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Tod im Namen der Religion Hassparolen an Klostermauern, Brandanschläge auf Kirchen, Menschenhatz auf offener Straße: Die Christen im Nahen Osten erleben eine blutige Zeit. Fanatische Islamisten, aber auch extremistische Juden haben ihnen den Kampf angesagt. Ausgerechnet in der Region ihres Ursprungs ist eine zweitausendjährige Kultur vom Untergang bedroht. Drei Monate lang recherchierte Hans-Joachim Löwer an den Fronten des derzeit größten Konfliktherds der Welt, von der Türkei über Syrien bis nach Ägypten. Er traf einen gefolterten Priester, traumatisierte Flüchtlinge und Mönche, aber auch Christen, die mit Waffen um ihr Überleben kämpfen. Doch es gibt nicht nur Hass: Der Autor entdeckte auch erstaunliche Projekte interreligiöser Zusammenarbeit, die aller Gewalt trotzen und Hoffnung für eine friedlichere Zukunft geben. Aus dem Inhalt • Vakifli (Türkei): Wie das letzte Armenierdorf mit seiner Geschichte umgeht • Wadi Natroun (Ägypten): Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben • Maala (Syrien): Wo ein Pilgerort zum Schlachtfeld wird • Sinya (Irak): Wie eine christliche Familie sechs Monate unter dem „Islamischen Staat“ übersteht • Jerusalem (Israel): Wie radikale Kräfte auf Kirchenmänner losgehen • Bethlehem (Palästina): Weshalb Christen den Geburtsort Jesu verlassen u.v.m.
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Seitenzahl: 351
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Hans-Joachim Löwer
Mit Feuer und Schwert
Wie Christen heute im Nahen Osten verfolgt werden
Cover
Titel
Vorwort
BLUT IM BODEN
KAPITEL 1 · VAKIFLI – TÜRKEI„Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“
Wie das letzte Armenierdorf mit seiner Geschichte umgeht
KAPITEL 2 · WADI NATRUN – ÄGYPTEN„Man kann es aus den Gesichtern lesen“
Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben
KAPITEL 3 · LASSA – LIBANON„Wir haben vor euch keine Angst!“
Wie der Streit um eine kleine Kapelle eskalierte
WUT IN DEN KÖPFEN
KAPITEL 4 · TRIPOLI – LIBANON„Wir warnen dich“
Weshalb eine Bibliothek in Brand gesetzt wird
KAPITEL 5 · KHABUR-TAL – SYRIEN„Wo war denn unser Gott?“
Wie Kirchen in Trümmer sinken
KAPITEL 6 · KIRKUK – IRAK„Sie wissen nichts von ihren Wunden“
Wie Albträume den Alltag von Flüchtlingen beherrschen
KAPITEL 7 · DELGA – ÄGYPTEN„Sie haben euch doch nichts getan“
Wie ein aufgepeitschter Mob Jagd auf Christen macht
KAPITEL 8 · MAALULA – SYRIEN„Sie haben uns getäuscht“
Wie ein Pilgerort zum Schlachtfeld wird
KAPITEL 9 · MINYA – ÄGYPTEN„Es braucht nur ein paar Streichhölzer“
Wie ein Jesuitenzentrum in Flammen aufgeht
FREIHEIT DURCH FEILSCHEN
KAPITEL 10 · SINJAR – IRAK„Ihr habt jetzt drei Optionen“
Wie eine Familie sechs Monate unter dem „Islamischen Staat“ übersteht
KAPITEL 11 · KIRKUK – IRAK„Er ist unser James Bond“
Wie ein Mittelsmann mit Geld vom Bischof IS-Geiseln freikauft
LEIDEN FÜR GOTT
KAPITEL 12 · BAGDAD – IRAK„Wir haben noch die ganze Nacht“
Wie ein Priester von Milizen gefoltert wird
KAPITEL 13 · KLOSTER MAR MATTAI – IRAK„Mein Reden wird mich den Kopf kosten“
