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Hunde sind großartig – egal in welchem Alter! Das Leben mit einem alten Hund und die Begleitung in seinen letzten Jahren öffnen unsere Augen und unser Herz. Alte Hunde können uns viel beibringen: Nimm jeden Tag als Geschenk; bereue nichts; kümmere dich um dein Rudel; erkenne, was wirklich zählt; nimm hin, was nicht zu ändern ist; vergib, solange du lebst; du bist nie zu alt für neue Tricks; das Alter ist eine Frage der Einstellung – und vieles mehr. Elli H. Radinger, Wolfs- und Hundeexpertin, erzählt spannende Geschichten, die exemplarisch stehen für Vertrauen, Geduld, Achtsamkeit, Dankbarkeit, Intuition, Liebe, Vergebung und Witz, aber auch für den Umgang mit Trauer und Verlust. Ein warmherziges und verblüffendes Kompliment an den besten Freund des Menschen.
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Seitenzahl: 314
Hunde sind großartig – egal in welchem Alter! Das Leben mit einem alten Hund und die Begleitung in seinen letzten Jahren öffnen unsere Augen und unser Herz. Alte Hunde können uns viel beibringen: Nimm jeden Tag als Geschenk; bereue nichts; kümmere dich um dein Rudel; erkenne, was wirklich zählt; nimm hin, was nicht zu ändern ist; vergib, solange du lebst; du bist nie zu alt für neue Tricks; das Alter ist eine Frage der Einstellung – und vieles mehr. Elli H. Radinger, Wolfs- und Hundeexpertin, erzählt spannende Geschichten, die exemplarisch stehen für Vertrauen, Geduld, Achtsamkeit, Dankbarkeit, Intuition, Liebe, Vergebung und Witz, aber auch für den Umgang mit Trauer und Verlust. Ein warmherziges und verblüffendes Kompliment an den besten Freund des Menschen.
ELLI H. RADINGER
DIE WEISHEIT
ALTER HUNDE
Gelassen sein, erkennen, was wirklich zählt –
Was wir von grauen Schnauzen über
das Leben lernen können
Gott, lass mich der Mensch werden,
für den mein Hund mich hält.
Für Axel, Klops, Lady und Shira
INHALT
EINLEITUNG
ALTER – EINE FRAGE DER EINSTELLUNG
KÜMMERE DICH UM DEIN RUDEL
MIT DEM HERZEN SEHEN
ERKENNE, WAS WIRKLICH ZÄHLT
DU MUSST NICHT PERFEKT SEIN
BEREUE NICHTS
VERGIB, SOLANGE DU LEBST
DU BIST WICHTIG
LIEBE BEDINGUNGSLOS
DU BIST NIE ZU ALT FÜR NEUE TRICKS
SPRING VOR FREUDE – WENN DU KANNST
GIB MIR GEDULD, ABER BITTE SCHNELL
UMARME DIE STILLE
VERTRAU DEINER INTUITION
DINGE SIND UNWICHTIG
LEBE IM HIER UND JETZT
NIMM JEDEN TAG ALS GESCHENK
WO DU HINGEHÖRST
ZEIGE MITGEFÜHL
NIMM HIN, WAS NICHT ZU ÄNDERN IST
ÜBERWINDE DEINE ANGST
ALLES HAT SEINE ZEIT
LASS LOS, WAS DU NICHT FESTHALTEN KANNST
WEINE, LIEBE, LACHE
DIE LIEBE HÖRT NIE AUF
DAS LEBEN GEHT WEITER
DANKE
ANMERKUNGEN, QUELLEN, LESETIPPS
BILDNACHWEIS
© Shutterstock (Annette Shaff)
© Adobe Stock (Bastian)
EINLEITUNG
Die Veränderungen geschahen Stück für Stück. Direkt vor meiner Nase, aber dennoch außerhalb meines Blickfeldes. Jeden Tag wurde sie ein winziges bisschen älter, ein millionstel Teil mehr erwachsen. Es fiel mir nicht auf. Dann, ganz plötzlich, war ich überwältigt: Gerade eben war ein Eichhörnchen vor ihr den Baum hochgejagt. Aber statt wie früher dem Frechdachs nachzusetzen und empört bellend um den Baum zu tanzen, blieb sie liegen und beobachtete das Tier mit sehnsüchtigem Blick.
Verwundert sah ich sie an – und entdeckte die grauen Haare, die ihre Schnauze umrahmten. Und die Augen, die auf einmal ein wenig trüb aussahen. Meine Hündin Shira (siehe [[>>]]) wurde alt. Wie hatte mir das entgehen können? Ich habe es gesehen und doch nicht wahrgenommen. Ich war zu nah dran.
Eltern erwachsener Kinder berichten oft über den Schreck, den sie empfinden, wenn sie das Familienalbum durchblättern. Sie sehen die Bilder ihrer Kleinen, wie sie am Strand spielen und mit Schwimmflügeln im Pool planschen, und sie fragen sich: Was ist passiert? Wo auf dem Weg zwischen Kindheit, Teenageralter und Erwachsensein haben wir sie verloren? Wieso haben wir nicht bemerkt, dass sie älter wurden?
Ich habe mir kürzlich Babyfotos von Shira angeschaut. Ein moppeliger, fast weißer Labradorwelpe, der sein Köpfchen durch die Speichen am Lenkrad meines Autos steckt. Begegnungen mit Hundefreunden. Erste Schwimmübungen, sicherheitshalber an einer langen Leine. Apportieren eines Dummys, das größer war als sie selbst. Ein halbes Jahr später als Teenager auf einer Wanderung, schlaksig und ungelenk mit überdimensionalen Pfoten.
Als ich das zappelnde weiche Fellbündel zum ersten Mal im Arm hielt, dachte ich nicht daran, dass ihr Altern für mich so schwer werden würde. Nach der anstrengenden Welpen- und der herausfordernden Junghundezeit entspannte ich mich mit dem erwachsenen Tier und freute mich auf unser gemeinsames »Rentnerdasein«. Meine Vorstellung: Shira schläft den ganzen Tag und ich kann in Ruhe schreiben. Sie ist damit zufrieden, bei mir zu sein, und braucht kein Beschäftigungsprogramm. Ich hätte weniger Arbeit. Ganz falsch. Ein alter Hund macht eine Menge Arbeit und erfordert sehr viel Geduld und besondere Fürsorge.
