Die Wilden Küken 1 - Thomas Schmid - E-Book
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Die Wilden Küken 1 E-Book

Thomas Schmid

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Beschreibung

Frisch geschlüpft. kükencoole Bandenabenteuer Lilli, Bob und Very sind die "Wilden Küken". Doch was ist eine Bande ohne Bandenquartier und echte Abenteuer? Ole, Little und Mitch machen sich schon lustig über die drei. Wie gut, dass Sprotte und die anderen "Wilden Hühner" ihnen eine alte Schatztruhe schenken. Doch die Küken haben kaum Zeit, sich über deren rätselhaften Inhalt zu wundern - denn jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Was führen die Jungen im Schilde? Welches Geheimnis verbirgt der Besitzer des Hausboots, das ihr perfektes Quartier sein könnte? Viel zu tun für die Wilden Küken! Die Fortsetzung der Kultserie von Cornelia Funke - perfekt für die neue Bandengeneration. Nach Ideen und Motiven aus "Die Wilden Hühner".

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»Keine alleine, alle oder keine!«

Mitten auf der Brücke blieb Lilli stehen. Der Schulrucksack klebte ihr am Rücken, keuchend stützte sie sich auf ihren Knien ab und verschnaufte erst mal. Die Hühnerfeder, die sie an einem Lederband um den Hals trug, baumelte vor ihren Augen. Kurz schoss Lilli der Gedanke durch den Kopf, die Feder einfach in den Fluss zu werfen.

Sie strich sich die verschwitzten Locken aus der Stirn und erschrak. Wo war ihre Haarspange? Hastig fuhr sie sich durch die Haare. Die Igelhaarspange – sie war weg.

»Mama«, murmelten Lillis Lippen. Und das taten sie nur, wenn es Lilli richtig schlecht ging.

Am liebsten hätte sie geweint. Aus Wut über das, was passiert war, und aus Angst davor, was passiert sein könnte – und wegen der Igelspange.

Aber ein Wildes Küken weint nicht. Und die Anführerin der Wilden Küken erst recht nicht. Und Lilli war doch das Oberküken, oder?

Wieso hatte sie auch gleich am ersten Schultag schon wieder ihre Klappe nicht halten können?

Auf dem Wasser trieb ein einsamer Ast flussabwärts. Erst jetzt fiel Lilli ihr Fahrrad ein. Das hatte sie glatt vergessen! Einfach an der Schule stehen gelassen. Was sollte sie jetzt tun?

Ich hätte auf Bob und Verena warten sollen, dachte Lilli und fügte in Gedanken noch schnell hinzu: Ole wird schon nichts passiert sein.

Lilli sperrte die Haustür auf, ließ ihren Schulrucksack neben dem Schuhregal fallen und ging dann nicht nach links in die Wohnung, sondern gleich weiter durch die Hintertür Richtung Garten.

»Und?« Mit einem Schreinerbleistift in der Hand kam Lillis Vater aus seiner Werkstatt. »Wie war der erste Tag in der 5a?«

Seine langen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden und voller Sägemehl.

»Wir haben Bobs Tante als Klassenlehrerin!«

Ihr Vater zog eine Augenbraue hoch.

Lilli schwieg.

Ein winziger Sägespan zitterte auf einer seiner Wimpern. »Ist was passiert? Sonst sprudelst du doch immer gleich drauflos, wenn du aus der Schule kommst.«

»Ich kümmer mich um die Hühner, ja?« Lilli drehte den Wasserhahn vor der Werkstatt auf und ließ Wasser in die Gießkanne laufen.

»Über die Hühner müssen wir uns sowieso mal unterhalten.« Lillis Vater kratzte sich mit dem Bleistift im Nacken, steckte ihn hinters Ohr und verschwand in seiner Werkstatt.

Lilli schleppte die Gießkanne zum Gewächshaus. Zusammen mit Bob und Verena hatte sie die vordere Hälfte des alten Gewächshauses zu einem Hühnerstall umgebaut. Mit einem Ächzen hob Lilli die Gießkanne über den Zaun des Freigeheges, das sie aus den Metallgittern vom Komposthaufen errichtet hatten. Gut für die Hühner, schlecht für den Kompost, der ohne die Gitter ein wachsender Hügel war, der sich bis ins Gras ausbreitete.