Wie ein Mönch an der Front die IS-Kämpfer sieht
KAPITEL 14 · JERUSALEM – ISRAEL„Wir werden euch kreuzigen“
Wie radikale Juden auf Kirchenmänner losgehen
LEBEN IN ANGST
KAPITEL 15 · DAMASKUS – SYRIEN„Es kann jeden Moment passieren“
Weshalb Christen lieber auf einen Diktator setzen
KAPITEL 16 · KAIRO – ÄGYPTEN„Herr, erbarme dich“
Weshalb Müllsammler sich um einen Felsendom scharen
KAPITEL 17 · TRIPOLI – LIBANON„Sie wussten genau die Adressen“
Weshalb Alkoholverkauf zum Todesrisiko werden kann
KAPITEL 18 · BETHLEHEM – PALÄSTINA„Sie töten unsere Zukunft“
WORTE STATT WAFFEN
KAPITEL 19 · ANTAKYA – TÜRKEI„Ein paar Minuten Stille“
Wie sich Menschen in einem Friedenshaus begegnen
KAPITEL 20 · BEIRUT – LIBANON„Wir müssen etwas für unsere Kinder tun“
Wie Christen und Muslime aufeinander zugehen
KAPITEL 21 · ALEXANDRIA – ÄGYPTEN„Wie schön, deine Stimme zu hören“
Was ein christliches Krankenhaus mit islamistischen Patienten erlebt
KAPITEL 22 · NAZARETH – ISRAEL„Die wollen uns enteignen“
Weshalb Schulleiter einen Schulstreik ausrufen
KAPITEL 23 · BAALBEK – LIBANON„Dies ist ein Angriff auf den Islam“
Weshalb eine Schule unter Feuer genommen wird
WORTE UND WAFFEN
KAPITEL 24 · DOHUK – IRAK„Was soll ich in Berlin?“
Wie christliche Assyrer ihre Zukunft sehen
KAPITEL 25 · QAMISHLI – SYRIEN„Mein Vater ist stolz auf mich“
Wie ein neues Denken um sich greift
TROTZ UND TRÄNEN
KAPITEL 26 · BAR‘AM – ISRAEL„Ich bitte Sie um etwas Geduld“
Wie vertriebene Dorfbewohner seit fast 70 Jahren um ihr Land kämpfen
KAPITEL 27 · ANKAWA – IRAK„Wir machen uns gegenseitig Mut“
Wie Flüchtlinge sich nach der verlorenen Heimat sehnen
KAPITEL 28 · KAFRO – TÜRKEI„Manchmal muss man etwas opfern“
Wie schwer die Rückkehr aus dem Westen ist
KAPITEL 29 · DİYARBAKĪR – TÜRKEI„Du musst es dir selber sagen“
Wie „Krypto-Armenier“ ihre Identität entdecken
KAPITEL 30 · BAALBEK – LIBANON„Ich wusste, was ich vor mir hatte“
Wie die Tochter eines Scheichs sich gegen ihren Vater auflehnt
Übersichtskarte „Christen im Nahen Osten“
Dank
Weitere Bücher
Impressum
Für dieses Buch war ich drei Monate lang von September bis Dezember 2015 in sechs Ländern des Nahen Ostens unterwegs. Dort sinken nicht nur Städte und Dörfer in Trümmer, es stirbt auch ein Stück Kultur mit einer zweitausendjährigen Geschichte. Vom Euphrat bis zum Nil droht dem Christentum der Untergang – ausgerechnet in der Region, wo es einst entstand. Was sind die Gründe für diese Agonie? Wer ist dafür verantwortlich, dass Kopten und Katholiken, Maroniten und Melkiten, Griechisch- und Syrisch-Orthodoxe seit Jahren in Scharen den Orient verlassen? Welche Schuld haben die Christen selbst? Trägt Europa am Ende auch noch dazu bei?
Die Antworten sollten nicht von mir, sondern von Menschen vor Ort kommen. Denn sie erfahren am eigenen Leib, was Religion in dieser Weltgegend bedeutet, in der außer den Christen auch Juden und Muslime ihre historischen Wurzeln haben. Religion kann eine Quelle großer geistiger Kraft sein, aber auch eine Quelle von Zerstörungswut, in der sich nichts anderes als Neid und Gier, Machthunger und Machodenken austoben.