Das Alter kann für Tiere und ihre menschlichen Begleiter eine Herausforderung sein. Aber es kann auch dazu führen, dass wir neue Dimensionen von ihnen kennen und lieben lernen. Wir passen uns mehr ihren Bedürfnissen an. Jetzt ist die Zeit für uns gekommen, ihnen etwas von der bedingungslosen Liebe, der Geduld und Toleranz zurückzugeben, die sie uns ihr Leben lang geschenkt haben.
Ich blicke auf meine Hündin, die unter meinem Schreibtisch liegt. Sie spürt, dass ich sie ansehe, steht aber nicht auf. Nur ihr Schwanz schlägt auf den Boden. Klopf, klopf, klopf. Wir sind verbunden durch dieses Geräusch. Ich knie mich neben sie und nehme ihren Kopf in meine Hände. Ihre Schlappohren gleiten wie Samt durch meine Finger. Ich fahre mit den Fingerspitzen an ihrem Körper entlang, fühle die Fettknoten hier und dort. Shira ist immer noch eine attraktive Hündin, schlank und mit glänzendem blondem Fell.
Ich senke meinen Kopf und küsse sie zart auf die weiche Seite der Schnauze unter dem Auge. Einen kostbaren Augenblick lang rühren wir uns beide nicht, halten den magischen Moment fest. Dann stehe ich auf und widme mich wieder meiner Arbeit. Shira schnauft tief und schläft dann weiter.
Momente wie diese, in denen ich die innige Verbindung zu meiner Hündin spüre, haben eine besondere Bedeutung. Ich war schon immer glücklich darüber, sie in meinem Leben zu haben, aber das Bewusstsein der Endlichkeit unserer Beziehung lässt mich ihre Gegenwart umso intensiver empfinden.
Shira ist jetzt dreizehn Jahre alt. In Menschenjahren (etwa dreiundneunzig) hat sie mich längst überholt. Wenn sie draußen auf dem Feld mit federndem Gang trabt, die Nase im Gras vergräbt oder mit ihren Hundekumpels tobt, sieht man ihr das Alter nicht an. »Die ist noch jung, oder?« Das höre ich oft von anderen Hundebesitzern. Bemerkbar macht es sich erst, wenn sie sich nach einer längeren Wanderung abends langsam und vorsichtig von der Couch gleiten lässt, den müden Knochen zuliebe. Auch wenn sie aus ihrem tiefen Lieblingssessel aufsteht, muss sie sich mehr anstrengen als früher. Auf unseren Spaziergängen legt sie sich öfter hin, wenn ich einmal stehen bleibe. Ja, auch ich muss gelegentlich anhalten.
Ich führe Tagebuch über Shiras Leben, will jeden Augenblick festhalten in der Hoffnung, dass mir das hilft, den Schmerz des Verlustes – der unweigerlich kommen wird – besser zu verarbeiten.
Ich weiß, was auf mich zukommt. Ich habe mein Leben schon mit zwei Hunden geteilt, bis zu deren Tod im hohen Alter, und sie beim Sterben begleitet. Jetzt ist erneut die Zeit gekommen, mich vorzubereiten – sofern man das jemals kann. Im Grunde ist es auch meine Geschichte. Ich erlebe, wie ein Lebewesen, das ich über alles liebe, älter wird und seine Reise zum Tod beginnt. Ich bin es, die eines Tages handeln oder nicht handeln wird. Ich muss lernen, mit Veränderungen umzugehen und das Unvermeidbare zu akzeptieren. Eines Tages werde ich Shiras Leben in meinen Händen halten und entscheiden müssen, was ich damit tue. Und das macht mir Angst.
Beim Schreiben dieses Tagebuchs habe ich entdeckt, dass ich mich nicht nur auf das Alter und das Ende meiner Hündin vorbereite, sondern dass ich auch einen Rückblick halte auf unser gemeinsames Leben. Auf eine Beziehung, die mit den Jahren inniger und reicher geworden ist. In den vergangenen Jahren sind wir beide älter geworden, haben das Gleiche durchgemacht. Das geschieht häufig, wenn man lange mit Hunden zusammenlebt. Shira und ich haben gelernt, was es in diesem Leben zu lernen gab. Wir wissen um die Gesetze des Lebens und sind im Frieden mit der Welt. Wir genießen unsere gemeinsame Zeit.
Am schwersten ist mir das Schreiben der Kapitel gefallen, in denen es um den Abschied von unseren geliebten Vierbeinern geht. Tatsächlich habe ich eine Weile überlegt, ob ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, damit behelligen soll. Mein Verlag hatte mich gewarnt. Aber da dies ein persönliches Buch ist, habe ich mich entschlossen, Ihnen das gesamte Spektrum der Empfindungen zuzumuten, die das Leben mit einem alten Hund mit sich bringt. Wie kann ich über die Weisheit alter Hunde schreiben, ohne auf die wichtigste Weisheit und die intensivste Lektion einzugehen, die sie uns zu geben haben? Schließlich ist ihr Umgang mit dem Ende des Lebens ihr größtes Geschenk an uns.
Hunde sind eine Bereicherung. Je älter sie werden, desto kostbarer ist die Zeit, die wir mit ihnen verbringen dürfen. Das Leben mit einem alten Hund und die Begleitung seiner letzten Jahre öffnet uns Augen und Herz. Wir erkennen, dass uns Alter und Sterben sehr viel lehren können und dass sich auf den Tod vorzubereiten auch bedeutet, sich auf das Leben vorzubereiten.
