Die Welt zu Füßen - Hans-Joachim Löwer - E-Book

Die Welt zu Füßen E-Book

Hans-Joachim Löwer

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Beschreibung

Mit Sepp Dengg auf die Zugspitze, mit Olaf Reinstadler auf den Ortler, mit Marianne Ebneter auf die Jungfrau, mit Horst Fankhauser auf die Stubaier Gletscher. Große Ziele werden zu einem noch größeren Erlebnis, wenn man am Seil eines berühmten Guides geht. Der Autor war mit 18 Männern und Frauen, die schon Tausende von Bergfans geführt haben, in den Alpen unterwegs. Er bestieg bekannte, aber auch einsame Gipfel in Südtirol, Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Frankreich und Slowenien. Aus nächster Nähe zeichnet er dabei die Porträts von kühnen, knorrigen und doch leutseligen Typen. Es sind Persönlichkeiten, die so viel Sicherheit ausstrahlen, dass ihr Gast ihnen sein Leben anvertraut. Mit Infos zu den einzelnen Bergführern und Gipfeln.

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Zum Buch

Mit Sepp Dengg auf die Zugspitze, mit Olaf Reinstadler auf den Ortler, mit Marianne Ebneter auf die Jungfrau, mit Horst Fankhauser auf die Stubaier Gletscher. Große Ziele werden zu einem noch größeren Erlebnis, wenn man am Seil eines berühmten Guides geht.

Der Autor war mit 18 Männern und Frauen, die schon Tausende von Bergfans geführt haben, in den Alpen unterwegs. Er bestieg bekannte, aber auch einsame Gipfel in Südtirol, Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Frankreich und Slowenien. Aus nächster Nähe zeichnet er dabei die Porträts von kühnen, knorrigen und doch leutseligen Typen. Es sind Persönlichkeiten, die so viel Sicherheit ausstrahlen, dass ihr Gast ihnen sein Leben anvertraut.

Der Autor

Hans-Joachim Löwer, geboren 1948, lebt in Garmisch-Partenkirchen. Er war 16 Jahre lang Auslandsreporter für den „stern“ und zwei Jahre Redakteur für die deutschsprachige Ausgabe von „National Geographic“. Als freier Autor hat er seit 1991 zahlreiche Bücher publiziert, unter anderem über Reisen nach Afrika, Lateinamerika, in den Nahen Osten und große Teile Asiens. Er zog mit dem Rucksack fünf Wochen lang durch das besetzte Westjordanland, beschrieb an 25 Orten das „magische Mexiko“ und fuhr mit lateinamerikanischen Migranten auf einem „Todeszug“ Richtung USA. In Simbabwe erlebte er, als Tourist getarnt, die selbstzerstörerische Enteignungskampagne von Präsident Mugabe gegen die weißen Farmer, in Südafrika den moralischen Niedergang der Erben von Nelson Mandela. Zuletzt stieg er in Italien zur einstigen Alpenfront hoch, an der vor 100 Jahren der erste Hochgebirgskrieg der Geschichte tobte.

Mit freundlicher Unterstützung der Autonomen Provinz Bozen – Abteilung Deutsche Kultur über den Verband der Südtiroler Berg- und Skiführer und der Autonomen Region Trentino-Südtirol.

© Edition Raetia, Bozen 2015

1. Auflage

Korrektur:Ex Libris Genossenschaft, Bozen

Umschlaggestaltung:Dall’O & Freunde

Grafisches Konzept und Druckvorstufe:Typoplus, Frangart

Sämtliche Fotos stammen vom Autor, außer jene bei Kapitel 3, Foto 1 (Alexis Mallon),

bei Kapitel 12, Foto von der Payer-Hütte (Tappeiner AG),

Kapitel 16, Foto 1 (Hermann Biner), sowie alle Fotos bei Kapitel 17 (Horst Fankhauser).

ISBN ebook: 978-88-7283-531-9

ISBN Print: 978-88-7283-524-1

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Für Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected]

Inhalt

Vorwort

Edi Bohren: „Ich bin jeden Tag ein Anfänger“

Sepp Dengg: „Ich lasse mich von dir nicht jagen“

Alexis Mallon: „Wir dürfen nie den Erfolg versprechen“

Mario Senoner: „Die Kunst ist es, den Berg zu überlisten“

Klaus Hoi: „Was leicht fällt, ist bald vergessen“

Gudrun Weikert: „Du schaust jetzt mal nur auf den Weg“

Leo Blättler: „Du musst wissen, wo du hingehörst“

Giorgio Peretti: „Wir wollen Erinnerungen wachhalten“

Beat Supersaxo: „Hinterher weiß man es immer besser“

Klemen Gričar: „Dann klopfen sie dir auf die Schulter“

Christophe Profit: „Ich bin zum Tier geworden“

Olaf Reinstadler: „Wir können dem Berg nicht alles entlocken“

Renata Rossi: „Du musst den Berg lesen“

Paul Nigg: „Du musst gehen wie ein geprügelter Hund“

Alberto Re: „Ich habe einen hohen Preis gezahlt“

Hermann Biner: „So eine Beziehung hält bis zum Tod“

Horst Fankhauser: „Es war, als hätte ich Drogen genommen“

Marianne Ebneter: „Es wird schon alles gut“

Führer und Touren

Tourenübersicht

Der Autor

Vorwort

Dieses Buch erzählt keine alpinen Sensationen. Keine Erstbesteigungen, keine Rekorde, keine Heldentaten. Der Autor ist zwar passionierter Bergsteiger, klettertechnisch aber nie in die Liga der Besten vorgedrungen.