Die Recherchen, die ich in dieser gefährlichsten Konfliktregion der Welt betrieb, waren nicht immer ganz einfach. Oft war ich auf die Hilfe von Übersetzern für Arabisch, Aramäisch und Kurdisch angewiesen. Häufig musste ich erleben, dass Menschen aus Furcht nicht wagten, mit mir Kontakt aufzunehmen. Manchmal waren sie dazu unter der Bedingung bereit, dass ich versprach, ihre Namen nicht zu nennen.
Wer in Ländern arbeitet, die von Terror und Gewalt gezeichnet sind, muss immer abwägen, wie viel Risiko die Suche nach der Wahrheit rechtfertigt. Wo immer ich eine Chance sah, habe ich Anstrengungen unternommen, um die erhaltenen Informationen durch die Befragung oder das Studium anderer Quellen zu verifizieren. Doch waren mir in vielen Fällen Grenzen gesetzt: Ein Besuch bei der „Gegenseite“, der üblicherweise zu einer Recherche gehört, hätte nichts anderes bedeutet, als meine Arbeit, meine Freiheit oder gar mein Leben aufs Spiel zu setzen. In solchen Fällen versuchte ich zumindest, meine Informationen mithilfe einer dritten, unabhängigen Seite zu überprüfen.
Die Menschen, die mir ihre Erlebnisse erzählten, hatten für mich als Autor einen großen Vorteil: Sie waren in ihrer großen Mehrheit keine professionellen Sprecher von Parteien oder Kirchen, Organisationen oder Institutionen. Sie waren nicht dafür trainiert, bestimmte Nachrichten in die Medien zu lancieren, um dadurch erwünschte Wirkungen zu erzielen. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie auf Anhieb immer die reine Wahrheit sagten. Aber Unstimmigkeiten und Widersprüche, die häufig auftauchten, waren in der Regel durch hartnäckiges Nachfragen bei ihnen selber oder in ihrer Umgebung zu klären. Fast immer stellte sich am Ende heraus: Es stand kein böser Wille dahinter, sondern es waren Erinnerungsschwächen oder Missverständnisse mit dem/der Dolmetscher/in – meist jedoch fehlende Erfahrung darin, leidvolle Erlebnisse gedanklich präzise und prägnant zu strukturieren.
Die Fakten, die ich zusammengetragen habe, mögen nicht jedermann gefallen. Das ändert aber nichts daran, dass es Fakten sind. Und ich meine allerdings schon, dass man nicht die Fakten seinem Weltbild, sondern sein Weltbild den Fakten anpassen muss.
Hans-Joachim Löwer
Bei lokalen Namen und Begriffen sowie bei Namen von Personen öffentlichen Interesses wurde die in den Medien geläufigste Transkription gewählt, auch wenn diese nicht immer als „richtig“ im Sinne sprachwissenschaftlicher Vorgaben gilt. Bei den Namen der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wurde die von den jeweiligen Personen verwendete Schreibweise beibehalten.
KAPITEL 1 · VAKIFLI – TÜRKEI
Wie das letzte Armenierdorf mit seiner Geschichte umgeht
Bin ich im Garten Eden angekommen? Rote Rosen, die Toreingänge überwölben. Gelbe Ginstersträucher, die in der Sonne leuchten. Orangen- und Zitronenbäume zu beiden Seiten der Straße, die Früchte greifbar nahe und verführerisch durch das Blattwerk schimmernd. Hinter Geflechten aus Ästen und Zweigen verstecken sich schmucke Landhäuser und stille Villen – Residenzen des Rückzugs aus der lärmenden Welt. Ausflügler, die in Vakıflı landen, stoßen Rufe des Entzückens aus. Sie spähen durch die blühenden Büsche, um noch ein Stück mehr von diesem Paradies zu erhaschen. Zücken ihre Kameras, um ein paar Bilder mit nach Hause zu nehmen. Ziehen eine Schleife durch das verwunschene Dorf und spüren, dass hier irgendetwas anders ist. Vakıflı liegt an einem Hügel, 27 Kilometer südlich von Antakya, neun Kilometer vor der Mittelmeerküste. Wer hierherkommt, nimmt eine kleine Auszeit vom Leben. Ein Aquädukt, das die Gärten versorgt, zieht sich einen Steilhang entlang. Direkt an der Straße plätschern die Fluten über eine zehnstufige Treppe nach unten, ein Wasserfall als rauschender Höhepunkt des Dorfrundgangs.
