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Solvejg – die Wikingerin auf der Flucht.
Solvejg ist eine junge Wikingerin. Ihr Vater, König Harald Schönhaar, glaubt, von seiner toten Frau verzaubert worden zu sein, und gibt seiner Tochter die Schuld daran. Solvejg muss fliehen. In Männerkleidern heuert sie bei fremden Wikingern an, die auf einen Raubzug nach Irland wollen. Doch die Norweger werden besiegt, und sie wird eingekerkert – zusammen mit Dhoire, einem Druiden, der sich mit Magie und Mathematik befasst und der sie in einer Nacht verführt. Schwanger gelingt Solvejg die Flucht ins Reich der Franken, aber sie hat mächtige Verfolger: Dhoire, der fürchtet, sie könnte hinter seine Geheimnisse der Magie gekommen sein – und ein Mann namens Einar Schlangenauge. Der Wikinger hat von König Harald einen mörderischen Auftrag bekommen. Er soll ihm den Kopf seiner Tochter bringen ...
Ein großes historisches Abenteuer: eine junge Frau und ihre Flucht durch halb Europa. Für Fans von „Game of Thrones“ und „Vikings“.
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Solvejg liebt ihren Vater, den König Harald Schönhaar, und fürchtet ihn zugleich. Als seine Frau stirbt, will der König es nicht wahrhaben; erst als der Leichnam zu verwesen beginnt, begreift er, dass er tagelang neben einer Toten gelegen hat. Für seinen Liebeswahn gibt er Solvejg die Schuld. Die junge Frau flieht und schließt sich heimlich einem Trupp Wikinger an, der sich zu einem Beutezug nach Irland aufmacht. Das Unternehmen jedoch misslingt. Solvejg wird eingekerkert – zusammen mit dem Druiden Dhoire, der ihr in den langen Tagen ihrer Gefangenschaft nicht nur das Lesen und Schreiben beibringt, sondern sie auch in die Kunst der Mathematik und der Magie einführt. Kurz vor ihrer Hinrichtung gelingt es beiden zu fliehen. Solvejg jedoch ist schwanger, weil der Druiden sie eines Nachts vergewaltigt hat.
Solvejg gelangt ins Reich der Franken. Dort machen Graf Odo und sein Bruder Robert sich in Paris bereit, ihre Stadt vor neuerlichen Beutezügen der Wikinger zu schützen. Als ihnen Solvejg, verkleidet als Mann, in die Hände fällt, glauben sie, einen Spion vor sich zu haben. Odo lässt Solvejg ins Gefängnis werfen und droht ihr mit dem Tod, wenn sie nichts von den Plänen der Wikinger verrät. Dann aber erkennt Robert, dass er eine junge, geheimnisvolle Frau vor sich hat – und verliebt sich in sie.
Helga Glaesener hat ursprünglich Mathematik und Informatik studiert, bevor sie sich entschloss, freie Autorin zu werden. Gleich ihr erster Roman »Die Safranhändlerin« wurde ein Bestseller. Im Aufbau Taschenbuch ist ihr Roman »Das Erbe der Päpstin« lieferbar. Helga Glaesener lebt in Oldenburg.
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Helga Glaesener
Die Wikingerin
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28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Nachwort — Welcher Teil der Handlung ist historisch?
Impressum
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Angst ist das Gift, das die Schwachen tötet.
Dieser Satz, den ihr Vater wohl öfter als jeden anderen gesprochen hatte, summte in Solvejgs Kopf wie ein Schwarm zorniger Wespen. Er beunruhigte sie, er stach wie ein Stachel.
Sie saß am Rand einer Klippe und starrte auf die Glomma hinab, die sich unter ihr als breites, unregelmäßiges Band durch die raue Landschaft grub. Der Fluss sprudelte vor den Felsen, Schaumkronen tanzten, aus den Fluten sprangen Hechte, und als ihr Blick weiterschweifte, entdeckte sie eine braun gefiederte Eiderente, die am gegenüberliegenden Ufer gerade ein Nest im Schilf baute. Solvejg liebte ihre norwegische Heimat. So viel Majestät und Schönheit!
Aber daneben diese Grausamkeit, dachte sie. An einem der vergangenen Tage hatte Bjalki, einer der Samen, bei denen sie und ihr Vater seit einigen Jahren lebten, die Schädel aufständischer Bauern an einen Zaun genagelt. Als sie ihrem Vater erzählte, wie sie diesen Anblick hasste, hatte er gemeint, dass die Erschlagenen wie Schafe geflohen seien, als sie merkten, dass ihre Gegner in der Überzahl waren. Ihr Schicksal war also gerecht gewesen. Angst ist das Gift, das die Schwachen tötet.
Bedrückt starrte Solvejg zu der Ente, die ihr Nest verlassen hatte und sich jetzt von der Strömung flusswärts treiben ließ. In ihrem klobigen Schnabel zappelte ein Fisch. Sie schien zufrieden zu sein. Was sie nicht bemerkte, war der Habicht, der über ihr kreiste und sie gierig beäugte. Es war reines Glück, dass der Raubvogel kurz darauf eine Wildgans erspähte, die ihm eine noch lohnendere Beute zu sein schien. Glück natürlich nur für sie, nicht für die Gans, die verängstigt in den Klauen des Habichts flatterte, während er sie zu seinem Nest trug. Einer frisst den anderen, und wen es trifft, hängt oft genug vom Zufall ab, dachte Solvejg. Allerdings nur bei den Tieren. Nicht bei Menschen.
Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Vater zurück, zu König Harald. Er war nie ein milder Mann gewesen. Seit sie denken konnte, hatte er Kriege geführt und ihr auch einmal erklärt, warum das nötig sei. »Ich will das Reich einen«, hatte er gesagt. »Ich will ihm Gesetze und eine Ordnung geben und aus ihm ein strahlendes Reich machen, ähnlich wie die der Dänen und Schweden. Aber das geht nicht mit freundlichen Worten. Widerstand muss gebrochen werden. Viele müssen leiden und sterben. Das ist notwendig, damit unser Volk am Ende Ruhm und Reichtum erlangt.«
Solvejg hatte gesehen, wie seine Männer ihm erst zögernd und dann immer begeisterter gefolgt waren, und sie war Zeugin gewesen, als er seine Gefangenen nach dem Sieg bei Hafrsfjord in Avaldsnes von hungrigen Ebern zerreißen ließ, weil sie sich nicht unterwerfen wollten. Der Stolz auf ihren Vater hatte sich plötzlich in … etwas Hässliches verwandelt, für das sie kein Wort gefunden hatte. Und doch hatte sie ihn weiter geliebt, und zwar wegen der Zärtlichkeit, mit der er sie selbst behandelte. Er hatte sie bereits als kleines Kind mit in die Wälder mitgenommen, um ihr die Verstecke der Hasen und Füchse zu zeigen. Er hatte sie auf den Knien geschaukelt und ihr zugeflüstert, dass sie der Juwel seines Herzens sei. Er hatte sie mit Geschenken überschüttet, und später hatte er ihr gar das Kämpfen mit dem Schwert und der Streitaxt beigebracht, als wäre sie ein Junge, obwohl das bei vielen seiner Leute Verwunderung und Missfallen auslöste. Sie war sein kostbarster Schatz gewesen.
Aber seit einigen Tagen – und das war der Grund, warum Solvejg hier saß und grübelte – hatte sich das geändert. Wenn er sie sah, brauste er auf; wenn sie etwas tat, das ihm missfiel, schrie er sie an. Und gestern hatte er ihr gar eine Ohrfeige versetzt. Vor aller Augen. Solvejg meinte, den Schmerz immer noch an der Wange und im Herzen zu fühlen.
Natürlich war ihr klar, was die Ursache für sein Verhalten war. Snøfrid! Voller Hass und Furcht dachte sie an das Weib, das ihr Vater vor drei Jahren zur Frau genommen hatte. Seine Männer hatten ihn gewarnt, als er zu den Samen aufbrach, denn sie waren als Magier und Hexer verschrien. Aber genau das hatte Harald sich zunutze machen wollen: Er hatte Solvejg mit einem der Söhne des Samenkönigs Svasi verheiraten wollen, damit sie ihm einen Magier gebar, der ihm zu weiteren militärischen Erfolgen verhelfen konnte. Doch dann hatte er Snøfrid erblickt und sein Vorhaben vergessen. Er war dem Weib auf der Stelle verfallen, und als Svasi sie nicht ohne Heirat in sein Bett lassen wollte, hatte er sie noch am selben Tag zum Eheweib genommen.
Seine Männer hatten das mit Furcht beobachtet – sie führten seine blinde Liebe auf einen Zauber zurück, den Snøfrids Vater auf ihn ausgeübt haben musste. Ihre Sorge steigerte sich, als Harald auch nach der Hochzeit keine Anstalten machte, in die Heimat zurückzurückzukehren. Er verlor sein Interesse an Eroberungen, an der Stärkung seiner Macht – eigentlich an allem bis auf die Hexe, die …
Solvejg zuckte zusammen. Einige Vögel, die auf einem Holunderstrauch gezwitschert hatten, flatterten auf und retteten sich in die Kronen nahe stehender Bäume. Sie blickte sich argwöhnisch um – und lächelte erleichtert, als sie Thjodoff erblickte, den Sänger ihres Vaters, der offenbar nach ihr gesucht hatte. Zielstrebig erklomm er die Steigung zur Klippe.
