4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
"DIE WALFÄNGERIN VON BORKUM ist ein echter Schmöker vor historischer Kulisse. Echter Sommerlesestoff, nicht nur für den Strandkorb auf Borkum." (Cathrin Brackmann / WDR 4)
Borkum 1653: Die junge Fenja ist besorgt, weil ihr Verlobter Joris auf einem Walfänger das Kommando übernommen hat. Der Walfang ist ein noch junges Geschäft, die Gefahren unwägbar und die Konkurrenz unerbittlich. Als Joris‘ Schiff überfallen wird, täuscht sein Bruder dessen Tod vor und drängt Fenja zur Heirat. Doch Fenja ist fest entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Noch ahnt sie nicht, welch dramatische Folgen ihr Wunsch nach Freiheit haben wird ...
Eine sturmumtoste Insel, ein bitterer Bruderzwist und große Gefühle - tauchen Sie ein in die frühe Zeit des Walfangs auf der Insel Borkum.
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 472
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
Epilog
Nachwort
Die Geliebte des Nachtwächters
Borkum 1653: Die junge Fenja ist besorgt, weil ihr Verlobter Joris auf einem Walfänger das Kommando übernommen hat. Der Walfang ist ein noch junges Geschäft, die Gefahren unwägbar und die Konkurrenz unerbittlich. Als Joris' Schiff überfallen wird, täuscht sein Bruder dessen Tod vor und drängt Fenja zur Heirat. Doch Fenja ist fest entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Noch ahnt sie nicht, welch dramatische Folgen ihr Wunsch nach Freiheit haben wird ...
Claudia Schirdewan lebt mit ihrer Familie im Münsterland. Nach dem Abitur absolvierte sie eine kaufmännische und eine fremdsprachliche Ausbildung, später studierte sie nebenberuflich Kulturmanagement. Sie schreibt Geschichten, seit sie alle Buchstaben kennt und liebt es, ihre Figuren auf abenteuerliche Reisen durch die Vergangenheit zu schicken.
Historischer Roman
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Heike Rosbach
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Trevillion Images: Magdalena Russocka; © shutterstock: Vasya Kobelev | Evannovostro | ms_pics_and_more
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0001-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Emden, Juli 1643
Die Jungen rannten die enge Gasse entlang. Die Füße des älteren schmerzten in den ungewohnten Holzschuhen, doch er achtete nicht darauf, als er seinen Bruder an der Hand nahm und hinter sich herzog.
»Komm, sonst verpassen wir es noch«, feuerte er ihn an, obwohl er selbst bereits außer Atem war. Die Jungen drängten sich an einem Pferdekarren, der bis oben hin mit Fässern beladen war, vorbei. Der Kutscher rief ihnen etwas nach und hielt drohend eine Faust hoch, aber die Kinder liefen einfach weiter. Sie bogen noch einmal ab und erreichten endlich den Hafen. Die ganze Welt schien hier versammelt zu sein. So viele Menschen auf einmal! Der salzige Geruch des Meeres mischte sich mit dem Schweiß der Menschen, die dicht an dicht standen, um sich durch das Hafentor zu drängeln. Joris' Herz schlug schneller, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Hoch über den Köpfen der Schaulustigen waren bereits die Masten des Walfängers zu sehen. Einige auf die Ferne winzig wirkende Gestalten waren damit beschäftigt, die Segel einzuholen.
»Komm schon!«, trieb er Nils zur Eile an. »Sie legen an!«
Obwohl die beiden nur ein Sommer trennte, war Nils beinahe einen ganzen Kopf kleiner als der zehnjährige Joris, und es fiel ihm schwer, Schritt zu halten. Sein Atem kam stoßweise, und er drückte die Hände in die schmerzenden Seiten, als ein Raunen durch die Menge ging. Joris konnte nichts erkennen, zu eng beisammen standen die Erwachsenen in den ersten Reihen vor dem Wasser und versperrten ihm die Sicht. Tränen traten in seine grünen Augen. Würde er alles verpassen? Er wollte so gern das Schiff sehen. Endlich bemerkte ihn ein Mann. Er trat zur Seite und zwinkerte ihm zu, während er dem hochgewachsenen Kerl, der vor ihm stand, auf die Schulter tippte.
»Lass mal die Bengel hier durch«, bat er. »Die können ja gar nix sehen.«
Der Angesprochene hob verwundert die Augenbrauen, doch dann musterte er die Jungen und trat mit einem Schmunzeln zur Seite.
»Dann mal ab mit euch«, sagte er gutmütig und ließ die Kinder vorbei.
Tatsächlich schafften die Brüder es nun bis ganz vorn an die Wasserkante. Staunend sah Joris nach oben. Er fand sich direkt vor dem Dreimaster wieder, der erhaben auf den Wellen schaukelte. Das Holz des Bugs war vom Wasser feingeschliffen worden. Es glitzerte feucht und dunkel in der Sonne und verströmte einen Geruch nach getrocknetem Salz und Algen. Und die riesigen Segel! Obwohl die Männer mit dem Einholen fast fertig waren, schienen die Stoffbahnen noch immer bis zu den Wolken zu reichen. Holzfässer wurden mit Getöse über den Steg gewuchtet, der das holländische Schiff mit dem Ufer verband. Was für Schätze verbargen sich wohl in ihnen? Ein Mann, er mochte um die dreißig sein, trat an Deck. Er war sauber gewandet, und seine dunkelblonden Haare glänzten in der Sommersonne. Trotz der langen Reise wirkte er gepflegt, als er in die Menge winkte. Hunderte Arme reckten sich ihm entgegen, die Leute jubelten lauthals.
»Das ist Gerrit Hansen«, rief Joris. Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Der Commandeur! Der ist Borkumer, Nils! Genau wie wir!«
Nils nickte ehrfürchtig.
»Wir sind zurück!«, brüllte Hansen gegen die Menge an und hob die Hand. Es wurde ruhiger. Alle wollten hören, was der Seemann zu berichten hatte.
»Die Vrouw Jacoba und ihre tapferen Männer haben vor Spitzbergen Eis, Sturm und Wellen getrotzt und reiche Beute gemacht. Sechs Wale haben wir erlegt!«
Der Jubel wurde lauter. Joris spürte, wie Nils' Finger sich noch fester um die seinen schlossen. Es war, als gingen die Brüder in diesem Moment einen Pakt ein. Sie wollten werden wie Hansen. Ganz oben auf einem Walfänger stehen, eine Mannschaft befehligen. Reich und geachtet sein. Der Kälte, dem Wind und dem Meer standhalten. Dort draußen, irgendwo im fernen Norden, lag ihre Zukunft. Hand in Hand würden sie ihren Weg gehen.
In dieser Stunde glaubten sie beide daran.
Borkum, 1653
Die Steine der Kirchenmauer in ihrem Rücken waren tröstlich kalt. In den Fugen hing noch der Frost des langen Winters. Sie wünschte, er würde andauern und Schnee und Eis eine endlose Decke über den Strand ziehen lassen. Doch die Sonnenstrahlen, die seit einigen Tagen immer kraftvoller durch die Wolken brachen, ließen sich nicht beirren. Der achtzehnte Lenz ihres Lebens war der erste, den sie nicht voller Vorfreude erwartete. Fenja Akkermann lehnte sich an die Mauer, als könnten die Steine ihr Halt geben, während sie den Trubel vor den Kirchentoren beobachtete.
Erst heute war Joris mit einem Handelsschiff aus Emden zurückgekommen, wo er den ganzen Winter über die Schule besucht hatte. Sie hatte noch gar nicht wirklich mit ihm sprechen können; nach einem kurzen Begrüßungskuss war er sofort von den Borkumern in Beschlag genommen und zum Kirchplatz geführt worden. Eigentlich sollte sie neben ihm stehen, doch sie wusste, dass sie das Funkeln in seinen grünen Augen nicht ertragen würde. Nicht, wenn es nicht ihr galt, sondern der Reise, die nun bald vor ihm lag.
Die Leute drängten sich um ihn, schlugen ihm auf die Schultern, voller Vorfreude, weil das Eis das Meer endlich freigab. Die Insulaner hatten selten Grund zur Ausgelassenheit, aber heute war für sie alle ein besonderer Tag. Einer der Ihren war Commandeur geworden, würde einen Walfänger ins Eis führen und reiche Beute nach Hause bringen. Sie waren so stolz auf Joris, dass sie zur Feier seiner bestandenen Ausbildung ein richtiges Fest auf die Beine gestellt hatten. Der Wirt hatte ein paar Fässer auf den Kirchplatz geschafft und schenkte aus, während Jan Klaas, der Bäcker, frische Kringel feilbot. Der alte Piet hatte gar seine Flöte mitgebracht und spielte einen Reigen. Einige Frauen klatschten im Takt der Musik und wiegten sich in den Hüften.