An diesem Tag steigen nacheinander drei Brautpaare aus dekorierten Limousinen, um vor dieser Kaskade für Hochzeitsbilder zu posieren. Die angeheuerten Fotografen fangen die Frischvermählten in romantischen Posen ein: die Frau, von hinten zart an seine Schultern geschmiegt, der Mann, das Haupt ihr zugeneigt, dann beide lächelnd einander zugewandt, wie sie einen Blumenstrauß umfassen – Symbol des neuen, gemeinsamen Glücks. Ein Teehaus ist das Zentrum des Ortes. Hier stoppt alle zwei Stunden ein dolmuş, das türkische Sammeltaxi, das Vakıflı mit dem fünf Kilometer entfernten Städtchen Samandağ verbindet. Touristen parken ihre Autos vor der Terrasse, ehe sie ihren Bummel beginnen. Unter schattigen Bäumen sitzen alte Männer auf Plastikstühlen und verbringen den Tag mit tabla und sadranç, beliebten Brettspielen des Orients, die sie geradezu süchtig machen.
Dieses Dorf, so scheint es, ist eine pittoreske Sommerfrische, den Sorgen des Lebenskampfes enthoben. Es gibt auch keine Infotafel, die darüber aufklärt, welches Drama hier vor hundert Jahren ablief. Kein Monument, kein Museum, nichts. Es ist, als habe die laue Brise, die häufig über den Hang weht, das historische Drama in alle Winde verstreut. Oft wundern sich türkische Gäste, dass die Bewohner von Vakıflı untereinander nicht Türkisch sprechen. Es gibt hier auch keine Moschee, nur ein kleines, sorgsam gepflegtes Gotteshaus mit einem Kreuz auf dem Glockenturm. Die Grabsteine auf dem Friedhof gegenüber haben Inschriften in lateinischen, aber auch ganz andersartigen Buchstaben. Vakıflı ist ein armenisches Dorf – das einzige, das es in der Türkei noch gibt.
Es ist Sonntagmorgen und aus der Kirche dringen uralte Choräle hinaus in die Obstplantagen. Pater Avedis Tabașian kommt alle zwei Wochen aus Iskenderun, um hier eine Messe nach armenisch-apostolischem Ritus zu feiern. Pater Housig Hergelian aus Istanbul, der im Dorf seinen Urlaub verbringt, predigt allerdings lieber auf Türkisch. Die Leute hier würden ihn nur schlecht verstehen, weil das Armenisch von Vakıflı ganz anders klingt als das Armenisch, das in der Großstadtgemeinde am Bosporus gesprochen wird. Staunend lauschen die Touristen den seltsamen Lauten, Liedern und Gebeten, die da nach draußen dringen. Die Texte verhallen, ohne verstanden zu werden.
Die Armenier, eines der ältesten christlichen Völker, siedelten seit 2.700 Jahren bis Anfang des 20. Jahrhunderts im ostanatolischen Teil des Osmanischen Reiches. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden sie wegen angeblicher Kollaboration mit Russland massenweise massakriert oder in Wüstenregionen deportiert. Schätzungen zufolge kam dadurch mehr als eine Million Menschen ums Leben. Der heutige Staat Armenien am Südrand des Kaukasus ging 1991 aus der Erbmasse der Sowjetunion hervor und hat drei Millionen Einwohner. Ein Großteil der Armenier aber lebt in der ganzen Welt verstreut. Die Armenisch-Apostolische Kirche zählt neun Millionen Mitglieder. Der Armenisch-Katholischen Kirche, die mit Rom uniert ist, gehören gut 500.000 Gläubige an.