»Was ist?«, fragte sie, als er sie erreicht hatte. Und konnte es sich bereits denken.
Snøfrid war vor einigen Wochen verstorben. Das hätte Solvejg vielleicht als Glück betrachtet, doch danach hatte sich der Wahn ihres Vaters noch gesteigert. Er hatte die Tote über Wochen in seinem Bett liegen lassen und behauptet, dass es ihr gut gehe. Und nicht nur das – sie mussten, von Grauen erfüllt, mit ansehen, wie er die Leiche herzte und küsste, und es ging sogar das Gerücht, dass er mit ihr verkehrte.
Arnor, einer seiner engsten Vertrauten, hatte es schließlich gewagt, ihm ins Gewissen zu reden. Die Tote stank ja mittlerweile bereits. Aber Harald hatte ihn nach den ersten Sätzen mit der bloßen Faust erschlagen. Und seitdem hatte niemand mehr gewagt, Snøfrids Tod in seiner Gegenwart zu erwähnen.
Thjodoff ließ sich neben Solvejg im Gras nieder. »Es wird schwierig«, murmelte er.
»Was ist los?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Harald hat es begriffen.«
Überrascht hielt Solvejg den Atem an. »Wie ist das geschehen?«
»Er hatte einer der Sklavinnen befohlen, die Hexe zu waschen und neu einzukleiden, und als er sie nackt sah, die Zeichen der Verwesung, roch er plötzlich auch ihr stinkendes Fleisch … Da ist der Zauber von ihm gewichen. Er weiß nun, dass er wochenlang neben einer Toten gelegen hat.«
»Wird dann alles wieder gut? Können wir nach Hause zurückkehren?«
Der Skalde war nicht mehr jung. Das Leben hatte Furchen in sein Gesicht gegraben, die sich jetzt schmerzlich verzogen. »Ich fürchte, dass er jemanden suchen wird, den er für sein Unglück strafen kann.«
Solvejg nickte, ohne zu verstehen, was er meinte.
»Dein Vater ist ein guter Mann, Solvejg. Er ist tapfer, aufrichtig und treu. Aber wenn ein Mensch begreift, dass eine schwere Schuld auf ihm lastet – sucht er dann nicht jemanden, dem er einen Teil davon aufbürden kann, um sich selbst zu reinigen? Vielleicht sogar einen Menschen, der ihm etwas bedeutet?«
Solvejg starrte Thjodoff an. Als ihr dämmerte, was er andeuten wollte, begann sie zu lachen. Harald sollte ihr, seiner geliebten Tochter, etwas antun, weil ihm klar geworden war, dass ihn eine Hexe verzaubert hatte? Sie dachte erneut an die Stunden ihrer Kindheit, wie sie sich abends auf den mit Fellen gepolsterten Bänken an ihn gekuschelt und seinem dunklen Lachen gelauscht hatte, das seine Brust zum Beben brachte. Seine Liebe zu ihr mochte unter dem Fluch der Zauberin eine Weile in den Hintergrund gerückt sein. Aber erloschen? »Er würde mir niemals etwas antun!«
»Das meinte ich auch nicht. Nur … Vorhin, als er aus der Schlafkammer kam, hat er Halvdan zu Boden geschlagen.«
»Was?« Ihr jüngerer Bruder, den sie seiner dunklen Haare wegen den Schwarzen nannten, hatte Vater ebenfalls nach Oppland begleitet hatte. Auch ihn hatte Harald seitdem rauer behandelt, und Solvejg wusste, dass es ihm ebenfalls zu schaffen machte. »Wie hat Halvdan es aufgenommen?«
»Es blieb ja nicht dabei. Der König hat einen Fluch über ihn ausgesprochen.«
»Bitte?«
»Es ging um die Thronnachfolge. Darum, dass dein Bruder einen bitteren Tod erleiden würde, noch bevor er … egal! Es wäre gut, wenn er für eine Weile verschwindet. Das will ich sagen. Und für dich …«, meinte Thjodoff nach kurzem Zögern, »… gilt das Gleiche.«
Solvejg schüttelte den Kopf. »Thjodoff, siehst du gar nicht, dass sich gerade ein Tor vor uns auftut? Mein Vater hat verstanden, dass die Hexe tot ist – und damit haben die samischen Zauberer ihre Macht verloren. Vielleicht ist er jetzt verstört, aber er wird bald begreifen, in welchem Morast der Verdorbenheit man ihn zu waten zwang, und dann wird er nach Avaldsnes heimkehren. Und unser Elend ist vorbei!«
Sie sprang auf. Und als der Skalde sich nicht rührte, rannte sie an ihm vorbei den Hang hinab. Sie warf die Arme in die Luft und war so glücklich wie seit Langem nicht mehr.
*
Es dämmerte bereits, als Solvejg das Dorf der Samen erreichte, das sich an den Rand eines Waldes schmiegte. Doch plötzlich wurden ihre Schritte wieder langsamer. Die Freude, die sie oben bei den Felsen gepackt hatte, schwand. Über den Langhäusern mit dem Flechtwerk aus Haselnuss- und Weidenruten hing eine bedrohliche Stille. Sie konnte weder Kinderlachen noch Rufe oder Fetzen von Gesprächen hören, und die Wege und Gärten, die die Häuser umgaben, waren wie leer gefegt. Was war geschehen? Nichts Gutes, vermutete sie und schritt beklommen auf den Bohlenwegen entlang, bis sie das größte der Langhäuser erreichte – einen Prachtbau, der im Gegensatz zu den übrigen Gebäuden aus Bruchsteinen errichtet worden war. Hier, in der Mitte der Siedlung, wohnten König Svasi und dessen Familie – und seit drei Jahren auch sie selbst mit ihrem Vater und ihrem Bruder.
Vorsichtig spähte Solvejg durch die offen stehende Tür. Von Harald war nichts zu sehen, und auch die anderen Männer, die die lange Halle gewöhnlich bevölkerten, schienen sich woanders versammelt zu haben. Nur ein paar Frauen standen an einem großen Holztisch längst der Kochfeuer und bereiteten die Mahlzeit für den Abend vor.
Solvejg blickte zur Treppe, die sich im hinteren Teil der Halle erhob, und sah, dass die Tür von Haralds Schlafkammer, die sich genau wie die von Svasi in dem geräumigen Obergeschoss befand, verschlossen war. Beklommen blickte sie sich um.
Snøfrids Mutter Gusta, eine hagere Frau mit weißem Haar und braunen Flecken auf den faltigen Händen, stand vor einem der Feuer und rührte in einem Topf, aus dem es nach Kohl roch. Trauerte sie? Wohl kaum. Der Tod ihrer Tochter hatte sie bekümmert, aber wirklich gelitten hatte sie unter dem abstoßenden Verhalten ihres Schwiegersohns. Falls sie das nicht nur vorgetäuscht hat, dachte Solvejg misstrauisch, und selbst an dem Zauber, der Harald den Kopf verwirrte, mitgewirkt hat.
In einem Korb, der hinter ihr auf einer der langen Holzbänke stand, schlief ein Säugling. Snøfrids Tochter, die kurz vor dem Tod ihrer Mutter geboren und vielleicht die Ursache für ihren Tod gewesen war. Die beiden älteren Brüder der Kleinen – blondlockige Zwillinge – stritten um einen Teller mit Walnüssen. Sie waren noch zu jung, um zu begreifen, dass sie ihre Mutter verloren hatten. Ulf, der zuerst Geborene, begann zu plärren, als Gnupi ihm eine Walnuss entriss und ihn triumphierend in die Finger biss.
»Pscht!«, herrschte eine der Frauen ihn an, und Gnupi kroch mit seiner Trophäe triumphierend auf eines der Felle, während Ulf weiterheulte.
Solvejg trat an einen der Tische, wo sie mehrere verschrumpelte Möhren aus einer Holzschüssel nahm, um sie kleinzuschneiden. Niemand sprach mit ihr. Die Stimmung zwischen den Familien war seit Snøfrids Tod eisig geworden. Einzig König Svasi hatte sich noch um Freundlichkeit bemüht. Aus Berechnung, dachte Solvejg, weil er ja seine Enkel auf dem norwegischen Thron sehen will. Vermutlich hoffte er, sie selbst aufzuziehen zu können, wie es ja häufig unter den Großen ihres Volks geschah, und sie, wenn sie herangereift waren, nach Avaldsnes zu bringen, wo sie nach Haralds Tod die Thronfolge antreten könnten.
Es dauerte lange, bis die Frauen genügend Gemüse und Fleisch zubereitet hatten, um die große Gesellschaft zu sättigen, die sich zum abendlichen Mahl einfinden würde. Solvejg verließ erleichtert das Langhaus, um ihre Hände in dem kleinen Bach zu waschen, der durch das Dorf floss. Draußen war es dunkel geworden, und es hatte zu nieseln begonnen. Zögernd blickte sie zum Himmel. Wollte sie wirklich zurück in die trostlose Halle?