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ALTER – EINE FRAGE DER EINSTELLUNG
Der Physiker Albert Einstein hat in seiner Relativitätstheorie den Begriff der Zeit einmal mit dem bekannten »Zwillingsparadoxon« erklärt: Ein Zwilling fliegt mit einem Raumschiff ins All, der andere bleibt auf der Erde. Nach einer gewissen Zeit kommt der Bruder, der ins All geflogen ist, im selben Tempo zurück zur Erde. Dort angekommen, stellen beide fest, dass der Zwilling auf der Erde wesentlich älter ist als sein Bruder aus dem Weltall. Laut Einstein ist das logisch, denn dank der raschen räumlichen Bewegung hat der Astronaut weniger Zeit »verbraucht«.1 Wie schnell oder wie langsam die Zeit vergeht, hängt also davon ab, wie rasch man sich bewegt.
Ich brauche kein Raumschiff, um die Geschwindigkeit der Zeit zu beobachten. Mir reicht mein Hund. Als acht Wochen alter Welpe kam Shira zu mir. Heute – mit dreizehn – ist sie älter als ich. Ich sehe sie an und frage sie: »Wie um alles in der Welt bist du so alt geworden?«
Shira ist in Spendierlaune und wirft mir in ihrer unendlichen Güte einen Blick zu, der sagt: »Schau dich doch selbst an.«
Und sie hat natürlich recht. Auch ich bin älter geworden. Ich weiß nicht, wie Shira sich damit fühlt, älter zu werden. Ich möchte glauben, dass sie es einfach akzeptiert und im besten Fall genießt.
Im Augenblick liegt sie unter meinem Schreibtisch, den Rücken an die Heizung gedrückt. Ab und zu streckt sie ihre Beine aus wie eine Katze, gräbt die Krallen in den Teppich und sieht mich an. Dann schnauft sie tief und schläft weiter. Eine Vorderpfote über die andere gelegt wie zum Hundegebet, ein leises Zucken.
Altern ist Neuland für jeden von uns, unabhängig von der Tatsache, dass die Menschheit es von Anbeginn an getan hat. Es gibt Schlimmeres, als die letzten Jahre unseres Lebens schlafend neben jemandem zu verbringen, den wir lieben, und davon zu träumen, was war und was noch sein könnte.
Shira war ein süßer kleiner Hundewelpe, der mit fliegenden Ohren über die Wiese tollte. Dabei stolperte sie manchmal über ihre viel zu großen Pfoten und kugelte durch das Gras, um sich gleich darauf wieder aufzurappeln und einem Schmetterling nachzujagen, den sie aufgeschreckt hatte. Zum Dahinschmelzen. An die Welpenzeit schlossen sich Pubertät und Flegelphase an. Es folgten viele schöne gemeinsame Jahre mit dem erwachsenen Hund. Und dann kam der Tag, an dem ich feststellte, dass aus dem drolligen Fellknäuel von einst eine Seniorin geworden war, die lieber gemütlich auf der Couch liegt, als Bällen nachzujagen, und deren Gelenke beim Aufstehen ächzen. Im Grunde ging es mir ähnlich. Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass Shira im Zeitraffer gealtert ist.
Eine Freundin von mir weigert sich auch mit siebzig noch, sich als »alt« bezeichnen zu lassen. Einer Bekannten wurde zum fünfundsiebzigsten Geburtstag von ihren Kindern eine »Seniorenkreuzfahrt« geschenkt. Sie nahm das Geschenk nicht an, weil sie sich nicht zu den »alten Leuten« zählt.
Ich habe mich mein Leben lang auf das Alter gefreut, das für mich Freiheit von vielen gesellschaftlichen Erwartungen und Zwängen bedeutete. Ich würde endlich alles tun können, was ich will, und die Leute würden milde lächeln: »Schaut mal, die verrückte Alte.«
Den Beginn der Wechseljahre feierte ich mit einer »Red Hot Mamas«-Party. Eingeladen waren ausschließlich Frauen in den Wechseljahren. Wir alle trugen rote Kleider, und es gab scharfe Speisen wie Chili und thailändische Küche.
Heute bin ich siebenundsechzig, und meine Chancen, die gewünschten hundert Jahre zu erreichen, sind statistisch gesehen gut. Natürlich bleibe ich von Alterswehwehchen nicht verschont, genauso wenig wie Shira. Doch an ihrem Beispiel lerne ich, wie positives Altern geht und wie man das Beste daraus macht.
Der älteste Mensch, der jemals gelebt hat, war nach Angaben der Bibel Methusalem, der neunhundertneunundsechzig Jahre alt wurde und seinen Sohn Lamesch mit zarten einhundertsiebenundachtzig Jahren zeugte.2 Der australische Cattle-Dog Blueye war laut Guinnessbuch der Rekorde mit neunundzwanzig Jahren und fünf Monaten lange Zeit der älteste Hund der Welt. Die Kelpie-Hündin Maggie, ebenfalls in Australien, setzte 2016 eine neue Höchstmarke. Sie wurde dreißig Jahre alt.3 Allerdings gilt sie nicht offiziell als älteste Hündin der Welt, da ihr Besitzer, der Farmer Brian McLaren, ihre Geburtsurkunde und die entsprechenden Papiere verloren hat. Somit lässt sich ihr exaktes Alter nicht bestimmen. Aber als McLaren den damals acht Wochen alten Welpen Maggie zu sich nahm, war sein Sohn Liam gerade vier Jahre alt. Heute ist Liam vierunddreißig.
Als ich versuchte, mithilfe eines Online-Rechners Maggies Alter in Menschenjahre umzurechnen, weigerte sich das Programm: Bitte geben Sie eine Zahl unter 25 ein. Offenbar gingen die Programmierer nicht davon aus, dass Hunde älter als fünfundzwanzig werden. Maggies Alter entspricht etwa zweihundert Menschenjahren.
Die Lebenserwartung von Mensch und Hund ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen und tut es immer noch. Beim Vierbeiner hat sie sich in zwanzig Jahren um drei Jahre erhöht. Ursachen sind verbesserte medizinische Versorgung und artgerechte Ernährung und Haltung.
Die meisten Hunde werden zwischen acht und fünfzehn Jahre alt. Extrem selten erreichen sie ein Alter von bis zu zwanzig Jahren. Forscher der Universität Göttingen haben in einer Studie die Daten von mehr als fünfzigtausend Hunden aus vierundsiebzig verschiedenen Rassen ausgewertet und festgestellt, dass große Hunde früher sterben als kleine.4 Auch sterben Rassehunde im Vergleich zu Mischlingen deutlich früher. Und die Bulldogge, die durchschnittlich nicht älter als sechs Jahre wird, hat die kürzeste Lebenserwartung aller Hunde.