Das Buch ist also nicht für die Szene, sondern für ein breites Publikum geschrieben. Für Naturfans, die sich Träume verwirklichen wollen – aber wissen, dass man das im Hochgebirge besser nicht alleine tut. Auf Wanderpfaden, Gletscherrouten und Klettersteigen treffen sie unweigerlich einen Schlag von Menschen, denen man schon beim ersten Wortwechsel anmerkt, dass sie in den Bergen zu Hause sind.

Ich wollte sie persönlich erleben, diese Koryphäen, denen ein Bergsteiger sein Leben anvertraut. Der beste Weg, sie kennenzulernen, ist eine gemeinsame Tour. Diese sollte wie eine Achse sein, um die herum ein Porträt entsteht.

Es dauerte mehr als drei Jahre, bis alle Touren unter Dach und Fach waren. Mal gab es Probleme mit dem Wetter, mal mit den Wegeverhältnissen, mal mit dem Terminkalender. Ich ließ jedem Führer und jeder Führerin die freie Wahl, eine Tour nach eigenem Gusto auszusuchen – sie sollte nur nicht die Grenzen überschreiten, die mir von meinen Kräften und meinem Können her gesetzt waren.

Am Ende waren es 18 Touren mit 18 unverwechselbaren Charakteren, die zu den berühmtesten dieser Zunft gehören. Ein Bogen, der sich auf der Karte von Slowenien über Österreich, Deutschland, Italien und die Schweiz bis nach Frankreich zieht. 15 Männer und drei Frauen zogen in diesen sechs Ländern mit mir los – und öffneten damit einen Spalt, durch den ich ein wenig in ihre Seelen blicken konnte.

Sie haben alle mindestens 20, manche schon mehr als

40 Berufsjahre hinter sich, in denen kein Tag dem anderen gleicht.

Manche sind wie menschliches Urgestein, manche haben die Entwicklung des Alpinismus angetrieben. Als sie damit begannen, Menschen zu Gipfeln zu führen, gab es weder Sportklettern noch Canyoning, weder Gleitschirme noch Mountainbikes, weder Mobiltelefone noch GPS. Wie hat sich das Bergsteigen in dieser Zeit verändert? Und wie haben sich die Bergsteiger verändert? Niemand hat einen schärferen Blick dafür als Bergführer, die mit ihren Gästen für erregende, dramatische Stunden durch ein Seil verbunden sind.

Ich habe am eigenen Leib gespürt, was da alles am Seil hängt: Träume und Fantasien, Ängste und totale Erschöpfung – und am Ende doch das glückliche Gefühl, sich in die Hände eines Menschen begeben zu haben, der in einer Welt voller Gefahren schier grenzenlose Sicherheit verströmt.

Woher nehmen diese Typen das? Was treibt sie tief im Innern an? Und haben die denn gar keine Schwächen? Die 18 Porträts, die für dieses Buch entstanden sind, geben spannende Antworten.

Bozen, März 2015

Hans-Joachim Löwer

Edi Bohren, Jahrgang 1951, Bergführer seit 1973

Edi Bohren

Grindelwald, Schweiz

Ziel: Großer Simelistock

1

„Ich bin jedenTag einAnfänger“

Das Highlight, um das sich die Touristen scharen, lassen wir einfach mal hinter uns. Wir kehren der Eigernordwand respektvoll, aber entschlossen den Rücken zu. Natürlich beherrscht sie den Ort Grindelwald wie der Petersdom den Vatikan, ihr Anblick löst schaurige Fantasien aus, ihre Dramen von Heldentum und Tod haben Stoff für Bücher und Filme geliefert. Der Mann, der neben mir am Steuer sitzt, hat sie 1978 durchstiegen. Er war der erste Sohn Grindelwalds, der das Abenteuer wagte, bis dahin hatte ihr schrecklicher Mythos alle Einheimischen davon abgehalten. Ja, Edi Bohren erinnert sich noch gut, es war der dritte Sonntag im September, der eidgenössische Buß- und Bettag. Im „Götterquergang“ geriet er mit seinem Partner Fritz Imboden aus Ringgenberg in ein Schneetreiben, da hatten die Kirchenglocken, die sie von unten her läuten hörten, schon einen eigenartigen Klang. Aber man muss sich auch mal von dieser Wand befreien. Für mich ist sie ohnehin kein Thema. Rund um Grindelwald gibt es noch viele andere, spannende Geschichten.

Es ist sechs Uhr früh, wir fahren über die Große Scheidegg nach Osten in Richtung Meiringen. Das schmale, einsame Sträßchen ist für den Normalverkehr gesperrt, nur der Postbus und Leute mit Sondergenehmigung dürfen hier durch. Wir passieren das Hotel Rosenlaui, die berühmte Nostalgieherberge, in der es bis heute kein Fernsehen gibt, Toiletten und Duschen sich nur auf den Zimmerfluren befinden, und kommen in ein Jagdbanngebiet, wie der Schweizer Terminus heißt, in dem Steinadler kreisen, Hermeline auf Mäusejagd gehen, Birkhühner sich winters Schneehöhlen zum Schutz vor der Kälte graben. Mit einem Schlag ist der ganze Eiger-Trubel weg. Weniger ist mehr – wie fast immer im Leben.

