Die Wahrheit über IKEA - Johan Stenebo - E-Book

Die Wahrheit über IKEA E-Book

Johan Stenebo

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Beschreibung

IKEA ist eines der verschwiegensten Unternehmen der Welt. Für sein gutes Image tut es fast alles, mit Erfolg. Ist wirklich alles sauber bei den freundlichen Schweden? Nein, sagt Johan Stenebo, der Topmanager bei IKEA war. Er zeigt, dass sich hinter der blaugelben Fassade des Konzerns Abgründe auftun. Frauen und Nichtschweden werden diskriminiert. Ob es um Daunen lebend gerupfter Gänse geht oder um Holz aus Urwaldbeständen in Asien - billiges Material scheint vor Moral zu gehen. Und IKEAGründer Kamprad möchte die Macht im Konzern an seine Söhne vererben, die in Sitzungen schon mal durch ihr Schnarchen auffallen. Stenebo berichtet offen und schonungslos von seinen 20 Jahren im innersten Machtzirkel des Möbelgiganten. Sein Buch ist das erste Enthüllungsbuch über IKEA aus der Feder eines Insiders. Wer es liest, wird die blau-gelbe Fassade zukünftig mit ganz anderen Augen betrachten.

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Information zum Buch

IKEA ist eines der verschwiegensten Unternehmen der Welt. Für sein gutes Image tut es fast alles, mit Erfolg. Ist wirklich alles sauber bei den freundlichen Schweden? Nein, sagt Johan Stenebo, der Topmanager bei IKEA war. Er zeigt, dass sich hinter der blaugelben Fassade des Konzerns Abgründe auftun. Frauen und Nichtschweden werden diskriminiert. Ob es um Daunen lebend gerupfter Gänse geht oder um Holz aus Urwaldbeständen in Asien - billiges Material scheint vor Moral zu gehen. Und IKEA-Gründer Kamprad möchte die Macht im Konzern an seine Söhne vererben, die in Sitzungen schon mal durch ihr Schnarchen auffallen. Stenebo berichtet offen und schonungslos von seinen 20 Jahren im innersten Machtzirkel des Möbelgiganten. Sein Buch ist das erste Enthüllungsbuch über IKEA aus der Feder eines Insiders. Wer es liest, wird die blau-gelbe Fassade zukünftig mit ganz anderen Augen betrachten.

Informationen zum Autor

Johan Stenebo hat 20 Jahre in leitenden Funktionen bei IKEA gearbeitet.

Er hat Möbelhäuser geführt, war Ingvar Kamprads persönlicherAssistent, IKEAs Geschäftsbereichsleiter für Aufbewahrungs- und Esszimmermöbel und zuletzt Geschäftsführer der firmeneigenen Investmentgruppe IKEA Greentech. Stenebo ist Mitgründer und Senior Partner des Beratungsunternehmens Retail Factory AB mit Sitz in Stockholm.

Johan Stenebo

Die Wahrheit über IKEA

Ein Manager packt aus

Aus dem Schwedischen von Swantje Marschhäuser

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2010. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

ISBN der Printausgabe: 978-359-3-39246-2

E-Book ISBN: 978-3-593-41035-7

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

|5|Für meine geliebte Mutter Christina (1927–1971), die mich alles lehrte, was ich über die Kraft des guten Gewissens weiß.

»Wer sich durchsetzt, hat Willen.

Wer sich genügen lässt, ist reich.

Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.

Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt.«

Laotse, Tao Te King, Vers 33

|9|Vorwort

Ich verließ IKEA zum Jahreswechsel 2008/2009, nachdem ich 20 Jahre dort gearbeitet hatte. Aber meine Erinnerungen an das Unternehmen blieben zurück, und das überraschte mich ein wenig. Vergangene Erlebnisse tauchten wieder auf, neue Muster und Zusammenhänge nahmen Form an. Sie erschütterten mein Bild von IKEA. Neue Fragen verlangten nach Antworten, und nun, da ich das Unternehmen von außen sehen und bis auf seinen Grund durchschauen konnte, veränderte es sich. Eine neue Wahrheit über meinen alten Arbeitgeber kam ans Licht. Ich möchte betonen, dass dies meine Wahrheit ist. Sie beruht vollständig auf meinen zwei Jahrzehnten in den Korridoren der Macht bei IKEA.

Ich danke Stefan, Maria und Madeleine für ihre Hilfe bei der Entstehung des Buches. Ebenso meinen Kollegen Mikael Bragd und Göran Swedérus von der Retail Factory AB, ohne deren Rat und Tat ich allein dagestanden hätte. Natürlich auch meinen Lektoren Björn Öberg und Susanne af Klercker, die mein Manuskript erfolgreich veredelt haben, Rechtsanwalt Dan Engström für all seinen Rat, Martin Jonsson und Ola Mork von der Morkman AB und last, not least allen Mitarbeitern der Forma Publishing Group, die dieses Buch in nur wenigen Monaten möglich machten.

Johan Stenebo

|11|Einleitung

Der kleine Mann, der mich begrüßte, war von der Personalabteilung in Älmhult ausgesandt worden. Er entsprach allen meinen Vorurteilen über die IKEA-Leute. Ein dicker Klumpen Kautabak verbarg den größten Teil seiner oberen Zähne und färbte den Rest braun. Er trug ein Paar klappernder schwarzer Holzschuhe, ein marineblaues Hemd mit einem riesigen Kragen, Schulterklappen und eine schlecht sitzende Kordhose. Mitten im Yuppierausch der 80er Jahre war er ein wirklich ungewöhnlicher Anblick. Damals waren Zweireiher aus glänzendem Stoff mit ordentlichem Schlag und eine bunte Krawatte ein Muss für jeden Unternehmensangestellten, nahezu unabhängig von seiner Position. Aber eindeutig nicht bei IKEA, stellte ich fest, bevor ich Platz nahm.

Die Aufgabe des IKEA-Mannes war es, mich einen Fragebogen ausfüllen zu lassen, ein Polaroidfoto zu machen und einige Standardfragen zu stellen. Letzteres vermutlich, um die schlimmsten Krawallmacher so früh wie möglich auszusieben. Offensichtlich bestand ich die Prüfung, denn einige Wochen später wurde ich ins IKEA-Büro in Helsingborg bestellt. Ich war gelinde gesagt erstaunt. Heute kann ich zugeben, dass ich meinen glänzenden Anzug für etwas sehr viel Einfacheres zu Hause gelassen hatte, aber verglichen mit dem Personalmenschen war ich dennoch hoffnungslos overdressed gewesen.

Meine Arbeit bei der Kaufhauskette Åhléns gefiel mir nicht. Die IKEA-Annonce, in der »Schlüsselfiguren der 90er Jahre« gesucht wurden, hatte meine damalige Freundin Eva durch Zufall in Dagens Nyheter, einer großen schwedische Tageszeitung, gefunden. Dann quengelte sie in ihrem singenden Dalarna-Dialekt so lange herum, bis ich halb widerwillig |12|meine Bewerbung losschickte, die ich auf der IBM-Schreibmaschine meines Vaters geschrieben hatte.

Die Vorbilder der Ökonomiestudenten meiner Generation waren Gordon Gekko, Anders Wall und Erik Penser, aber bestimmt nicht Ingvar Kamprad. Unternehmertum klang ein bisschen nach Kleinkrämerei. Flotte Dienstwagen und glänzende Anzüge lockten uns mehr als Holzschuhe und Kautabak. Mit anderen Worten war ich zumindest unschlüssig in Bezug auf IKEA, auch nachdem ich meine Bewerbung in den Briefkasten geworfen hatte.