Fenja schluckte schwer. Ihr war nicht nach Tanz und Gesang zumute. Sie wünschte, sie könnte das Glück und die Aufregung teilen. Doch alles in ihr fühlte sich schwer an, während sie ihn aus der Ferne beobachtete. Wie er lachte, wie sein Gesicht strahlte. Wie sollte sie es ohne Joris nur aushalten? Die langen Monate auf See. Die Ungewissheit, ob er überhaupt zurückkommen würde. Wie viele Männer hatten ihr Leben schon dort oben im Eis verloren? Nicht einmal ein Grab gab es für diejenigen, die von den Wellen verschlungen worden waren. Die Zahl der trauernden Witwen wurde von Jahr zu Jahr größer. Und wenn er die Reise mit Gottes Hilfe überstand, was würde er bei seiner Rückkehr vorfinden? Was würde aus ihr werden, während er fort war?
Sie bemerkte, dass sein Blick suchend über die Menge streifte. Fenja drückte den Rücken durch. Sie würde ihm ihre Sorgen nicht aufbürden. Diesmal nicht. Sie zwang sich zu einem Lächeln, atmete noch einmal tief die salzige Meeresluft ein und ging mit geöffneten Armen auf ihn zu.
»Frühling, Fenja«, lachte er und drückte sie an sich, ohne darauf zu achten, dass alle sie sehen konnten. »Es wird endlich Frühling!«
Den Kopf an seine Schulter gelehnt, atmete sie ein. Er roch wie immer. Nach Salz, nach Meer. Nun stahl sich doch ein Lächeln auf das Gesicht des Mädchens. So ausgelassen war Joris selten. Eine raue Hand legte sich von hinten in ihren Nacken, und sie wurde sanft zur Seite geschoben.
»Aber Kinder«, mahnte eine heisere Stimme. »Vergesst mir nicht, dass ihr vor dem Haus Gottes steht.«
Fenja drehte sich um, wobei ihre Wangen rot anliefen, aber Joris lachte übermütig und nahm nun seine Großmutter in den Arm.
»Junge, du zerdrückst mich ja. Nu lass mal los«, forderte sie und strich das Wolltuch glatt, das sie über ihr derbes Leinenkleid gelegt hatte. Obwohl sie sich um einen strafenden Blick bemühte, verrieten die geröteten Wangen ihren Stolz.
»Ein Commandeur«, befand Greta kopfschüttelnd. »Mein Junge! Ist es denn zu glauben?«
»Das hat Mutter auch gesagt«, lachte Joris.
»Da hat sich die lange Plackerei für sie und meinen Jan doch gelohnt. Vergiss nicht, Junge, dass sie für dich jede Münze beiseitegelegt haben. Sie sind damals nur nach Emden gezogen, um Geld für die Ausbildung zu verdienen. Für dich und ...« Sie unterbrach sich. »Jedenfalls hast du es geschafft. Dank ihnen.«
»Ich werde meinen Eltern das nie vergessen.«
Joris strahlte seine Großmutter an. »Und dir auch nicht! Schließlich hast du uns bei dir aufgenommen, damit wir trotzdem auf der Insel aufwachsen konnten.«
Greta winkte ab. »Was sollte ich denn tun? Magda und mein Jan waren den ganzen Tag mit ihrer Arbeit beschäftigt. Und wir wollten nicht, dass zwei kleine Jungs wie ihr am Hafen herumlungert und auf dumme Gedanken kommt.«
Sie ließ den Blick über die Menge wandern und vergewisserte sich, dass alle ihren Enkel sahen, der es so weit gebracht hatte, als ihr Lächeln auf einmal verschwand.
Fenja folgte den trüben grauen Augen der Alten und bemerkte die schlanke Gestalt am Rand der Menge. Im Schatten der Bäume stand ein junger Mann, die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt. Joris öffnete den Mund und wollte ihm etwas zurufen, doch Fenja legte ihre Hand auf seinen Unterarm.
»Lass ihn«, bat sie leise, und Greta nickte zustimmend.
»Es ist nicht leicht für ihn, Joris. Dich so zu sehen und zu wissen, dass er selbst ...« Sie brach ab.
Fenja bemerkte, dass Joris' Blick sich verdunkelte.
»Ich gehe mal zu ihm«, murmelte sie und überließ Joris der Gruppe junger Burschen, die johlend auf ihn zukam, um ihn hochleben zu lassen. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, dachte Fenja an jenen Morgen vor fast sechs Jahren zurück. An den Morgen, der alles verändert hatte.
*
Es war ein sonniger Tag im Frühjahr gewesen. Beinahe wie heute. Die Nachricht, dass ein Handelsschiff aus Amsterdam angelegt hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf der Insel. Fenja war mit Nils und Joris am Strand gewesen, gerade einmal dreizehn Jahre alt und stolz, dass die älteren Jungen sie mitgenommen hatten. Sie lebte mit ihrer Familie nur wenige Häuser von den Meyers entfernt am Rand der Dünen und kannte die beiden von Kindesbeinen an. Sie hatten zusammen nach Muscheln gesucht, waren barfuß durchs Watt getollt, hatten zwischen den Dünen Fangen gespielt und einander im Winter mit Schneebällen beworfen, bis ihnen fast die Nasen abfroren. Doch seit einigen Wochen hatte sich etwas verändert. Ihr fiel immer häufiger auf, dass Joris' Haare glänzten wie Gold, wenn die Sonne sich in seinem Schopf verfing. Dass seine Augen in der gleichen Farbe leuchteten wie die Algen, wenn das Meer sie gerade erst an Land gespült hatte und sie so herrlich nach Salz und Freiheit dufteten. Dass er kräftig geworden war und mit seinen nunmehr sechzehn Lenzen jede jungenhafte Schlaksigkeit verloren hatte. Wenn ihre Blicke sich trafen, fuhr ihr ein Gefühl durch den Magen, das ihr fremd war.
Fenja hegte insgeheim die Hoffnung, dass auch Joris diese Veränderung spürte. Immer öfter tauchte er ohne seinen Bruder bei ihr auf. Dann gingen sie gemeinsam an den Strand, saßen nebeneinander im Sand und unterhielten sich, während sie die Wellen beobachteten. Joris erzählte von seinen Plänen, irgendwann ein erfolgreicher Seemann zu werden, und brachte sie mit seinen Geschichten, wie er gegen Klabautermänner und Piraten bestehen würde, zum Lachen. Sie liebte es, ihm zuzusehen, wenn er mit den Händen gestikulierte und Grimassen zog, während er einen Seeräuber darstellte. Wenn er bei ihr war, war ihr oft, als schiene die Sonne etwas heller, als funkelte das Meer etwas blauer.
Sie vertraute ihm sogar an, dass ihr Herz der Malerei gehörte. Fenja war nur selten im Besitz von Pergament, aber wenn sie welches hatte, dann zeichnete sie. Die Sanddornbüsche, die Möwen, das Meer. Alles, was ihr auf der Insel etwas bedeutete, brachte sie mit sorgfältigen Strichen auf das Pergament. Wenn sie malte, vergaß sie die Zeit. Über Stunden saß sie dann in den Dünen, die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt. Meist versteckte sie ihre Werke ganz unten in ihrer Truhe. Der Vater hielt es für vergeudete Zeit, sich mit derlei Dingen zu beschäftigen, und konnte Fenjas Leidenschaft nicht viel abgewinnen.
Fenja jedoch hatte Joris sogar schon einmal eine Zeichnung geschenkt, auf der sie beide am Strand saßen, und er hatte jedes kleine Detail des Bildes bewundert. Ihr Herz hatte bis zum Hals geschlagen vor Angst, dass die Abbildung ihm womöglich nicht gefiel, aber er hatte behauptet, dass er sie immer bei sich tragen würde, und sie sorgfältig in seiner Tasche verstaut, damit das Werk ja keine Knicke bekam. Mit einem Lächeln dachte sie daran zurück.