Ich versuche das Schweigen zu durchbrechen, das sich über dieses Bergdorf gelegt hat. Panuş Çapar, Jahrgang 1932, gilt als jemand, der viel über die Geschichte weiß. Doch was er mir berichtet, liegt 200, 500, 1.000 Jahre zurück. Kein Wort darüber, was vor hundert Jahren geschah. Er habe zwar selber ein Buch geschrieben, lässt er mich wissen, das habe er aber noch niemandem gezeigt, denn er wolle es seinen Enkeln vererben, sozusagen als Vermächtnis seines Lebens. Eine Gruppe von Amerikanern, die mit ihrem Führer zu Besuch kommt, befreit ihn von meinen bohrenden Fragen. Wie mit der Reiseagentur besprochen, spielt er Flöte und singt alte armenische Lieder, die Gäste machen davon Videoclips und sind stolz, für ein paar Minuten ein lebendiges Stück „history“ in ihren Reihen zu haben.
Ich mache einen zweiten Versuch. Da ist Harabet Doğan, 1941 in Vakıflı geboren. Er war fünf Jahre Import-Export-Händler im Libanon und ging 1973 nach Deutschland. In Kirchenlamitz bei Hof arbeitete er in einer Porzellanfabrik, in Osnabrück in einer Margarinefabrik, dann machte er sich mit einem Lederwarengeschäft in Bad Essen selbstständig. Seit 2008, als er sich pensionieren ließ, verbringt er jedes Jahr sieben bis acht Monate in seinem Geburtsort. Es zieht ihn zurück zu seinen Wurzeln – doch was vor hundert Jahren geschah, darüber will auch er sich lieber nicht zu ausführlich unterhalten. „Es ist besser, die alten Wunden nicht wieder aufzureißen.“
Immerhin beschließt er, ein Foto sprechen zu lassen: Er bringt von zu Hause ein Bild mit, das schon vom Alter gezeichnet ist. Ein seltsames Monument aus Stein ist darauf zu erkennen, der linke Teil sieht aus wie ein Schiff, der rechte wie eine Kirche. Das Foto trägt eine Inschrift in armenischen Buchstaben, die Doğan aber gar nicht lesen kann, weil er in der Schule nie diese Zeichen gelernt hat. Wir holen Pater Housig herbei, nur er als Priester ist der armenischen Schriftsprache kundig, und der Kirchenmann liest uns feierlich vor: „Wir müssen uns den Mut unserer gefallenen Helden erhalten – wo immer wir auch leben.“
Dieses Foto bricht für kurze Zeit den Bann. Es zeige ein vier Meter hohes Monument, sagen Dorfbewohner, die mich jetzt neugierig umringen, Anfang der 1920er-Jahre hätten es Armenier errichtet und die Bausteine dafür auf Pferden hinaufgeschleppt. Es sei auf dem berühmten Höhenzug gestanden, an dessen Flanke Vakıflı liegt. 1982 hätten türkische Soldaten das Denkmal demoliert, weil es angeblich in der Türkei keine Armenier mehr gäbe, also auch kein armenisches Denkmal mehr nötig sei. Die verbliebenen Reste seien mittlerweile restauriert – aber es sei ein weiter, schwerer Weg dorthin, man brauche einen Esel dafür und einen ortskundigen Führer. Dann ist es aber auch genug mit diesem Thema und die Alten kehren zu ihren Brettspielen zurück.
Der Gipfel, von dem sie sprachen, heißt auf Deutsch „Berg Musa“. Unter seinem türkischen Namen „Musa Dagh“ ging er in die Weltliteratur ein. Wie kein anderer steht er für den Untergang eines Volkes, obwohl er ja zur Stätte einer geradezu wundersamen Rettung wurde. 1915, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, führte der Ex-Offizier Moses Der Kalousdian rund 4500 Armenier aus umliegenden Dörfern auf diese 1355 Meter hohe Erhebung des Nur-Gebirges. Dort wollten sie den osmanischen Truppen Widerstand leisten, die Hunderttausende von Armeniern entweder gleich massakrierten oder auf Todesmärsche in die mesopotamische Wüste schickten. So wollten die Türken ihr zerbröckelndes Reich ein für allemal von diesem christlichen Volk säubern, weil es angeblich mit dem feindlichen Russland kollaborierte. Es war, so die Mehrheit der Historiker, ein Völkermord, der gut fünfundzwanzig Jahre vor Hitler mit der Judenvernichtung begann.