Noch während sie mit sich rang, sah sie hinten beim Tor einige Männer auftauchen – Fremde, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, vielleicht zwanzig Mann. Sie hatten Fackeln bei sich, und in deren Licht konnte sie erkennen, dass sie lederne Umhänge trugen, und Helme, die ihre halben Gesichter bedeckten, dazu Wehrgehänge mit Schwertern, Äxten und Messern. Sollte sie die Dorfbewohner alarmieren? Doch die Ankömmlinge sahen nicht aus, als planten sie einen Überfall. Sie redeten überlaut, sie lachten … Wahrscheinlich suchten sie einen Unterschlupf für die Nacht. Krähen, die sich aufplustern, dachte Solvejg verächtlich. Sie mochte sie nicht. Besonders der Kerl, der voranschritt, war ihr unangenehm. Wie herrisch er seine Leute herumkommandierte!
Er hatte sie entdeckt und kam auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Seine Kleider bestanden aus eleganten, rot gefärbten Stoffen, die Stiefel aus weichem, schwarzem Leder, alles wirkte edel, doch in seinem Gesicht saß etwas Lauerndes, das sie zusätzlich abstieß. Solvejg brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es an seinen Augen lag. Die waren rund und seltsam trüb, mit einem schwarzen Schlitz in der Mitte wie bei einer Schlange.
»He, Weib! Wo finden wir König Harald?«
Solvejg zuckte mit den Schultern und verschwand auf einem kleinen Pfad um eine Hausecke, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Aber sie vergaß die Fremden, als sie plötzlich vor einer halb in den Boden eingelassenen Scheune ihren Bruder entdeckte. Halvdan hockte mit angezogenen Knien vor der Wand des windschiefen Gebäudes. Sein Gesicht lag auf den Knien, das lockige, schwarze Haar, dem er seinen Namen verdankte, klebte wirr um die Wangen. Ihr Herz verkrampfte sich vor Mitleid, und sie ging langsam auf ihn zu. Obwohl er nur ein Jahr jünger als sie selbst war, kam er ihr plötzlich wie ein kleines Kind vor.
»Was willst du?«, brummte er.
Solvejg setzte sich neben ihn, schob ihre Hand unter sein Kinn, hob sein Gesicht an und drehte es so, dass sie ihn ansehen konnte. Thjodoff hatte untertrieben. Ihr Bruder war nicht nur geschlagen, sondern regelrecht verprügelt worden. Die Lippen waren aufgeplatzt, sein rechtes Auge zugeschwollen, und quer über den Hals lief ein übler Kratzer, der vielleicht von Haralds Ring stammte.
»Was hast du getan, das ihn so gereizt hat?«
Halvdan schob ihre Hand beiseite und barg das Gesicht erneut auf den Knien. Weinte er? Es hörte sich so an. Solvejg weinte niemals. Angst ist das Gift, das die Schwachen tötet.
Sie knuffte ihren Bruder. »Hör zu, Halvdan. Du wartest, bist deine Augen wieder trocken sind, und dann gehst du in die Halle. Vater hat sich inzwischen bestimmt wieder beruhigt. Du bist sein Sohn, er liebt dich.«
Halvdan blieb stumm. Das war eine Angewohnheit von ihm, die sie verrückt machte: Er sprach nie aus, was er dachte, sondern löffelte Freude und Unglück in sich hinein, als wäre es Suppe. Er war so … anstrengend.
»Ich gehe schon mal vor«, erklärte sie und stemmte sich wieder in die Höhe.
*
König Svasi hatte die fremden Krieger als Gäste willkommen geheißen. Offenbar kannte er sie, denn sie hatten es sich in seiner Halle auf den Bänken bequem gemacht und führten sich auf, als wären sie dort zu Hause. Einige schnupperten an den Specksteintöpfen, in denen das Kochfleisch dampfte, andere gossen den süßen Met, den man ihnen in Trinkhörnern reichte, in die Kehlen. Für die bedrückte Stimmung ihrer Gastgeber, die sich wie Staubfäden durch die Halle zog, schienen sie blind und taub zu sein. Sie redeten auf die Frauen und die wenigen Männer ein, die sich im Raum aufhielten, und brüllten einander Scherze zu …
Thjodoff, der ebenfalls in die Halle zurückgekehrt war, griff nach seiner Leier und stimmte leise ein Lied an. Doch die Fremden erwiesen nicht einmal seinem Gesang Respekt. Sie ignorierten ihn, als wären sie Säue im Schweinestall. Erst jetzt fiel Solvejg auf, dass die Männer den norwegischen Dialekt der Westküste sprachen, über die ihr Vater regierte. Handelte es sich also um Verbündete von ihm, die sie noch nicht kannte? Das würde ihr überhebliches Verhalten erklären.
Wo steckte Harald überhaupt? Kurz kam ihr der Gedanke, dass der Wahn ihren Vater erneut überwältigt haben könnte und er zu Snøfrids Leiche zurückgekehrt war. Sie atmete erleichtert auf, als er wenig später gemeinsam mit Svasi das Haus betrat.
Während ihrer Abwesenheit hatte man – wohl wegen der Gäste – zwei mit roten Drachen bemalte Throne aus Eichenholz in die Mitte der Halle getragen. Die beiden Könige warfen ihre Mäntel ab und nahmen mit düsteren Mienen darauf Platz – und endlich verstummten die Fremden. Nach einer kurzen Pause erhob sich Harald, um die Gäste, die er tatsächlich zu kennen schien, zu begrüßen. Kaum hatte er aber die ersten Worte gesprochen, als der kleine Gnupi, der in einer Ecke des Raums geschlafen hatte, lauthals zu jammern begann. Seine Großmutter sprang auf und trug den Knaben rasch hinaus, doch das Feierliche des Augenblicks war gestört.
Gereizt begann Harald seine Rede von Neuem. »Einar Schlangenauge, mein Freund, und ihr alle, die ihr ihn hierher begleitet habt: Seid gegrüßt und willkommen. Ein Willkommen bietet euch auch Svasi, der Herrscher der Samen und Herr dieses Hauses, dem euer Erscheinen große Freude bereitet.«
Seine Worte klangen steif, und entsprechend angespannt war das Lächeln des Mannes mit den Schlangenaugen, der sich erhob, um sich vor den beiden Männern zu verneigen – gerade so tief, dass es als Zeichen des Respekts gewertet werden konnte. Wieder überlegte Solvejg, ob der Mann gefährlich sein mochte.
Offenbar hatte niemand es gewagt, den Gästen zu erklären, dass es im Haus des Samenkönigs einen Todesfall gegeben hatte, denn Einar erwähnte die Verstorbene mit keinem Wort des Mitgefühls, sondern begann sofort, mit seinen Plänen für den kommenden Sommer zu prahlen.
»Wir haben beschlossen, wieder einmal zu Irlands Küste zu segeln, Harald, mein König. Dieses Mal geht es in die Nähe von Wykynlo. Oben, in den Bergen, soll ein Kloster stehen, in dem schon Ivar Ragnasson zu seiner Zeit gute Beute gemacht hat. Nun ist er tot, doch die Christen horten dort immer noch Schätze, die zu holen es sich lohnt. Silberne Leuchter … seidene Kleider … heilige Bücher, die zumindest ein warmes Feuerchen versprechen …« Einar lachte über seinen Scherz. Die Christen, die ihre Missionare in Europas Norden schickten, waren hier, wo man noch den wahren Göttern huldigte, verhasst. »Auch die Weiber in den Dörfern sind ansehnlich, heißt es. Wir gehen und schauen, was es zu holen gibt.«
Einar wartete. Auf Haralds Angebot, sich dem Raubzug anzuschließen? Waren sie zu wenige, um den Überfall allein zu wagen? Oder hatte dieser tote Ivar bereits einen Nachfolger gefunden, der nicht dulden wollte, dass sich fremde Norweger an seinem Tisch bedienten?
Endlich raffte Harald sich zu einer Antwort auf. Er hatte allerdings kaum zwei, drei Worte gesprochen, als er erneut unterbrochen wurde. Halvdan hatte die Tür geöffnet. Solvejgs Bruder blieb stehen, und alle Augen richteten sich auf ihn – einen jungen Mann, von Nebel umhüllt, der aussah, als käme er gerade aus einer Schlägerei. Solvejg sah, wie ihn sofort wieder die Angst packte, doch jetzt nach draußen zu verschwinden wäre eine gar zu große Schmach gewesen. Schweigend verzog er sich auf einen freien Sitzplatz hinter einer der hölzernen Tragesäulen. Solvejgs Blick kehrte zu ihrem Vater zurück. Das Licht war schlecht, aber sie erkannte, wie es in ihm rumorte.
»Ein Beutezug nach Irland – das hört sich an wie eine lohnende Fahrt«, meinte Svasi.
Ihr kam ein weiterer unangenehmer Gedanke. Was, wenn es zwischen den beiden Königen Streit gegeben hatte? Der Same wirkte verkrampft, und sie erinnerte sich daran, mit welchem Grauen er ihren Vater beobachtet hatte, wenn der sich nachts ins Bett seines verwesenden Weibes legte. Hatten sie einander Vorwürfe gemacht?
