpaare richteten sich auf mich. Die meiner Schulkamerad*innen und deren Eltern, die meiner Lehrerin, sogar die meiner Großeltern, die gerade zu Besuch waren. Und schließlich die meines Vaters und meiner Mutter, ein seltsames Gefühl, denn gleichzeitig schauten diese beiden Menschen mich eigentlich nie an. Ich wollte endlich einmal richtig sein. Sie stolz machen. Aber das Problem war – ich war nicht allein auf dieser Bühne. Die Angst hatte sich neben mir niedergelassen. Ihr Text war immer der gleiche: »Du wirst dich übergeben. Vor all diesen Menschen.«
Sie hatte bereits mehrmals Anlauf genommen, als brennender Ball in meinem Magen, als kalte Schauer, die über meinen Rücken jagten, als überflüssige Watte in meinen Kniegelenken. Sie hatte sich pfeifend auf der Tischplatte niedergelassen und spielte jetzt mit meinem Haar. Ihre Finger glitten meine Stirn entlang, meine Schläfen, streiften mit spitzen Fingernägeln an meinem Kieferknochen entlang. Meine Gesichtsnerven zogen sich zusammen, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. In meinem Mund sammelte sich Speichel. Zu viel Speichel. Spucke wie die, die der Körper reflexartig produziert, um die Speiseröhre zu schützen, wenn man sich übergeben muss. Spucke war ein Warnsignal. Spucke war das Zeichen zur Flucht. Ich musste hier raus. S-O-F-O-R-T. Der Stuhl kratzte über die Dielen, als ich aufstand. Ich schaute zu meiner Lehrerin und schüttelte den Kopf.
Vor den Augen der versammelten Elternschaft flüchtete ich aus dem Musiksaal, mein Blick nur noch ein Tunnel, am Ende die fluchtversprechende Tür, die ich aufstieß und hinter mir zuschlug. Das letzte Bild, das durch den Türrahmen aufblitzte, war meine Klassenlehrerin, die mit dem Text auf die Bühne eilte, um meinen Platz einzunehmen.
Ich stürmte auf die Toilette. Übergeben musste ich mich nicht. Mit zitternden Fingern saß ich eine Weile auf dem geschlossenen Klodeckel. Ein Wasserhahn tropfte. Ansonsten war es still. Raus traute ich mich nicht, also blieb ich eine Weile in meinem Versteck und baute weiße Schiffe aus Klopapier. Weil ich nicht für immer auf der Toilette bleiben konnte, wagte ich mich schließlich doch nach draußen, setzte mich auf die Treppen vor dem Schulgebäude und wartete. Wartete, ja, worauf? Dass die Übelkeit wegging? Dass jemand kam, um mich zu trösten? Dass endlich irgendwer diese schreckliche Angst aus mir herausholte, damit ich wieder das tun konnte, was ich wollte, und nicht das, was die Angst mir diktierte? Die Steintreppe war kalt, ich fror.
Nach einer Weile erschien meine Musiklehrerin neben mir. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und suchte nach tröstenden Worten. Ich schluckte meine Tränen herunter und zuckte mit den Schultern. Ihre Worte prallten an mir ab wie an Glas. Zwischen den anderen und mir war ein Raum entstanden, der uns voneinander trennte.
Je unsicherer ich im Kontakt mit der Welt wurde, umso wichtiger wurde mein Zuhause für mich. Die Wohnung war mein Schutzraum, mein sicherer Ort.
Wenn der Tag vorüber war, alle Ängste, alle Prüfungen vorbei, dann huschte ich unter meine Bettdecke und mein Vater ließ uns ein Buch aussuchen, aus dem er uns vorlas. Meistens entschieden wir uns für Frederick. In der Geschichte von Leo Lionni sammelt eine Mäusefamilie Vorräte für den Winter: Früchte, Nüsse, Körner. Nur Mäuserich Frederick macht nicht mit, er sitzt ganz still auf einem Fels, und als seine Familie ihn fragt, was er da tut, sagt er, er sammele Farben und Wörter und Sonnenstrahlen. Später, als die Vorratskammer im Winterversteck längst leer gefressen ist, packt Frederick seine Vorräte aus: Hoffnungen und Träume, die die hungernden Mäuse von innen wärmen. Für die Gemeinschaft hat es großen Wert, Dichter und Denker in ihren Reihen zu haben. Wenn mein Vater das Buch zuklappte, löschte er die Nachttischlampe und auf dem Teppich erschien das vertraute Muster, das Fenstersprossen und Mondlicht auf den Teppich malten. Ich lauschte den regelmäßigen Atemzügen meiner Schwester und ließ meinen Körper langsam schwer werden, schwer und warm, bis die Striche und Kreise vor meinen Augen zu tanzen begannen und der Schlaf wie eine Woge über mich kam.