Auch in diesem Moment konnte sie ihren Blick nicht von Joris' Gestalt wenden, während sie den Brüdern zum Hafen folgte. Das Schiff aus Amsterdam hatte bereits festgemacht, und Männer waren unter lauten Rufen damit beschäftigt, Fässer und Kisten mit Waren abzuladen. Einer schleppte einen ausladenden Beutel. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein. Seine Haut war vom schweren Wetter auf See wie gegerbt, die Wangen waren rot, und kräftige Muskeln spielten in seinen Oberarmen, als er sich den Beutel über die andere Schulter warf. Seine Hose wirkte alt und war an den Knien mehrfach von ungelenken Fingern geflickt worden. Er stellte den Beutel neben sich ab, sobald er festen Boden unter den Stiefeln hatte, spuckte aus und sah sich um.
»He«, sprach er Nils an, der ihn neugierig musterte. »Was gibt es da zu gaffen? Sag mir lieber, wo es hier etwas zu trinken gibt.«
Fenja entging nicht, dass trotz der harschen Worte ein Lächeln die Lippen des Mannes umspielte. Vermutlich lag es daran, dass Nils es wagte, ihm eine Frage zu stellen.
»Was ist denn in dem Sack?«
Der Mann schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften. »Da wird ein ganzes Schiff voller Waren abgeladen, und du interessierst dich für meinen schäbigen Seesack?«
Als Nils schüchtern nickte, legte er den Kopf in den Nacken und lachte. Ein dröhnendes Lachen, wie von jemandem, der es gewohnt war, seine Stimme gegen den Wind zu erheben. Er trat einen Schritt auf die drei zu, sodass sie seinen fauligen Atem riechen konnten und unwillkürlich zurückwichen. Fenja spürte, wie Joris sie mit einer Hand an der Taille fasste und hinter sich schob. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Magen.
»Wir haben eine Schenke«, beeilte sich Joris zu sagen. »Direkt im Ort. Ist nicht weit.«
Dem Seemann entging nicht, dass Nils noch immer neugierig auf den Beutel starrte. Etwas ragte heraus. Eine nur dürftig mit einem Tuch umwickelte, nach oben gewundene Klinge, die verheißungsvoll und zugleich bedrohlich in der Sonne glitzerte. Der Mann kam näher, bis er Nils direkt in die Augen sah. Fenja schluckte und griff nach Joris' Fingern. Sie fühlten sich kalt an.
»Weißt du, was ich mit dem Ding gemacht habe?«, wollte der Seemann wissen. Er ließ Nils nicht eine Sekunde aus den Augen, und der Junge hing wie gebannt an seinen Lippen.
»Wir müssen jetzt gehen«, warf Joris ein und bedeutete Nils, mitzukommen, doch der starrte auf die Waffe, die der Fremde in diesem Moment aus dem Beutel zog. Triumphierend hielt er sie in die Höhe.
»Fünf Wale habe ich damit zerlegt. Ihnen den Speck von den riesigen Leibern geschnitten.«
Seine Stimme war ein Zischen und drang scharf wie die Waffe selbst an Fenjas Ohren.
»Wie Butter ist mein Messer durch das Walfleisch geglitten, so scharf ist es. Wie Butter!«
Nils schnappte hörbar nach Luft, während der Fremde die Waffe wieder verstaute.
»Wenn du mich zur Schenke bringst, gehört sie dir.«
»Nein«, wandte Joris ein. »Das geht nicht.«
»Wieso?« Der Mann richtete sich auf und strich sein Leinenhemd glatt. »Ich brauche es nicht mehr. Der Griff ist in der Mitte durchgebrochen, als ich einem Biest damit an sein zähes Fleisch gegangen bin, und nun zu kurz. Wenn die nächste Walfahrt beginnt, gibt es neue Flensmesser.«
Joris runzelte die Stirn, und auch Fenja verzog den Mund. Warum sollte der Mann Nils etwas schenken? So freundlich wirkte er nicht.
»Keine Sorge«, erklärte dieser nun, als könnte er die Gedanken der beiden lesen. »Ich bin nur ein müder Seemann, der eine Pause braucht. Ich will euch nichts Böses. Also, wie sieht es aus?«
»Hier entlang.«
Eifrig zeigte Nils dem Fremden die Richtung, der daraufhin seinen Beutel schulterte. Fenja und Joris folgten mit etwas Abstand.
Als sie vor der Schenke standen, aus der trotz der frühen Stunde schon laute Rufe und ein durchdringender Geruch nach Dünnbier und Gebranntem auf die Straße zogen, machte der Seemann sein Versprechen wahr. Er wickelte das Flensmesser in ein schäbiges Leinentuch, das er ebenfalls aus seinem Seesack holte.
»Muss ja nicht jeder sehen«, schmunzelte er und übergab das verpackte Messer an Nils, der das Paket entgegennahm wie einen zerbrechlichen Schatz.
»Danke«, sagte er.
Der Seemann winkte ab.
»Hab's doch versprochen. Unter Seeleuten gilt das noch was. Fahrt zur See, Jungs, wenn ihr etwas aus euch machen wollt. Jagt die Ungetüme im Eis, und kommt reich zurück.«
Er drehte sich um, schob die schwere Tür zur Schenke auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Los, wir gehen zum Strand. Ich will das Flensmesser ausprobieren.«
Nils' blaue Augen leuchteten, und er lief los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Vorsichtig«, mahnte Joris, als sie die Dünen erreichten und durch den beinahe weißen Sand hinunter zum Strand rannten. »Denk dran, das ist eine Waffe.«
»Die schon mal in einem toten Wal gesteckt hat.« Fenja kräuselte die Nase. »Eklig.«
»Von wegen«, lachte Nils. Er sah sich um, und als er niemanden entdecken konnte, wickelte er das Flensmesser aus dem Tuch. Man sah, wo der Griff abgebrochen war, aber die Klinge schien unbeschädigt. Nils hielt die Waffe hoch, sodass die metallene Klinge in der Sonne glitzerte. Fenja wich einen Schritt zurück. Nils wirkte auf einmal fremd. Ein harter Zug hatte sich um seinen sonst immer lächelnden Mund gelegt, und er kniff die Augen zusammen, als wollte er sich einem Feind stellen. Wie ein Krieger.
»Pass auf!« Joris' Tonfall war scharf, doch sein Bruder lachte und hob das Flensmesser über den Kopf. Er drehte sich um die eigene Achse und schwang die Waffe wie einen Säbel. Sein suchender Blick fand eine Reihe von Sanddornbüschen, die am Rand der Dünen wuchsen. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte Nils die Pflanzen. Er hieb das Messer mitten hinein, als seien die orangenen Beeren nichts anderes als die Augen eines riesigen Meerestieres. Saft spritzte aus den Früchten und sprenkelte den Sand rot, als die Zweige der Büsche nachgaben.
»Nils! Verdammt, was soll das?«
Joris beobachtete seinen jüngeren Bruder mit gerunzelter Stirn. Fenja hielt den Atem an. Die Beeren waren kostbar, die Sandböden der Insel gaben sonst nicht viel her. Die Leute machten Saft oder Gebrannten daraus. Nils wusste das, und dennoch stach er auf die Triebe ein. Durchbohrte die Wurzeln der Gehölze. Schneller und schneller. Wie im Kampf, als würde er ein Schwert führen. Schweißperlen traten auf die blasse Stirn des Jungen. Und dann geschah es.
War es die starke Böe, die auf einmal vom Meer her über den Sand trieb? Oder die Möwe, die wie aus dem Nichts kreischend hinter den Dünen auftauchte? Sie würden nie erfahren, was ihn abgelenkt hatte. Das Nächste, was Fenja hörte, war ein Schrei. Schrill und alles durchdringend. Unmenschlich. Wie von einem verwundeten Tier. War das ihre Stimme gewesen? Seine? Sie wusste es nicht. Und dann war da das Blut. Tiefrot sprudelte es aus seinem Arm. Von dort, wo seine linke Hand gewesen war. Ihr Blick glitt zu Boden. Da, im Sand. Fünf Finger. Das Blut gerann schon, vermischte sich mit dem Sand. Die Klinge des Flensmessers steckte noch fest, hatte sich in den zerfetzten Überresten seines Handgelenks verbissen. Fenja spürte, wie ihr etwas in den Hals stieg. Luft! Sie bekam keine Luft. Als die Übelkeit sie übermannte, wandte sie den Blick ab. Ihr Magen krampfte. Nils sackte in sich zusammen, und Joris sprang vor. Jede Farbe war aus dem Gesicht des Jüngeren gewichen. Joris riss ein Stück Stoff aus seinem Hemd und wickelte es um den Stumpf. Nils schrie, doch Joris drückte fest darauf, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Fenja sah aus dem Augenwinkel, wie sich seine Finger rot verfärbten.