Auch der Schlangenmann schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, denn er brach die angespannte Stimmung, indem er mit seinen Beutezügen des vergangenen Jahres angab. Sie waren zu den Franken vorgestoßen. Dummköpfe waren das gewesen, die sich wie Kinder täuschen ließen. Männer, die vor Angst in die Hosen pinkelten, wenn sie sahen, wie ihre Angreifer vor Ungeduld, sie endlich erschlagen zu können, in ihre Schilde bissen. Er hatte Erfolg gehabt, die Weiber waren ihnen am Ende von selbst nachgelaufen und hatten gar nicht mehr die Finger von ihnen lassen können. Und was sie gesoffen hatten, wenn sie von den Beutezügen auf die Schiffe zurückkehrten … Allmählich hob sich die gedrückte Stimmung.
Solvejg füllte eine kleine Holzschale mit Resten von gesottenem Hering – ein Essen, von dem sie wusste, dass ihr Bruder es mochte, und trug es ihm hinter die Säule. Er ignorierte sie und starrte zu Einar, der sein Horn in Richtung der königlichen Throne streckte.
»Ich trinke auf dich, mein König!«
»Auf König Harald«, riefen seine Kameraden und weiteten diesen Spruch, wohl aus Höflichkeit, auch auf Svasi aus.
Solvejg setzte die Schale neben ihrem Bruder auf der Bank ab, verkroch sich in eine Ecke und schloss, ermüdet von dem langen Tag, die Augen. Offenbar nickte sie ein, denn als sie sie wieder öffnete, schienen Stunden verstrichen zu sein. Das Saufen hatte sich wie oft an solchen Abenden mittlerweile zu einem Wettstreit entwickelt. Einar goss sich den Magen voll, die anderen Männer, Samen wie Norweger, taten es ihm nach. Erstaunlicherweise hielt auch Halvdan mit. Er sprach sogar mit einem der Fremden und lachte mit ihm.
Solvejg stemmte sich auf die Füße, um den anderen Frauen beim Nachfüllen der Trinkhörner zu helfen. Doch sie hatte sich gerade zum Mittelfeuer durchgedrängelt und einen der Tonkrüge ergriffen, als sie eine Hand an ihrem Arm spürte. Thjodoff!
»Nimm deinen Bruder und verschwinde mit ihm. Es kündigt sich Ungutes an«, raunte der Skalde.
Solvejg blickte sich um. Was denn? Und außerdem: Wie sollte sie das anstellen? Sie konnte sich Halvdan ja kaum über ihre Schulter werfen! Außerdem war auch die düstere Stimmung ihres Vaters verschwunden. Er lachte über einen Scherz, den jemand gemacht hatte. Thjodoff hatte sich verrannt.
Solvejg füllte die Trinkhörner, die sich ihr entgegenstreckten. Als jemand den Saum ihres Rocks hob und versuchte, ihre Beine zu berühren, gab sie ihm eine Ohrfeige, der sie durch ihr Lächeln die Schärfe zu nehmen versuchte. Und dann begann ihr zweiter Stiefbruder, der kleine Ulf, zu schreien. Kläglich, noch halb in seinen Träumen gefangen, strampelte er sich aus den Windeln. Warum hatte Gusta ihn nicht ebenfalls hinausgebracht? Es war doch zu erwarten gewesen, dass er irgendwann von dem Lärm geweckt würde. Solvejg blickte sich hektisch um, doch von seiner Großmutter war nichts zu entdecken. Sie eilte in seine Richtung und riss ihn in ihre Arme.
»… Balg einer Hexe!«
Solvejg erstarrte, dann fuhr sie herum.
Ihr Vater war aufgesprungen. Aus seinem Mund floss Speichel in den akkurat geschnittenem, von grauen Haaren durchsetzen Bart, sein Antlitz hatte jede Würde verloren. Er sah aus wie … wie die Berserker, von denen Einar vorhin gesprochen hatte. Die Männer, die vor einem Kampf giftige Kräuter tranken, um sich in einem Zustand der Raserei in die Schlacht stürzen zu können. Nun warf er auch noch sein Trinkhorn zur Seite, so dass der Met auf den Rock von König Svasi spritzte. Benommen drückte Solvejg den kleinen Ulf, den sie nie gemocht hatte, an ihre Brust.
Harald stieg die Stufen des Throns hinab. War er ebenfalls betrunken? Auf jeden Fall schien er klar genug, um zu wissen, was er tat. Mit geballten Fäusten schritt er an den Feuern entlang, und Halvdan, der ihn auf sich zukommen sah, krümmte sich verängstigt zusammen. Sie sah, wie ihr Vater vor Verachtung bebte. Wo war seine Liebe zu dem Sohn geblieben, den er vor kurzer Zeit noch als seinen Nachfolger betrachtet hatte?
In einem der Feuerholzkörbe lag eine Axt. Harald packte sie im Vorbeigehen, tat die letzten Schritte und blieb vor Halvdan stehen. »Verfluchtes Stück Dreck.« Er lachte – ein albernes Geräusch, das auch den letzten zum Verstummen brachte. Dann hob er die Axt und strich mit den Fingern über die Schneide. »Dein Plan, Halvdan, war so hinterhältig und voller verräterischer List, als hätte ihn Loki, der Wandler, ersonnen. Die Hand der Liebe wird ergriffen, die Lippen säuseln Honigsüße, doch der Kopf ist voller Hass.«
Er drehte sich zu Männern um, und seine Stimme wurde lauter.
»Loki tötete Baldur durch einen vergifteten Mistelzweig, den er dessen ahnungslosem, blindem Bruder reichte, damit dieser den Unverwundbaren mit dem einzigen Kraut träfe, gegen das der Held nicht gefeit war«, erklärte er, als würden sie die alten Sagas nicht kennen. »Und widerfuhr mir nicht genau das Gleiche? Mir wurde eine Hexe ins Bett gelegt, deren äußere Gestalt das Herz entbrennen ließ, deren Fleisch aber bereits im Tode faulte.«
Niemand wagte auch nur noch zu atmen. Schmähte Harald immer noch seinen Sohn? Es war doch Svasi gewesen, der ihm die unheimliche Tochter zur Heirat angeboten hatte – ein Mann, der überall im Land den Ruf eines Zauberers genoss. Der Samenkönig griff nach den Lehnen seines Throns, als müsste er sich daran festhalten.
»Über Tage und Wochen habe ich Leichendämpfe eingeatmet. Ich wurde durch sie vergiftet wie zu Beginn der Zeiten Baldur. War das euer Plan? Sollte ich sterben wie er – nur dass die Mistel die Gestalt eines scheinbar schönen Weibes angenommen hatte?«
Harald drehte sich einmal im Kreis und durchdrang dabei die Männer – gleich ob Samen, die eigenen Leute oder die fremden Gäste – mit seinen Blicken, als wollte er erforschen, wer von ihnen zu den Feinden gehörte, die seinen Untergang geplant hatten.
Solvejg verkrampfte sich, als er plötzlich auch sie selbst ins Visier nahm. Sie verfluchte sich dafür, nicht auf den Skalden gehört zu haben. Ihre Beine zuckten, sie wollte zur Tür, doch sie war wie erstarrt. Harald kam auf sie zu und stierte mit hasserfülltem Gesicht auf den Schreihals in ihrem Armen. Die Knöchel der Finger, die das Beil hielten, traten vor Anstrengung weiß hervor.
Harald liebte seine Kinder, er würde niemals einem von ihnen ein Leid antun. Oder doch? Das Gesetz gab Vätern das Recht, den eigenen Nachwuchs am Leben zu lassen oder zu töten. Es vertraute auf ihre Weisheit. Allerdings galt das nur für Neugeborene. Ulf war zu alt, als dass Harald dieses Recht gegen ihn hätte in Anspruch nehmen können.
Solvejg blickte in das irre, sabbernde Gesicht. »Lass ihn in Ruhe«, flüsterte sie.
Ihr Vater hob den Kopf, er starrte sie an, als wäre sie eine Fremde.
»Ulf ist ein Kind. Dein Sohn.«
»Leg ihn dort auf den Tisch!«
Damit er ihm bequemer den Kopf abhacken konnte? Solvejg rührte sich nicht. Sie sah die Kälte in Haralds Augen und spürte, wie sein Zorn von Ulf auf sie übersprang. Er musste die Stimme heben, um den schreienden Knaben zu übertönen. Zitternd vor Wut deutete er auf einen der Tische, auf dem schmutzige Töpfe standen und brüllte. »Leg ihn dorthin, habe ich gesagt.«
»Du bist betrunken.«
Jemand lachte, nur kurz, nur einen Atemzug lang, doch der Hass in Haralds Gesicht verstärkte sich. Sie widersetzte sich, sie beschämte ihn vor den Männern, deren Anerkennung er mehr als alles andere begehrte. Vielleicht nahm sie ihm gerade die Hoffnung darauf, König aller Norweger zu werden. Er hob die Axt, und jetzt war es ihr eigener Kopf, auf den er zielte.
Solvejg duckte sich unter seinem Arm hinweg und rannte zu einer Klappe, durch die an schlimmen Regentagen das Wasser, das ins Haus drang, in einen kleinen Graben abgelassen wurde. Halb verrückt vor Angst schob sie das brüllende Kind ins Freie. War sie dünn genug, um auch selbst hindurchzupassen? Es gelang. Sie wälzte sich zu Ulf und packte ihn erneut.