Das Ergebnis der Studie sollte mich beunruhigen: Als Labrador gehört Shira eher zu den großen Rassen. Allerdings könnte ich sie auch als »Mischling« definieren, denn ihr Vater war ein Labrador, ihre Mutter ein Flat Coated Retriever. Das bedeutet, ich habe Zeit gewonnen. Ich atme auf. Noch einmal davongekommen. Ich kenne das Gefühl, mit einer latenten Bedrohung zu leben. Bei meiner Wolfsforschung im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark halte ich mich täglich in einem Gebiet auf, das nur etwa fünf Kilometer über einer riesigen Kammer mit glühendem Magma liegt. Jederzeit kann hier ein »Supervulkan« ausbrechen. Wissenschaftler gehen von einem Ausbruch alle sechshunderttausend Jahre aus. Der jüngste ist sechshundertvierzigtausend Jahre her, eine große Eruption ist also überfällig.
Dennoch sage ich mir unverdrossen immer wieder: Jetzt noch nicht. Mir passiert das nicht. Jetzt ist nicht die Zeit.
So geht es mir auch mit Shira. Dreizehn Jahre? Kein Alter. Natürlich möchte ich, dass sie so lange wie möglich lebt und gesund bleibt.
Gibt es eine Zauberformel für ein hohes Alter? Das habe ich versucht herauszufinden und in meinem Online-Newsletter die Besitzer alter Hunde gebeten, mir das Leben mit ihrem Vierbeiner zu schildern. Ich habe über zweihundert Zuschriften erhalten und möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die mir ihre Geschichten erzählt und ihr Herz geöffnet haben. Sie haben mich sehr berührt und oft genug zum Weinen gebracht. Vor allem aber haben mir ihre Mails Hoffnung gemacht.
Da ist zum Beispiel Kathys Hündin Peggi. Der achtzehn Jahre alte Mix aus Tibet-Terrier und Cocker Spaniel lebt überwiegend bei Kathys achtundsiebzigjähriger Mutter in Hamburg. Da haben sich zwei Seniorinnen – die übrigens beide noch topfit sind – gesucht und gefunden. Oder Heikes Malta, ein Straßenhund, der mit sechzehn Jahren starb. Pocolino, der Hund von Rosemarie, stammte aus Fuerteventura und erreichte das stolze Alter von zwanzig Jahren. Filou, der Terrier-Mix von Andrea, ist neunzehn. Viele Hunde meiner Leser wurden (oder sind) fünfzehn, sechzehn und mehr Jahre alt. Dagegen ist Shira glatt ein Jungspund, und das macht mir Hoffnung, dass dreizehn doch noch nicht sooo alt ist.
Aber habe ich nun die Zauberformel erfahren? Ich muss Sie enttäuschen: Es gibt kein magisches Geheimrezept für ein hohes Alter – weder beim Hund noch beim Menschen. Die Probleme der heutigen Zeit, die Hunde vorschnell »altern« lassen, sind dieselben wie bei uns: falsche Ernährung und Übergewicht, mangelnde Bewegung und zu wenig geistige Herausforderungen.
Trotzdem: Sie können alles »richtig« machen oder alles »falsch«, im Grunde ist es unbedeutend. Niemand garantiert Ihnen, dass Bello (oder Sie) dadurch länger leben werden. Es gibt zahlreiche Studien, die uns Menschen sagen, wie wir leben müssen, welche Lebensmittel wir essen und welchen Sport wir treiben sollten, um hundert zu werden. Dennoch können Sie morgen aus dem Haus gehen und von einem Bus überfahren werden. Was also zählt, ist die Qualität unserer Lebenszeit, nicht die Quantität.
Ich beschließe, mich nicht mehr verrückt machen zu lassen. Alter ist keine Krankheit, weder für den Zwei- noch für den Vierbeiner. Shira entspricht laut meinem Online-Rechner mit ihrem Gewicht von fünfundzwanzig Kilo einem menschlichen Alter von dreiundneunzig Jahren. Damit hat sie sogar meine siebenundachtzigjährige Mutter überholt.
Ich ziehe Bilanz. Wie hat sich Shira im Alter verändert? So wie sie jetzt unter dem Schreibtisch schläft, strahlt sie eine meditative Ruhe aus. In meinen Augen bleibt sie ewig jung. Viele Jahre lang haben wir alles gemeinsam gemacht. Stundenlange Spaziergänge, Schwimmen im See, Bälle apportieren (okay, das habe weniger ich getan als Shira). Manchmal sehne ich mich nach ihren jungen Jahren zurück, aber meist genieße ich die Zeit heute mehr als alles andere. Unsere Beziehung wird täglich inniger; wir vertrauen uns blind, wissen, was der andere will. Wenn ich sie ansehe, weiß ich, was in ihr vorgeht. Wir haben eine eingespielte Alltagsroutine.
Aber die Anzeichen ihres Alters lassen sich nicht mehr verleugnen. Ihr goldenes Haar ist an vielen Stellen grau und dünner geworden. Sie verliert immer mehr Unterfell. Darum trägt sie im Winter einen Fleecemantel und einen Regenschutz vor Nieselregen. Sie kühlt schneller aus.
Ihre einst dunkle Nase ist hellbraun geworden. Kleine Warzen wachsen hier und dort wie kürzlich in ihrem inneren Augenwinkel, und verschwinden nach ein paar Wochen wieder. Mehrere Fettknubbel zeichnen sich unter ihrem Fell ab. Ich habe sie untersuchen lassen. Es sind gutartige Fettgeschwulste (Lipome), die auf ihren Rippen wachsen.
Auch Shiras Sehfähigkeit lässt nach. Ihre warmen braunen Augen wirken zunehmend bläulich-trüb, und im Dunkeln wird sie unsicherer.