»Ruhig«, redete er auf den Bruder ein, der wimmernd im Sand hockte. »Ganz ruhig.«
Nils zitterte am ganzen Leib, und Joris zog ihn an seine Brust. Er warf Fenja einen Blick zu, sie las in seinen Augen, was er dachte. Nils' Traum war zerplatzt. Er würde nie zur See fahren.
*
Als Fenja nun an diesem Frühlingstag sechs Jahre nach dem Unglück neben Nils trat, der noch immer an den Baumstamm gelehnt dastand und sich gedankenverloren über seinen Handstumpf strich, fröstelte sie leicht. Was konnte sie zu ihm sagen? Sie suchte nach Worten, als er sie mit einem schiefen Lächeln begrüßte, das seine blauen Augen nicht erreichte.
Nils war ein gut aussehender Bursche, aber der spöttische Gesichtsausdruck, der so oft um seine Mundwinkel lag, ließ ihn unnahbar wirken. Er war nachlässig gekleidet. Während die meisten Borkumer sich in ihrem Sonntagsstaat auf den Weg gemacht hatten, um den neuen Commandeur zu feiern, trug Nils an den Knien mehrfach geflickte Hosen und ein altes Hemd. Die blonden Haare hingen ihm zerzaust in die Stirn.
»Willst du nicht mehr feiern?«, fragte er, und Fenja entging der bittere Unterton keineswegs. »Ist doch ein Festtag. Der arme Junge von der Insel, der Commandeur geworden ist und auf große Fahrt gehen wird.«
Er schluckte sichtbar. Fenja senkte den Blick.
»Es tut mir leid«, sagte sie und strich eine hellbraune Strähne aus ihrer Stirn, die sich unter der Haube gelöst hatte. »Für dich, meine ich. Ihr wolltet das immer zusammen machen ...«
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass der Unterkiefer des jungen Mannes mahlte, aber er zuckte mit den Schultern.
»Mir geht es gut«, entgegnete er tonlos. »Ich komme schon zurecht. Irgendwer hat immer ein wenig Arbeit für mich.«
Fenja wusste, dass Nils mit gelegentlichen Hilfsarbeiten etwas Geld verdiente. Er durfte Botengänge erledigen, manchmal sogar für Geert Matthis, den Vogt, und gelegentlich sah ein gutmütiges Herz auch darüber hinweg, dass er beim Handwerken ungeschickter und langsamer war als die anderen, und ließ ihn trotzdem etwas erledigen.
Die Menge um Joris löste sich allmählich auf, die Leute drängten in die Schenke. Joris winkte Fenja und Nils zu und legte die Hände trichterförmig um den Mund.
»Nils! Kommst du mit? Ich spendiere dir einen Krug.«
Fenja sah aus dem Augenwinkel, wie Nils' Schultern sich anspannten, als er den Kopf schüttelte. Joris wollte noch etwas rufen, doch da zogen ihn die anderen Burschen schon mit sich.
»Wenn du möchtest, kannst du gern mit zu mir kommen«, warf sie rasch ein. »Sina hat frisches Brot gebacken.«
Sie ahnte, dass er Joris' sicher freundlich gemeinte Einladung als Almosen missverstand.
»Oder wir gehen zum Strand«, schlug sie vor, da Nils nicht reagierte. »Vielleicht steht auch Greta der Sinn nach einem Spaziergang? Ihre Knie scheinen ihr heute recht wenig Kummer zu bereiten.« Sie verstummte.
»Es ist schon gut, Fenja.« Nils hob den Blick und sah Fenja aus seinen blauen Augen das erste Mal direkt an. Sein Blick war entschlossen. »Ich werde mit Großmutter nach Hause gehen. Ich gebe zu, ich habe wenig Lust, bei der Feier dabei zu sein. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht für Joris freue.«
Er brach ab, als Greta zu ihnen trat.
»Na, mein Junge«, sagte sie und fasste ihren Enkel am Ellbogen. »Bringst du deine alte Großmutter nach Hause? Für mich war das genug Trubel.«
Fenja entging nicht, dass sie trotz ihrer siebzig Jahre gar nicht müde wirkte. Sie hielt sich ungewöhnlich aufrecht. Ihre von Falten zerfurchten Wangen waren gerötet vor Stolz und Aufregung, und Fenja war sich fast sicher, dass Greta nur zu gern mit einem Sanddornschnaps auf Joris angestoßen hätte. Niemand hätte daran Anstoß genommen, wenn sie heute in die Schenke gegangen wäre, auch wenn Weibsbilder dort üblicherweise nicht gern gesehen waren. Doch wie sie selbst hatte auch Greta offenbar Skrupel, Nils mit seinem Kummer allein zu lassen.
»Natürlich bringe ich dich heim. Wir können zu Hause auf Commandeur Meyer trinken«, sagte er. In seiner Stimme war keine Bitterkeit mehr zu hören, doch er wandte den Blick ab, und Fenja bemerkte ein Flackern in seinen Augen.
»Bis bald«, verabschiedete Nils sich von ihr. Er hakte Greta unter, und die beiden gingen in Richtung Dünen.
*
Nils drehte sich nicht noch einmal um. Er hatte genug gesehen. Sein Bruder, in neuen Stiefeln. Ließ sich feiern, als sei er etwas ganz Besonderes. Dabei war er nicht anders als Nils. Ein armer Schlucker von der Insel, der einfach nur mehr Glück gehabt hatte. Hatten die Eltern die neuen Sachen für ihn gekauft, in denen er vor der Kirche herumspaziert war wie ein Pfau? Bestimmt hatten sie sich jede Münze vom Mund abgespart, damit ihr Ältester angemessen auftreten konnte, wenn er als Commandeur die Insel betrat. Nils ließ Gretas Arm los, um über seinen Armstumpf zu reiben, der auf einmal juckte. Joris war der Seefahrt gar nicht gewachsen! Ausgerechnet Joris, der Streit schon als Kind nicht hatte ertragen können. Der wegen jeder toten Möwe, die sie am Strand gefunden hatten, geweint hatte, bis ihm der Rotz aus der Nase lief. Als ob so jemand es schaffen könnte, eine ganze Mannschaft zu befehligen!
Nils selbst wäre als Commandeur besser geeignet gewesen. Er hätte es sein sollen, auf den nun in der Schenke die Becher gehoben wurden. Nicht Joris. Verdammt noch mal nicht Joris.
*
Fenja wartete, bis die beiden außer Sichtweite waren, dann trat auch sie den Heimweg an. Nun war also endlich ein Commandeur aus Joris geworden. Er hatte beinahe fremd gewirkt, in seinen neuen Stiefeln und so sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Als habe er den Jungen, als den sie ihn kennengelernt hatte, weit hinter sich gelassen. Der Gedanke schmerzte. Und doch – sie sollte sich für ihn freuen. Sie war stolz auf ihn, ohne Zweifel. Jahrelang war er immer wieder nach Emden gereist, hatte die Schule besucht und sich vom Nachbarsjungen mit den ständig aufgeschürften Knien in einen stattlichen Mann verwandelt, der eine gute Ausbildung vorzuweisen hatte. Nicht zuletzt auch für sie, damit sie eine unbeschwerte gemeinsame Zukunft hätten.
Sie wusste, dass ihre Träume und Wünsche ihm dabei mindestens so wichtig waren wie seine eigenen. Sie würde sich Pergament leisten können und weniger hart arbeiten müssen. Dann hätte sie abends Zeit, gemütlich am warmen Ofen zu sitzen und zu malen, anstatt müde vom Tagewerk auf ihr Lager zu sinken. Vielleicht würden sie sogar auf Reisen gehen? Sie hatten sich schon oft ausgemalt, dass sie irgendwann zusammen die Berge sehen würden.
Sie lächelte bei dem Gedanken, schaffte es aber nicht, die Sorgen, die an ihr nagten, zu vergessen. Würde ihm die Insel jetzt nicht zu klein werden? Was, wenn es ihn in die Stadt zog? Wenn er in Zukunft lieber in Emden oder Amsterdam leben wollte? Würde er sie mitnehmen – und würde sie ihn begleiten? Fenja fragte sich, ob sie überhaupt in die Stadt passte, ob sie dort leben könnte. Sie hatte die Insel ja noch nie verlassen. Sie war immer nur das Mädchen, das am Hafen stand und den Schiffen nachsah, wenn sie am Horizont verschwanden. Der Gedanke an all die fein gewandeten, gebildeten Leute, bei denen Joris künftig ein und aus gehen würde, schnürte ihr den Hals zu.