Und nun?
Sie dachte an Gusta. Die alte Frau liebte ihre Enkel wie das eigene Fleisch; das hatte sie oft genug beobachtet. Ihre älteste Tochter Elva wohnte am Rand der Siedlung. Sicher war Gusta mit dem weinenden Gnupi bei ihr untergekrochen. Solvejg presste Ulf die Hand auf den Mund und rannte die Wege hinab. Das Gebrüll aus der Halle verfolgte sie. Ein- oder zweimal öffnete sich eine Tür, schloss sich aber sofort wieder. Als sie Elvas Haus erreichte, fand sie die beiden Frauen an einem Tisch, wo sie Teigballen kneteten.
Sie hoben die Köpfe, und Entsetzen trat in ihre Augen. Solvejg brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie Ulf immer noch den Mund zuhielt. Der Junge schnappte nach Luft, als sie die Hand wegzog. Hastig begann sie zu erklären. »Harald … hat den Verstand verloren. Er hat versucht, den Jungen …«
Elva begriff erstaunlich schnell. Und sie war mutig. Sie nahm ihr das Kind ab und flüsterte der Mutter zu: »Rasch, hole die anderen.« Nur Atemzüge später verschwanden die beiden mit den Kindern draußen in die Dunkelheit.
Die nackte Angst, die in ihren Gesichtern gestanden hatte, wirkte auf Solvejg wie ein laut gebrüllter Ratschlag. Sie musste ebenfalls verschwinden. Raus aus dem Dorf, so weit die Füße sie trugen. Während sie losrannte, begriff sie endlich, was Thjodoff hatte sagen wollen, als er meinte, dass die Scham ihres Vaters nach einem Schuldigen suchte. Sicher hatte Harald dabei gar nicht an sie, an seine Lieblingstochter, gedacht. Doch nun hatte sie ihn vor den Männern in der Halle gedemütigt, wie es schlimmer nicht hätte geschehen können. Die Kunde davon würde wie ein Wirbelsturm durch die Dörfer ziehen. Die Hütten würden vom Hohngelächter seiner Gegner erbeben und sie zum Aufstand ermutigen. Womöglich hatte er soeben seine Krone verloren.
Solvejg schlug instinktiv den Weg zu den schmalen Pfaden ein, die nördlich des Dorfs in ein Moor führten. Die Dörfler mieden es wegen der tückischen Moraste – und damit bot es vielleicht Zuflucht. Sie rannte, ihr Herz schlug gegen die Rippen wie Thors Hammer. Bald erreichte sie einen auf Holzpflöcken ruhenden Bohlenweg, den die Dörfler angelegt hatten, um ohne größere Umwege einen nahen See erreichen zu können. Sie flog dahin. Und war doch nicht schnell genug. Wann immer sie stehen blieb, meinte sie in ihrem Rücken das Trappeln von Sohlen zu hören. Allerdings nur die einer einzelnen Person, wenn sie sich nicht irrte. War das ihr Vater?
Vor ihr teilte sich der Bohlenweg in zwei schmalere Pfade. Sie flüchtete hinter einen schwarzen Busch. Es roch nach modrigem Wasser, in ihrer Nähe durchstreifte ein Tier die Sträucher. Ihre Sinne waren so angespannt, dass es wehtat. Es konnte nicht Harald sein, der ihr folgte – die Schritte klangen zu leichtfüßig. War ihr einer seiner Leute auf den Fersen? Guntram vielleicht, der schon lange um Haralds Gunst buhlte? Auf keinen Fall einer von den Fremden, denn die hätten sich niemals in einen für sie fremden Sumpf gewagt.
Angestrengt spähte Solvejg durch die Zweige. Und musste nicht lange warten. Ihr Verfolger erreichte den Platz und blieb keuchend stehen, gebückt, die Hände auf den Knien. Solvejg lachte vor Erleichterung laut auf. Halvdan! Sie schlüpfte hinter dem Busch hervor und umarmte ihren Bruder. »Wie sieht es aus?«
Seine Worte zertraten den aufkeimenden Funken Hoffnung. »Er rast«, presste ihr Bruder hervor. »Er verflucht dich und schwört … sehr viel Böses.« Halvdan begann, den Mantel abzulegen.
»Was tust du?«
Nun zog er auch das Hemd über den Kopf. »Gib mir dein Kleid.«
»Warum?«
Ungeduldig schüttelte er den Kopf, und endlich begriff sie. Es war lebensgefährlich für sie, ins Dorf zurückzukehren – aber nicht weniger riskant, als Frau allein durch das Land zu streifen. Er wollte ihr helfen, ihre Flucht heil zu überstehen. Mit flattrigen Händen nestelte er an seinem Gürtel und zog die Pumphose herab. »Was ist? Willst du mich erfrieren lassen?«
»Du kannst doch nicht im Kleid ins Dorf zurückkehren.«
»Ich schleiche mich irgendwie rein. Wird schon gut gehen. Beeil dich!«, knurrte ihr Bruder, und als sie immer noch zögerte: »Solvejg! Willst du als Fleischbrocken in unseren Töpfen enden?«
Hatte Vater etwa damit gedroht? Sie zu zerstückeln und zu fressen, als wäre sie ein Schlachtschwein? Sie starrte ihn an. Dann wechselte sie mit ihm die Kleidung. Wie sonderbar sie sich in seiner Hose fühlte: nackt und gleichzeitig stark, als hätte sie mit dem wallenden Kleid eine Fessel abgestreift. Halvdan lachte und tat, als würde er über den Saum des Kleides stolpern. Doch er wurde sofort wieder ernst.
»Geh fort, Schwester! Du warst nicht dabei, als Vater dich verfluchte, sonst wüsstest du, warum ich das sage.« Kurz schaute er in ihre Augen, und einen Moment sah sie wieder den Jungen in ihm, der er noch vor wenigen Stunden gewesen war. Wie konnte ein Mensch sich so rasch wandeln? Im nächsten Augenblick kehrte er ihr den Rücken und verschwand in der Dunkelheit.
*
Solvejg machte sich auf den Weg. Erst rannte sie durch die ihre vertraute Umgebung, dann in unbekanntes Gebiet hinein. Die Nacht war eisig, wie zu dieser Jahreszeit üblich, und ihre Angst zu erfrieren hinderte sie lange daran, eine Rast einzulegen. Doch als der Morgen nahte, wurde sie langsamer. Die Kräfte erloschen, sie sackte neben einem Felsblock ins Gras, und der Kopf fiel ihr auf die Brust. Wirre Ängste quälten sie, und sie schreckte aus dem unruhigen Schlummer, der sie schließlich überkam, wieder auf, sobald die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Bäume schickte.
Verfroren stemmte sie sich auf die Füße und blickte zu einem nahen Hügel, über den ein Hase hoppelte. Der Anblick erinnerte sie daran, dass sie etwas essen musste. Doch dann sah sie wieder ihren Vater mit der Axt vor sich, und das Hungergefühl erstarb. Angespannt lief sie weiter, eine Zeit lang über grasbewachsenes, mit Steinen und Felsbrocken durchsetztes Land, dann durch Wälder, an deren Bäumen die ersten Blätter sprossen, und schließlich über Wiesen mit wuchernden Gräser. Einige der Kräuter, die sie entdeckte, waren essbar. Sie riss sie heraus und zerkaute und schluckte sie.
Der Tag verging, ein neuer brach an und dann ein weiterer. Inzwischen orientierte sie sich an der Sonne. Avaldsnes, die Festung am Haugesund, in der sie aufgewachsen war, lag im Südwesten. Ein anderer Ort, an den sie fliehen könnte, fiel ihr nicht ein. Wenigstens begann die Kälte allmählich nachzulassen. Doch der Hunger bohrte dafür umso schlimmer. Und auch ihre Verzweiflung wuchs. Wäre es nicht besser, umzukehren? Vielleicht war der Zorn ihres Vaters inzwischen verflogen? Aber der Mut reichte nicht.
Später kam ein weiterer Gedanke dazu. Was, wenn es gar nicht Snøfrids Zauber gewesen war, der Harald an ihre verwesende Leiche gefesselt hatte, sondern der ihres Vaters Svasi? Hatte der Samenkönig gehofft, seinen norwegischen Gast so lange im Dorf behalten zu können, bis es ihm gelang, ihn diskret zu ermorden? Hatte er anschließend Snøfrids ältesten Sohn zum König auszurufen wollen? Dann hätte er allerdings auch Halvdan umbringen müssen, und wären Haralds Männer dann nicht misstrauisch geworden? Solvejg schüttelte, von ihren eigenen Überlegungen angewidert, den Kopf.
In der folgenden Nacht kam ein schneidender Wind auf, der auch am Morgen nicht nachließ. Sie tat, als spürte sie ihn nicht, und wanderte weiter. Inzwischen war ihr allerdings klar geworden, dass man sie auch in Avaldsnes kaum mit ausgebreiteten Armen empfangen würde. Ihre Mutter war schon vor Jahren verstorben. Und die Männer, die während Haralds Abwesenheit sein Reich regierten, würden womöglich bereits durch einen reitenden Boten erfahren haben, dass Haralds Liebe zu ihr in Hass umgeschlagen war, und Befehl bekommen haben, sie gefangen zu setzen.