Mein Vater, meine Schwester und ich, wir waren jetzt ein Trio, wir versuchten, das Beste aus der Situation zu machen, und ich dachte, dass das immer so weitergehen würde. Aber das tat es nicht.
»Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte mein Vater an einem Nachmittag im August. »Sie ist sehr nett und hat drei Töchter.«
Das ganze Wohnzimmer war warm, der Parkettboden knackte, Staub tanzte in der Sonne. Ich war müde und saß unter der Decke auf den Knien meines Vaters. Für mich hätte er genauso gut sagen können, dass wir morgen Drachen steigen lassen oder in den Ferien zu Oma und Opa fahren würden. Ich verstand überhaupt nicht, was diese Worte bedeuten sollten.
Dann ging alles rasend schnell. Wir fuhren zu einem fremden Haus mit einer fremden Frau darin, wir verbrachten mit drei blonden Mädchen ein paar Abende auf einem Trampolin im Garten und sollten plötzlich eine Familie sein. Schließlich nahm mein Vater uns mit in das neue, zukünftige Haus, vor dem drei Birken standen. Die Zimmer durften wir uns aussuchen, es waren schöne Zimmer, viel größer, als wir es gewohnt waren, die Teppichböden hatten leuchtende Farben, aber für mich war das alles leblos, ein Haus, das nicht zu mir gehörte und in das ich nicht hineingehörte, eines, das keinen Schutz bot. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es unsere kleine Wohnung in Frankfurt-Heddernheim einfach nicht mehr geben sollte. Aber mein Vater begann, die Möbel abzubauen und unsere Habseligkeiten einzupacken, und in den leeren Räumen klangen unsere Schritte laut und falsch. Unsere Sachen wurden in einen großen Umzugswagen getragen, während das Wichtigste, die Wärme, zwischen den weißen Wänden zurückblieb.
Das neue Viertel, in dem wir wohnten, lag in einem dieser Frankfurter Stadtteile, die mehr oder weniger gesichtslos sind, weder Dorf noch wirkliche Großstadt. Wenn ich wegen der Angst und der Übelkeit von der Schule früher nach Hause kam, als der Stundenplan es vorsah, streifte ich viele Stunden durch die Straßen rund um unser Haus. Ich kannte die Schleichwege, die Vorgärten, die Hinterhöfe, ich wusste, wie sich das Mauerwerk auf Schulterhöhe eines Schulkindes anfühlte. Meine Finger wanderten die Straßen entlang, streiften Zäune, regennasse Rhododendren, den Rauputz von Garagen und die glatten Kacheln an den Fassaden der Fünfzigerjahrebauten. Ich kannte das alles so gut, weil ich mich nicht traute, nach Hause zu gehen. Ich fürchtete die Enttäuschung auf dem Gesicht meines Vaters, manchmal auch die Wut darüber, dass ich schon wieder früher von der Schule zurückkam. Meine Schwestern gingen jeden Tag zur Schule und kamen erst wieder, wenn sie sollten. Warum gelang mir das nicht? Aber wie lange ich auch Haken schlug und Zeit verbummelte, es half nichts – am Ende musste ich doch heim. Tagsüber war das Haus sehr still, beinahe unbewohnt. Ich fühlte mich darin wie ein Eindringling. Ich hätte nicht hier sein sollen, sondern in einem Klassenraum, und zu jeder Sekunde, die ich in meinem Zimmer saß, wusste ich das. Diese Vormittage waren eine Zeit der Buße – an nichts durfte ich Freude haben, an keinem Lied im Radio und keinem Buch und keinem guten Gedanken. Ein Gefühl von Schuld schlich um mich wie ein kalter Wind ums Haus.