Lilli goss Wasser in die Hühnertränke. Emma, Isolde, Huberta, Dolli und Kokoschka drängten sich gackernd um ihre Beine. Die freche Huberta pickte an Lillis Sandalen herum. Nur Klara blieb wie immer erst mal auf Abstand und lief nervös nickend auf und ab.

Im Gackern und Glucken der Hühner lösten sich Lillis Sorgen auf. Am liebsten hätte sie leise mitgegackert.

Eigentlich gehörten die Hühner ja Sprotte, Frieda, Trude, Melanie und Wilma. Und diese fünf waren die coolste Mädchenbande der Welt. Die Wilden Hühner eben.

Aber auf ihrer letzten Klassenfahrt hatten die Wilden Hühner beschlossen, erwachsen zu werden. Lilli fand das total doof. Wer wollte schon lieber zu den Erwachsenen gehören als zu einer Bande? Gar nicht doof hingegen fand Lilli, dass Bob, Verena und sie jetzt so etwas wie die Nachfolgerinnen der Wilden Hühner waren. Und weil Sprotte in den Sommerferien mit Fred nach Amerika hatte fliegen wollen, Trude mit Steve nach Dänemark gefahren war, um ihren gemeinsamen Freund Torte zu besuchen, Wilma einen Theaterworkshop in Hamburg absolvierte, Melanie im Kosmetiksalon jobbte und Frieda mit Willi durch die Uckermark radelte, hatten die Wilden Hühner ihre echten Hühner bei den Wilden Küken, also bei Lilli, Bob und Verena, einquartiert. Lillis Gedanken wirbelten genauso durcheinander wie heute in der Schule, als Frau Wilhelms sie gefragt hatte, wie sie denn ihre Ferien verbracht hätten. Da war Lillis Fantasie wieder mal mit ihr durchgegangen, und sie hatte Sachen erzählt, die sie vielleicht gern erlebt hätte, aber garantiert nicht erlebt hatte. Ein bisschen geflunkert eben. Was aber noch lange kein Grund war, dass dieser Ole gleich so blöd über sie herziehen musste.

Bevor sich in ihrem Kopf alles zu drehen begann, nahm Lilli schnell Huberta hoch und setzte sich mit ihr auf den Deckel der Futterkiste. Erst pickte Huberta nach Lillis Ohrläppchen, aber als Lilli sie streichelte, gurrte sie nur noch leise vor sich hin. Lilli fühlte ihr eigenes Herz und das des Huhns schlagen. Einen Augenblick schien es, als wäre ein Huhn zu umarmen das richtige Rezept, um die Zeit anzuhalten, aber dann wurde Huberta zappelig, kratzte Lilli mit ihren Krallen und sprang flatternd zu den anderen Hühnern an die Tränke.

Lilli streute ihnen noch eine Handvoll Getreide hin und verschloss dann sorgfältig den Deckel der Futterkiste. Das war nötig, denn Hühner sind kluge Tiere, und gemeinsam schaffen sie die unmöglichsten Dinge. Huberta hatte Isoldes Rücken schon mal als Sprungbrett benutzt, um an die Dolden vom Holunderbaum zu kommen, der neben dem Gewächshaus wuchs.

Lilli kletterte über das Hühnergatter. Gleichzeitig erklomm jenseits der Hecke Herr Röhrich eine alte Klappleiter und streckte sich nach den Äpfeln in seinem Apfelbaum.

»Rechts von dir, Hans-Dieter!« Die Nachbarin dirigierte ihren Mann von der Terrasse aus mit dem Besenstiel. »Da hängen ganz viele!«

Herr Röhrich stieg eine Leitersprosse höher und griff nach links.

»Rechts!« Frau Röhrichs Stimme wurde ungeduldig. »Direkt vor deinem Kopf!« Sie fuchtelte mit dem Besen herum wie mit einem Taktstock.

Als er sich nach rechts wandte, entdeckte Herr Röhrich Lilli neben dem Hühnergatter. »Wasch dir bloß die Hände, Mädchen, wenn du das Drecksvieh angefasst hast.«

Das alte Ehepaar hatte eine erwachsene Tochter, mit der es aber schon seit Jahren zerstritten war. Lilli konnte sich nicht erinnern, sie jemals bei den Röhrichs gesehen zu haben.

»Und kämm dich mal ordentlich«, moserte Herr Röhrich.