Aber war das jetzt überhaupt wichtig? Ihr Magen verkrampfte sich vor Hunger – sie musste unbedingt etwas essen. Als sie ein Nest voller nackter Jungratten fand, grub sie ein Loch in die Wiese, bedeckte es mit grünenden Zweigen und legte die Tiere darauf. Tatsächlich ließ sich ein Fuchs anlocken. Sie fischte ihn aus der Grube und zertrümmerte seinen Kopf an einem Felsbrocken. Dann zog sie ihm das Fell ab, und ein Zunderschwamm reichte, um ein kleines Feuer zu entfachen, an dem sie sein Fleisch braten konnte. Heißhungrig schlang sie es herunter.
Später am Tag tauchte in einem der Täler ein kleines Dorf auf. Solvejg beobachtete die Menschen, die begonnen hatten, ihre Äcker zu bestellen oder in dem See hinter dem Dorf angelten. Es schienen friedliche Leute zu sein. Kurz überlegte sie, ob sie sie um Essen bitten solle, verwarf den Gedanken aber wieder. Da sie fremd war, würde man ihr nicht trauen.
Also wartete sie die Nacht ab und brach dann in einer der Hütten ein, in der nur ein altes Weib zu leben schien. Während die Frau auf ihrem Strohlager schnarchte, stahl sie zusammen, was sich an Essbarem fand. Ihr Herz begann zu klopfen, als sie auf einem wackligen Tisch ein Messer ertastete. Sie packte es, floh mit ihrer Beute ins Freie zurück und gönnte sich, als sie weit genug durch die Dunkelheit gerannt war, eine erste magenfüllende Mahlzeit.
Die Tage wurden jetzt einfacher, vor allem, weil ihr das Messer zuverlässig Nahrung bescherte. Nach vielen Tagen tauchte vor ihr überraschend ein breiter Weg auf, der geradewegs von Norden nach Süden verlief. Er war von Pferdehufen und Karrenrädern zerpflügt – offenbar handelte es sich um eine wichtige, oft benutzte Handelsstraße. Die womöglich zum Hafen von Haugesund führte? Und damit auch nach Avaldsnes?
Der Funke der Freunde wich sofort wieder dem Zweifel. War es nicht am wahrscheinlichsten, dass ihr Vater nach der schrecklichen Nacht im Langhaus in seine Heimat zurückgekehrt war? Wie würde er sie empfangen? Solvejg dachte wieder an Thjodoffs Prophezeiung, und ihre Schritte verlangsamten sich.
Trotzdem folgte sie der Straße weiter, wobei sie ins Gebüsch auswich, sobald sich ein Reiter oder Fußgänger näherte. Bald stieß sie auf ein kleines Steinhaus, das ihr bekannt vorkam. Hatte sie hier mit ihrem Vater übernachtet, als sie zu den Samen reisten? Sie bildete sich ein, nicht nur das Haus, sondern auch die beiden Karpfenteiche dahinter wiederzuerkennen. Und den buckligen, kräftigen Mann, der dort gerade eine Stallwand reparierte.
Zwei weitere Tage verstrichen, in denen sie einen kleineren Berg überwand. Dann tauchte gegen Nachmittag unmittelbar vor ihr ein Wasserfall auf, der über kantiges Gestein in die Tiefe stürzte. Ein Ort ihrer Kindheit, den sie mit Gewissheit wiedererkannte. Wie oft war sie hier gewesen, bevor sie ins Land der Samen umsiedelte! Solvejg folgte dem Lauf des kleinen Flusses, in den er mündete, erklomm nochmals mehrere Höhenzüge – und endlich lag er vor ihr: der heimatliche Fjord, an dessen Rändern sich der Hafen von Haugesund mit seinen weit ins Wasser reichenden Bootsstegen und den großen, aus Lehm und Stroh gebauten Lagerhäusern schmiegte. Auch die Insel Avaldsnes ließ sich hinter einem kleinen Wald bereits erahnen. Sie war zu Hause!
Und nun?
Umständlich ließ Solvejg sich auf dem Boden nieder und beobachtete von ihrer erhobenen Warte aus das vertraute Gelände. Die Boote ihres Vaters, kenntlich an den rot bemalten Hundeköpfen an den Enden der Vordersteven, ankerten dicht am Ufer. Aber es schienen Gäste oder Händler im Ort zu sein, denn sie entdeckte auch einige fremde Boote. Zwei davon stachen ihr besonders ins Auge: Ihre Vordersteven wurden von goldenen Schlangen geschmückt, die den Kopf gegen die Sonne reckten. Die Tiere ließen sie unwillkürlich an Einar Schlangenauge denken, den unangenehmen Gast ihres Vaters. War er mit diesen beiden Schiffen in den Haugesund gesegelt, bevor er ihrem Vater ins Land der Samen folgte? Sie wusste es nicht, und im Grunde war es auch egal.
Ihr Blick wanderte in die Gassen. Dort herrschte reges Leben. In einer großen Halle, dessen Haupttor breit offen stand, wurde ein neues Langschiff gebaut. Der Rumpf schien bereits fertig zu sein, die Plankenbretter, die später angenietet werden würden, stapelten sich auf dem Platz vor dem Tor. Der Frühling beflügelte die Seefahrer, das war schon immer so gewesen.
Einen Steinwurf von der Halle entfernt erspähte Solvejg das Häuschen der alten Gloppa, die ihr immer Brombeeren und Nüsse zugesteckt hatte, wenn sie sie besuchte. Auch Osvald wohnte dort, der Bruder der Frau, dessen Kopf voller Geschichten steckte, die sich alle um den tapferen Gott Baldur drehten. Sie hatte die beiden gemocht, als wären es ihre Großeltern gewesen, die leider schon früh verstorben waren.
Solvejgs Aufmerksamkeit wurde von einem Betrunkenen abgelenkt, der grölend in eine Gasse einbog, wo er mit einer Frau zusammenstieß. Das Weib schrie ihn an, er packte ihre Brüste. Ein Pferdekarren schob sich vor die beiden, so dass Solvejg sie aus den Augen verlor. Ihr Blick wanderte weiter, den Fjord hinauf, der sich hinter dem Hafen ins Landesinnere schob. Weit hinten auf dem blauen Wasserstreifen konnte sie eine breite Holzbrücke erkennen. Sie führte hinüber auf die Insel, nach Avaldsnes. Von dort versperrten nur noch wenige baumbestandene Hügel ihr den Blick auf das Haus ihres Vaters.
Ihre Aufmerksamkeit kehrte zur Gasse zurück, wo die Frau, die bedrängt worden war, sich gerade in eines der Häuser rettete. Der Betrunkene brüllte ihr so laut, dass Solvejg es noch auf dem Hang hören konnte, nach: »… kommst du auch noch dran!«
Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das kantige Gesicht mit dem lockigen, schwarzen Bart und stöhnte leise auf. Einar Schlangenauge. War er es wirklich? Ja, sie täuschte sich nicht. Es war seine Stimme gewesen, die sie gehört hatte, und er trug auch die weichen schwarzen Lederstiefel, die sie in Svasis Langhaus bei ihm gesehen hatte. Offenbar war er mit seinen Mannen zu seinen Schiffen zurückgekehrt. Hatte ihr Vater ihn vielleicht begleitet?
Langsam erhob Solvejg sich und stieg den Hang hinab. Sie wich dem Hafenstädtchen aus und lief quer über Wiesen und Weiden direkt zur Brücke hinüber. Bald tauchte das Dorf auf, das um die Festung von Avaldsnes errichtet worden war – kleine und größere Bauten aus Lehm und Stroh, einige davon waren zum Schutz gegen die Winterkälte, aber auch gegen Angreifer halb in die Hügel gegraben worden. Die steinerne Festung ihres Vaters ragte wie eine Faust zwischen den Häusern auf.
Unschlüssig blieb Solvejg stehen. Ihr Herz pochte so stark, dass es wehtat. In einem Moment wollte sie losrennen und sich in die Arme ihres Vaters werfen, im nächsten zog es sie hinter die Felsen, um Schutz vor ihm zu suchen. Sie sah wieder die Axt in seiner Hand … und hasste ihn und hasste sich selbst.
Schließlich fasste sie ihren Entschluss. Sie schritt auf dem unkrautüberwucherten Weg direkt ins Dorf hinein – den Rücken gerade, das Kinn stolz gereckt. Die Dörfler hoben die Köpfe. Bardi, der die besten Schwerter des Landes schmiedete, Leiknir, der den Sturm roch, noch bevor sich der Himmel schwarz bezog, sein albernes Weib … Seltsamerweise sprach niemand sie an. Erkannten sie sie in Halvdans Kleidern nicht wieder? Oder hatten die Anstrengungen der Flucht und der Hunger ihre Gesichtszüge verändert?