Die Armenier, die sich auf dem Bergrücken verschanzt hatten, sahen die Soldaten immer näher an ihre letzte Bastion heranrücken. In ihrer Verzweiflung hissten sie zwei Fahnen, die bis auf das Mittelmeer hinaus sichtbar waren. Die eine trug ein rotes Kreuz auf weißem Grund, die andere eine Aufschrift in englischer Sprache: „Christians in distress: Rescue!“ („Christen in Not: Rettet uns!“) Um den Blick darauf zu lenken, entzündeten sie abends ein Feuer. Nach ein paar Tagen entdeckten Matrosen eines französischen Kriegsschiffes, das vor der Küste kreuzte, die Fahne mit dem Schriftzug. Drei weitere Schiffe ihres Flottenverbands wurden hinzugerufen, die Franzosen nahmen die Türken unter Beschuss, so wurden alle Armenier gerettet, die noch am Leben waren. Die vier Schiffe brachten sie nach Ägypten. 53 Tage hatte ihr Widerstand gedauert, der österreichische Schriftsteller Franz Werfel schrieb darüber den epochalen, dramaturgisch etwas gewandelten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“.
Alte Männer beim Brettspiel in Vakıflı. Die Vergangenheit des Dorfes am Musa Dagh möchten sie lieber ruhen lassen.
Nach Kriegsende 1918 durften die Überlebenden in ihre Dörfer zurückkehren. Die Kolonialmacht Frankreich hatte diesen Teil des zerschlagenen Osmanischen Reichs unter ihre Verwaltung genommen. 1939 aber wurde die Region Hatay wieder der Türkei angeschlossen. Fast alle Armenier flüchteten in den Libanon, so leerten sich sechs von sieben christlichen Dörfern, die es damals rund um den Musa Dagh gab. Die 130 Bewohner, die heute noch in Vakıflı leben, sind so etwas wie die Letzten ihrer Art.
Unterhalb der Kirche steht eine von drei Pensionen, die die Dorfbewohner für Touristen eingerichtet haben. Im Hof verkaufen Frauen Produkte aus ökologischer Landwirtschaft: Granatapfelsirup sowie Marmeladen aus Rosen- und Orangenblüten, Grapefruit und Kirschen, Feigen, Walnüsse und Papayas. Ich streife an einem Zaun entlang, der behängt ist mit nostalgischen Fotos aus einer versunkenen Zeit. Ganz hinten hängt unter Baumzweigen tatsächlich eine kurze Chronik, die von der Rettung der Armenier berichtet. Es ist der einzige schriftliche Hinweis auf dieses Drama, den ich im Dorf gefunden habe. Kein Satz aber über den Genozid, den Hintergrund dieses Ereignisses. Jede türkische Regierung hat ihn bislang bestritten, und wer es dennoch in diesem Land behauptet, riskiert bis zu zwei Jahre Gefängnis wegen „Herabsetzung der türkischen Nation“.
Ich treffe Kuhar Kartun, die Frauenbeauftragte der Kooperative von Vakıflı. Sie ist Jahrgang 1962 und lebt seit gut 25 Jahren im Ort. Ihr Großvater gehörte zu den Helden des Musa Dagh, so sieht sie es eigentlich als Aufgabe an, Besuchern von der Geschichte des Dorfes zu erzählen. Doch auch sie tut es eher zögerlich und stockend, als wir uns dem Thema „Völkermord“ nähern. „Wir wollen in Frieden leben“, sagt sie. „Wir kämpfen hart genug darum, dass unsere Kinder hier überhaupt eine Zukunft haben. Wir werden ja nur deshalb gut behandelt, weil wir so wenige sind.“ Das Geschäft mit der Ökonische funktioniere eher schlecht als recht. Die meisten jungen Leute seien daher schon nach Istanbul gegangen.