„Der Mensch muss wissen, dass er gegen die Natur nie eine Chance hat.“

In früheren Zeiten zogen Säumer hier durch die Berge, so nach den Saumpfaden benannt, auf denen sie sich bewegten. Mit Pferden, Ochsen, Eseln und Maultieren transportierten sie Käse und Korn, Samt und Seide, Salz und Wein. Einheimische Rinderzüchter trieben Herden von Braunvieh, einer besonders geländegängigen Rasse aus dem Berner Oberland, auf zwei Routen nach Süden: Die eine lief über den Grimsel- und Griespass, die andere über den Susten und Gotthard. Im Durchschnitt waren sie zwei Wochen unterwegs, ihre Märkte lagen in Bellinzona und Mailand, von dort brachten sie Reis, Wein und Schnaps mit nach Hause. Erst nach dem Bau eines Schienenstrangs durch den Gotthardtunnel 1882 kamen diese Handelszüge zum Erliegen.

Wir reden über die Pionierzeiten des Alpinismus in Grindelwald. Über jene Revolution in den Köpfen, die sich im 19. Jahrhundert von England her ausbreitete. Die eingesessenen Älpler hatten bis dahin ihre Berge nur als Gegner betrachtet, als Quelle von Gefahr und Katastrophen; sie hatten weder die Zeit noch große Lust gehabt, sich den unheilschwangeren Gipfeln zu nähern. Nun kamen gebildete, vermögende Leute, Angehörige einer aus der Industrialisierung gewachsenen Bourgeoisie, und hatten nichts anderes im Sinn, als diese menschenfeindlichen Felsriesen zu erstürmen. Sie suchten mutige Leute mit Ortskenntnissen, denn es gab keine Karten und keine Literatur über die besten Anstiege. Tage-, wochen-, ja monatelang wollten die Engländer mit ihren Begleitern durch die Alpen ziehen, um Gipfel zu erreichen, auf die noch nie zuvor ein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Sie taten es nicht, um Geld damit zu machen, die ganze Plackerei war scheinbar ohne jeden Sinn – ein reiner Zeitvertreib.

„Anfangs schüttelten die Einwohner von Grindelwald nur die Köpfe“, sagt mein Führer. „Sie verstanden nicht, dass sich Menschen freiwillig solchen Gefahren aussetzten und das auch noch als Vergnügen empfanden. Sehr schnell aber sahen sie, dass ein Führer, der sich von Engländern anheuern ließ, an einem Tag mehr Geld verdiente als ein Hirte im ganzen Monat.“ So kam, aus rein monetären Gründen, bei den Einheimischen die Wende im Kopf zustande. „Bald saßen Grindelwalder Männer in Scharen auf den Dorfbänken und warteten auf Gäste aus England. Und jeder versuchte, den Konkurrenten im Preis zu unterbieten. Das gab natürlich auch eine Menge Streit.“ So erlebte das arme Bauerndorf Grindelwald vor 150 Jahren auf eindrückliche Weise, dass Geld ein Segen und ein Fluch sein kann.

Edi Bohren ist ein Führer, mit dem es Spaß macht, nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Tiefe zu gehen. Als wir aufsteigen zur Engelhornhütte, diskutieren wir über riesige Steinquader, die sich unter uns in einem Bachbett angesammelt haben. Wir sehen breite Furchen im Boden, die unseren Pfad kreuzen, hier rauscht nach starken Regenfällen das Wasser zu Tal, reißt Erde und Felsen rücksichtlos mit. Menschen, die oft in den Bergen sind, erleben aus nächster Nähe, wie die Wucht solcher Naturphänomene wächst, wie der Klimawandel eine Landschaft verändert. „Früher zogen die Menschen, wenn die Lebensbedingungen sich verschlechterten, einfach in ein anderes Tal“, sagt Bohren. Diese Zeiten aber seien vorbei, denn unbewohnte Täler, in denen es sich leben lässt, gebe es heute in den Alpen nicht mehr. Was lernen wir daraus? „Der Mensch muss wissen, dass er gegen die Natur nie eine Chance hat“, antwortet er. „Also stell dich nicht gegen sie, sondern versuche, dich einzuklinken in ihre Prozesse. Nur so wirst du auf Dauer überleben.“ Im Gewühle der Stadt, wo der direkte Blick auf die Natur versperrt ist, kommen einem solche Einsichten schwerer. Am Berg aber, wo der Boden unter deinen Füßen bröckelt, glaubst du alles viel besser zu verstehen.

Es ist Mitte August, eine zweiwöchige Hitzewelle neigt sich ihrem Ende entgegen. Eine Kaltfront, warnen die Meteorologen, rückt aus Nordwesten vom Atlantik her an Europa heran. Heute Nachmittag, spätestens am Abend sollen heftige Gewitter niedergehen, mit Starkregen und Hagelschlag. Wir ziehen sozusagen auf den letzten Drücker los, in der Hoffnung, dem Wetter ein Schnippchen zu schlagen und trocken nach Hause zu kommen. Bohren äugt nach oben, noch ist dort alles blau, doch wir werden Blickkontakt mit dem Himmel halten müssen, um nicht unversehens in schlechtes Wetter hineinzurennen.