Er würde in den guten Stuben der Städter am Ofen sitzen und sich Gewürzwein servieren lassen. Sie sah vor sich, wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er von den Abenteuern und Unwägbarkeiten des Walfangs berichtete. Fenja schüttelte den Kopf. Niemals würde es für ein Inselkind wie sie einen Platz in dieser Welt geben. Sie bekam schon Angst, wenn sie an all die Menschen nur dachte. Die vielen unbekannten Gesichter, die sich in den engen Gassen der Städte tummelten. Wenn Joris davon erzählte, seine Wangen glühend vor Aufregung, lief ihr stets ein Schauer über den Rücken. Auf Borkum kannte sie jede Ecke, jeden Winkel, jedes Gesicht. Und wenn sie wirklich wegzog – was würde aus Sina werden? Bei dem Gedanken, die jüngere Schwester in der Obhut ihres Vaters zu lassen, drückte sie die Hand gegen den auf einmal schmerzenden Magen. Nein, das konnte sie nicht.
Endlich kam die kleine Hütte in Sicht, in der sie mit ihrer Familie lebte. Sie lag ein gutes Stück außerhalb des Dorfkerns am Rand der dicht mit Sanddorn und Seegras bewachsenen Dünen, hinter denen sich das Meer erstreckte. Ein schmaler Sandweg führte an einigen anderen Hütten vorbei. Die Behausungen standen weit auseinander, sodass es sich für Fenja oft anfühlte, als wohnten sie einsam und verlassen. Grünspan wucherte an den hölzernen, etwas schiefen Außenwänden ihrer Hütte, die von der Seeluft dunkel verfärbt waren. Neben dem Haus gab es eine Feuerstelle, wo sie früher, als Vater noch regelmäßig zum Fischen gefahren war, ihren Fang geräuchert hatten.
Ein Mädchen kam hinter dem Gebäude hervor. In der rechten Hand hielt sie einen Eimer, aus dem Wasser schwappte. Sie hatte dunkelblonde Haare und die gleichen blauen Augen wie Fenja. Sina war erst dreizehn, und obwohl die Gestalt des Mädchens sich allmählich veränderte und sich nun Brüste unter ihrem Hemd abzeichneten, sah Fenja in ihr immer noch das kleine Kind, das sich kaum auf den ungeschickten Beinchen halten konnte, wenn es mit der Mutter und ihr am Strand herumtollte. Auch jetzt stahl sich ein Lächeln auf Fenjas Gesicht, und sie beschleunigte ihre Schritte, um der Schwester den Eimer abzunehmen.
»Hast du Steine gesammelt, Sina?«
Die Jüngere lachte und ließ zu, dass Fenja mit anpackte.
»Ich habe Wasser geholt«, erklärte sie. »Ich muss ein paar Hemden waschen.«
»Ich helfe dir.«
Sina warf ihr einen Blick zu. Ihre Schultern schienen einzusacken. Fenja runzelte die Stirn. »Was ist denn?«
»Ach, schon gut.«
»Sina ...«
»Es ist ... Vater. Er schläft immer noch. In letzter Zeit ist es schlimmer geworden, Fenja. Ich sorge mich um ihn. Was, wenn er doch krank ist?«
Fenja half ihrer Schwester, den Eimer neben dem Waschzuber, der bestückt mit einer Wurzelbürste schon neben der Tür bereitstand, abzustellen. Auf der kleinen Feuerstelle daneben stand ein Kessel, in dem Sina Wasser erhitzt hatte. Mit einem Seufzer strich Fenja ihre Haube glatt.
»Er ist nicht krank«, sagte sie entschieden. »Es ist wie immer. Ich habe selbst gesehen, dass er gestern Abend wieder mindestens drei Becher zu viel getrunken hat.«
Sie rümpfte die Nase. »Ich rieche den Gebrannten bis vor die Tür. Du etwa nicht?«
Sina antwortete nicht. Gleichzeitig blickten die Schwestern zu dem Holzkreuz hinüber, das sich auf einem Hügel oben auf den Dünen abzeichnete. Zwar lag der Leichnam ihrer Mutter auf dem Friedhof bei der Kirche begraben, doch der Platz in den Dünen war ihr liebster Ort auf Erden gewesen. Viele Stunden hatte sie dort gesessen und den Mädchen Geschichten erzählt, während sie gemeinsam Fische ausnahmen oder Wäsche ausbesserten. Eine Möwe kreischte, als sie über die bescheidene Gedenkstätte hinaus aufs Meer flog.
Es war beinahe ein Jahr her, seit ihre Mutter gestorben war, und es wurde nicht besser mit Vater. Sören war sein Lebtag auf Hannah angewiesen gewesen, auch wenn er es sich nie eingestanden hatte. Sie hatte ihn immer wieder zur Arbeit angetrieben, darauf geachtet, dass genug zu essen auf dem Tisch stand, und unerbittlich den ein oder anderen Krug ausgekippt, wenn er sich gar zu oft einen Rausch antrank. Seine Flüche und Drohungen nahm sie nicht ernst, und tatsächlich hatte Sören nie die Hand gegen seine Frau erhoben. Fenja ahnte, dass er gewusst hatte, wie sehr er sie brauchte. Und jetzt ließ es sich nicht mehr verbergen.
Fenja stieß die Tür der Hütte auf. Sie glitt mit einem hässlichen Knarzen über die Bodendielen und hätte längst repariert gehört. Fenja hustete, als ein abgestandener Geruch ihr in die Nase stieg.
»Vater?«, rief sie. Ein Stöhnen aus der Ecke der Hütte war die Antwort. Sie hörte, wie er sich unter der Decke hin- und herwälzte. Es war eine weiße, mit billiger Spitze besetzte Leinendecke, die Mutter vor etlichen Jahren genäht hatte und die vom Waschen längst grau und löchrig geworden war. Trotzdem würde Vater sie nie hergeben.
Fenja seufzte. Bestimmt war ihm übel. Sie eilte zu dem einzigen Fenster der Hütte und zog das Stück Leder, mit dem es verhängt war, beiseite.
»Hier stinkt es«, befand sie und hielt den Kopf aus dem Fenster, durch das der Westwind kühle Seeluft in die Hütte trieb. Ihr Vater richtete sich, geblendet von der unerwarteten Helligkeit, auf seinem Lager auf. Er kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit den Händen durch die graumelierten Haare.
»Bist du des Wahnsinns? Mein Kopf!« Er stöhnte. »Mach die verdammte Luke wieder zu.«
Fenja sah ihn schweigend an. Er gähnte und offenbarte dabei eine Reihe gelb verfärbter Zähne, ehe er sich umdrehte und so tat, als bemerke er sie gar nicht mehr. Ein leises Schnarchen verriet, dass er Sekunden später bereits wieder eingeschlafen war. Die junge Frau setzte sich auf einen der drei Schemel am Tisch unter der Fensterluke und sah sich um. So trostlos hatte die Hütte nie gewirkt, als ihre Mutter noch lebte. Hannah hatte es verstanden, mit einfachen Mitteln etwas Gemütlichkeit in den dunklen, engen Raum zu bringen. Da hatte mal etwas Seegras in einem Krug auf dem Tisch gestanden, da hatte der Geruch von Honig oder warmer Milch verheißungsvoll die Hütte durchzogen. Die Luke war tagsüber nur bei Sturm verhängt gewesen, und die Decken hatten immer nach frischer Meeresluft gerochen.
Fenja spielte an ihren Fingern, zupfte an ihrem Daumennagel. Warum schaffte sie es nicht auch, Sina ein ordentliches Heim zu bieten, vielleicht Vaters Lebensgeister wieder zu wecken, ihn aus seiner Trauer zu reißen, die seit bald einem Jahr wie eine dunkle Wolke über ihrer Hütte hing? Hannahs Fußstapfen waren einfach zu groß für Fenja. Sie schloss die Augen und dachte an ihre Mutter zurück. Sie wusste, dass sie ihr ähnlich gesehen hatte. Die gleichen hellbraunen Haare, die gleichen blauen Augen und eine ähnlich schlanke Gestalt. Doch Mutter hatte ein Selbstvertrauen ausgestrahlt, das Fenja nie besessen hatte. Niemand hatte Hannah auf der Nase herumtanzen können.