»Wie zum Teufel kann man so etwas schreiben?« Anders schlug sich vor Lachen auf die Schenkel, als er mir gegenübersaß, meine Bewerbung vor Augen. »Ich gehöre zu den absoluten Spitzenreitern im Fach Ökonomie, aber ich bin trotzdem bescheiden«, zitierte er, unaufhörlich lachend und mit Kautabak im ganzen Mund. Jeden Versuch einer Erklärung wies er zurück. Wüsstest du nur, dass ich als 25. auf der Warteliste in Wirtschaft nachgerückt bin, dachte ich sauer.

Anders Moberg war der Konzernchef von IKEA. Natürlich war ich erstaunt, als er den Raum betrat, aber diese Situation entstand so plötzlich, dass ich gar keine Zeit hatte, nervös zu werden. Anders war ein großer, athletischer Kerl, etwas über dreißig Jahre alt, unverschämt elegant, mit ansteckendem Lächeln und einem Charisma, das den ganzen Raum ausfüllte. Er stellte mir einige Fragen, von denen »Was entscheidet darüber, ob ein Einzelhandelsunternehmen erfolgreich wird?« noch die verzwickteste war. Meine Antwort damals lautete, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens von dessen Logistikfluss abhängig wäre. Jan-Eric Engqvist, Personalchef des Konzerns, der auch am Gespräch teilnahm, erzählte, dass Anders mich aus Tausenden von Bewerbern handverlesen hätte. Plötzlich ergriff Anders wieder das Wort, legte den Kopf leicht schräg, beugte sich vor und zeigte auf mich – die ganze Zeit mit diesem breiten, kautabakgefärbten Lächeln im Gesicht: »Verdammt, du bist so großkotzig, dass wir dich nach Deutschland schicken werden.«

Ob das gute oder schlechte Neuigkeiten waren, wusste ich damals nicht. Aber ich verstand, dass ich gerade angestellt worden war.

»Übrigens, Jan-Eric, kann Anders nicht Johans Mentor sein?« Dieser |13|Anders war Anders Dahlvig, damals Mobergs und Ingvar Kamprads gemeinsamer Assistent (später war er zehn Jahre lang IKEAs Konzernchef und schied zum 31. August 2009 aus).

Dass dies der Anfang einer 20 Jahre währenden Reise sein würde, bei der ich die fantastische Erfolgsgeschichte IKEAs von innen erleben durfte, konnte ich damals nicht ahnen. Während meiner Zeit im Unternehmen stieg der Umsatz von 25 Milliarden Schwedischen Kronen auf 250 Milliarden, die Zahl der Angestellten von 30 000 auf 150 000, und die Zahl der Einrichtungshäuser von etwa 70, die sich größtenteils in Nordeuropa konzentrierten, auf heute 250 weltweit. Diese Expansion und dieser Erfolg suchen ihresgleichen, und zweifellos ist IKEA das größte schwedische Unternehmenswunder der modernen Zeit.

Ich durfte dabei sein und, so hoffe ich, auf unterschiedlichen Positionen im Unternehmen zu diesem beispiellosen Erfolg beitragen: Ich war Möbelchef im Einrichtungshaus Wallau, Deutschland, Verkaufsleiter für Wohnzimmer im Vertriebsbüro in Helsingborg, Projektleiter und dann Einrichtungshauschef in Leeds, England, Geschäftsbereichsleiter für Aufbewahrung, Media- und Esszimmermöbel bei der IKEA of Sweden AB (IOS) in Älmhult und Geschäftsführer bei der IKEA GreenTech AB in Lund. Ich durfte sogar in die Fußstapfen meines Mentors Anders Dahlvig treten: Mitte der 90er Jahre war ich drei Jahre lang gemeinsamer Assistent von Ingvar Kamprad und Konzernchef Anders Moberg. Mit beiden arbeitete ich sehr eng zusammen, zeitweise rund um die Uhr. Während dieser Zeit war ich auch für die Konzernstäbe für Umwelt, PR und Kommunikation verantwortlich.

In all diesen Jahren erhielt ich einen tiefen Einblick in das Unternehmen und das Wesen seines Gründers. Ich konnte den Aufstieg IKEAs zum leuchtendsten Stern auf dem globalen Einrichtungsmarkt aus der Nähe erleben. Von den Eindrücken, die ich während dieser Zeit gewann, handelt mein Buch.

Weshalb schreibt man ein Buch über seinen ehemaligen Arbeitgeber? Diese Frage ist mehr als berechtigt. Aus Bitterkeit, weil man sich |14|ungerecht behandelt fühlt? Aus Gier, weil man weiß, dass sich Gerüchte verkaufen? Nichts davon trifft in meinem Fall zu. Warum lasse ich IKEA nicht einfach hinter mir und mache mit meinem Leben weiter? Ganz einfach: Weil mir bestimmte Dinge im Unternehmen keine Ruhe lassen. Nachdem ich bei IKEA aufgehört hatte, fing ich an, über den Weg nachzudenken, den ich gegangen war – über alle Freude und alles Leid, über meine Kollegen und all die Aufbrüche zu Zielen, von denen niemand wusste, ob es sie wirklich gab. Nach und nach begann ich, das Unternehmen mit anderen Augen zu sehen als zu den Zeiten, da ich ein Teil der »IKEA-Familie« war, wie Ingvar es nennt. Mein neues Bild von IKEA unterschied sich deutlich von dem alten. Und ich begriff, dass ich meine Erlebnisse und Gedanken aufschreiben musste. Alles, was ich im Buch schildere, habe ich selbst erlebt, oder es handelt sich um Situationen, die Kollegen mit sehr großer Glaubwürdigkeit bezeugt haben.

Alle Welt schaut mit Bewunderung auf IKEA. Die langjährigen Erfolge des Unternehmens auf den unterschiedlichsten Gebieten blenden die Betrachter. IKEA ist das gute Unternehmen, das keine Fehler macht und jederzeit die Umwelt und die sozialen Fragen in den Vordergrund stellt. Es verbrennt sich nie die Finger, wenn Umweltschützer Alarm schlagen oder die Medien zur Jagd blasen. Sein genialischer Gründer ist zur schwedischen Nationalikone geworden. Es hat eine extrem starke Unternehmenskultur, welche die 150 000 Mitarbeiter bis in die Fingerspitzen durchdringt. IKEA ist eine strahlende Sonne am Unternehmenshimmel, an dem sich, besonders in letzter Zeit, schmutziggraue Wolken zeigten. Doch heute weiß ich, dass dieses Bild nicht der Wirklichkeit enspricht. Die IKEA-Sonne ist zwar schön und in vielerlei Weise großartig – aber sie hat Flecken.

Mein Buch handelt von diesen Flecken. Um sie erkennen zu können, benötigt man einen Blick hinter die Kulissen, darauf, wie das Unternehmen funktioniert. Man muss die Mechanismen verstehen, die IKEAs Erfolge möglich gemacht haben. Und man muss begreifen, welche Haltungen und Wertvorstellungen der Entscheidungsträger IKEAs sagenumwobene und äußerst starke Unternehmenskultur geschaffen haben.

|15|Es ist sehr wichtig, Klarheit über große Unternehmen und deren Handeln zu gewinnen, genauso, wie wir andere bedeutende Machtfaktoren in unserer Gesellschaft zu verstehen versuchen. Das kann mühsam und sogar mit einer gewissen Gefahr verbunden sein, aber dies ist kein Grund dafür, es zu unterlassen. Ohne das Durchleuchten der Machtfaktoren, welche die Gesellschaft beeinflussen, wachsen schnell undurchdringliche Kolosse heran. Giganten, die vollkommen andere Pläne und Ziele haben als die übrige Gesellschaft. Es gehört zur Natur der Marktwirtschaft, dass ein Unternehmen nur nach seinem eigenen Vorteil strebt. Dies ist die wichtigste, vielleicht die einzige Spielregel der Wirtschaft. Die einzigen Dinge, die Unternehmen davon abhalten, in reinen Narzissmus zu verfallen, sind zum einen die Gesetzgebung, zum anderen – und mindestens genauso wichtig – die Kontrolle durch die Medien. Genau wie andere Unternehmen hat IKEA immer sein Bestes vor Augen. Daran ist nichts Merkwürdiges, aber wenn seine Pläne sich negativ auf seine Umgebung auswirken, wird es ernst. Noch schlimmer ist, dass IKEA vielleicht das verschlossenste Unternehmen der Welt ist, bezogen auf seine Größe. Das führt dazu, dass es keinem Journalisten jemals gelungen ist, seine massive blau-gelbe Fassade zu durchdringen. Deshalb gibt es bislang auch keinerlei Ansätze zu einer sachkundigen Diskussion über IKEAs Aktivitäten und Zukunft. Und als Mitarbeiter von IKEA ist man zum Schweigen verdammt.