Lillis wilde Locken zu kämmen, hatte gar keinen Sinn, die wuchsen in alle Richtungen und ringelten sich, wie sie wollten.

Lilli lächelte nur.

Frau Röhrich schleppte einen Gartenstuhl zum Apfelbaum. »Ihr fehlt halt die Mutter.« Sie stieg auf den Stuhl und stieß mit ihrem Besen gegen einen Ast.

Lilli hörte Äpfel ins Gras fallen. Was bei Röhrichs wuchs, war eigentlich kein Rasen, sondern ein grüner Teppich, so dicht und getrimmt wie er war. Herr Röhrich deutete auf Lillis Kopf. »Was ist denn das überhaupt für eine Frisur?!«

»Was ist denn das überhaupt für eine Frisur«, äffte Lilli ihn nach, aber so leise, dass man es jenseits der Hecke nicht hören konnte.

»Der Vater hat doch dafür keinen Sinn«, meldete sich Frau Röhrich wieder zu Wort. »Da fehlt einfach die weibliche Hand.«

Das mit der weiblichen Hand nervte Lilli wirklich! Und Frau Röhrich ließ keine Gelegenheit aus, es zu wiederholen. Um sich nicht weitere Gemeinheiten anhören zu müssen, lief Lilli rüber zu ihrer Weihnachtsinsel.

Der Garten war natürlich nicht der Indische Ozean und Lillis Weihnachtsinsel keine echte Insel, sondern einige nah beieinanderstehende Tannen, die ein weicher Boden aus Moos und Nadeln umgab. In den Zweigen glitzerten noch immer die Christbaumkugeln, die Lilli vorvorvorletzten Winter dort aufgehängt hatte. Lilli spannte ihre Hängematte nach, legte sich hinein und schaukelte ein wenig hin und her. Hier konnte man sie vom Nachbargarten aus nicht sehen.

Die Nadelbäume verströmten ihren harzigen Duft. »Zickzickzick zieee zickzick zieeeh«, ertönte der Ruf eines Rotkehlchens. Lilli lehnte sich zurück. Das heute, das war der schlimmste erste Schultag ihres Lebens. Sogar noch schlimmer als der allererste, an dem sie als Einzige nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem Vater da war. Und sie allen erzählen musste, dass sie gar keine Mutter hatte, und jemand fragte, ob ihre Mutter tot sei. Nein, einfach abgehauen. Mit einem Musiker. Sie liebte die Musik mehr als ihre Tochter und ihren Mann. Lilli wäre es lieber gewesen, sie hätte einfach sagen können, meine Mutter ist tot. Dann hätten sie wenigstens alle bemitleidet. Die arme Halbwaise. Aber so war sie nur ein Mädchen, das seine Mutter nicht kannte und nichts von ihr besaß als eine alte Haarspange aus Silber. Verflixt. Jetzt hatte Lilli doch wieder daran gedacht. Die Haarspange bestand aus zwei silbernen Igeln, die mit einem schmalen Scharnier verbunden waren, sodass man sie auseinanderklappen und um eine Haarsträhne herum wieder zusammenklicken konnte. Sie musste die Igelhaarspange heute vor der Fahrradhalle verloren haben …

Lilli wischte alle unruhigen Gedanken weg, schloss die Augen und wiegte sich sanft in der Hängematte. Jetzt war sie eine Prinzessin, eine indische. Lilli Maharani. Sie stand im Schatten eines mit goldenen Tressen geschmückten Baldachins. Grüne Wellen rollten an den weißen Sandstrand. Die Prinzessin hielt Ausschau. Endlich tauchte am Horizont die Flagge der Barkasse auf, da plumpste Lilli Maharani aus der Hängematte … Ihr Vater stand neben ihr und grinste. »Na, du Traumfängerchen?«

Er legte sich in die Hängematte und klopfte neben sich. Lilli kuschelte sich zu ihm. Er zog aus der seitlichen Tasche seiner Arbeitshose einen Zollstock und kratzte damit etwas Hühnerdreck von Lillis Sandale. »Das mit den Hühnern, Lilli, das geht so nicht weiter.«

Davon wollte Lilli nichts hören. Die Hühner waren schließlich das Einzige, was Lilli, Bob und Verena zu einer Bande machte.