Er hat sich für eine Tour entschieden, die mir zunächst gar nichts sagt. „Wir gehen in die Engelhörner“, hatte er am Telefon vorgeschlagen. „Okay, meinetwegen“, sagte ich, er hätte auch Teufelshörner sagen können, ich wusste nichts darüber und wollte auch vorher gar nichts wissen. So verzichtete ich bewusst darauf, mir irgendwo Daten und Fakten anzulesen. Er wird seine Gründe haben, sagte ich mir, also lass dich einfach überraschen.

Wir trinken einen Kaffee auf der Hütte, füllen die Wasserflaschen, dann ziehen wir weiter. Der Pfad zum Einstieg für die Route auf den Kleinen Simelistock windet sich in Serpentinen über grasdurchsetzte Gratausläufer. Um uns herum wachsen Wände in die Höhe, dann legen wir unsere Wanderstöcke an einer Stelle ab, die wir auf dem Rückweg passieren werden. Wir seilen uns an, tasten uns die ersten Felsplatten hoch. Dies ist für ihn wie für mich eine Art Testgelände, denn wir sind noch nie miteinander gegangen. „Aber ich merke schon nach den ersten Metern, ob es gut gehen wird“, sagt der Führer. Einer wie er, mit vier Jahrzehnten Berufserfahrung, spürt durch die pure Bewegung des Seils, wen er da hinter sich hat. Wenn es leicht und locker durchhängt, wird es wenig Probleme geben. Wenn es ruckt und sich häufig strafft, ist es ratsam, noch einmal über alles nachzudenken. Es ist die letzte Gelegenheit, bevor es ernst wird.

Noch gut in der Zeit: Bohren mit einem Blick auf die Uhr

Bohren nickt und murmelt: „Wird schon gehen.“ Das macht Mut, und so bleiben wir auch weiterhin am kurzen Seil, das uns direkt, ohne weitere Sicherung, miteinander verbindet. „Gehen am kurzen Seil ist immer riskant“, sagt er. „Denn ich habe allenfalls begrenzte Möglichkeiten, einen Sturz von dir aufzufangen. Ein Führer tut das auch nur, wenn er sicher ist, dass nichts passiert. Der große Vorteil des kurzen Seils ist, dass man deutlich schneller vorankommt. Jede Sicherung, die ich anbringen muss, wirft uns in der Zeit zurück. Viel Zeitverlust aber lässt das Risiko wieder steigen.“

Alpinismus, wie er ihn versteht, ist keine Konkurrenz, sondern genau das Gegenteil. Es ist die Fähigkeit, im Team zu agieren, sich möglichst harmonisch einander anzupassen. „Im Grunde bin ich jeden Tag ein Anfänger“, sagt Bohren, Jahrgang 1951. „Wenn ich das vergesse, kann es mich auch im Alter von über 60 noch runterhauen.“ Bohren war immer da, wenn Not am Mann war. Die Bergwacht in Grindelwald wusste, dass sie mit ihm rechnen konnte, wann immer sie um Beistand rief. Viele Jahre war er Ausbilder in Bergrettungskursen, und er gehörte zu den Ersten, die lernten, mit dem Longline-Seil zu arbeiten – einem neuen, in der Schweiz erfundenen System für Unglücksfälle an überhängendem oder besonders steilem Fels. Dabei gleitet der Retter bis zu 200 Meter unter dem Helikopter durch die Luft und ist mit dem Piloten per Funk verbunden. Er reicht dem Verunglückten, falls der noch bei Bewusstsein ist, einen rettenden Teleskopstock, oder er zieht sich, falls das Opfer reglos ist, mit diesem Stock an ihn heran. So braucht der Hubschrauber nicht so nahe an die Wand heranzufliegen und sich der Gefahr von Steinschlag auszusetzen.

„Gehen am kurzen Seil ist immer riskant, denn ich habe allenfalls begrenzte Möglichkeiten, einen Sturz von dir aufzufangen.“

Mit jeder Stunde verstehe ich besser, weshalb Bohren diese Tour gewählt hat. Sie bietet auf engstem Raum eine grandiose Vielfalt an Herausforderungen und ist wie zugeschnitten auf meine Fähigkeiten. Rasante Kletterei auf Platten, Schwierigkeiten meist im II. und III. Grad. Luftige Kletterei auf Graten, mit beklemmenden Seitenblicken nach unten. Herrliche Verschneidungen, raffinierte und verlockende Hilfslinien, die von der Natur gezogen wurden. „Dieser Berg“, sagt er, „ist wie ein offenes Buch.“

Der Führer darf nicht sein Tempo, sondern muss meines gehen. Dennoch habe ich das Gefühl, seine Schritte werden von einem inneren Computer gesteuert. Sie sind so fest und so gleichmäßig, dass man sie eigentlich nur noch nachahmen muss. „Wenn ich führe, darf ich nicht mit mir selbst zu tun haben – nur mit dir“, lautet sein Kommentar. „Merkt ein Gast, dass ich unsicher bin, laufen die Dinge schon aus dem Lot.“

Die Route wird immer kühner, je höher wir kommen. Mein Gott, in welches Inferno lockt mich dieser Führer hinein? Jeder Blick nach unten wird dramatischer, jeder Blick nach oben bedrohlicher. Ich spüre, wie Angst in mir aufsteigt. Seltsamerweise aber wächst im gleichen Maß das Vertrauen, das mich über das Seil mit Bohren verbindet. Er reizt wirklich alles aus in mir, lockt die letzten Reserven aus Körper und Seele. Ich muss über eine extrem ausgesetzte Kante, da habe ich fast das Gefühl, frei in der Luft zu stehen. Noch nie im Leben bin ich so riskant geklettert – und doch weiß ich, dass ich nicht stürzen werde. Nicht, solange ich am Seil von Edi Bohren hänge.