Ich meine, dass das heutige Bild von IKEA unangemessen oberflächlich und unsachlich ist. Das Unternehmen unternimmt große Anstrengungen, um das rosa schimmernde Bild aufrechtzuerhalten. Ich weiß das, weil ich selbst an diesen Anstrengungen mitgewirkt habe. Während der Phase in den 90er Jahren, als IKEA von Medienkrise zu Medienkrise schlitterte, war ich für PR und Kommunikation sowie für Umweltfragen des Konzerns verantwortlich. Zugleich war ich der Assistent von Ingvar Kamprad und dem damaligen Konzernchef. IKEAs enormes Vermögen, ein gutes Bild von sich selbst zu zeichnen, ist in unserer von den Medien überwachten Gesellschaft zwar imponierend, doch es ist auch unheilvoll. Trotzdem haben die Wirtschaftsjournalisten jahrelang das Bild, das IKEA von sich selbst |16|gemalt hat, akzeptiert. Vielleicht aus Angst vor dem Giganten Kamprad, vielleicht, weil sie es nicht besser wussten – darüber bin ich mir nicht ganz im Klaren.

Es ist mir durchaus bewusst, dass Ingvar Kamprad und sein IKEA zu Schwedens größten Nationalheiligtümern gehören. Wir reden von einer Marke, die so stark ist, dass sie das kleine Schweden überall in der Welt auf die Karte setzte. Kritische Gedanken wie meine wecken deshalb bei manchen Empörung, um nicht zu sagen Wut. Der Deckel soll drauf bleiben, man soll bloß die Klappe halten, weil Ingvar Kamprad doch so große Bedeutung besaß. Nicht nur für eines der größten Unternehmen des Landes, sondern für das Land als solches. Aber ich meine, dass Erfolg eher verpflichtet, als dass er ein Alibi liefert. Ende der 90er Jahre formulierte ich gemeinsam mit zwei Mitarbeitern die Strategie »Alles, was IKEA macht, muss einer Prüfung standhalten«. Bei IKEA war das seinerzeit bahnbrechend. Es beinhaltete zum Beispiel, dass wir drei einen aktiven und kompromisslosen Standpunkt gegenüber der Kinderarbeit einnahmen, was bei IKEA damals ganz und gar nicht selbstverständlich war. »Die Kinder haben es doch besser, wenn sie arbeiten, statt in der Prostitution zu landen«, war eine verbreitete Meinung bei der höchsten Führung IKEAs, in der Konzernmutter INGKA Holding B.V. Man spielte damit auf Kinder an – darunter Kleinkinder –, die auf der indischen Halbinsel unter sklavenartigen Verhältnissen arbeiteten, unter anderem für die Produktion von IKEA.

Ich möchte betonen, dass IKEAs Informations- und Umweltstrategie – die später, 2001, von Newsweek als »Teflon IKEA« bezeichnet wurde – als direkte Folge der einzigen seriösen Untersuchung über das Unternehmen entstand, die jemals gemacht wurde. Sie wurde von Mikael Olsson von SVT (Sveriges Television, das öffentlich-rechtliche schwedische Fernsehen) geleitet. Die Sendung hieß Tomtens verkstad – IKEAs bakgård (»Die Wichtelwerkstatt – IKEAs Hinterhof«) und wurde 1997 ausgestrahlt. Diese außerordentlich geschickt grabenden Journalisten wurden von IKEAs gesamtem Führungskader zutiefst gehasst, aber die Wirkung ihrer Arbeit auf die Umwelt- und Lieferantenstrategien des Unternehmens war fundamental.

|17|Heute sind die meisten Einkaufs- und Umweltstrategien von IKEA von der Sorge um und der Rücksichtnahme auf Mitmenschen und Umwelt geprägt. Dies gilt aber keineswegs für alle, wie wir sehen werden. Die Transparenz, die andere Unternehmen von vergleichbarer Größe besitzen, sollte in höchstem Maße auch bei Ingvar Kamprad und IKEA herrschen. Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu fürchten. Oder?

|19|Teil 1

Ingvar Kamprad

Der Mensch und der Mythos

|21|Kapitel 1

Das Geheimnis hinter IKEA

Bis heute ist in Zeitungen und Büchern ausführlich über IKEA und seine beispiellosen Erfolge berichtet worden. An so mancher Universität dient das Unternehmen als Lehrbeispiel. Die Frage, warum IKEA so erfolgreich ist, haben viele zu beantworten versucht. Natürlich habe auch ich eine Erklärung für den Siegeszug des Unternehmens. Diese Erklärung ist qualifiziert, weil ich in dem Unternehmen jahrzehntelang gedient und in allen Bereichen gearbeitet habe. Ich war Zeuge unfassbarer Erfolge, aber auch abgrundtiefer Misserfolge.

Einfachheit ist eine Tugend

Ingvar Kamprads geflügeltes Wort »Einfachheit ist eine Tugend« ist zentral für die Erfolgsgeschichte IKEAs. Nur Durchschnittsmenschen stehen hinter komplizierten Lösungen, verkündet er. Mit dieser Sichtweise betrachte ich auch IKEA. Welche einzelnen Faktoren haben das Unternehmen am stärksten beeinflusst?

Zuallererst das Genie Ingvar Kamprad, denn er ist Vater der meisten, wenn auch nicht aller Dinge bei IKEA. Sodann die »IKEA-Maschine«, die globale Wertschöpfungskette vom Wald bis zum Kunden, die Ingvar und seine Mitarbeiter konstruiert und bis zur Perfektion entwickelt haben. Last not least die IKEA-Kultur, von Ingvar erschaffen, welche die IKEA-Maschine präzise und auf Hochtouren laufen lässt.

Lassen Sie uns einen Faktor nach dem anderen analysieren und mit dem Phänomen Ingvar Kamprad beginnen.

|23|Kapitel 2

Der Mensch und der Mythos

Um IKEA zu verstehen, muss man auch versuchen, seinen Gründer zu verstehen. Wer ist er wirklich?

Der Staatsstreich

November 1994, Kølles Gård, Humlebæk, in Dänemark

(Kølles Gård ähnelt einem Landgasthof. Es ist ein pittoreskes Gebäude in einer ebenso pittoresken Umgebung, nur einen Steinwurf vom Öresund entfernt. Kamprad kaufte den Hof in den 70er Jahren, als er Schweden zugunsten Dänemarks aufgab, um der schwedischen Steuergesetzgebung zu entgehen. Zum Zeitpunkt der hier geschilderten Ereignisse beherbergt der Hof bereits seit über einem Jahrzehnt die Führung des IKEA-Konzerns.)