Wortlos passierte sie den Grabhügel, in dem die heilige Kuh Audhumla mit dem goldenen Halsreifen ruhte, die den ruhmreichen König Augvald in seine Schlachten begleitet und deren Milch ihm Kraft für seine Siege verliehen hatte. Mehrere Kinder mit Steinschleudern in den Händen tobten an ihr vorbei. Kurz gafften sie sie an, dann rannten auch sie weiter, ohne sie zu erkennen. In diesem Fall war es kein Wunder, denn sie hatte den Ort ja schon vor drei Jahren verlassen. Aus einer Tür drang der Duft gebackenen Brots …
Und dann stand sie vor der gemauerten Rampe, die in das Haus des Königs führte. Der Palast war aus Bruchsteinen errichtet worden, die die Erbauer aus den umliegenden Felsen geschlagen hatten, und mit einem wuchtigen, doppelmannshohen Tor versehen. Hierhin flüchteten sich das Volk aus den umliegenden Dörfern im Fall eines feindlichen Angriffs, der allerdings zu ihren Lebzeiten nie stattgefunden hatte. Das Tor stand sperrangelweit offen, und doch zögerte Solvejg, weiterzugehen. Ihre Hände zitterten vor Nervosität.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Jemand packte sie von hinten am Arm und zerrte sie mit sich bis zu einer Steintreppe, deren krumme Stufen hinab in eine Höhle führten, in der die Bauern ihre Bier- und Metfässer aufbewahrten. Auf der untersten Stufe riss Solvejg sich los.
»Hasss … hassst du den Veheer…stand verloren?«, stotterte ihr eine hohe Stimme ins Gesicht. Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern. Ja, das war Ingirid, die Tochter des Schmieds. Sie waren keine Freundinnen gewesen, wahrhaftig nicht. Die Götter hatten die junge Frau nämlich mit einem Fluch versehen: Wenn sie sprach, paddelte sie in einer Flut von Wörtern und Lauten, und es dauerte ewig, bis sie herausgebracht hatte, was sie sagen wollte. Das zu ertragen, strengte an, und obwohl sie hübsch war, hatte niemand sie zum Weib nehmen wollen. Die wenigen, die sich doch zu einem Gespräch mit ihrem Vater durchrangen, wurden vom ihm abgewiesen, denn trotz ihres Makels liebte und beschützte er sie wie ein Kleinod.
Aber all das war jetzt vergessen. Ingirid hatte sie erkannt – und wollte sie warnen.
»Haaarald iii…« Das Mädchen zappelte vor Ungeduld mit sich selbst. »…zzzornig. Er ii… von Sinnn…en. Er ha… hat einn Schwur getatan. Dass er …« Sie fuhr mit der Hand über die Kehle, um sich rascher verständlich machen zu können. »Eeer meint daaasss auch ssso!«
»Was?«
Ingirid zog noch einmal die Hand über die Kehle. Und erstarrte mitten in der Bewegung, als eine leise, aber dennoch durchdringende Stimme zu ihnen drang. Sie kam aus Richtung des Herrenhauses, und keiner brauchte Solvejg zu erklären, dass sie ihrem Vater gehörte. Ihrem zornigen Vater.
»Veerrsteck ddd…«
… dich. Ja doch! Aber es gab hier kein Versteck. Die Höhle mit den Fässern war klein und mit zwei Schritten durchsucht. Und ihr Vater hatte sie offenbar bereits entdeckt.
Plötzlich verdunkelte sich der Zugang. Eine Gestalt, ein Mann, stand auf der obersten Stufe. Aber er kam nicht herab. Stattdessen flog ihnen ein Stück Stoff in die Gesichter. Ein zerrissener, dreckiger Mantel. Solvejg warf ihn sich über die Schultern, so dass er den von Halvdan verdeckte. Als sie erneut hochblickte, erkannte sie das Gesicht von Ingirids Vater. Er wollte nicht ihr helfen, das konnte sie mühelos aus seiner Miene ablesen, die vom Tageslicht beschienen wurde. Es war seine hilfsbereite Tochter, um die er bangte. Ingirid rannte zu ihm hinauf – und schon waren die beiden verschwunden.
»Danke«, flüsterte Solvejg tonlos und folgte ihnen. Vorsichtig lugte sie um die Mauer. Die Stimme ihres Vaters hatte die Bauern erstaunlicherweise nicht zu den Waffen greifen lassen, sondern sie in ihre Häuser getrieben, wo sie die Türen hinter sich verriegelten.
Sein Gebrüll dröhnte durch die Gassen. »Hexe, verfluchte … Odin vernichte dich …«
Geduckt huschte Solvejg an dem Zaun entlang, der den Weg neben dem Hügel begrenzte. Sie war hier aufgewachsen, kannte jedes Schlupfloch. Es fiel ihr nicht schwer, die Stelle zu finden, wo einer der Bullen vor Jahren mit seiner ungeheuren Kraft den Zaun niedergetreten hatte, der das Dorf schützte. Die Stelle war repariert worden, aber nachlässig. Sie schob zwei der dicken Bretter auseinander und schaffte es, sich durch die enge Lücke ins Freie zu schieben. Dort horchte sie erneut. Jedes Wort ihres Vaters schnitt ihr wie ein Messer durchs Herz. Sie biss in ihre Hand. Dann rannte sie um ihr Leben.
*
Die folgende Nacht verbrachte sie in einem dornigen Unterholz in der Nähe des Wasserfalls. Ihre Erschöpfung ließ sie fast augenblicklich in einen traumlosen Schlaf fallen, und als sie erwachte und der Morgen sie mit Wärme und dem betörenden Gesang einer Singdrossel begrüßte, fühlte sie sich, als würden die Götter sie verspotten. Sie zog die beiden Mäntel enger um sich. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich überwinden konnte aufzustehen.
Dann ging sie zum Wasserfall, zog sich nackt aus und ließ die eisigen Fluten auf ihre Haut prasseln. Der Schmerz vertrieb die letzte Müdigkeit. Sie nutzte den zerrissenen Mantel, um sich damit abzutrocknen, und hüllte sich in den wärmeren von Halvdan.
Und nun?
Solvejg starrte auf die Wasseroberfläche, in der sich ihr hageres, von tiefschwarzem, hoffnungslos zerzaustem Haar umrahmtes Gesicht spiegelte. Blutige Schrammen, trockene Lippen … Das hässliche Antlitz eines Menschen, der nicht mehr ein noch aus wusste. Das aber dennoch ihrem alten Gesicht so sehr ähnelte, dass Ingirid und auch Harald sie wiedererkannt hatten. Und das war gefährlich.
Solvejg griff in den Schlamm unter dem Wasser und verrieb ihn mit den Fingerspitzen auf ihrem Gesicht. Dann packte sie ihr Messer und fing an, ihre Locken abzusäbeln. Eine Strähne folgte der anderen ins Gras. Es war eine mühselige Angelegenheit. Sie schaute erneut auf das klar leuchtende Wasser: Aus ihr war ein Junge geworden. Ihr Vater würde sie dennoch wiedererkennen, doch für Fremde wäre sie nun ein Mann. Halvdans Kleider und die kurzen Haare waren zu ihrer Rüstung geworden.
Jetzt musste sie mit kühlem Kopf einen Plan ersinnen, der sie vielleicht retten könnte. Wenn ihr Vater sie in die Hände bekäme, würde er sie umbringen, das stand fest. Sie musste also aus Norwegen verschwinden. Vielleicht auf einem der Schiffe im Hafen, das hoffentlich bald in See stach?
Solvejg kehrte an den Platz zurück, der ihr freie Sicht auf den Hafen verschaffte. Auf den Booten wurden Segel repariert und rostige Nieten ausgetauscht. In den Gassen gingen die Leute ihren Geschäften nach. Die Zeit verstrich, und gegen Mittag verließ sie ihren Posten, um sich etwas zu essen zu suchen. Zweimal musste sie dabei Dorfbewohnern ausweichen. Sie stopfte einige Wurzeln in sich hinein und nahm ihren Beobachtungsplatz wieder ein.
Träge lauschte sie den gedämpften Geräuschen. Plaudernde Frauen, Männer, die die Angelegenheiten des Tages miteinander besprachen. Einige der fremden Ruderer ließen die Werkzeuge sinken und zogen los, um Essen zu tauschen. Plötzlich ging Solvejg auf, wie lange es dauern könnte, bevor ihr die Flucht in die See hinaus gelänge. Was wusste sie schon von den Plänen der fremden Seeleute?
Sie legte sich auf den Rücken und starrte zum Himmel, an dem gleichgültig die Wolken zogen. Kurz fielen ihr die Augen zu. Doch schon bald schreckte sie wieder hoch. Schreie … Es hörte sich an, als wäre im Hafen … ein Streit ausgebrochen? Hastig wälzte sie sich auf die Seite. Bei den Bootsstegen schubsten und beschimpften sich einige Männer. Mehrere hielten Messer in den Händen. Sie erkannte Krieger aus Avaldsnes, und im Lager ihrer Gegner … Ja, der Kerl in den schwarzen Stiefeln war Einar Schlangenauge. Er stieß jemanden zurück, der Mann stürzte, Einar brüllte ihn an und hob drohend die Faust mit dem Messer.
Der Attackierte hieß Jon Ketilsson. Er hatte Solvejgs Vater während seiner Abwesenheit vertreten, und sie wusste, dass Harald ihn schätzte, weil er nie versucht hatte, seine Stellung gegen ihn auszunutzen und die eigene Macht zu vergrößern. Aber er besaß ein hitziges Temperament und würde keine Beleidigung durch einen Fremden hinnehmen. Das schien auch dem Schlangenmann aufzugehen, denn er ließ das Messer sinken und winkte seinen Männern an Bord, ihm zur Hilfe zu kommen. Sie sprangen über die Reling und bildeten mit ihren Kameraden eine Kampffront.