»Du weißt, ich will keine Haustiere, und die Röhrichs schimpfen sowieso dauernd über die Viecher. Und als das eine neulich auch noch ausgebüxt ist …«

Das war natürlich Huberta. Sie hatte eine ziemliche Verwüstung im Salatbeet der Nachbarn angerichtet. Die Röhrichs hatten dort vielerlei Salatsorten gepflanzt: Kopfsalat, Eichblattsalat und Lollo rosso – aber der Friséesalat hatte es Huberta am meisten angetan.

»Wir müssen die Hühner sowieso bald zurückgeben.« Lilli hatte einen Kloß im Hals und schluckte.

Ihr Vater gab Lilli einen Stups auf die Nasenspitze. »Ich koch uns dann mal Spaghetti.«

Nach dem Mittagessen spülte Lilli ab und ihr Vater schrieb einen Einkaufszettel. Er versuchte immer, Ordnung ins Leben zu bringen. »Klopapier«, murmelte er mit seinem Schreinerbleistift in der Hand. »Und Friséesalat für Herrn Röhrich. Als Wiedergutmachung für den Schaden, den dein Huhn in seinem Beet angerichtet hat.«

Lillis Vater liebte Listen. Nicht nur Einkaufszettel, auch Listen, wo draufstand, was noch erledigt werden musste oder was besonders wichtig war. Auto waschen zum Beispiel. Oder Dachboden aufräumen. Einmal hatte Lilli sogar ganz oben im Regal neben der Hobelbank eine Liste gefunden. Sie steckte in einer Schachtel mit Möbelkonstruktionszeichnungen. Liebe stand da und darunter: Es gibt immer einen neuen Anfang! Schnell hatte Lilli diesen Zettel wieder tief unter die Zeichnungen geschoben.

»Fällt dir noch was ein?« Über der Spüle spitzte er seinen Bleistift mit dem Gemüsemesser.

Nicht an die Schule denken, ein richtiges Bandenquartier finden und sich nie mit Jungs einlassen, dachte Lilli, laut sagte sie aber nur: »Nussnugatcreme.«

Jetzt drehte Lilli schon eine geschlagene halbe Stunde Däumchen und Bob und Verena waren noch immer nicht aufgetaucht. Wie sollten sie je eine richtige Bande werden, wenn die beiden nicht mal pünktlich zum Bandentreffen aufkreuzten? Lilli wollte die Hoffnung schon aufgeben, da klingelte es. Sie lief zum Tor der Werkstatt. »Passwort?«

Vor dem Firmenschild mit der Aufschrift Schreinerei Stefan Holler wackelte Verena unsicher mit ihrem schmalen Kopf. Ihre glatten Haare glänzten in der Sonne wie ein Helm aus Gold. »Es war doch Südsee, oder?«

Lilli verdrehte die Augen.

Bob stemmte sich am Tor hoch. »Jetzt spinn nicht, mach auf, Lilli!«

»Wenn nicht Südsee, dann vielleicht Tigerhai?«, riet Verena weiter und zog ihre Jacke aus. »Oder war’s Primadonna?«

Bob kletterte jetzt einfach über das Tor. »Das nervt echt mit deinen Passwörtern.«

»Wir sind eine Bande, vergessen?!«

»Aber jeden Tag ein neues Passwort. Und jedes Mal denkst du es dir aus. Das ist doch bescheuert.«

»Und wenn uns jemand ausspioniert? Oder bei Dunkelheit oder am Telefon, da muss man das Passwort wissen.«

»Scemenza! Das ist doch Quatsch«, sagte Bob. »Außerdem ist es jetzt nicht dunkel.« Bobs Mama war Italienerin und manchmal rutschte Bob ein italienisches Wort raus.

Verena stand noch immer brav vor dem Tor.

»Das Passwort lautet Maharani«, sagte Lilli gnädig.

»Maharani«, leierte Verena und Lilli drückte auf den Knopf. Der elektrische Antrieb surrte und das Tor schob sich auf.

Bob stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und wieso hast du nach der Schule nicht auf uns gewartet, Signorina Maharani?«

Aber noch bevor Lilli antworten konnte, ertönte ein grässlicher Schrei.

Im ersten Schreck dachte Lilli, ihr Vater hätte sich an einer Maschine verletzt. Sie hatte immer Angst davor, dass einer der Schreinerwitze, die er oft erzählte, Wirklichkeit werden könnte. Sie handelten meist von abgesägten Fingern.