Das Tageslicht schwand und ließ den Nachmittag in den Abend übergehen. Eine kühle Brise zog vom Meer über den Hof und die ihn umgebenden Parks. Der Herbst war bereits fortgeschritten, Haufen von welkem Buchenlaub wirbelten im Wind. Das einzige Ungewöhnliche waren die Reihen parkender Autos entlang der Hecke, die das Haus umgab. Reporter standen in Gruppen herum und nahmen interessiert jedes Zeichen von Aktivitäten im Inneren des Hauses wahr. Fotografen mit Kameraobjektiven, so lang wie Unterarme, erforschten das Gebäude Fenster für Fenster. Von Zeit zu Zeit erhellten Blitzlichter die apricotfarben verputzte Fassade. Bis auf ein paar erleuchtete Fenster wirkte das Gebäude dunkel und verlassen.

|24|Drinnen in der Wärme saß unter anderen der Konzernchef Anders Moberg, wie immer mit großer Gelassenheit, doch der Ernst der Lage zeichnete sich in seinem blassen Gesicht ab. Die Gruppe um den Tisch musste entscheiden, wie sie mit der noch kurz zuvor unvorstellbaren Situation umgehen sollte, die entstanden war.

Das Undenkbare war geschehen: IKEAs Gründer und Inhaber war als Mitläufer der Nazis und Mitglied der Neuschwedischen Bewegung in den 40er und 50er Jahren enttarnt worden. Ingvar und sein Assistent Staffan Jeppsson arbeiteten in einem anderen Raum fieberhaft daran, einen Ausweg aus der Finsternis zu finden, die sich über den alten Mann gelegt hatte. Expressen, eine große schwedische Boulevardzeitung, hatte die Bombe mit voller Kraft platzen lassen, und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt.

»Wenn das Schlimmste passiert, wenn Ingvar die Situation nicht in den Griff bekommt, dann bleibt uns nur eine Lösung.« Die Worte hingen einen Augenblick in der stickigen Luft des Raumes, in dem Anders Moberg und IKEAs höchste Führungsriege saßen.

»Wenn er nicht schnell eine Lösung findet und die Situation sich nicht beruhigt, dann muss IKEA sich ein für alle Mal von ihm distanzieren.« Damit war es gesagt. Der Geist war aus der Flasche.

Lesen Sie das letzte Zitat noch einmal, und denken Sie über seine Bedeutung nach. Wer genau was sagte, weiß ich nicht. Aber ich habe das Geschehen von Anders Moberg erzählt und interpretiert bekommen. Kann man es deutlicher sagen? Ingvar Kamprad ist nicht gleichzusetzen mit dem Unternehmen IKEA. IKEA ist größer als sein Gründer, trotz dessen enormer Bedeutung für die Entwicklung des Unternehmens. Ingvar kann de facto entthront werden, oder besser gesagt, man kann sich über ihn hinwegsetzen, wenn er ernsthaft riskiert, seinem Unternehmen zu schaden.

Jetzt kroch Ingvar zu Kreuze und legte alle Karten auf den Tisch. Er gab alles zu und bat die Mitarbeiter, nicht zuletzt jene jüdischer Abstammung, um Entschuldigung. Damit war die Geschichte zum größten Teil erledigt. Dieses rhetorische Kunststück wurde von Ingvar meisterhaft durchgeführt. Und man hatte von ihm auch nichts |25|Geringeres erwartet. Es wurde weltweit zu einem Musterbeispiel der Öffentlichkeitsarbeit.

Die Antriebskraft

Viele haben darüber nachgedacht, was Ingvar antreibt und warum er sich selbst so unerträglich unter Druck setzt. Dass er, wie in den offiziellen Lügenmärchen behauptet wird, davon besessen sei, »den Menschen zu zeigen, dass schöne Möbel nicht teuer sein müssen«, ist im besten Fall ein ernsthaftes Missverständnis und im schlechtesten Fall eine bewusste Fälschung. Im Grunde genommen wird er von einem enormen Bedürfnis nach Bestätigung getrieben – und nichts anderem. Er möchte sich und seiner Umwelt beweisen, dass das Unmögliche möglich ist. Das wird besonders deutlich, wenn man mit ihm zusammenarbeitet. Dann nimmt er ständig eine Underdog-Perspektive ein. Aus dieser für ihn typischen Sichtweise heraus kann er sich herablassend über einen angesehenen und sehr guten Design-Journalisten äußern, der für einen von Stockholms Medienzaren arbeitet. Er kann Strategien und Kultur IKEAs aus dieser Perspektive formulieren: dass IKEA sich niemals auf die Schulter klopft, sondern seine Resultate eine deutliche Sprache sprechen lässt. Ingvar strengt sich verbissen an, sich selbst als Underdog darzustellen, indem er sich als einen einfältigen, betrunkenen Legastheniker beschreibt. Wir werden darauf noch zurückkommen.

Einmal erzählte mir Ingvar, dass er nur einen Freund hätte. Einen Schweizer, mit dem er ab und zu Ausflüge macht. Für mich und die meisten meiner Generation hört sich das eher so an, als ob der »Freund« ein Kumpel oder Bekannter wäre, denn enger und näher war das Beisammensein wohl nicht. Alle anderen, mit denen er Umgang hat, sind Mitarbeiter, abgesehen von der Familie. Also Menschen, die er dafür bezahlt, dass sie mit ihm zusammenarbeiten. Folglich ist deren Freundschaft direkt an den Gehaltszettel gekoppelt. In einer solchen Einsamkeit muss der Blick des Underdogs auf seine Umwelt noch unnachgiebiger sein.

|26|Wenn Ingvar sich in der schwedischen Führungsschicht, bei den Wallenbergs, den Medien oder Politikern, durch Auszeichnungen und Doktorhüte hervortun darf, fühlt er sich als etwas Besonderes. Dann hält er sich für auserwählt. Sein Bedürfnis nach Anerkennung ist so umfassend, dass er seinen Konzernchefs den Schritt ins Scheinwerferlicht der Medien missgönnt. Anders Moberg fragte mich oft um Rat, ob er es wagen könne, ein Interview zu geben, ohne Kamprad die Aufmerksamkeit zu stehlen, und in welcher Stimmung Ingvar sei. Gab es den geringsten Zweifel, dann sah er lieber vom Interview ab, als Kamprads Zorn zu wecken.

Die bewusste Führung

An einem meiner ersten Arbeitstage im Konzernbüro in Humlebæk war Ingvar im Büro. Normalerweise ist er immer unterwegs, zu Hause in der Schweiz oder ab und zu für einige Wochen in Klausur auf dem Weingut in Frankreich. Unmittelbar an meinem Schreibtisch trafen sich Ingvar und Anders Moberg. Anders ging vor, um zu grüßen, als etwas Merkwürdiges mit seinem Gesichtsausdruck geschah. Sein Selbstbewusstsein, seine Sicherheit und Gefasstheit waren wie weggeblasen. Stattdessen bekam er diesen starren, nahezu wehrlosen Blick, der Furcht signalisiert, unterstrichen noch von einem angestrengten Lächeln. Ich fühlte, wie pure Angst meinen Körper durchfuhr. Wenn sogar Anders Moberg, selbst Inbegriff eines starken Führers, solch übertriebenen Respekt vor Kamprad hatte, was sollte ich, ein einfacher Assistent, dann erst fühlen? Dieses Treffen prägte mein Verhalten gegenüber Ingvar für gut über ein Jahr, bis ich allmählich verstand, dass er letzten Endes nicht so gefährlich war. Im Gegenteil.

|27|Sortimentswoche, die sogenannten IK-Tage, im IKEA-Büro Blåsippan in Älmhult, Frühherbst 1996

Als Ingvars Assistent klebte ich ihm von einer Sortimentspräsentation zur nächsten an den Fersen. Diese Woche ist der Höhepunkt des Arbeitsjahres, der darin mündet, dass man zwei bis drei Stunden mit dem Gründer verbringt. Stunden, in denen die Arbeit präsentiert und beurteilt wird und man grünes Licht bekommt – oder eine Lektion erhält. »Das war der schlimmste Scheiß, den ich seit Langem gesehen habe. Wie verdammt blöd soll das eigentlich werden? Was für eine Enttäuschung, Johan.«

Ingvar und ich waren gerade Zuschauer des größten Fiaskos der Woche geworden. Der Geschäftsbereich hatte ein Recyclingkonzept für die Haushaltswaren entwickeln sollen. Seine Lösung waren ein grünes und ein weißes Schälchen gewesen. Aus Plastik. Die Präsentation war erbärmlich und die Ausreden während der ziemlich kurzen und zurückhaltenden Diskussion im Anschluss noch schlimmer gewesen. Ingvar hatte einige Fragen gestellt, sich zu einigen Materialfragen geäußert. Dann hatte er sich bedankt und war weitergegangen. Erst auf dem Nachhauseweg im Auto machte er seinen Gefühlen Luft.