Ich mag es allerdings nicht, vom Führer über eine Stelle gezogen zu werden. Entweder du kletterst sie sauber, oder du lässt es sein – so etwa ist meine Devise. Nun häufen sich die Stellen, wo ich am Seil diesen Zug nach oben spüre, der mir signalisiert, dass ich es alleine nicht mehr schaffe. Nach knapp fünf Stunden bin ich tatsächlich auf den letzten Metern zum Kleinen Simelistock. Aber nun, das schwöre ich, ist Schluss.

„Dieser Berg ist wie ein offenes Buch.“

„Wenn du willst, können wir uns von dort unten abseilen“, sagt Bohren. Er deutet auf einen kleinen Einschnitt am Grat hinter dem Gipfel, dahinter türmt sich wieder wilder, schier unbesiegbarer Fels. „Aber es fehlen uns nur noch 90 Meter bis zum Großen Simelistock.“

„Nein, Edi, bitte sei mir nicht böse“, sage ich. „Diese 90 Meter gehe ich nicht mehr.“

„Warte mal ab, bis wir an der Stelle sind“, antwortet er. „Meißele deine Entscheidung nicht gleich in Stein!“

Ich setze innerlich den Trotzkopf auf. Nie werde ich das gehen, nie. Wir machen eine Rast und schauen uns um, es ist schwindelig schön hier oben.

„Wenn du die letzten Meter nicht machst“, fängt Bohren wieder an, „wirst du dich schon heute Abend darüber ärgern. Schau mal, ich zeige dir die Route, da hoch und rechts rüber und dann nach links durch den Kamin. Ich weiß, das Stück ist nicht leicht. Aber ich weiß auch, dass du es schaffst.“

Es ist ein dramatischer Dialog, den er da in mir auslöst. Es gibt wirklich gute Gründe, hier aufzuhören. In der sechsten Stunde ist die Kraft nicht mehr so wie in der ersten. Ich will Genuss haben und keine Quälerei. Ich bin kein Zwanzigjähriger mehr, sondern ein ganzes Stück über sechzig, da bist du einfach nicht mehr so wendig und auch nicht mehr ganz so unbekümmert. Zumal ich mit der Kletterei eigentlich erst im Alter so richtig angefangen habe.

Dagegen aber steht dieser Führer. Er kennt die Route ganz genau – und mittlerweile auch mich. Er hat Hochleistungsalpinisten auf den Kilimandscharo und Mount Kenya in Ostafrika geführt. Er stand mit sechs Seilgefährten nach zwölf Tagen Aufstieg bei Sturm und minus 34 Grad auf dem 6.193 Meter hohen Mount McKinley in Alaska, Nordamerikas höchstem Gipfel, der als kältester Berg der Welt gilt. Bohren hat jahrelang die Ausbildungsprogramme für Schweizer Bergführer geprägt, hat die Lehrgänge zentralisiert und modernisiert, hat das Führerbild vom Sockel des Allmächtigen gestoßen und einen modernen Dienstleister daraus gemacht. Er hat den Sherpas in Nepal das Rüstzeug gegeben, um Expeditionen auf die Achttausender des Himalaja zu führen. So einer zerrt mich doch nicht mutwillig ins Desaster. Er würde mir dieses letzte Stück nie vorschlagen, wenn er nicht sicher wäre, mich da durch zu kriegen.

„Glaub mir, du würdest es bereuen, wenn du jetzt aufgibst“, setzt er nach. „Schließlich bin ich ja auch noch da …“

Erschöpft, aber glücklich: der Autor am Gipfel

Ich gebe mich geschlagen. Stehe auf und nicke. Lege mein Schicksal in seine Hände. Meine Hände zittern, als ich an der Schlüsselstelle bin. „Schau mal, du bist gesichert an diesem Haken“, ruft Bohren von oben, „an den kannst du einen Elefanten hängen.“

Der entscheidende Zug, den ich mache, kommt mir vor wie die Vorstufe zum freien Fall. Dann bin ich durch und versuche, mich mit dem Rücken den Kamin hochzustemmen. Nein, gut sieht das nicht mehr aus, die Kraft ist einfach weg, und an den Platten rechts über mir finde ich auch keinen richtigen Halt. Ich fluche leise, weil ich am Seil zu baumeln beginne. Dann aber stehe ich doch keuchend auf dem höchsten Punkt. Großer Simelistock, 2.482 Meter, ach, was sagt schon diese Zahl. Ich danke Gott dafür, dass ich nur ein paar Schrammen habe. Und dem Führer, dass er ein so guter Psychologe ist.

Was wir um uns herum sehen, ist eine Arena für Extremisten, die den VI., VII. und VIII. Grad beherrschen. Die Kingspitze, der Rosenlauistock, das Große Engelhorn. Wände, die schon beim Anblick zum Fürchten sind. Weiter hinten der Rosenlauigletscher, wie eine große Schicht Sahne und doch voller tückischer Spalten. Das Auge wird trunken von dieser Szenerie. Nur wenn es nach unten schweift, die Aufstiegsroute zurück, packt mich ein wenig das Entsetzen. Wie um Himmels willen bin ich bloß hier hoch gekommen?