Aber da ging auch schon die Werkstatttür auf. »Das war Herr Röhrich, oder?« Lillis Vater ließ seinen Hobel fallen. Zu viert liefen sie an die Hecke. Ein zweiter Aufschrei gellte herüber. Diesmal war es eine Frauenstimme. »Um Himmels willen, Hans-Dieter …!«

Und dann sahen sie jenseits der Hecke in hohem Bogen einen Gartenpantoffel fliegen, hörten ein aufgeregtes Gackern und schließlich Herrn Röhrichs wütendes Keuchen. »Ich dreh dem Biest eigenhändig den Hals um!«

Dann flatterte etwas über die Hecke. Und das war Huberta!

»Was ist das denn?« Lillis Vater zeigte auf etwas Pelziges in Hubertas Schnabel.

»Eine Maus?«, murmelte Lilli verwirrt.

»Eine Ratte!«, rief Bob.

»Igitt!«, kreischte Verena und sprang auf die Gartenliege.

Aber da hatte Bob Huberta auch schon erwischt und ihr die rätselhafte Beute aus dem Schnabel genommen. »Es ist nur ein komisches Stück Fell.«

Lilli berührte das Ding mit spitzem Finger. »Das ist kein Fell.«

Gleichzeitig raschelte es hinter ihnen und Herrn Röhrichs Hand streckte sich durch die Hecke. »Könnte ich das bitte zurückbekommen?«

»Das ist ein Toupet«, flüsterte Lillis Vater den Mädchen zu. »Ein künstliches Haarteil.« Er war genauso erstaunt wie Lilli und genau wie sie musste er ein Lachen unterdrücken.

»Igitt«, wiederholte Verena auf der Gartenliege.

Lillis Vater legte das Haarteil auf die flache Hand von Herrn Röhrich. Die Hand schloss sich um das Toupet und zog sich zurück auf die andere Seite. Kurz darauf erschien Herrn Röhrichs Gesicht über der Hecke. Das etwas zerzauste Toupet war wieder an seinem Platz.

»Was ist denn das überhaupt für eine Frisur?«, murmelte Lilli. »Da fehlt einfach die weibliche Hand!« Dabei zwang sie sich, an Herrn Röhrich vorbeizublicken. Jetzt bloß nicht auf das Fell gucken. Sonst würde das in ihr brodelnde Lachen sofort explodieren. Lilli schaute zu Bob, die ebenfalls kurz vor der Explosion stand.

»Entschuldigen Sie, Herr Röhrich«, sagte Lillis Vater. »Ich mach das wieder gut. Ich schreinere Ihnen einen Terrassentisch. Und den Friséesalat von neulich ersetze ich Ihnen natürlich auch.«

»Frisursalat«, hauchte Verena, die von ihrer Gartenliege aus eindeutig nicht an Herrn Röhrich vorbeiblickte. Lilli und Bob konnten das Lachen nicht mehr unterdrücken.

Zum Glück fing es in dem Moment an zu regnen und Herr und Frau Röhrich eilten ins Haus. Lillis Vater verschwand in seiner Werkstatt, allerdings nicht, ohne Lilli einen Blick zuzuwerfen, der zu verstehen gab, dass das Thema noch nicht erledigt war.

Bob setzte Huberta in den Pferch. Sofort verdrückte sich die Ausreißerin mit den anderen Hühnern ins Gewächshaus.

Das Gewächshaus war zweigeteilt. Der vordere, kleinere Teil fungierte als Hühnerstall. Der hintere Teil war durch einige alte Fenster, die Lillis Vater von einer Baustelle mitgebracht hatte, abgetrennt und diente den Wilden Küken als provisorisches Bandenquartier. Hier gab es sogar eine Steckdose und eine elektrische Kochplatte, auf der Lillis Vater normalerweise seinen stinkenden Knochenleim erhitzte. Das kam zum Glück nicht allzu oft vor, denn der Gestank war so erbärmlich, dass er ein Bandentreffen völlig unmöglich machte – auch noch zwei Tage danach. Aber jetzt kochte auf dieser Kochplatte kein übel riechender Leim, sondern einfach nur Teewasser. An den Glasscheiben des Gewächshauses rannen innen und außen Tropfen hinunter, draußen vom Regen und drinnen vom Wasserdampf.