»Ich wünschte, du wärst noch hier«, flüsterte sie.
Und wie so oft meinte sie, im Wind ein leichtes Säuseln zu vernehmen, wie ein Streicheln der mütterlichen Hände. Warum nur hatte das Fieber ausgerechnet sie holen müssen? Fenja schloss die Augen. Sie schaffte es einfach nicht, Hannah zu ersetzen. Und wenn sie wirklich mit Joris ging, falls er auf das Festland zog? Dann würde es noch schlimmer werden. Mit ihren dreizehn Jahren konnte Sina nicht für sich und den Vater sorgen. Sie schluckte schwer und wischte sich mit den Händen die Tränen aus den Augen.
»Fenja«, hörte sie ihre Schwester in diesem Moment von draußen rufen und schreckte aus ihren düsteren Gedanken auf. »Joris ist hier!«
»Joris?« Sie sprang auf und eilte nach draußen. Tatsächlich stand er vor der Hütte und half Sina dabei, das kochend heiße Wasser von der Feuerstelle in den Waschzuber umzufüllen.
»Warum bist du nicht mehr in der Schenke? Ich dachte, wir sehen uns erst morgen?«, fragte sie. Lächelnd stellte Joris den Kessel zurück auf die Feuerstelle.
»Ich fand, dass ich für heute genug gefeiert worden bin. Wir haben uns seit Wochen nicht gesehen. Ich wollte nicht bis morgen warten, um Zeit mit dir zu verbringen.«
Die Wärme in seiner Stimme ließ sie erröten.
»Ich wollte Sina mit der Wäsche helfen«, warf sie ein.
Die jüngere Schwester winkte ab. »Das schaffe ich auch allein. Ihr könnt ruhig zum Strand gehen, wenn ihr wollt.«
Fenja zögerte noch, doch Joris hielt ihr die Hand hin. Seine grünen Augen strahlten, als sie ihre Finger in die seinen legte.
»Wir bleiben nicht lange«, beeilte Fenja sich über die Schulter zurückzurufen, aber Sina lachte nur.
»Macht, dass ihr wegkommt.«
Hand in Hand erklommen sie die ersten Dünen, und als dahinter das Meer in Sicht kam, streiften beide ihr Schuhwerk ab und rannten durch den Sand bis hinunter zur Wasserlinie. Fenja verlor das Gleichgewicht, weil sie kaum Schritt halten konnte, und fiel beinahe hin, doch Joris hielt sie lachend fest.
Er umfasste ihre Wangen mit beiden Händen und sah ihr in die Augen.
»Endlich habe ich dich wieder«, flüsterte er. Sanft legte er seine Lippen auf ihre. Fenja schloss die Augen. Wie sehr hatte sie dieses Gefühl vermisst. Viel zu schnell löste er den Kuss. Sie hielt die Augen geschlossen. Als sie spürte, wie seine Arme sich um sie schlangen, ließ sie ihren Kopf an seiner Schulter ruhen. Die Wellen schlugen sanft an ihre Knöchel, und ein leichter, wohliger Schwindel durchfuhr sie. So hätte sie ewig verweilen können. Seinen Herzschlag an ihrem Ohr. Dennoch unterbrach sie selbst die Stille. Zu sehr lastete eine Frage auf ihr, seit er als Commandeur wieder die Insel betreten hatte. Sie hob den Kopf und beugte sich zu seinem Ohr.
»Wann wirst du gehen?«, fragte sie. Ganz leise, weil sie Angst vor ihren eigenen Worten hatte, fast so sehr wie vor seiner Antwort.
Joris zog sich ein Stück zurück. Seine Wangen wirkten auf einmal eingefallen. Er sah müde aus. Für einen Augenblick wünschte Fenja, sie hätte die Frage nicht gestellt.
»Fenja ...« Er schüttelte den Kopf.
»Bitte, Joris. Ich muss es wissen.«
Er seufzte. Sein Blick wanderte zu den Dünen, wo das Seegras sich unter dem Wind beugte.
»Ich habe in Emden unterschrieben. Für die Gulden Leeuw.«
Er bemühte sich um Gelassenheit, doch Fenja entging die Aufregung, die in seinen Augen aufblitzte, ebenso wenig wie das leichte Zittern in seiner Stimme.
»Die Gulden Leeuw ist ein älteres Schiff«, erzählte er weiter. »Aber gut erhalten, wie man hört. Sie war auf See, deshalb konnte ich sie noch gar nicht sehen. Ich kann jedenfalls sogar selbst entscheiden, wen ich anheuere. Es sollen an die vierzig Männer mitreisen, habe ich gehört. Hoffentlich schaffe ich das alles.«
»Bestimmt.« Etwas schnürte ihr die Kehle zu, und Fenja räusperte sich. »Du wirst ein guter Commandeur sein. Der beste.«
Joris neigte den Kopf zur Seite. »Ich werde mich auf jeden Fall bemühen. Das Schiff gehört einer holländischen Reederei. Die Reeder sind streng, aber sie zahlen gut. Vor allem natürlich, wenn man reiche Beute macht. Sie haben deutlich gemacht, dass ihre Erwartungen hoch sind.«
Fenja nickte. »Aber wann geht es los? Wir haben doch noch Zeit, oder? Es ist gerade erst Frühling, und ...«
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass Joris die Lippen zusammenkniff.
»Ich muss ja noch das Anheuern übernehmen«, sagte er leise und wich ihrem Blick aus. »Das wird dauern. Wir werden lange zusammen unterwegs sein. Es ist eine gefährliche Reise, Fenja. Da ist es wichtig, dass man eine gute Mannschaft hat. Leute, auf die man sich verlassen kann, auch in der Not. Echte Kameraden! Damit alle wohlbehalten nach Hause zurückkehren.«
»Warum machst du das nicht hier?«, wandte Fenja ein. »Es gibt so gute Seeleute auf der Insel. Dann könntest du länger bleiben.«
Joris fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und lachte freudlos.
»Das wäre schön. Und ich würde gern Borkumer in den Dienst nehmen. Das wäre viel einfacher. Hier weiß ich, wem ich trauen kann. Doch die Reeder bestehen darauf, dass ich meine Leute in Emden anheuere. Begründet haben sie den Wunsch nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass es mit Gerrit Hansen zusammenhängt. Der holt seine Leute von Beginn an von der Insel. Vielleicht hat er durch irgendwelche Absprachen der Reeder da ein Vorrecht.«
Er zuckte mit den Schultern. »In diese Karten lassen die Kaufleute sich nicht schauen. Ich muss das einfach hinnehmen, fürchte ich.«
Fenja nickte verstehend.
»Aber wann reist du ab?«, fragte sie zaghaft nach.
»Wenn der Wind das nächste Mal günstig steht«, antwortete er. »Die Fleute, die jetzt im Hafen festgemacht hat, wird dann nach Emden segeln, und ich habe einen Platz reserviert.«
»So bald schon?« Fenja wollte nicht weinen, doch sie konnte nicht verhindern, dass eine Träne über ihre Wange lief. »Dann bleibt uns ja fast keine Zeit. Du warst so lange weg, und ich ...«
Sie stockte und ließ zu, dass Joris sie wieder an seine Schulter zog. Obwohl er ihr beruhigend über den Rücken streichelte, spürte sie, wie angespannt auch er war.
»Das Wetter war sehr beständig und ruhig in der letzten Zeit, Fenja. Wir hatten viel zu wenig Wind. Es kann gut und gern noch zwei Wochen dauern, bis es so weit ist«, sagte er tröstend, doch Fenja zweifelte. Sie wusste genauso gut wie er, dass der Wind jederzeit drehen konnte.
»Wie geht es dir mit Sören und Sina?« Joris sah ihr prüfend in die Augen. »Kommt ihr zurecht? Deinen Vater habe ich noch gar nicht gesehen, seit ich zurück bin. Ich dachte, er kommt vielleicht auch zum Hafen.«
Fenja hob die Brauen, und ihr Blick verdunkelte sich.
»Er liegt den Großteil seiner Zeit im Bett. Und wenn er nicht schläft, trinkt er. Es wird immer schlimmer. Ihm ist alles egal. Ich weiß gar nicht mehr, wann er das letzte Mal zum Fischen hinausgefahren ist. Darum sieht sein Boot auch so schlimm aus. Im Moment leben wir von der Hand in den Mund.«
Joris nickte.