In solchen Situationen wird Ingvars Führungsbegabung besonders deutlich. Ich bin nie einem Mann mit größerer Geduld begegnet. Ich habe auch nie eine Person getroffen, die sich bewusster darüber ist, wie sie selbst von ihrer Umgebung wahrgenommen wird, und dies als wichtiges Machtmittel anwendet. Ingvars Brillanz besteht darin, im Hintergrund zu stehen und andere agieren zu lassen, sogar, wenn ihm nicht gefällt, was er sieht. Mal diskutiert er, mal lässt er die Dinge laufen. Manchmal können zwischen seinen Vorschlägen Tage liegen, manchmal Jahre. Aber er scheint genau zu wissen, wann und wo er in den Prozess eingreifen muss, um die richtige Richtung beizubehalten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das sogenannte Kann-alles-System, bei dessen Entwicklung sich 30 Jahre ständigen Insistierens mit vielen Jahren des Schweigens abwechselten.

Das Kann-alles-System war die Idee eines gemeinsamen Maßstandards für Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Ingvar hatte sie in |28|den 70er Jahren ausgebrütet und war 1996, wie bereits in früheren Jahren, mit großer Leidenschaft zu ihr zurückgekehrt. Warum? IKEA hatte gerade eine große Umstrukturierung durchgeführt, bei der die IKEA of Sweden AB, das Sortiments- und Einkaufsgeschäft, zum Machtzentrum des Konzerns wurde. Geschäftsbereichsleiter bei IOS zu sein wurde zur neuen Machtposition. Eine Reihe weniger erfolgreicher Chefs waren ausgewechselt und neue – langjährige Mitarbeiter von IKEA – waren eingewechselt worden. Anscheinend wollte Ingvar im Zuge dieser Maßnahme versuchen, die Idee erneut einzuwerfen, um zu sehen, was passieren würde. Mehr über das Kann-alles-System weiter hinten im Buch.

Genauso lief es auch, als er 1995 die Idee eines völlig neuen Beleuchtungssortiments aus China in den Raum warf und seine Männer (denn es waren nur Männer) dazu anhielt, dort noch intensiver nach einer richtig billigen Energiesparlampe zu suchen. Es endete damit, dass sie eine Lampe fanden, die 90 Prozent billiger war als die der Konkurrenz. Ein fast schon historisches Ergebnis. Was Ingvar gemacht hatte, war, sich in den Kreis seiner Männer zu stellen und zu diskutieren, zu fragen und zuzuhören. Manchmal bat er eindringlich: »Ihr lieben, tüchtigen Beleuchtungsjungs, wäre es nicht möglich, dass ...«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ingvar die Antwort auf viele seiner Fragen bereits kannte oder zumindest ahnte. Anscheinend wusste er schon, zu welchen Lieferanten seine Leute fahren sollten. Aber sein Pokerface ist sagenhaft unergründlich. Ein Jahr später stehen dieselben Leute um ihn herum und platzen fast vor Stolz darüber, dass sie alle Herausforderungen gemeistert haben. Weil sie die Probleme selbst gelöst haben, wächst ihr Prestige und Selbstvertrauen. Auf den ersten Blick mag diese Großzügigkeit gegenüber seinen Mitarbeitern bei einem Mann, der für sich selbst das größte Scheinwerferlicht vor allem der Medien in Anspruch nimmt, merkwürdig erscheinen. Aber Ingvar ist eine äußerst facettenreiche Person, er steckt voller Paradoxe und ist schwer in seiner ganzen Tiefe zu begreifen.

Mehr, als Ideen einzuwerfen und andere zu inspirieren, macht Ingvar meist nicht bei der für IKEA so wichtigen Sortimentsarbeit. Er |29|weiß, wenn sich nur die richtigen Leute im Zimmer befinden, dann werden die Ideen – jedenfalls einige von ihnen – Wirklichkeit werden, sobald ihre Zeit gekommen ist.

Und noch eine Sache macht er oft und ausgezeichnet – besonders bei den Sortimentsrunden: Er reißt hemmungslos Witze, auf eine pfiffige und zutiefst sarkastische Art. Nicht selten ist er selbst das Ziel seiner Scherze. So gut wie immer gelingt es ihm, sich auf der richtigen Seite der Unverschämtheiten zu bewegen und eine heitere Stimmung zu erzeugen. Nicht alle verstehen seine vernichtende Ironie, viele erleben ihn lediglich als Scherzbold von großem Format.

Ingvar steht inmitten einer Gruppe von zwanzig Personen. Plötzlich möchte er eine Frage an einen Spezialisten stellen, um die Diskussion voranzutreiben.

»Bosse, wo is’ Bosse?« brummt Ingvar. Bevor es jemand schafft, zu antworten, am allerwenigsten Bosse selbst, setzt er fort: »Ist Bosse schon heimgegangen? Na, das ist ja blöd«.

Der Tumult, der entsteht, und der gehetzte Ausdruck der gesuchten Person, bevor es ihr gelingt, sich zu zeigen, sind jedes Mal lustig.

»Ach so, du bist doch noch da, Bosse, mein Guter. Schön, dass du etwas Zeit für uns übrig hast. Wir beschäftigen uns gerade mit deinem Sortiment, verstehst du«, fährt er mit übertriebener Deutlichkeit fort.

Unter vier Augen wird sein Humor noch spitzer: Ein erfahrener Produktentwickler hatte mir und Ingvar soeben ein seiner Meinung nach pfiffiges Sofa präsentiert. Das Meeting war zu Ende, und der Kollege war gegangen. »Tja, Johan, das Einzige, was bei dem wächst, ist der Schnurrbart«, sagte Ingvar mit bedauernder Stimme über den hageren, kleinen Produktentwickler mit dem starken Bartwuchs.

Dieser Humor ist eine weitere Dimension von Kamprads Führungsstil. Interessant ist, dass er nur vor bestimmten Auserwählten scherzt, das heißt, vor dem eingeschworenen Team in Blåsippan in Älmhult, aber nie bei einem strategischen Einkauf oder anderen Meetings mit Managern der niederen Führungsebene. Das ist wirklich außerordentlich raffiniert.

|30|Manchmal, wenn Vertreter eines Geschäftsbereichs sich dazu hinreißen lassen, Ingvar im Moment einer Eingebung zu viel zu versprechen, und der Gruppe von Produktentwicklern, Chefs und Einkaufsstrategen langsam die Konsequenzen dämmern, fragt Ingvar wie aus der Pistole geschossen: »Wann vor Weihnachten könnt ihr mit dem neuen Sortiment fertig sein?«

Allen Anwesenden fällt augenblicklich die Kinnlade herunter, dann bemerken sie den sarkastischen Unterton dieser absurden Frage. Ein neues Sortiment braucht zwei bis drei Jahre Entwicklung. Die Sortimentswoche findet Anfang September statt. Das hieße also, dass die Mitarbeiter lediglich ein paar Monate für die Entwicklungsarbeit bekämen, die sonst Jahre beanspruchen würde. Der aufmerksame Teilnehmer begreift im selben Augenblick, dass das nicht nur ein Spleen ist, sondern Ingvars Art, auszudrücken, dass ihm etwas wichtig ist.