Lohn für die Mühe: Bohren am Gipfel

Wir schauen zum Himmel, da ziehen die ersten großen Wolkenballen auf. Noch herrscht eine fast unheimliche Stille, und doch wissen wir, bald bricht hier die Hölle los. „Wir haben Föhn“, sagt Bohren, „das ist heute unser Glück. Er schützt uns noch eine Zeit lang vor dem Gewitter. Erst wenn er zusammenbricht, kommt die Kaltfront voran.“

Wir bereiten uns für das Abseilen vor. Ich rausche unter Bohrens Kontrolle in die Tiefe, fast tut es mir nun leid, in ein paar lächerlichen Minuten all das hinter mir zu lassen, worum ich sechs Stunden gekämpft habe. Dann gehen wir wieder am kurzen Seil, noch immer mit bestürzender Sicht nach unten. Drüben am Wetterhorn sehen wir den ersten Regenschauer niedergehen, eine dunkelgraue, geisterhafte Wolkenwand, aus der es wohl heftig schüttet. Wir drücken unwillkürlich ein wenig aufs Tempo, denn es wäre nicht gut, so eine Tour wie diese auf klitschnassen Felsen zu beenden.

Ich blicke auf Pfade, die sich weiter unten die Hänge hochwinden. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts sind Wildheuer auf ihnen gegangen. So hießen in der Schweiz Männer, die mit Sensen bis in die Felszonen hinaufstiegen, um dort das letzte, spärliche Gras zu mähen. Sie trugen Holzschuhe mit Eisenkrallen, um in dem kirchdachsteilen Gelände nicht den Halt zu verlieren. Und liefen doch Gefahr, vom eigenen Schwung über eine Kante gefegt zu werden. Das Heu aus solchen Höhen, sagt Bohren, sei für das Vieh ein wahrer Leckerbissen, weil es so reich an Kräutern sei und hohen Nährwert habe.

„Glaub mir, du würdest es bereuen, wenn du jetzt aufgibst. Schließlich bin ich ja auch noch da …“

Aber was für eine Schinderei muss das gewesen sein! Die Männer packten das gemähte Gras in Netze, es wurden 100 Kilogramm schwere Ballen daraus. Dann warteten sie, bis der erste Schnee fiel, und stiegen die Hänge noch einmal hoch, die nun noch viel rutschiger waren. Sie knüpften, je nach Gelände, bis zu sechs Heuballen mit Drahtseilen zusammen und ließen diese Lasten dann über die Schneedecke zu Tal. Es war eine viehische Arbeit, die nun niemand mehr macht. Ein echter Kampf mit den Mächten der Natur.

Was haben wir heute für einen Luxus, denke ich. Die Wildheuer ächzten die Hänge hoch, weil sie gutes Viehfutter brauchten. Und wir tun das alles nur aus Jux und Tollerei. Als wir unsere Klettergurte ablegen, kramt Bohren aus seinem Rucksack ein Fläschchen Rotwein hervor, dazu zwei kleine Gläschen. Ich traue meinen Augen nicht. Der Mann hat wirklich Stil. Feierlich schlürfen wir den Rebensaft, die Augen zu den Engelhörnern gerichtet. Jeder Schluck ist wie ein königliches Siegel unter unsere Tour.

Sepp Dengg, Jahrgang 1938, Bergführer seit 1966

Sepp Dengg

Garmisch-Partenkirchen, Deutschland

Ziel: Zugspitze

2

„Ich lassemich von dirnicht jagen“

Einen Bergführer kannst du von hinten studieren. Nichts ist spannender als der Blick auf seine Beine. Der gleichmäßige, gleichmütige, wiegende Gang. Der leichte, federnde, wie ein Taktstock tickende Schritt, der dich unwillkürlich in seinen Rhythmus zieht. Schau nur auf diese Beine, und du weißt, du bist auf dem richtigen Weg.

Sepp Dengg bietet noch zusätzliche Einlagen. Ein kleiner Kick nur, und schon fegt er einen Stein aus dem Weg. Mal schnickt er ihn mit dem Innenrist, mal mit dem Außenrist zur Seite, die Krönung ist ein Hakenkick hinter dem Absatz, so wie wir das von begnadeten Fußballern kennen. Macht er die Kickerei etwa aus Spaß?

„Wenn jeder Wanderer nur ein paar Steine wegräumte …“, sagt er. „Stell dir mal vor, wie schön unsere Alpenwege aussähen!“

Ich tappe hinter ihm her und warte auf den nächsten Kick, und da fällt mir doch tatsächlich der große Immanuel Kant und sein Kategorischer Imperativ ein. Handle immer so, dass es ein gutes Beispiel für andere wird. Der Philosoph nannte es vor gut 200 Jahren das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. Dieser Mann da vor mir hat sich vermutlich nie mit Kant beschäftigt. Aber er hat den großen Denker perfekt verstanden. Ein Kick nur, das ist alles. Wieviel steckt hinter so einem Kick!