Was psychische Erkrankungen von vielen körperlichen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie von außen kaum sichtbar sind. Kein Messinstrument fängt sie ein, kein Blutbild zeigt an, wie schwer sie sind. Für Außenstehende ist es leicht, sie zu unterschätzen. »Reiß dich doch mal zusammen« ist ein Satz, den ich im Laufe meines Lebens oft zu hören bekomme. Dabei verweigerte ich mich nie, weil ich eine Rebellin sein wollte, weil ich keine Lust hatte oder den Sinn in den Dingen, die ich tun sollte, nicht sah. Im Gegenteil! Ich wollte unbedingt zur Schule gehen. In den Chor und zum Geburtstag meiner Freundin. Aber meine Angst ließ mich nicht. Und immer öfter ließ sie mich auch nicht essen. In meiner kindlichen Logik legte ich mir ein Konzept zurecht: Wo ich nichts reinsteckte, kam auch nichts wieder heraus, sprich, solange ich nichts aß, konnte ich auch nichts erbrechen. Bei jedem leisen Anflug von Übelkeit stellte ich die Nahrungszufuhr sofort rigoros ein. An besseren Tagen aß ich zumindest helle Lebensmittel: Weißbrot, Milch, Bananen. Die sahen weniger eklig aus, falls sie wieder hochkommen sollten. Auf diese Weise wurde ich mit der Zeit dünner und dünner. Armreifen rutschten mir einfach von den Handgelenken, die Kleider, die ich trug, wurden mit der Zeit eher zu groß als zu klein.
Als ich mit 18 im Internet entdecke, dass es für meine Phobie einen Namen gibt, Emetophobie, und feststelle, dass es noch mehr Menschen gibt, die an dieser übersteigerten Angst vor dem Erbrechen leiden, nämlich geschätzt sechs Prozent der weiblichen Bevölkerung in Deutschland, falle ich aus allen Wolken. Viele Leidensgeschichten, die ich im Netz lese, gleichen der meinen, und viele Emetophobiker*innen sind oder waren im Laufe ihres Lebens untergewichtig und erhalten fälschlicherweise die Diagnose Magersucht. Essgestört im klassischen Sinne sind die meisten Brechphobiker*innen nicht. Sie haben keine gestörte Körperwahrnehmung, sie erkennen, wie dünn sie sind, und sie wollen auch gar nicht abnehmen. Ihr niedriges Gewicht resultiert aus übertriebener Vorsicht und Vermeidungsverhalten.
Meine Eltern kochten mein Lieblingsessen, versuchten es mit Liebe, dann mit Strenge. Aber wenn meine Angst das Ruder übernahm, war nichts zu machen. Dann saß ich auch stundenlang vor einem halb leeren Teller, während draußen die Sonne langsam zwischen den Zweigen verschwand und die ersten Straßenlaternen ihre Lichtkegel auf die Gehwege warfen.
Ich glaube, dass es im Leben jedes Menschen zwei Spuren gibt. Eine Leidspur und eine Lichtspur. Leid gehört dazu, niemand kommt ganz ohne aus. In manchem Leben schwappt es in flachen Wellen hoch, in einem anderen mit Wucht und Gischt und Schaum, die die Augen verkleben und Salz bis in die Lunge treiben. Und deshalb ist da noch etwas anderes, muss es noch etwas anderes geben. Etwas, das größer ist als man selbst, etwas, das man anzapfen kann, eine Lichtspur, der man folgen kann, die Richtung gibt und aufrichtet, was der nächtliche Sturm zerknickt und zur Seite gebogen hat. Sicher, dass ich meine Lichtspur finde und ihr folgen kann, waren sich nicht immer alle. Mein Vater sagte an meinem 26. Geburtstag zu mir, dass es Zeiten gab, in denen er sich nicht sicher war, ob ich diesen Tag überhaupt erleben würde. Komischerweise hatte ich daran nur selten Zweifel. Meine Lichtspur entfaltete sich so rasch und klar vor meinen Augen wie ein Wurfzelt. Sie entwickelte sich nicht trotz, sondern wegen der gesteigerten Empfindsamkeit meiner Seele. Denn was mich einerseits aushöhlte, mich meinen Ängsten schutzlos auslieferte, hatte eine Kehrseite, funktionierte genauso auch in die andere Richtung: Ich fühlte sehr viel und ich fühlte sehr tief. Menschen, Bücher, Lieder, Augenblicke konnten mich mit einer Intensität berühren, die ich fast mit den Händen greifen konnte. Sie leuchteten mir entgegen, schon auf Meilen zu sehen und unmissverständlich, und ich fand in der Natur, in der Kunst und in etwas, das ich heute Spiritualität nennen würde und das damals gar keinen Namen brauchte, alles, was mir die Kraft gab, trotz allem weiterzumachen.