Sollten die Sortimentsmitarbeiter trotz allem versuchen, sich aus Ingvars Forderung nach schneller Produktlieferung herauszuwinden, bekämen sie unweigerlich eine sarkastische Bemerkung in brummigem Småländisch zu hören: »Aha, der Mensch kann heutzutage Mondlandemaschinen bauen und zum Mond fliegen, aber eine Kaffeetasse für ’nen Fünfer kann er nicht machen ...«

Wenn es darum geht zu diskutieren und Argumente hin- und herzuwenden, ist Ingvar ebenso unermüdlich wie meisterhaft. Er weiß über so gut wie alles, was mit IKEA zu tun hat, bis ins geringste Detail Bescheid: Material, Materialpreise, Produktion, Rohstoffe, Sortiment, Design, wirtschaftliche Abwicklung. Brillant bewegt er sich von den kleinsten Fragen ausgehend über Fragen zur Glasqualität, zu Rohstoffen und Preisen bis hin zu den Konzernstrategien, die Sortiment und Einkauf steuern – und wieder zurück. Ingvar kann auf erstaunliche Weise und wie kein Zweiter zwischen Details und übergeordneten Richtlinien pendeln. Dadurch, dass er zu Beginn vage, beinahe vorsichtig, mit seinem enormen Wissen und seiner 70-jährigen Erfahrung in irgendeine Richtung argumentiert, gelingt es ihm immer, eine Diskussion in Gang zu setzen. Manchmal entscheidet er sich dafür, einen Standpunkt zu vertreten, von dem er weiß, dass dieser |31|die Teilnehmer provozieren wird. Beim nächsten Treffen kann er ohne Vorwarnung den Standpunkt geändert haben. Da möchte er dann Gegenargumente im Sinne der Lösung haben, die er – insgeheim – selbst bevorzugt.

Wenn die Runde zugeknöpft und schweigsam ist, stellt er seine Fragen direkt an die zuständigen Personen. Einmal in Fahrt, kann Ingvar eine Diskussion über Stunden in Gang halten. Die Mitarbeiter sehen dann so aus, als würden sie gleich umkippen, sie müssen auf die Toilette oder vielleicht etwas essen. Nicht so Ingvar. Er steht da, inmitten eines Volksauflaufs, ein Mann von über 80 Jahren, die Hände unter dem Bauch verschränkt und mit dem unverkennbaren Geruch von Kautabak um sich. Nur seine Daumen bewegen sich umeinander im Kreis. Er hört zu, fragt, argumentiert, dreht und wendet die Aussagen. Wird die Diskussion hitzig oder bekommt er Gegenschläge, verliert er nie den Humor und auch nicht den Faden. Sein enormes Gedächtnis speichert die Diskussionen, die Teilnehmer und Ergebnisse. Satz für Satz, Geschäftsbereich für Geschäftsbereich. Es ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, den Namen jeder Person zu kennen, mit der er während einer Sortimentswoche in Kontakt kommt. Ingvar kennt auch deren Hintergrund und weiß, ob jemand – in welcher Hinsicht auch immer – einen schlechten Ruf hat.

Etliche Male wurde ich Zeuge, wie er irgendeine Frage von einem Meeting, das mehrere Jahre zurücklag, im Detail wiedergab. Von seinem Standpunkt aus betrachtet bedeutet das Abertausende vergangener Meetings.

Das ist Kamprads Führungsgenie. So führt er IKEA. Obwohl er die allermeisten, die er zum Beispiel während einer Sortimentswoche trifft, ein ganzes Jahr lang nicht mehr sieht, bewegen sie sich in die Richtung, in die er will. Nicht immer genau so, wie er es will, aber die Richtung stimmt.

Auf dieselbe Art und Weise führt er die Einkaufsorganisation von IKEA. Er reist in die wichtigsten Regionen und kommt mit Mitarbeitern und Lieferanten direkt in der Fabrik zusammen. Danach trifft sich das beschlussfassende Organ für den strategischen Einkauf einige Male im Jahr. Es trifft die Entscheidungen über Einkaufsstrategien |32|sowie Einkaufs- und Produktionsinvestitionen. Der Konzernchef sitzt ihm vor, weitere Mitglieder sind Ingvar Kamprad und seine drei Söhne Peter, Jonas und Mathias sowie Torbjörn Lööf, Geschäftsführer der IKEA of Sweden AB und in der Praxis die Nummer zwei des Konzerns nach dem Konzernchef. Der derzeitige Einkaufschef von IKEA, Henrik Elm, ist natürlich auch dabei, wie auch sein Chef, Göran Stark, der für die gesamte Wertschöpfungskette verantwortlich ist, sowie Bruno Winborg, der Vorsitzende von IKEAs Industriegruppe Swedwood AB. Außerdem nehmen die jeweiligen Assistenten von Ingvar und dem Konzernchef teil. Alle wichtigen Einkaufsfragen werden dort behandelt: die Rohstoffpreise und deren Entwicklung, die Produktion, größere Umzüge des Sortiments von einer Region in die andere und so weiter. Die Referenten sind Einkäufer, Einkaufsstrategen oder Verantwortliche von Handelsbüros. Das Meeting ist also nicht nur der obersten Führungsebene vorbehalten, sondern IKEAs hervorragendste Holzeinkäufer oder vergleichbare Experten stellen ihre Standpunkte und Vorschläge mittels Whiteboard, Flipchart oder PowerPoint-Präsentationen dar.

In dieser Gesellschaft ist Ingvar oft dominanter als in anderen Foren. Sein brillantes Gedächtnis spuckt in Sekundenschnelle Rohstoffpreise und Devisenkurse aus und wandelt Einheiten vom Baumstamm in für Leimholz zurechtgesägte Kubikmeter oder Devisenkurse wie Zloty in Dollar oder noch schneller in Schwedische Kronen um. Er rechnet zum Beispiel binnen Sekunden im Kopf aus, wie viel vor Ort gesägte russische Kiefer, die in Polen geleimt und veredelt wird, in einem schwedischen Einrichtungshaus kosten würde. Um das zu errechnen, muss man eine Umwandlung von mindestens drei Währungen vornehmen (zum Tageskurs), einen Blick auf Transportwege, Zoll und Preise über vier Grenzen hinweg haben, Arbeitsaufwand und -kosten in zwei Ländern und von drei verschiedenen Produktionsprozessen sowie die Kosten der einzelnen Positionen im Veredelungsprozess kennen. Würde man einen begabten Forstdirektor um dieselbe Kalkulation bitten, säße er stundenlang daran. Ingvar hat diese Fähigkeit unabhängig davon, ob es um Glas, Baumwolle, Kunststoffgranulat, Öl- oder Silberpreise geht. Es scheint, als habe er die |33|Kontrolle über alle Rohstoffe, Prozesse und Marktstrukturen, die direkt oder indirekt sein Unternehmen beeinflussen. Ich war jedes Mal aufs Neue verblüfft. Aber das Kunststück macht er nicht, um zu brillieren, sondern um eine intensive Diskussion voranzutreiben oder sie in die richtigen Bahnen zu lenken.

Darüber hinaus hat er einen Satz von Faustregeln für alles, was innerhalb des Einkaufs, der Logistik und der Produktion von Nutzen sein kann. Ingvar schließt sich gern Experten an, denen er intuitiv vertraut. Meist, weil sie äußerst kompetent und geradeheraus sind, Integrität besitzen und den Mut haben zu widersprechen. Diese Beziehungen münden für Ingvar gewöhnlich in neuen Faustregeln, zum Beispiel, wie viele Kiefern es auf einem Hektar in der Ukraine gibt oder etwas Ähnliches. Ein anderes Beispiel für eine Faustregel ist, wie viele Quadratmeter Buchenfurnier man aus einem Buchenstamm gewinnen kann. Weitere Beispiele sind die sogenannten »warmen Würstchen« aus dem Sortiment, das heißt Produkte, die man unglaublich günstig – für 50 Cent oder 1 Euro – verkaufen kann. Um einen Kaffeebecher für 50 Cent verkaufen zu können, muss man mit »15 Cent für die Fabrik, 15 Cent für IKEA und 15 Cent für den Steuereintreiber« rechnen. Diese Faustregel ist tatsächlich mehr als das. Sie ist die Strategie dafür, wie IKEA diese »warmen Würstchen« entwickelt, und sie liegt dem Design, der Produktion sowie dem Einkauf Hunderter verschiedener Produkte zugrunde, zu Preisen, bei denen die Konkurrenz nicht mithalten kann. Besonders, wenn IKEA damit eigentlich nur seine Kosten deckt und im Einrichtungshaus nicht einen Cent daran verdient (das macht man hingegen im Einkaufs-oder Distributionsweg).