Am Berg gibt es keine unwichtigen Dinge. Zumindest nicht für Sepp Dengg, Jahrgang 1938, aus Garmisch-Partenkirchen. Jedes Detail wird wichtig im Lauf einer Tour, und so achtet er penibel darauf. „Lieber dreckige Hände und dreckiges Lachen als dreckige Sohlen.“ Einer der Sprüche, die er seinem Gast gern mit auf den Weg gibt. Auch da denkt er nicht an sich, sondern an seine Begleitung. Er will nicht, dass ich in Matsch oder Pfützen trete. Denn schlammige Sohlen bedeuten Rutschen, und Rutschen kostet Kraft, und die Kraft ist so kostbar, dass man sie nie nutzlos vergeuden darf.

„Wenn jeder Wanderer nur ein paar Steine wegräumte … stell dir mal vor, wie schön unsere Alpenwege aussähen!“

Wir wandern das Höllental hinauf, jene spektakuläre Schlucht, die sich von Garmisch-Partenkirchen bis zum Fuß der Zugspitze zieht. In wilden Kaskaden stürzt neben uns der Hammersbach zu Tal. Ein kleines Detail nur, sagt Dengg, könne manchmal über Leben und Tod entscheiden. Auf einem Waldweg, der sich zur Klamm hinzieht, halten wir inne am Kreuz für Otto Klausen, den einstigen Wirt der Höllentalangerhütte. Hier verlor er am 27. August 1979 sein Leben. Holzbalken überbrückten damals diese etwas abschüssige Stelle, eine frische Schicht Schnee lag auf ihnen. Klausen fuhr mit seinem Unimog talabwärts, rutschte plötzlich in Richtung Fluss, das Auto stürzte den Hang hinab, überschlug sich und blieb im tosenden Wasser liegen. Klausen ertrank, mit 45 Jahren, in der Blüte seines Lebens. Dengg merkt sich solche Geschichten. Er weiß, die Natur ist voller Tücken.

Viele Alpinisten toben in den Bergen ihr Ego aus. Ich will der Schnellste sein in der Wand, der Erste an diesem Pfeiler, der Kühnste an diesem Überhang. Sie brechen Rekorde wie Leichtathleten, hasten von Route zu Route und von Ruhm zu Ruhm, berauscht vom ewigen Kampf um Anerkennung. Da wirkt dieser Sepp wie ein ruhender Pol. Er, der Sohn eines Hirschhornsuchers, hat als Beruf Schlosser gelernt. Kam schon als Junge zur Bergwacht und lernte Menschenleben retten. Spürte, wie gut es ist, etwas für andere zu tun. Und sich dafür auch mal zurückzunehmen. „Ich bin eines von sieben Kindern“, sagt er. „Wahrscheinlich habe ich das schon in der Familie gelernt.“

Wir stapfen durch die Höllentalklamm, einen großartigen, 1.026 Meter langen, 150 Meter tiefen, nur zwei bis fünf Meter breiten Canyon. Da sind Wege, die von Gischt besprüht werden – auf insgesamt 569 Meter Länge wurden sie aus dem Fels gehauen. Da sind Stege, unter denen es brodelt – die Eisenstränge summieren sich auf 120 Meter. Da sind zwölf Tunnel, in die hinein es von außen drohend röhrt – insgesamt 288 Meter wurden für Hangdurchquerungen freigesprengt. 1905 wurde dieser abenteuerliche Steig fertig, den Arbeiter – damals noch ohne Pressluftbohrer – in den tobenden Schlund getrieben hatten. Sie waren dafür auf mehreren, aneinandergebundenen Holzleitern in das Bachbett hinabgestiegen.

„Naja, eine wilde Phase hatte auch ich“, sagt Dengg. „Wenn andere mich provozierten, habe ich gern mal die Sau rausgelassen.“ Er lieferte sich mit jungen Burschen ein Wettrennen hoch zur Meilerhütte am Wettersteinkamm, die Verlierer durften dort die Nacht nicht auf Matratzen verbringen, sondern mussten auf harten Tischen schlafen. Und den Weg zur Höllentalangerhütte, für Normalgeher zweieinhalb Stunden lang, rannte er mal in sage und schreibe 19 Minuten hoch. Aber das ist es nicht, was die Leute heute über ihn erzählen. Es sind ganz andere Geschichten.

Abends auf der Hütte rücken die Übernachtungsgäste nach dem Essen zusammen. Dengg greift zur Gitarre und singt Lieder auf Bayrisch, „aus dem prallen Leben gegriffen“, wie er sagt. Er zwinkert mit den Augen und schmunzelt, hält den Atem an für spannende Kunstpausen – dann bricht der spöttische Refrain über die Zuhörer herein wie die schäumenden Wogen draußen über die Schlucht.

„Sie müssen den Sepp in einer Gruppe erleben“, hat mir eine 91-Jährige gesagt, die Dutzende von Touren mit ihm gegangen ist. „In der Gruppe sehen Sie am besten, welches Talent er hat.“

Vier Jahre lang, von 1964 bis 1968, war er Wirt der Oberreintalhütte. Damals wurde er bei Touristen berühmt, weil er jeden Morgen seine Gäste mit Zitherspiel weckte. Jetzt, als wir uns der Hüttenruhe nähern, bringt der Wirt noch einmal Zirbenlikör und eine Flasche Rotwein. Wenn der Sepp da ist, dann ist alles ein bisschen anders. Ein guter Schluck gehört einfach zu dem Flair, das dieser Führer verbreitet. „Sepp, schreib endlich mal die Texte deiner Lieder auf!“, sagt der Chef der Höllentalangerhütte, der schon ganz glänzende Augen hat. „So was darf der Nachwelt doch nicht verloren gehen.“

Am nächsten Morgen um halb sechs sind wir auf dem Weg zu Deutschlands höchstem Berg. 1.600 Höhenmeter bis zum Gipfel der Zugspitze, das ist wahrlich kein Zuckerlecken. Erst 1878 ist diese Route erfolgreich gegangen worden, 58 Jahre nach der Erstbesteigung des Berges durch drei bayrische Kartografen. Abgesehen vom Jubiläumsgrat, einer reinen Kletterei, ist dieser Aufstieg von allen Varianten die rassigste und schwierigste.