Doch auch Jon erhielt Beistand. Aus den Häusern stürzten die Männer von Haugesund, mit Knüppeln und Äxten und allem bewaffnet, was sie in der Schnelle hatten packen können. Schweigend standen die Kämpfer einander gegenüber – die Ruhe wirkte bedrohlicher als vorher der offene Streit. Aber selbst Solvejg, die niemals in einer Schlacht gekämpft hatte, war klar, dass Einars Männer den Einheimischen hoffnungslos unterlegen waren. Wenn sie noch einen Rest Verstand besaßen, würden sie auf ihre Boote rennen und ablegen. Und das bedeutete für sie selbst? Sollte sie sich mit ihnen gemeinsam retten? Ihr blieb keine Zeit zum Grübeln oder Zögern. Sie zog im Laufen den schmutzigen Mantel von Ingirids Vater über die eigenen Kleider. Niemand durfte sie erkennen!
Als sie den Hafen erreichte, waren Einars Ruderer tatsächlich dabei, sich unter Hohngelächter und Beschimpfungen auf ihre Schiffe zurückzuziehen. Solvejg zwängte sich durch die Menge der Einheimischen – ein dreckiger, magerer Junge ohne Waffen, den niemand beachtete. Sie sprang als eine der Letzten in das größere Schlangenboot hinab. Nur wenige Schritte von der Reling entfernt befand sich eine offene Luke, der Zugang zum Schiffsrumpf. Während die Männer zu den Ruderbänken stolperten, sprang sie in das rettende Dunkel hinab. Der Aufprall war hart, aber sie kam sofort wieder hoch und verkroch sich hinter einen Stapel weichen Leders – vermutlich die Daunensäcke, in denen die Männer auf See nächtigten. Augenblicke später richtete sie sich wieder auf und tastete sich weiter in die Ecke vorn am Bug, wo Fässer standen, in denen vermutlich Essbares oder Bier aufbewahrt wurden. Hinter ihnen befand sich ein kleiner Hohlraum. Dort würde sie sicher sein – zumindest für eine Weile.
Über sich hörte sie Einar Befehle brüllen. Sie wurden seltener, je mehr das höhnische Gelächter der Leute von Haugesund verklang, das die Flucht der Fremden begleitete. Sie war ihrem Vater entkommen. Und zu müde, um etwas anderes zu spüren als das Bedürfnis, endlich die Augen zu schließen.
*
Ein Quietschen ließ Solvejg aus dem Schlaf aufschrecken. Einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Panisch krümmte sie sich zusammen. Sie hörte gut gelaunte Männerstimmen, und als ihre Augen sich an das spärliche Licht gewöhnt hatten, lugte sie an den Fässern vorbei und sah zwei breitschultrige Kerle, die etwas über ihre Köpfe zu einer Luke hinaufreichten. Richtig, sie hatte es in den Rumpf eines der Schlangenboote geschafft, und das sanfte Schaukeln bewies, dass sie sich auf hoher See befanden.
Offenbar war es Abend geworden, denn durch die Luke fiel kaum noch Licht. Einige Männer stiegen die Leiter hinauf. Wahrscheinlich hatten sie geschlafen und wollten nun ihre Kameraden an den Riemen ablösen. Andere tasteten sich dafür in den Schiffsrumpf hinab, wo sie es sich entlang der Schiffswände bequem machten. Solvejg entspannte sich wieder, brachte aber für den Rest der Nacht kein Auge mehr zu.
Als der neue Tag anbrach, verließen die Schläfer den Schiffsrumpf, ohne dass einer von ihnen sie bemerkt hätte. Sie hörte, wie sie oben mit den anderen Männern sprachen, und schöpfte Hoffnung. Aus den Erzählungen ihrer Landsleute wusste sie, dass sich die Wikingerschiffe während ihrer Beutezüge an den Küsten orientierten – an Hügeln, Städten und Flussmündungen … an allem, was Hinweise darauf lieferte, wo man sich gerade befand. Wenn es sich um Städte oder Dörfer handelte, wurde dort gekauft oder geraubt, was man an Nahrung brauchte. Die beiden Schlangenschiffe waren losgefahren, ohne vorher Proviant besorgen zu können, nahm sie an. Wenn sie recht hatte, wären die Männer gezwungen anzulanden. Und böten ihr damit die Gelegenheit zu entkommen?
Sie schob den Deckel von einem der Fässer beiseite und tastete, ob sich etwas Essbares darin befand. Schon beim ersten Versuch wurde sie fündig. Es handelte sich um salzigen Fisch, den sie sich gierig in den Mund stopfte. Und Getränke? Argwöhnisch schaute sie zur Luke. Zeit verstrich. Niemand kehrte unter Deck zurück. Sie machte sich auf die Suche und fand tatsächlich ein weiteres Fass, aus dem es nach abgestandenem Wein roch. Zurück hinter dem Fass blieb ihr nichts als abzuwarten.
Sie musste erneut eingeschlafen sein, denn sie wurde von einem Ruck geweckt, der durch das Schiff ging. Wenig später wurde es unter lauten Hau-jae-Rufen offenbar auf einen flachen Strand gezogen. Ein Fass stürzte dabei um, aber es schien keinen Schaden genommen zu haben.
Solvejg zog die Beine an, schlang die Arme darum und knetete nervös ihre Finger. Sie wusste, wie gering ihre Aussicht war, heimlich zu entkommen. Die Männer würden das Schiff kaum unbewacht zurücklassen – gleich, was sie planten. Also würde sie mit ihnen reden, ihre Anwesenheit erklären müssen. Sie musste darauf bauen, dass man sie mit den kurzen Haaren und dem abgemagerten Gesicht nicht erkannte. Nach einem Räuspern sprach sie einige Sätze in der tiefsten Tonlage, die sie zustande brachte. Dann gab sie sich einen Ruck, erklomm die Leiter, die zur Luke führte, und trat auf die Planken.
Über ihr wölbte sich ein silberblauer Himmel ohne das kleinste Wölkchen – ein Anblick, blendend und atemberaubend schön. Sie entdeckte das zweite, etwas kleinere Schlangenboot, das ebenfalls hier ankerte. Ihr Blick ging weiter zum Strand. Die Männer waren sämtlich von Bord gegangen. Einige wuschen sich oder ihre Kleider im Meerwasser, andere schärften ihre Waffen, wieder andere ließen sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Es dauerte, bis einer von ihnen, ein hagerer, älterer Mann, sie bemerkte und seine Kameraden auf sie aufmerksam machte.
Solvejg kletterte von Bord – sich nur keine Angst anmerken lassen. Bald war sie von der ganzen Bande umringt und wurde angegafft. Was sahen sie? Einen mickerigen, halb verhungerten Kerl, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Spöttische Kommentare wurden laut.
Endlich trat auch Einar zu ihnen. Er kreuzte die Arme über der Brust und musterte sie misstrauisch. Es dauerte Ewigkeiten. Hatte er sie trotz ihrer kurzen Haare und der Männerkleider erkannt? Nein, Offenbar wollte er sehen, ob ihr unbehaglich zumute würde. Solvejg zwang sich, dem Schlangenblick standzuhalten, bis der Mann schließlich das Gesicht zu einer herablassenden Grimasse verzog.
»Wie es aussieht, ist einer unserer Heringe aus dem Eimer gekrabbelt und hat laufen gelernt.«
Gelächter brandete auf.
»Laufen ja, aber reden kann er nicht, der Hering«, gluckste der Mann, der neben Einar stand und den sie ebenfalls im Haus des Samenkönigs gesehen hatte.
Solvejg wartete ab, bis es still wurde. Dann sagte sie mit einer Stimme, so leise und tief, wie es ihr möglich war: »Sei gegrüßt, Einar Schlangenauge.« Sie neigte den Kopf und versuchte dabei, höflich, aber nicht liebesdienerisch zu wirken. »Ich bin Sol…mund.« Kaum ein Zögern, während sie den ersten Namen, der ihr in den Sinn kam, aussprach. »Ich habe gehört, dass du mit deinen Kriegern auf dem Weg nach Wykynlo bist. Und gestern habe ich euch in Haugesund den Kübel der Verachtung auf die Hafenmemmen ausgießen sehen. Es hat mir gefallen.«
»Aha?« Kurz herrschte Stille, dann brachen die Männer, auch Einar, erneut in Gelächter aus. Dieses Mal klang es freundlicher.
»Nimm mich mit, so dass ich mit dir gegen die Christen kämpfen kann.«
Solvejg hoffte inständig, dass er ablehnte und sie mit einem Tritt in den Hintern davonjagte. Er tat es nicht. Stattdessen streckte er seine Hand aus, und einer seiner Leute reichte ihm ein Schwert. Einar hielt dem Mann auch die andere Hand hin. Im nächsten Augenblick pfiffen beide Klingen durch die Luft – und zwar gleichzeitig, in atemberaubender Geschwindigkeit, ohne dass sie einander berührt hätten.