Lilli sah hinüber zu den Hühnern, die sich hinter den Fensterscheiben ins Stroh ihrer Kisten duckten. »Irgendwie schaffen wir es nicht«, sagte Lilli. »So eine Bande zu sein wie die Wilden Hühner. Jedenfalls nicht so richtig.«

»Vielleicht schwören wir nochmal?« Verena blätterte im Bandenbuch, das auf ihrem Schoß lag.

Lilli seufzte. »Wisst ihr noch, im letzten Schuljahr, kurz vor den Ferien?«

Die drei Wilden Küken wurden ganz still. Natürlich erinnerten sie sich noch daran, wie sie vor dem Wohnwagen der Wilden Hühner gestanden hatten, dem Bandenquartier der coolsten Mädchenbande überhaupt.

Sprotte hatte sich geräuspert, wie vor einer Rede. »Also, ihr drei wundert euch sicher, dass wir euch eingeladen haben.« Sprotte hatte den Arm um Frieda und Trude gelegt. Und Frieda und Trude hatten ihre Arme um Melanie und Wilma gelegt. »Wir fünf sind zu alt für eine Bande. Und deshalb haben wir uns überlegt, wer unsere Nachfolgerinnen werden könnten.«

Lilli war so stolz damals. »Dann sind wir ab jetzt die neuen Wilden Hühner?«, hatte sie gefragt und Sprotte hatte geantwortet: »Na ja, ganz so weit seid ihr noch nicht. Ihr seid doch gerade erst aus dem Ei geschlüpft.«

Das Wasser im Kochtopf blubberte und einige Tropfen landeten auf der Kochplatte und verdampften zischend. Bob stellte den Schalter auf null.

»Sprotte hatte recht«, sagte Lilli. »Wir sind grad mal aus dem Ei geschlüpft.«

Bob gab etwas Tee in die Kanne und brühte ihn auf. »Dschungelfeuer, Sprottes Lieblingstee. Ich hab Frieda extra gefragt, wo sie den kaufen.«

Ein angenehmer Duft breitete sich aus. Die drei Wilden Küken hoben die Hand und erneuerten ihren Schwur. »Ich schwöre, die Geheimnisse der Wilden Küken mit Leib und Leben zu schützen und nie zu verraten, sonst will ich auf der Stelle völlig tot umfallen.«

Keine musste ins Bandenbuch gucken, alle drei kannten die Worte auswendig.

Bob füllte Dschungelfeuer in die Tassen. Der Regen prasselte auf das Glasdach. Manchmal pickte eins der Hühner neugierig an die Fensterscheiben.

»Hm«, machte Verena nach einer Weile.

»Was hm?«, äffte Bob sie nach.

Verena pustete auf ihren Tee. »Eigentlich haben wir gar keine Geheimnisse.«

Fast hätte Lilli jetzt ihren Freundinnen erzählt, was heute nach der Schule passiert war. Sie öffnete den Mund, aber dann trank sie doch nur einen Schluck Tee.

Bob musste als Erste nach Hause. Seit Luisa Wilhelms bei ihnen wohnte, herrschte eine eiserne Disziplin. Luisa war die Schwester von Bobs Vater, Jens Wilhelms, und zugleich die neue Klassenlehrerin der Wilden Küken. Sie unterrichtete Englisch, Biologie und Chemie. Als Gegenleistung dafür, dass sie vorübergehend bei Bobs Familie wohnte, hatte Tante Luisa sich eingeredet, Bob schon während der Ferien Nachhilfe geben zu müssen.

Und Verena musste sowieso immer früh nach Hause. Das lag an ihrem Opa. Peter Hinsgen war der Meinung, Mädchen sollten am besten zu Hause sitzen und warten, bis sie verheiratet werden, um dann weiterhin zu Hause zu sitzen und auf nichts mehr zu warten.

Klang ziemlich bescheuert, fand Lilli. Aber dem Vater von Verenas Mutter gehörte die Firma, in der Verenas Vater als Geschäftsführer arbeitete. Und dass sich die Graefes keine Sorgen um Geld machen mussten, verdankten sie Verenas Opa Hinsgen.