»Nach eurem Boot sehe ich morgen«, versprach er. »Und dann fahren Nils und ich raus, damit ihr Vorräte anlegen könnt.« Er zögerte. »Soll ich einmal mit deinem Vater sprechen?«
Fenja zuckte mit den Schultern. »Das wird nichts bringen. Deine Großmutter hat es immer und immer wieder versucht, selbst der Pastor war einmal da, um ihm ins Gewissen zu reden. Ich glaube, Vater wäre es am liebsten, das Meer oder der Sturm würden ihn holen. Seit Mutter die Augen geschlossen hat, ist er der Welt gram.«
Ihr Blick wanderte auf die Nordsee hinaus. Weiße Gischt spritzte auf den Wellen, die dank der Sonne nur sanft an den Strand rollten. Sie griff nach Joris' Hand.
»Lass nicht zu, dass dich das Meer holt. Komm zurück zu mir«, flüsterte sie, ohne ihn anzusehen.
*
Joris begleitete Fenja wenig später nach Hause, da sie Sina nicht zu lange allein lassen wollte. Er selbst nahm auf dem Weg zu Gretas Hütte seinen üblichen Umweg. Hinter den Dünen lag ein Stückchen Land, das so dicht mit Büschen bewachsen war, dass es Joris an einen Wald erinnerte und einigen scheuen Tieren Heimat bot. Er ließ sich auf einem Stein nieder und beobachtete zwei junge Kiebitze, die ein Stück entfernt auf ihren dünnen Beinen durch den Sand hüpften und nach Würmern suchten. Einer von ihnen sah Joris aus großen Augen an, und er warf vorsichtig einen Krümel Brot, den er noch von der Überfahrt nach Borkum in der Tasche trug, in seine Richtung. Einen Moment lang beäugte das Tier ihn, als würde es sich fragen, ob ihm zu trauen war. Dann machte es sich über den Krumen her, und der zweite Kiebitz eilte herbei, um auch etwas abzubekommen. Joris beobachtete ihr aufgeregtes Picken.
»Habt ihr Hunger? Das Gefühl kennen wir hier wohl alle«, flüsterte er mit einem Schmunzeln.
Die Feuchtigkeit des Mooses, das auf dem Holzstumpf wucherte, drang durch den Stoff seiner Hose, doch es war ihm gleich. Er streckte die Beine aus. Die ungewohnten Lederstiefel drückten an den Zehen. Er hatte sie sich vom Mund abgespart, um sie gebraucht von einem Straßenhändler in Emden erstehen zu können, denn er hatte unbedingt mit den anderen jungen Männern aus der Schule mithalten wollen. Noch immer kam er sich vor, als hätte er sich nur wie ein Commandeur verkleidet. Wie ein Kind, das spielte.
War es zu glauben, dass er in Kürze tatsächlich ein Schiff ins Nordmeer führen würde? Würde er es schaffen, eine Mannschaft zu befehligen? Den Ton anzugeben, obwohl er selbst bislang nur einmal als Kajütwächter auf Walfahrt gewesen war? Unsicherheit, so hatte man ihm in der Schule eingebläut, durfte ein Commandeur sich niemals anmerken lassen. Ein Commandeur, der auch nur den Eindruck vermittelte, zu zögern, war der erste Schritt zur Meuterei.
Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ seine Stirn von den wenigen Sonnenstrahlen wärmen, denen es gelang, sich einen Weg durch das dichte Geäst zu bahnen, während seine Gedanken zu Fenja wanderten und er ihren Vater innerlich verfluchte. Sörens Trauer um Hannah verstand er allzu gut. Sie war eine feine Frau gewesen. Die Hände immer fleißig, das Herz offen für die Insel und ihre Menschen. Nie waren Nils und er zu Besuch gewesen, ohne dass sie ein wenig Gebäck oder ein Stückchen Obst für sie gehabt hatte. Die Hütte war zu jeder Zeit blitzblank gewesen und Hannah energisch genug, Sören zur Arbeit anzutreiben und dafür zu sorgen, dass er nicht zu viel trank. Es war ein Jammer, dass es ausgerechnet sie erwischt hatte. Dieses schlimme Fieber, das über die Insel gezogen war. Doch die Guten gehen immer zuerst – das war es, was Greta gesagt hatte.
Trotz der Wärme lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er an die Tage zurückdachte, bevor Hannah so krank geworden war. Sie war bei ihnen zu Besuch gewesen, hatte Großmutter ein wenig frisch gebackenes Brot gebracht und mit ihr Tee getrunken. Als sie sich auf den Heimweg machte, hatte Greta ihr nachgesehen und schließlich geseufzt.
»Da geht sie hin und ahnt nicht, dass sie dem Tode geweiht ist«, hatte sie geflüstert. Ihre Augen waren ganz starr geworden. Joris sah diesen Blick noch immer vor sich. Der Welt entrückt. Er hatte sie an der Schulter gepackt und geschüttelt. Greta war erschrocken gewesen, aber als Joris ihre Worte wiederholt hatte, hatte sie nur gelacht.
»Hör auf mit den Gespenstergeschichten, Junge! Die Leute erzählen schon genug dummes Zeug.«
Seit Jahr und Tag hieß es unter den Insulanern, dass Greta das zweite Gesicht hätte, doch sie selbst schüttelte über solche Gerüchte nur den Kopf und meinte, die Leute sollten tüchtiger arbeiten, statt sich solchen Unfug auszudenken.
Joris waren die Worte dennoch nicht mehr aus dem Kopf gegangen, erst recht nicht, als das Fieber nur wenige Tage später Besitz von Hannah ergriffen und sein tödliches Werk verrichtet hatte. Seither waren Fenja und Sina auf ihren Vater angewiesen. Ausgerechnet Sören Akkermann, von dem ein jeder wusste, dass er mit sich selbst nicht zurechtkam, trug die Verantwortung für zwei Mädchen. Oder sollte sie tragen, was er aber nicht tat. Vermutlich gar nicht konnte. Joris schob einen kleinen Stein zwischen seinen Füßen hin und her. Er würde mit Nils sprechen. Wenn sein Bruder auf die beiden achtgab, konnte er beruhigt auf Walfahrt gehen.
Mit erleichtertem Herzen stand er auf, klopfte die Hose sauber und setzte seinen Weg fort, bis nur Minuten später die Büsche lichter wurden und er die Hütte auf den Dünen ausmachte, die er mit Greta und Nils bewohnte.
Seit die Eltern auf dem Festland waren, kam sie ihm regelrecht großzügig vor, obwohl es nur drei kleine Räume gab. Eine Kammer, die Greta vorbehalten war, die Stube mit der Herdstelle und eine zweite Kammer, die früher den Eltern einen Schlafplatz geboten hatte und die er nun für sich allein hatte. Nils zog es seit seinem Unfall vor, in der Stube zu schlafen. Er sagte, die Wärme täte seinem Arm gut. Joris hielt das jedoch für eine Ausrede. Er hatte Nils sogar einmal geradeheraus gefragt, ob er ihm aus dem Weg ginge, aber sein Bruder hatte nur den Kopf geschüttelt.
Als Joris nun eintrat, saß Nils auf einem Schemel am Küchentisch und hielt einen Becher in der Hand. Es roch nach warmer Milch. Greta stand gebeugt über dem Ofen, den Jan und Magda vor nicht allzu langer Zeit aus Emden geschickt hatten. Joris lehnte sich über ihre Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Nur ein wenig Brei«, sagte Greta. »Es gibt Brot dazu. Aber ein bisschen dauert es noch. Du bist früh dran, nicht wahr? Ich dachte, du bleibst noch über Stunden in der Schenke und lässt dich feiern. Verstanden hätte ich es.«
Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu. Joris nahm sich eine Holzschale aus dem Regal über der Herdstelle.
»Ich hatte genug vom Feiern, um ehrlich zu sein. Ich war noch bei Fenja.«
»Dann bist du aber erst recht früh dran. Hattet ihr Streit?«, mischte Nils sich ein.
Er blies scheinbar wenig interessiert in seinen Becher. Joris zog die Augenbrauen hoch.
»Nein.«
»Nun ja«, gab Greta zu bedenken. »Glücklich wird das arme Mädel nicht sein, Nils. Den beiden steht eine lange Trennung bevor. Und das, wo unser Joris gerade erst wieder zurück ist.«
Sie goss noch ein wenig Milch in den Kessel, legte dann den Kochlöffel beiseite und nahm den Brei von der Feuerstelle.
»Hast du Sören gesehen?«, erkundigte sie sich.