Im Vergleich zu anderen Meetings kann Ingvar während der Treffen des strategischen Einkaufs direkter und kritischer sein. Trotzdem ist es äußerst selten, dass er mit der Faust auf den Tisch haut und einfach bestimmt, wie etwas sein soll. Das Meiste geht auch so seinen Weg. Dafür sind allein Ingvars Präsenz und sein Einfluss ausreichend.

|34|Ingvars Bodenstrategie

Viele fragen sich, wie es Ingvar Kamprad gelingt, sein großes Unternehmen zusammenzuhalten. Die Antwort ist einfach. Mit seinem Handeln möchte er ein gutes Beispiel geben. Immer, wenn er an Diskussionen teilnimmt, bezieht er sich auf Gespräche, die er etwa mit einem Abteilungschef eines Einrichtungshauses in Deutschland, mit dem Fabrikchef eines Lieferanten oder mit einem Mitarbeiter eines Einrichtungshauses in China geführt hat. Er gibt exakt die Gedanken, Ideen und Probleme dieser Mitarbeiter wieder.

Diese Gesprächsstrategie – sich auf die Wirklichkeit zu beziehen und quasi vom Fabrikboden aus zu argumentieren – ist rhetorisch brillant. Wie soll ein Produktentwickler in Älmhult oder ein Einzelhandelschef in Spanien Ingvar jemals bei einer Diskussion widersprechen, wenn all seine Argumente aus der Realität stammen? Dies unabhängig davon, ob es sich um den Preis, die Qualität oder die Funktion eines Produkts, um einen ganzen Sortimentsabschnitt oder ein logistisches Dilemma handelt.

Die Bodenstrategie wird außerdem dadurch erstaunlich effektiv, dass sie Ingvar einen detaillierten Überblick über die ganze Wertschöpfungskette liefert. Große Teile seiner Reisen tragen ihn buchstäblich stromauf- und stromabwärts in der Wertschöpfungskette des Unternehmens, vom Wald zu den Einrichtungshäusern und zurück. Dadurch kann er Probleme früh erkennen und bei der Wurzel packen. Indem er rechtzeitig handelt, wachsen sich die Probleme nie aus und werden nie richtig kostenintensiv. So behält er immer die Oberhand über den Rest der Organisation, vom Konzernchef bis ganz nach unten.

Wenn er sich entschieden hat

Es gibt natürlich auch viele Momente, in denen sich Ingvar bereits im Vorhinein entschieden hat. Doch seine Methoden, seinen Willen durchzusetzen, variieren. Ein jüngeres Beispiel ist das Einrichtungshaus |35|in Haparanda. So, wie ich es von Ingvar erzählt bekam, wurde er von einem rührigen sozialdemokratischen Gemeinderat kontaktiert, der ihn für die Idee begeisterte. Kaum ein anderer außer Ingvar wollte hingegen ein Einrichtungshaus in Haparanda, der nordschwedischen Grenzstadt zu Finnland. Zumindest keiner bei IKEA of Sweden, und es ist die jeweilige Landesorganisation, die normalerweise über Standortfragen entscheidet.

Ingvar traf die Gründungsgruppe mehrere Male in Schweden, um sie für seinen Standpunkt zu gewinnen. Doch sie hielten dem 80-jährigen Alten einen Vortrag über seinen Schwachsinn und darüber, dass das Einrichtungshaus doch eigentlich in Luleå liegen solle. Das war plump und unüberlegt – und es war dämlich, erzählte Ingvar mir. Ich kenne kein anderes Beispiel aus dem gesamten Unternehmen, wo man so beiläufig über den Willen des Gründers hinweggegangen wäre.

Zudem hatte der für Luleå prognostizierte Verkauf zur Folge, dass das Einrichtungshaus dort kleiner werden würde als die Konzepteinrichtungshäuser, die IKEA normalerweise zuließ. Nach Jahren weise geworden durch den Bau unterdimensionierter Einrichtungshäuser in der ganzen Welt und unerhört kostspielige Nachinvestitionen, um sie auszubauen, irritierte es Ingvar umso mehr, was er sich während des Meetings anhören musste – aber er zeigte es nicht. Hätte er gegen die Gründungsgruppe eines einzigen Landes angeschrien, so hätte dies schwer überschaubare Nachwirkungen gehabt. Angst hätte sich in der Organisation ausgebreitet wie Ringe auf einer Wasseroberfläche, und die Initiativkraft wäre gehemmt worden. Außerdem hätte ein Ausbruch des Gründers den Mitarbeitern gezeigt, dass ein aggressiver Führungsstil bei IKEA akzeptiert wäre.

»Ihr Lieben, tut einem alten Mann einen Gefallen und baut das Einrichtungshaus in Haparanda. Und seid so gut, baut es in voller Größe«, lauteten also die Worte, mit denen er die Gründungsgruppe verließ.

Das war ein Appell mit Hinweis auf sein hohes Alter. Man konnte darin die implizite Aussage vernehmen: »Ich bin nicht mehr lange da, erweist mir diesen letzten Dienst.« Wenn ich Ingvar richtig kenne, |36|hat er in den Wochen danach an einer Reihe von Fäden gezogen, damit sein »letzter Wille« beachtet wurde.

Normalerweise spricht er dann mit einer Reihe von Schlüsselfiguren unter vier Augen. »Kannst du mir versprechen, mein Guter ...«, bittet er jeden Einzelnen inständig. Und ein Versprechen gegenüber dem Gründer ist ein Versprechen. Sobald Ingvar seinen Kautabak in den Papierkorb gespuckt hat und davongetrottet ist, stürzen viele der Angesprochenen ans Telefon, um mit den armen Mitarbeitern zu reden, die für die Sache zuständig sind und Ingvars Appell missachtet haben. Nach jedem solchen meist übergeordneten Gespräch steigt der Druck auf die Sünder, den »richtigen« Beschluss zu fassen. Aber wenige der Druck Ausübenden erwähnen überhaupt, dass Ingvar sie kontaktiert hat. Es wird von den Vorgesetzten bei IKEA als unangemessen betrachtet, auf solcherlei Druckausübung hinzuweisen.

Genau dies geschah der unklugen schwedischen Gründungsgruppe. Und was war das Ergebnis? Ein Einrichtungshaus in Haparanda. In voller Größe. Und natürlich wurde Haparanda ein Erfolg. Was Ingvar, aber kein anderer, gesehen hatte, war, dass der Einzugsbereich bei einer Gründung in Haparanda in Millionen gerechnet werden konnte. Denn außer allen Schweden im Landesteil Norrland gibt es Russen, Finnen und Norweger in mehr oder weniger zumutbarem Abstand. Es ist wichtig, festzuhalten, dass Ingvar niemals auch nur mit einer Miene den Prestigeverlust verriet, den er nach dem ersten Treffen erlitten hatte, als die Gruppe sich geweigert hatte, seinen Wunsch auch nur zu überdenken. Stattdessen richtete er seinen Fokus die ganze Zeit auf die Sache – die beste Alternative für IKEA. Dann wählte er die Taktik, die das beste Ergebnis bringen sollte. Prestigedenken ist bei Ingvar im Übrigen etwas sehr Unterentwickeltes. Trifft er auf bessere und solidere Argumente, ändert er unmittelbar seine Meinung – mit halb geschlossenen Augen und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, mit einer aufrichtigen Neugier der Person gegenüber, die ihn in der Tat übertrumpft und dazu gebracht hat, etwas Neues zu sehen – die ihn überrascht hat. Das ist eines der wenigen Dinge, die Ingvar wirklich imponieren. Das andere ist Durchführungsvermögen – |37|die Fähigkeit, Dinge zustande zu bringen.