Aber das Sehvermögen spielt offensichtlich nicht die gleiche Rolle in ihrem Leben wie die anderen Sinne. Hunde haben ein wesentlich schärferes Gehör als wir und können Geräusche wahrnehmen, die viermal so weit entfernt entstehen. Shiras Hörvermögen hat in den vergangenen Monaten jedoch ebenfalls langsam nachgelassen. Zunächst hörte sie noch »selektiv«, inzwischen aber gar nicht mehr. Wie kommt sie damit klar? Wenn ich neben ihr stehe und ihren Namen rufe, reagiert sie nicht. Meist muss ich sie sanft berühren, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Unbeeinträchtigt ist ihr Tastsinn. Sie nimmt Schwingungen des Bodens wahr und »hört« mich, wenn ich mit den Füßen aufstampfe.
Ihre Taubheit hat freilich auch Vorteile: In diesem Jahr hatten wir zum ersten Mal einen entspannten Jahreswechsel. Was habe ich früher alles angestellt, um meinen verängstigten Hund an Silvester oder bei Gewittern zu beruhigen. Von speziellen Pheromon-Halsbändern über homöopathische Beruhigungstropfen bis zu Lärmkonditionierung. Nichts hat geholfen. Vor zwei Jahren habe ich sogar in einem sündhaft teuren und sehr einsam gelegenen Luxushotel den Jahreswechsel verbracht. Hochsaisonpreise, Mindestaufenthalt vier Nächte! Trotz musste ich, nachdem die ersten Raketen in der entfernten Stadt hochgingen, meinen zitternden Hund beruhigen. Ratschläge, das ängstliche Tier zu ignorieren, »um es in seiner Angst nicht zu bestätigen«, lehne ich ab. Ich sehe es als meine Verantwortung, Shira in solchen Augenblicken nicht im Stich zu lassen. Also halte ich sie im Arm und gebe ihr auf diese Weise Sicherheit. Ob ich das »darf« oder nicht, ist mir egal. Ich tue es einfach – schon, weil ich selbst mich damit besser fühle.
Jetzt ist meine Hündin also taub. Was mich beim Spazierengehen manchmal zur Verzweiflung bringt, weil sie mein Rufen nicht hört, kann in anderen Situationen ein Segen sein. Die diesjährige Silvesterfeier in der Nachbarschaft mit vielen Krachern und Raketen ließ sie völlig unbeeindruckt. So können auch Altershandicaps einen Vorteil haben.
Allerdings muss ich jetzt bei unserer Gassirunde aufmerksamer sein. Einmal war Shira plötzlich im Wald verschwunden. Schnuppernd war sie ins Unterholz abgetaucht. Ich rief und rief ‒ nichts. Logisch. Ich klatschte in die Hände und nutzte als letzte Hilfe meine Trillerpfeife, in die ich mehrmals blies, bis mir selbst fast das Trommelfell platzte. Immer noch nichts. Ich geriet in Panik, machte einen Schritt zurück – und stolperte dabei fast über sie. Sie hatte die ganze Zeit hinter mir gestanden und blickte mich verwundert an. »Hallo, hier bin ich doch. Wozu all die Aufregung?« Meine Erleichterung war grenzenlos.
Schon seit der Welpenzeit habe ich mit Shira visuelle Verständigungssignale eingeübt. Verbale Signale verband ich mit einem Zeichen. Sie folgt auf »Komm«, »Sitz«, »Platz« und »Bleib« – sofern ich sie dazu bringen kann, mich anzusehen. Aber auch das ist im Alter weniger ein Problem, denn Shira ist sehr anhänglich geworden und vergewissert sich immer wieder, ob ich noch da bin. In fremdem Gebiet nehme ich sie sicherheitshalber an eine Schlepp- oder Flexileine.
Berührungen scheinen für sie wichtiger geworden zu sein. Sie liebt es, gestreichelt zu werden, und sucht Körperkontakt, was ich natürlich ebenfalls genieße. Es dauert länger, bis sie aus tiefem Schlaf aufwacht, und dann scheint sie manchmal nicht mehr zu wissen, wo sie ist. Wenn sie abends die letzte Runde im Garten dreht, bleibt sie gelegentlich stehen und starrt vor sich hin. Was denkt sie dann wohl? Müde gehe ich im Schlafanzug zu ihr und führe sie ins Haus zurück.
Kürzlich ging sie mit mir in den Keller und folgte mir nicht mehr nach oben. Ich suchte sie und fand sie in meiner Werkstatt. Dort stand sie und sah mich an, froh, mich zu sehen. Es war, als wüsste sie nicht mehr, wo sie war. Ist das ein erstes Anzeichen von Demenz? Meine anderen Hunde hatten das nicht. Oder fällt es mir auf, weil das Thema Demenz und Alzheimer bei Hunden heute mehr präsent ist und wir dank besserer Recherchequellen wie dem Internet mehr darüber wissen? Ich habe meine verwirrte Seniorin die Treppe hoch begleitet. Es ist einfach so, wir müssen jetzt mehr aufeinander aufpassen.
Shiras Energiepegel wechselt mit dem Wetter. Ist es knackig kalt und trocken oder auch angenehm warm, springt sie wie ein junger Hund durch die Wiesen. Nasskaltes Wetter dagegen macht ihr zu schaffen. Da bleibt sie lieber in ihrem Korb.
Noch immer wird Shira aufgeregt, wenn ich ihr Dummy in die Hand nehme, mit dem sie als Junghund das Apportieren gelernt hat. Aus robustem Baumwollstoff gefertigt, sieht es ein wenig aus wie ein längliches Schreibmäppchen, nur dass es nicht mit Bleistiften oder Kulis gefüllt ist, sondern mit Kunststoffgranulat oder anderen schwimmfähigen Substanzen. Diese Attrappe soll Wild simulieren und hat eine Wurfkordel, mit der ich sie weit werfen kann. Wie die meisten Labradore liebt Shira das Teil, entspricht es doch ihren Genen, Wild zu apportieren. Sie tänzelt ungeduldig um mich herum und wartet darauf, dass ich es werfe. Und sie schwimmt weiterhin leidenschaftlich gerne.