Joris schüttelte den Kopf.
»Fenja sagt, er schläft die meiste Zeit. Ich habe nur Sina getroffen. Sie hat die Wäsche gemacht. Morgen reparieren Fenja und ich das Boot. Danach könnten wir beide rausfahren, ein paar Fische fangen. Was meinst du, Nils?«
»Für die Akkermanns?« Der Jüngere verzog das Gesicht. »Eigentlich sollte der Alte zusehen, dass er sich aus dem Bett bewegt, und sich selbst darum kümmern. Er ist ja nicht krank.«
»Das ist er sehr wohl.« Greta warf Nils einen tadelnden Blick zu. »Er ist krank vor Trauer und hat sich in die falsche Medizin geflüchtet.«
»Ich komme ja mit«, beschwichtigte Nils. »Für die Mädchen.«
»Danke.« Joris lächelte seinem jüngeren Bruder zu, schenkte sich aus dem Krug neben dem Herd etwas Wasser ein und setzte sich ebenfalls an den Tisch, an dem auch Greta inzwischen Platz genommen hatte. Sie griff nach ihrem Nähkorb, um vor dem Essen rasch einen Riss in einem Leinenhemd zu flicken, und seufzte.
»Natürlich sorge ich auch dafür, dass hier alles in Ordnung ist, bevor ich abreise«, beeilte Joris sich zu versprechen.
Nils warf ihm einen Blick zu, den er nicht recht zu deuten wusste, aber Greta nickte dankbar.
»Der Stall muss ausgebessert werden. Der letzte Sturm hat ein paar Ziegel mit sich gerissen.«
»Das mache ich.« Joris lächelte. Er wusste, wie stolz seine Großmutter auf die Ziege und die drei Hühner war, die sie ihr Eigen nannten und in einem kleinen Unterschlupf neben der Hütte hielten.
»Und wenn wir vielleicht ein wenig Fleisch hätten ...«
Die alte Frau senkte den Blick, doch ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Joris runzelte die Stirn. Er wusste, worauf Greta anspielte. Kaninchen gab es mehr als genug auf der Insel. Da die Jagd jedoch verpachtet war, hatte es sich stillschweigend eingebürgert, dass die Borkumer durch Wilderei für Fleisch auf dem Tisch sorgten. Auch Joris hatte in der Vergangenheit immer wieder Schlingen ausgelegt oder Kaninchen direkt aus ihren Löchern gegraben.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch machen kann«, gestand er. »Wenn ich erwischt werde ... als Commandeur ...« Er brach ab.
Nils seufzte.
»Mach dir da mal keine Sorgen, Großmutter. Ich sorge schon dafür, dass wir nicht verhungern, wenn Joris auf großer Fahrt ist. Bislang ist es uns doch auch gut gegangen.«
Joris ging über den bitteren Unterton in der Stimme seines Bruders hinweg.
»Danke, Nils.« Er räusperte sich. »Aber um den Stall kümmere ich mich.«
»Dann ist alles geklärt«, beschied Greta.
»Nils?«, fragte Joris leise, als seine Großmutter sich wieder dem Abendbrei zuwandte. »Kann ich dich kurz draußen sprechen?«
Als sein Bruder nickte, sagte er laut: »Wir holen noch schnell etwas Feuerholz, damit wir gut durch die Nacht kommen.«
Greta nickte, und die jungen Männer traten ins Freie.
»Hör zu, Nils«, sagte Joris, sobald sie außer Hörweite der Hütte waren. »Ich habe eine Bitte an dich.«
»Ach ja? Und die wäre?«
»Wenn ich fort bin ... könntest du ein Auge auf Fenja haben? Auf sie achtgeben? Ihr Vater wird es nicht können, und sie selbst muss sich noch um Sina sorgen. Ich habe Angst, dass sie ... ich weiß nicht, dass es ihr an etwas fehlen könnte. Oder dass einer aus dem Ort ihr nachstellen könnte. Ein paar der jungen Burschen sind unberechenbar.«
Er seufzte tief.
»Wenn ich wüsste, dass du dich um sie kümmerst, würde ich viel beruhigter in See stechen. Bitte.«
Er sah Nils ernst in die blauen Augen, und der Jüngere schluckte.
»Gern«, sagte er dann bloß, und die Brüder schüttelten einander die Hand, um das Versprechen zu besiegeln.
»Danke, Nils. Das bedeutet mir viel.«
Jeder der beiden griff sich ein paar Holzscheite, und sie gingen zurück zur Hütte. Die jungen Männer hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als ein energisches Klopfen zu hören war.
»War mag das sein? Um diese Zeit?« Greta runzelte die Stirn, hörte aber nicht auf, im Kessel zu rühren.
»Ich sehe mal nach.«
Joris ging zur Tür und öffnete. Ein stattlicher Mann bat um Einlass.
»Guten Abend, mein Name ist Piet Jansen. Ich gehöre zur niederländischen Besatzung und wurde ausgesandt, um mit Commandeur Meyer zu sprechen.«
Piet Jansen war in einen neu wirkenden Mantel gekleidet und trug einen Hut auf dem rot gelockten Haar. Die glatt rasierte Haut seiner Wangen war gebräunt und zeigte erste Falten. Um den Mund lag ein strenger Zug. Als wäre er nicht nur ein Bote, sondern hätte selbst eine Mannschaft zu befehligen. Joris trat ein Stück zur Seite, um den Mann eintreten zu lassen.
»Sie sind Commandeur Meyer?«, vergewisserte Jansen sich mit einer heiseren Stimme, deren Akzent seine Herkunft verriet.
Joris nickte. »Kommen Sie herein.«
»Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte Greta. »Darf ich Ihnen eine warme Milch anbieten?«
»Gern. Es ist recht kühl draußen.« Piet Jansen nahm am Küchentisch Platz. »Bitte entschuldigen Sie die späte Störung, doch mein Besuch ist dringlich.«
»Was gibt es denn?«, fragte Joris und setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Ich bringe gute Nachrichten«, antwortete der Holländer. »Entgegen unserer Erwartungen sieht es so aus, als wollte der Wind drehen. Der Steuermann und der Kapitän haben beschlossen, alles für einen baldigen Aufbruch vorzubereiten.«
Ein baldiger Aufbruch? Joris holte tief Luft und bemühte sich, seine Aufregung zu verbergen. Sosehr er sich auch danach sehnte, endlich seine Arbeit als Commandeur aufzunehmen, hatte er doch gehofft, es bliebe ihm ein wenig mehr Zeit. Ihm und Fenja! Er räusperte sich.
»Das kommt in der Tat etwas unerwartet, muss ich zugeben.« Jansen nickte.
»Deshalb wurde ich zu Ihnen gesandt, damit Sie sich noch vorbereiten können. Es tut uns leid, dass alles so schnell gehen muss, aber je früher wir unsere Ladung nach Emden bringen, desto besser. Sicher verstehen Sie, dass wir nicht länger als nötig hier ausharren möchten. Ich nehme an, Sie möchten trotzdem mit uns reisen?«
»Gern«, log Joris. Er hatte keine Wahl. Einfach auf das nächste Schiff zu warten war zu riskant. Die Reeder zählten auf ihn. Doch was würde Fenja sagen?
Greta stellte einen Krug und zwei Becher auf den Tisch. Beinahe unmerklich strich sie dabei über den Oberarm ihres Enkels. Joris lächelte ihr zu. Der verfrühte Aufbruch sollte nicht die Sorge seiner Großmutter sein.
Greta gab Nils einen Wink, und die beiden zogen sich in die Kammern zurück, damit die Seeleute in Ruhe ihren Angelegenheiten nachgehen konnten.
Nils ließ die Tür einen Spalt weit offen, um den Worten lauschen zu können, die Joris und der Mann mit dem seltsamen Akzent wechselten. Er saß auf dem Strohlager, das Greta vor Joris' Ankunft auf Borkum frisch bezogen hatte. Es war kalt in der Kammer, und Nils wickelte das Laken um sich, um nicht zu frösteln. Ein schwacher Duft von Seeluft hing noch in dem Leinen. Die Holzschuhe hatte er ausgezogen und die Füße auf einem kleinen Schemel gelagert. Mit der rechten Hand rieb er den Stumpf der linken. Seine Narben juckten und bestätigten, was der Holländer gesagt hatte – ein Wetterwechsel stand bevor, der Wind drehte und würde zunehmen. Das versprach in der Tat günstige Bedingungen für die Kaufleute, nach Emden zu segeln.