„Gehen wir langsam, dann sind wir schneller oben“, sagt Dengg. Wieder einer seiner Sprüche, die wie Wegweiser in der Landschaft stehen bleiben.

Die erste steile Wand stellt sich uns in den Weg. Wir steigen auf eingebohrten Eisenstiften, „Leiter“ genannt, und krallen uns an ein Drahtseil, das seitlich über den Fels gespannt ist. Dann geht es, wieder auf Eisenstiften, über das „Brett“ ins Höllentalkar. „Die meisten glauben, sie hätten es schon geschafft, wenn sie hier angelangt sind“, sagt Dengg. „Aber danach geht es erst richtig los …“

„Gehen wir langsam, dann sind wir schneller oben.“

Kein Alpinist stapft gern durch Geröll, aber es hilft nichts, da müssen wir durch. Wo ein Gletscher ist, da sammelt sich Schutt, und je weiter sich das Eis als Folge der Klimaerwärmung zurückzieht, umso mehr bröckeliges Gelände wird freigelegt. Wer hier die Füße nicht richtig aufsetzt, tritt ganze Schwalle von Steinen los, verliert Boden bei jedem Schritt, kommt schnell ins Keuchen und gefährdet noch dazu Leute, die hinter ihm gehen. So hat Dengg auch hier einen strengen Spruch, eine Mahnung vor mutwilliger Prasselei.

„Bergsteiger soll man sehen können“, sagt er, „aber nicht hören.“

Der Höllentalferner hat von den fünf kleinen Gletschern, die es in den deutschen Alpen noch gibt, die größte Überlebenschance. Der Südliche und Nördliche Schneeferner, das Blaueis und der Watzmanngletscher werden vermutlich in 30 Jahren verschwunden sein. Der Höllentalferner aber liegt im schützenden Schatten der Zugspitznordseite, sein Eis hat noch immer eine Mächtigkeit von bis zu 50 Metern. Immer steiler zieht er sich zu den Felswänden hoch, die rechts und links in den Himmel ragen. Wir gehen Ende Juni und haben Glück, dass noch eine Schneeschicht über dem harten Eis liegt. Später im Sommer, wenn sie abgetaut ist, kommt man hier nur noch mit Steigeisen hoch.

„Die Natur diktiert unsere Schritte“, sagt mein Führer, „wir aber lenken sie.“

Es ist zehn Uhr morgens, die Sonne hat den Schnee noch nicht sehr aufgeweicht. Das macht ein Gehen ohne Steigeisen schwer. Dengg haut mit Doppeltritten kleine Stufen, wenn er eine neue Spur legt. Und versucht, die Trittfläche abzuflachen, wo er alten, abschüssig gewordenen Spuren folgt. Ein einziger Ausrutscher nur, und du rast hier nach unten, die quer liegenden Spalten dort haben schon öfter Menschen verschlungen und sie lebend nicht mehr hergegeben.

„Schau genau hin, wo du die Füße setzt“, sagt Dengg. „Immer genau in meinen Abdruck treten.“ Mein ganzes Gewicht liegt auf halber Sohlenbreite, in dieser schmalen Schneekerbe und auf den Stöcken, die ich in den gefrorenen Schnee ramme. Es kommt wirklich auf Zentimeter an. Dengg weiß, dieser Mann hinter ihm hängt von jedem seiner Schritte ab. So geht er, Schritt für Schritt, auch geistig dessen Weg.

Bloß nicht zu wenig trinken: Sepp Dengg im Höllentalkar

Die Randkluft ist das schwierigste Stück der ganzen Tour. Mit jedem Sommertag zieht das Eis sich ein paar Zentimeter von den Felsen zurück. So wird der Spagat immer größer, um vom oberen Gletscherende wieder auf Gestein zu kommen. Fast senkrecht fallen die Felsen hier ab, wieder sind Stifte und Seile in Sicht. Aber zu viel auf einmal stürzt auf mich ein: Ich soll mich sichern mit zwei Karabinern, doch ich habe auch noch zwei Stöcke in der Hand und so verheddere ich mich mit Schlingen und Gurten. Unter mir gähnt der Abgrund. „Gib mir deine Stöcke“, ruft Dengg, nun hat er außer seinen auch noch meine in den Fingern – aber nur so bin ich aus dieser Lage zu retten. Mein Klettersteigset, das einen Sturz auffangen soll, geht mir auf den Geist. Ausklinken, einklinken, ausklinken, einklinken – so schiebt man die Karabiner am Drahtseil Stück um Stück nach oben. Aber das ist Geklapper und Geklimper, kein Gehen. Dengg sieht, dass die Sicherung mich eher nervt. So lässt er mich frei. Nun klettere ich nur mit den Händen, und plötzlich läuft alles wie geschmiert. Ich komme flüssiger, schneller, sicherer voran. Ich kann mich ganz den Felsen widmen.