Ingvar hat es sich zur Aufgabe gemacht, so viele Einrichtungshäuser wie möglich zu besuchen. Eine normale Anzahl waren lange fünfundvierzig pro Jahr, aber inzwischen sind es, soviel ich weiß, etwas weniger geworden. Denn Ingvar, Jahrgang 1926, ist nun über 80 Jahre alt, und jeder Besuch eines Einrichtungshauses nimmt gut einen ganzen Arbeitstag in Anspruch. Das Ziel ist es natürlich, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das Sortiment auf unterschiedlichen Märkten greift, aber auch zu sehen, wie sich die verschiedenen Einrichtungshäuser um das Sortiment kümmern. Und er sieht es als seine Aufgabe an, die besten Ideen aufzugreifen und weiterzuführen.

Weil er einen großen Teil seines Arbeitslebens mit dieser Aufgabe verbrachte, hat er oft genug erlebt, dass Einrichtungshäuser die besten Ideen ignorierten. Anfang der 90er Jahre ermüdete er. Er wandte sich an den damaligen Konzernchef, Anders Moberg, und brachte ihn dazu, ein Dekret anzufertigen. Anders tat das nur widerwillig. Aus Tradition hatten die Einrichtungshäuser in jedem Land bis dahin zum größten Teil totale Freiheit genossen. Ohne es genau zu wissen, vermute ich, dass es diese Kursänderung war, gegen die sich Moberg sträubte. Doch er beugte sich Kamprads beharrlicher Energie. Das Ergebnis war etwas, das »Mobergs Musts« genannt wurde, insgesamt etwa 50 Punkte auf ein paar DIN-A4 -Blättern.

Mit einer ständig wachsenden Zahl von Einrichtungshäusern und einem Kader von Einrichtungshauschefs mit, milde ausgedrückt, unterschiedlichen Kompetenzen war die Verbesserung durch »Mobergs Musts« kaum spürbar. In Nordeuropa bekamen die Einrichtungshäuser ein offeneres und helleres Layout, in dem die Kunden sich besser zurechtfanden, oder sie bekamen eine erweiterte Anzahl von Durchgängen, sodass die Kunden schneller in die Abteilung gelangen konnten, die sie besuchen wollten. Zum ersten Mal gab es auch die Möglichkeit, dass man nicht durch die gesamte Möbelausstellung trotten musste, nur um ein paar Kaffeetassen zu kaufen.

In Deutschland, das Anfang der 90er Jahre für ein Drittel des Umsatzes von IKEA stand, sahen alle Ausstellungen und Verkaufshallen wie die Katakomben in Rom aus – hohe Wände entlang schmaler, |38|unendlich langer Gänge. An einem gewöhnlichen Samstag war das Einrichtungshaus voller Menschen: Männer, Frauen, Kinder und Alte, Hungrige, Durstige, Erschöpfte und solche, die mal auf Toilette mussten, die sich langsam durch die 1,4 Kilometer langen Gänge der Ausstellung schleppten. Hysterische Anfälle an der Grenze zum Handgemenge kamen an jedem größeren Verkaufstag vor. Aus reiner Verzweiflung schlüpften diese armen Teufel durch die Notausgänge, um an die frische Luft zu fliehen, während der Alarm durch das Einrichtungshaus scholl.

Mitte der 90er Jahre legte Ingvar sein Veto gegen die Freiheit der Einrichtungshäuser und der Länderorganisationen ein. Die IKEA-Einrichtungshäuser sollten konzeptualisiert werden. Die Konzepte sollten für die Einrichtungshäuser und ihren Außenbereich festlegen, was über Jahre am besten funktioniert hatte. Die Restaurants sollten so geplant werden, dass sie McDonald’s in nichts nachstanden. Und alle Möbelausstellungen und Markthallen der IKEA-Welt sollten bis hin zum Preisschild und den Bodengleitern ebenfalls durchgeplant werden. So geschah es auch während der weiteren 90er Jahre. Viele, auch ich, entrüsteten sich über die beschnittene Freiheit, aber Ingvar behielt erneut Recht.

Heute wird die Einrichtungshauswelt bei IKEA von sogenannten Commercial Reviews gesteuert, die eine Überprüfung aller relevanten Teile eines Einrichtungshauses beinhalten: Möbelausstellung, Markthalle, Kommunikation, Kostensteuerung, Sicherheit, Logistik. Alles wird mit der Best Practice verglichen, das heißt mit dem Konzept. Diese Revision, die mehrere Tage dauert, wird von den Führungskräften des jeweiligen Bereichs durchgeführt, was bedeutet, dass alle Revisoren als Hauptbeschäftigung wirklich anspruchsvolle Stabsstellen haben. Dennoch habe ich nie ein schlechtes Wort über die Revision gehört. Im Gegenteil, vor einigen Jahren nahm ich an einer Feier teil, als das Einrichtungshaus in Kållered eine der höchsten Gesamtnoten aller Zeiten bekam – wenige Jahre zuvor war es noch als erbärmlich bezeichnet worden.

|39|IKEA Homeshopping

2008 legte Ingvar erneut sein Veto ein. Diesmal widersetzte er sich einer Investition in den Internet-Handel. Die Größe des präsentierten Sortiments in den Einrichtungshäusern ist ein großes Problem des Unternehmens. Einige Tausend Artikel sind nicht viel, verglichen mit den Hauptkonkurrenten, die normalerweise zwei- oder dreimal so viel haben. Der Engpass in den Einrichtungshäusern wird von vielen Kubikmetern Ware durchströmt. So gut wie ganz IKEA sah ein funktionierendes Homeshopping-Konzept im Internet als Rettung an. Man könnte sogar Produkte in den Einrichtungshäusern zeigen, die über einen neuen und flexibleren Distributionskanal verschickt würden. In vielen stark überlasteten Einrichtungshäusern rund um die Welt würden Kapazitäten freigesetzt. Viele waren deshalb in Bezug auf die Möglichkeiten der neuen Technik gespannt.

Ideen wurden entwickelt. Große Summen wurden in Vorstudien investiert. Konkurrenten drohten am Horizont mit lockenden Homepages. Aber als Anders Dahlvig der Führung den Vorschlag vorlegte, sagte Ingvar, von seinen Söhnen eifrig unterstützt, nein zu den Investitionen ins Internet. Eine Homepage mit der Möglichkeit einzukaufen würde den Publikumsverkehr in den Einrichtungshäusern mindern, und darüber hinaus würde man den Zusatzverkauf verlieren – all das, was der Kunde mitnimmt und von dem er zuvor gar nicht wusste, dass er es brauchen würde. Die Wahrheiten des Versandhandels der 60er Jahre wurden ins 21. Jahrhundert übertragen.

Lennart Ekmark, der Mann, der 1965 das IVAR-Regal (ein Garagenregal aus Kiefer) im Wohnzimmer aufstellte, sagte für gewöhnlich: »Das Schlimmste ist, dass Ingvar fast immer recht behält.« Es ist möglich, dass Ingvar etwas sieht, was wir anderen nicht sehen, aber ich habe keinen Kollegen getroffen, der diesmal seiner Meinung war. Leider befürchte ich, dass sein Nein an seinem Alter liegt. Ingvar ist vielleicht nicht mehr so up to date, wie er es früher war. Er ist trotz allem ein alter Mann. Die Investitionen würden riesig sein, die Verluste aber auch, wenn er falsch liegt. Denn kein anderer Sektor wächst heute so ungebremst wie der Internethandel.

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