Neuerdings hat sich übrigens auch ihre Stimme verändert. Ihr früher so sonores tiefes Bellen hat sich in einen Misston gewandelt, hoch und schrill wie bei einer heiseren Operndiva.
Shira braucht jetzt mehr Zeit, um sich auf neue Situationen einzustellen und neue Aufgaben zu verstehen. Umso wichtiger ist es mir, sie weiterhin geistig zu fordern, beispielsweise durch Nasenarbeit. Auch wenn sie jetzt viel länger braucht, um mit der Nase einen Geruch aufzunehmen, ist sie nicht minder stolz, wenn sie den versteckten Gegenstand gefunden hat.
Shira wird ängstlicher und in vielen Dingen unsicherer. Hier versuche ich, ihr möglichst viel Unterstützung zu geben. So bin ich beispielsweise bei Hundebegegnungen besonders vorsichtig und achte darauf, dass sie nur Kontakt mit Hunden hat, die verträglich sind. Wilde, kräftige Hunde könnten sie beim Spielen verletzen, wenn sie auf sie springen. Das Wohlergehen meiner Seniorin hat für mich absolute Priorität, und den Spruch »Das machen die schon unter sich aus« finde ich heute noch unerträglicher als früher.
Das Geheimnis ewiger Jugend gibt es leider auch bei Hunden nicht. Altersbeschwerden, wie sie Shira hat, kann jeder ältere Mensch bei sich selbst beobachten. Ich bin froh, dass ich jetzt ein »Golden Ager« bin wie meine Hündin. In jungen Jahren hätte ich mich nicht so gut in sie hineinversetzen können. Meine beiden vorherigen Hunde sind fünfzehn und sechzehn Jahre alt geworden. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich sie vielleicht glücklicher machen und ihnen die letzten Jahre erleichtern können.
Wir alle wollen so lange wie möglich fit bleiben. Bei den Hunden ist das wie bei den Menschen: Gesunde Ernährung und Bewegung halten langfristig gesund. Was die Ernährung angeht, so mache ich keine Experimente mehr mit Shira. Da sämtliche Umstellungsversuche in den vergangenen Jahren mit Durchfall oder Blähungen endeten, bleibe ich bei ihrem bewährten Futter. So haben wir beide weniger Stress. Morgens bekommt sie einen Hundekeks, mittags hochwertiges Senioren-Dosenfutter und abends eine Handvoll Trockenfutter. Wenn eine Ernährung funktioniert und der Hund gesund ist, sollte man sie nicht verändern. Wir Menschen wissen ja ebenfalls, was wir vertragen und was nicht.
Ich weiß, welcher Kult in der Hundegemeinde um die »richtige« Ernährung des Hundes getrieben wird und welche Glaubenskriege gerade in Diskussionsforen im Internet zu diesem Thema ausgefochten werden. Statt wertvolle Zeit mit der Suche nach dem »perfekten« Futter zu verschwenden, ist es für mich wichtiger, mehr Qualitätszeit mit meiner Hündin zu verbringen.
Fakt ist, dass Hunde (und Menschen), die schlanker sind und weniger Kalorien vertilgen, länger leben. Mit jedem Kilo Gewicht extra verkürzen wir unsere Lebensdauer. Shiras Gelenken hilft es enorm, dass sie zierlich ist – übrigens ganz Labrador-untypisch.
Mein altes Mädchen und ich gehen beide zum Physiotherapeuten. Nein, nicht zum selben. Ich lasse mir meine Rückenschmerzen wegmassieren, Shira bekommt für Rücken und Gelenke Laserakupunktur. Außerdem mache ich fast jeden Tag Übungen mit ihr, die sie beweglich halten. Sie läuft Slalom durch meine Beine, dreht sich auf Kommandos im Kreis – auf »Twist« rechts herum, auf »Circle« nach links – und kann gar nicht schnell genug vom Sitzen ins Liegen fallen. Für Leckerlis wird Shira zum Zirkushund.
Seit sie elf ist, gehe ich mit ihr neben den regelmäßigen Tierarztuntersuchungen halbjährlich zum »Geriatriecheck«. Bei dieser Vorsorgeuntersuchung speziell für alte Hunde sollen Veränderungen des Bewegungsapparates, der Sinnesorgane, des Herz-Kreislauf-Systems und der inneren Organe frühzeitig erkannt werden. Das ruft stets große Heiterkeit oder Unverständnis bei meinen Freunden hervor. Einen Geriatriecheck bei einem Hund finden sie bekloppt. Ich halte es für sinnvoll, denn so weiß ich, wie gesund meine Hündin tatsächlich ist.
Ich habe ein Dreamteam von Tierärztinnen: Spezialistinnen für traditionelle Veterinärmedizin, Homöopathie und eine Physiotherapeutin. Diese Kombination kluger Frauen in einer Gemeinschaftspraxis ist ein großes Geschenk, für das ich dankbar bin. Jeder Hundebesitzer muss für sich den Arzt finden, der zu ihm und seinem Hund passt. Ich habe lange gesucht und vieles ausprobiert und fühle mich nun endlich in guten Händen.
Ein Problem bei jedem alten Hund ist Zahnstein. Nachdem Shira bei einer größeren OP vier Zähne entfernt werden mussten, achte ich noch mehr darauf, dass sie wenig Zahnstein hat, und versuche, ihr mehr oder weniger regelmäßig die Zähne zu putzen. Doch davon ist sie wenig begeistert. Nur die Zahnpasta mit Huhngeschmack mag sie – zum Fressen gern.
Natürlich nutze ich alle Hilfsmittel, die der Markt für alte Hunde bietet. Um Shira das Einsteigen in mein Auto zu erleichtern, habe ich mehrere Rampen ausprobiert und mich für eine zusammenschiebbare Alurampe von einer Schweizer Firma entschieden, die Shira sicher und ohne Probleme hinauf und hinunter läuft.
Bei den ersten Altersanzeichen habe ich begonnen, Shiras Umgebung anzupassen, und musste dabei mit einem Lächeln feststellen, dass die Veränderungen nicht nur meiner vierbeinigen Begleitung das Leben erleichtern.