Ich fange an, ihr ein paar Ideen vorzuspinnen. Man könne das Drama am Musa Dagh touristisch richtig groß einschenken, mit Dokumentarfilmen und einer Ausstellungshalle und historischen Wanderpfaden am Berg. Aber je länger ich davon fabuliere, umso entgeisterter schaut die Frau mich an. „Wir wären wohl damit überfordert“, sagt sie schließlich, „diese ganze Geschichte hier aufarbeiten zu wollen.“ Sie weiß natürlich, dass der Teufel los wäre, wenn die Leute von Vakıflı so etwas ernsthaft versuchen wollten.
Manchmal stellen türkische Touristen Fragen, bei denen es ihr schwer fällt, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Wie kommt es denn, dass es euch noch gibt?“, hat sie mehr als einmal gehört. „Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“ – „Wir waren schon lange hier, bevor die ersten Türken kamen“, pflegt sie dann trotzig-tapfer zu entgegnen. Und erschrickt doch immer ein wenig vor ihren eigenen Worten. „Zehn Jahre früher“, meint sie, „hätte ich so etwas noch nicht zu sagen gewagt.“ Sie spürt, kein Ort kann seiner Geschichte entrinnen. So wandern die Menschen von Vakıflı, wenn Besucher danach forschen, geistig auf einem schmalen Grat. „Wir wollen uns nicht zur Schau stellen“, sagt Kartun. „Wir wollen nicht ständig um Mitleid betteln. Wir wollen nur unseren Glauben leben.“
Kaum hat sie das gesagt, hören wir aus der Ferne einen dumpfen, grollenden Knall. Ich schaue die Frau fragend an. Am Himmel wölben sich dunkle Wolken, ob das wohl ein Gewitter ist? „Nein, das war kein Donner“, erwidert sie. „Wir kennen das Geräusch schon ziemlich gut. Es war mit Sicherheit eine Bombe.“ Syrien liegt, blickt man gen Südosten, gleich hinter den Bergen. Kuhar Kartun schaut nicht lange dorthin. Sie kehrt schnell zurück in ihre kleine, Gott sei Dank noch geordnete Welt. Das Leben im Dorf ist schwer genug. Aber wenigstens haben sie hier Frieden.
Ich packe meine Sachen und strebe dem nächsten dolmuş zu. Zwei Tage lang habe ich in die Vergangenheit geblickt. Aber, so schießt es mir plötzlich durch den Kopf, vielleicht war das auch ein Blick in die Zukunft? Habe ich hier ein Modell dafür gesehen, wie die Christen im Orient überleben werden? Wird es, wenn wieder hundert Jahre vergangen sind, 20, 50 oder 100 Vakıflıs geben? Ein Szenario, das mir am Anfang meiner Reise schwer vorstellbar erschien. In den drei Monaten, die vor mir liegen, wird sich das ein wenig ändern.
KAPITEL 2 · WADI NATRUN– ÄGYPTEN
Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben
Je weiter weg von der Welt, desto so näher bei Gott. Dieser Glaube hat vor 1.700Jahren junge Christen scharenweise in die ägyptischen Wüsten getrieben. Allein im Wadi Natrun sind es mindestens 5.000 gewesen, die seit dem 4.Jahrhundert als Eremiten leben wollten. Sie zogen sich in eine Gegenwelt aus Höhlen und Zellen zurück. Obwohl sie rein gar nichts besitzen durften, hatten sie offensichtlich eine große Anziehungskraft auf benachbarte Stämme. In den Klöstern, die da aus dem Boden schossen, gab es Wasser und Brot, kostbare Güter in der Wüste. Es gab wärmende Kutten, die Nomaden sich gern überstreiften, wenn die Nächte besonders kalt wurden. Es gab Brennholz und Essensvorräte, gestapelt in Kellerräumen. Es gab kunstvolle Ikonen, die sich als Raubgut an reisende Händler verkaufen ließen. Ein Kloster war eine lohnende Beute für Berber und Beduinen, die als Nomaden durch die nördliche Sahara zogen.
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