Da die Sanierung meines alten Bades fällig war, habe ich mein neues Bad seniorengerecht umgebaut mit einer ebenerdigen Dusche. »Jetzt schon?«, fragte eine Freundin. Ja, wenn nicht jetzt, wann dann? Was ich heute tun kann, erspare ich mir später.
Weil Shira Probleme hat, Treppen hochzusteigen, habe ich mein Schlafzimmer vom ersten Stock ins Erdgeschoss verlegt. Es hat einen direkten Zugang zum Garten. Überhaupt ist mein Haus so ganz allmählich zum Kuschelheim für meine vierbeinige Seniorin geworden. In jedem Zimmer liegen orthopädische Hundebetten, die sich der Körperform anpassen und die Gelenke entlasten. Ich beneide sie darum und nehme mir vor, mir selbst auch so eine Matratze anzuschaffen. Dennoch zieht Shira meist die Couch vor, auf die sie mühsam springen muss. Auf den glatten Dielenböden erleichtern ihr rutschfeste Teppiche das Laufen.
Ja, ein alter Hund macht Arbeit. Früher musste ich beim Welpen kleine Unfälle wegwischen oder zerkaute Möbel ersetzen. Irgendwann in der Zukunft werde ich erneut Missgeschicke beseitigen müssen, dafür kann Shira mit ihren wenigen Zähnen keine Möbel mehr zerkauen.
Heute Morgen bin ich wie immer früh aufgestanden und habe zwei Stunden geschrieben. Shira lag an der Heizung und schlief. Dann wurde sie wach und streckte sich.
»Na, willst du raus?« Ich öffnete die Tür zum Garten. Es regnete in Strömen. Zu nass für meine Labradordame, die sonst nicht genug vom Wasser bekommen kann. Sie drehte um und beschloss, lieber noch eine Runde zu schlafen. Manchmal aber, wenn die Sonne scheint und sie ausgeschlafen hat, schießt ihr Kopf hoch, wenn ich den Schreibtischstuhl zurückschiebe, und sie blickt mich mit großen Augen an.
»Was meinst du, wollen wir eine Runde drehen?«
»Ja! Ja! JAAA! Ich dachte schon, du fragst nie.«
Die täglichen Gassirunden sind neben der offensichtlichen Notwendigkeit für uns beide noch viel mehr. Gemeinsam genießen wir die Natur und das Leben. Für mich ist jeder Spaziergang eine Art »heilige Zeit«. Eine interessante britische Studie von Dr. Thomas Fletcher und Dr. Louise Platt »(Just) a walk with the dog? Animal geographies and negotiating walking spaces«5 legt nahe, dass ein Hundespaziergang nicht »nur« ein Spaziergang ist, sondern sehr viel mehr. Die Wanderung mit dem Hund sei eine »höchst sinnliche und komplexe Aktivität« sowie »ein potenziell wichtiger Kulturraum, um Mensch-Tier-Beziehungen zu verstehen«. Nach Fletcher und Platt werden die Persönlichkeiten sowohl des Hundeführers als auch des Hundes während eines gemeinsamen Spaziergangs sichtbar. Dort würden die Machtverhältnisse zwischen Hund und Mensch erkennbar. So sage der Zustand der Hundeleine etwas über die Mensch-Hund-Beziehung aus: Lockere Leine bedeutet Harmonie, gestraffte Leine heißt widersprüchliche Vorstellungen darüber, wer führt.
Für ihre Recherchen interviewten Fletcher und Platt in Nordengland Menschen, die regelmäßig mit ihren Hunden spazieren gehen. Die meisten Befragten bezeichneten den Spaziergang als wesentlich für die Gesundheit und das Wohlbefinden ihres Hundes. Sie empfanden ihn nicht nur als »Pflichtübung« eines verantwortungsvollen Hundehalters, sondern es ging ihnen vor allem darum, den Hund glücklich zu machen.
Hundebesitzerin Jane sagte über ihren Spaziergang mit Copper, einem Afghanen-Rüden: »Am schönsten ist es, wenn ich Copper über das Feld rennen sehe. Ich habe einmal seine Geschwindigkeit gestoppt: Er schafft dreißig Meilen pro Stunde. Dann sieht er aus wie ein Gepard. Wenn ich ihn laufen sehe, wenn er so in seinem Element ist, dann spüre ich, wie glücklich mich das macht.«
Shira schafft natürlich nicht so ein Tempo, unser Fitnessprogramm hat seine Grenzen. Im Allgemeinen schleppt sie sich am Ende einer längeren Wanderung hinter mir her. Manchmal aber dreht sie auf und schnappt sich einen Stock, den sie unbedingt mitnehmen muss. Sie rennt damit voraus, wirft ihn hoch oder lässt sich auf ihn fallen und wälzt sich auf ihm, alle Beine in die Luft kickend. Nach solchen Tagen braucht sie mehr Zeit, um zu regenerieren. Meist lege ich dann einen Ruhetag ein mit nur kurzen Gassirunden.
Unser Zusammenleben hat eine neue Dimension erhalten. In unserem menschlichen Alltag ist das Tempo oft sehr hoch, und es bleibt keine Zeit, die kleinen Dinge zu entdecken. Shira bringt mich dazu, immer wieder innezuhalten und den Augenblick zu genießen.
Mein Leben mit meiner alten Hündin ist jetzt deutlich entspannter als zu ihrer Welpenzeit. Sie ist erzogen und es reicht ein Blick, damit wir uns verstehen. Shira ist ausgesprochen genügsam und einfach froh, in meiner Nähe zu sein. Im Gegenzug sorge ich dafür, dass ich mich auf ihre Bedürfnisse einlasse und mich ihrem Tempo anpasse.
Manchmal, wenn sie gar zu sehr trödelt und der Gassigang zum Gassistand wird, weil sie jeden Grashalm ausgiebig beschnüffelt, bin ich versucht, sie hinter mir herzuziehen. »Nun komm schon, ich hab nicht ewig Zeit.« Aber dann wird mir bewusst, dass ich mir eines nicht mehr fernen Tages wünschen werde, sie noch einmal beim Trödeln zu beobachten. Ich lerne, meine Eile zu zähmen und die Spaziergänge gemächlich zu gestalten. Ganz nebenbei komme auf diese Weise auch ich zur Ruhe.
Das Leben eines Hundes überspannt so viel in unserem Leben. Wir bekommen sie als Welpen, da sind sie süß und zauberhaft – und bringen uns zur Verzweiflung, wenn sie Schuhe oder Möbel zerkauen und Chaos im Haus veranstalten. Dann bringen wir ihnen gutes Benehmen bei, was manchmal auch gelingt. Unsere Verbindung vertieft sich im Laufe der Zeit. Und während unsere Hunde altern, verschieben sich die Gezeiten und wir lernen mehr von ihnen: Entspannen, Spaß haben und die einfachen Dinge des Lebens genießen. Das Leben ist eindeutig besser mit einem Hund an unserer Seite.
Unsere alten Hunde haben viele Erfahrungen gesammelt – mit der Jagd, mit Autos, Kindern, Fremden, Nachbarn, Tierärzten, anderen Hunden und Katzen. Und sie haben all diese Erfahrungen ihres Hundelebens nach zwei Kriterien ausgewertet: Ist es gut für mich oder ist es nicht gut für mich?
Darum muss ich als Hundebesitzer nicht mehr ständig auf der Hut sein – meine Hündin ist mit den Jahren klug geworden. Früher hat Shira gerne Hasen gejagt, durfte aber nicht. Heute darf sie sie jagen, fängt sie jedoch nie. Manchmal, wenn beim Spaziergang ein Langohr vor ihrer Nase vorbeihoppelt, dann schaut sie in die andere Richtung – absichtlich, als wollte sie die Beute gar nicht sehen. Der Hase interessiert sie nicht mehr. Ältere Hunde kalkulieren genau ihre Chancen. Es ist ihre eigene Erfahrung – nicht meine Erziehung –, die dieses vorbildliche Verhalten hervorruft. Und weil meine Seniorin einen fast unerschöpflichen Reichtum an Lebenserfahrung hat, ist sie meine absolute Traumhündin. Als sie noch ein anstrengender, aufmüpfiger Junghund war, hab ich mich auf diese Zeit gefreut. Wenn wir uns heute ansehen, mit einem Blick tiefer Seelenverwandtschaft, dann spiegele ich mich in ihren trüben Augen. Ja, meine Hündin ist alt – na und? Sie fühlt die Veränderungen und passt sich an, ohne ideologisches Theater. Das Alter ist ein interessanter und wichtiger Teil des Lebens. Es ist die Zeit, in der wir Hundebesitzer das ernten, was wir ein Leben lang gesät haben. Freuen wir uns also darauf.
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KÜMMERE DICH UM DEIN RUDEL
Mein Freund Bob ist Autor und frischgebackener Hundebesitzer. Kürzlich war er zur Buchpremiere einer Kollegin eingeladen, mit anschließender Cocktailparty. Unter den Kollegen gab es viel zu erzählen. Geduldig hörte Bob zu, als eine Autorin von ihrem neuen Buchvertrag berichtete. Dann endlich konnte er mit seiner aufregenden Neuigkeit herausplatzen: Ihm war auf einer Recherchereise in Spanien ein Hund zugelaufen, den er mit nach Hause genommen hatte.
»Ich war begeistert und erzählte und erzählte«, sagte Bob später zu mir. »Ich konnte gar nicht damit aufhören, zu berichten, wie wundervoll der Hund ist und welches Glück ich hatte, ihn adoptieren zu dürfen.«
Die Autorin habe eine Weile zugehört und dann gefragt: »Aber Sie umarmen und küssen ihn nicht, oder?«
Sie war sicher, dass seine Antwort entsprechend negativ ausfallen würde.
»Doch, natürlich. Die ganze Zeit!«, antwortete mein Freund und strahlte über das ganze Gesicht.
Daraufhin zog sich die Autorin in die Menschenmenge zurück, um sich mit jemand anderem zu unterhalten.
Noch vor ein paar Monaten wäre Bob auf ihrer Seite gewesen. Hunde und ihre Menschen haben ihn kaum interessiert. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so toll an ihren Viechern fanden. Dann traf er am Strand von Malaga Amigo, einen verdreckten, mageren Mischling mit grauer Schnauze, und schon war es um ihn geschehen.
»Er sah ein wenig so aus wie ich«, erzählte er mir und deutete auf seinen silbermelierten, kurz gestutzten Vollbart. »Amigo hatte beschlossen, dass er zu mir gehört. Er folgte mir überall hin. Da konnte ich ihn doch nicht zurücklassen.«
Der Streuner führte Bob in eine völlig neue Welt ein. Er traf Menschen, die er sonst nie kennengelernt hätte – beim Spaziergang im Stadtpark oder auf Ausflügen im Wald. Plötzlich hatte er, der zurückgezogene Einzelgänger, eine erweiterte Familie: fast zehn Millionen Hundebesitzer allein in Deutschland.
Wenn wir uns entscheiden, mit einem Hund zusammenzuleben, lassen wir uns auf einen lebenslangen Prozess des Übersetzens ein. Wir versuchen, die Hunde zu verstehen, und umgekehrt. Unsere Sprache ist eher die von Erwachsenen, die mit Babys reden – albern, unverständlich, nur uns bekannt. Die Namen, die ich Shira gebe, sind »Wackelschwanz«, »Zauberfee«, »Zuckermaus«. Versteht sie das? Vermutlich ist es ihr egal. Ich könnte sie auch »Staubsaugerbürste« oder »Relativitätstheorie« nennen. Es ist der Tonfall und meine Mimik, die zählen und ein freudiges Schwanzwedeln hervorrufen, sobald ich sie anspreche. Ich wüsste zu gerne, welche Namen sie für mich hat. »Schreibtischnudel«? Es gibt so vieles, was ich nicht weiß und nie erfahren werde.
Hunde zeigen uns eine Welt, die sich von der des Menschen deutlich unterscheidet, einen Ort, der uns alle verändert. Verliebe dich in einen Hund und du betrittst eine neue Sphäre, ein Universum, in dem es Rituale, Regeln und eine andere Art von Bindung gibt.