Am Tor schaute Lilli sich um, ob sie auch wirklich niemand hören konnte. Bob und Verena stießen einen Seufzer aus, und Lilli flüsterte: »Das Passwort für morgen lautet Dschungelfeuer!«

Lilli lag in ihrem Bett. Es regnete kaum noch, nur ab und zu tröpfelte es gegen die Fensterscheibe. Lilli starrte in die Dunkelheit. Wieso hatte sie ihren Freundinnen nicht einfach alles erzählt? Sie richtete sich auf, knipste ihr Nachtlicht wieder an und öffnete eine der vielen Schubladen. Das Bett hatte ihr Vater für sie geschreinert. In der Mitte war es ein normales Bett, aber außen herum gab es Fächer und Schubladen. Es war wie eine Burg mit einer Mauer drum herum. Die Schubladen ließen sich nach außen und innen aufziehen. Zum Raus- und Reinklettern gab es links und rechts eine Art Burgtor. Die ganze Burgmauer stand voller Bücher.

Lilli zog die schmalste aller Schubladen aus der Mauer. Das war ihre einzige leere Schublade. Deshalb nannte Lilli sie in Gedanken einfach nur das schwarze Loch. Lilli starrte eine Sekunde ins schwarze Loch und drehte die Schublade dann um. Auf der Unterseite des Schubladenbodens klebte Lillis Liste. Ihre geheimsten Wünsche standen da. Nie erwachsen werden zum Beispiel.

Nicht an Mama denken!

Keine Angst vorm nächsten Tag haben!

Endlich eine richtige Bande sein!

Ihr Papa sagte immer, man darf nicht nie und nie nicht auf seine Liste schreiben. Wahrscheinlich hatte er recht. Man sollte schließlich immer positiv denken.

Lilli kaute eine Weile auf ihrem rosaroten Tintenroller herum und schrieb dann:

Bei Herrn Röhrich entschuldigen!

Kein nicht und kein nie. Aber auch nicht wirklich positiv. Und dann schrieb sie noch schnell hinzu:

Hoffentlich ist Ole nichts passiert!

Lilli schob die Schublade wieder ins Fach und starrte in das Nachtlicht, das aussah wie ein Stern, der sich auf der Zinne einer Burg ausruhte.

Schließlich war Ole heute selber schuld gewesen. Als sie nach der Schule ihr Rad holen wollte – wieso musste er da auch solchen Blödsinn reden?

Vor der Schule gab es eine Fahrradhalle, die viel zu klein für die große Schule war. Es war eher ein Schuppen als eine Halle. Deshalb standen immer unzählige Räder um die Halle herum, wie Herden von Drahteseln, die im Stall keinen Platz mehr fanden.

Lilli blinzelte in ihr Nachtlicht und sah alles genau vor sich. Wie Ole sich zwischen all den Rädern hindurchdrängte und ihr dann den Weg versperrte.

»Lass mich zu meinem Rad.« Lilli schubste Ole beiseite. Oder besser gesagt, sie versuchte, ihn beiseitezuschubsen. Dabei fiel ihr der Schlüssel für ihr Fahrradschloss aus der Hand. Lilli musste zwischen zwei Rädern durchkriechen, um an den Schlüssel zu kommen. Und Ole bekam einen Lachanfall. Als sie sich aufrichtete, stieß sie sich an einem Lenker den Kopf, und vor Schmerz glitt ihr der Schlüssel erneut aus der Hand, diesmal direkt vor Oles Füße. Ole kickte ihn weg.

»Wie kindisch bist du denn?!« Mehr war Lilli nicht eingefallen.

Während sie sich erneut nach dem Schlüssel bückte, machte Ole: »Put, put, put!«

Endlich bekam Lilli den Schlüssel zu fassen.

»Put, put, put!« Ole zeigte auf die Feder, die Lilli um den Hals trug. »Fehlt nur noch die Hühnerbrust.«

Ole krähte vor Lachen, und Lillis Herz raste so schnell, dass sie keine Kontrolle mehr über ihre Arme hatte. Beide Hände schnellten nach vorne und gaben Ole einen solchen Stoß, dass er hintenüber in all die Fahrräder stürzte. Lilli rannte einfach los. Nur weg. Als sie um die Ecke der Fahrradhalle bog, sah sie nur noch einen Berg aus Fahrrädern und darunter einen Fuß von Ole. Aber sie rannte einfach weiter. Angetrieben von ihrer Wut, die sie sich erst auf der Nepomukbrücke aus dem Leib gelaufen hatte.

Lilli schaltete ihre Sternlampe aus und zog sich die Decke bis ans Kinn. Erst sah sie nur Dunkelheit, dann aber hatte sie wieder den Berg aus Fahrrädern vor Augen. Und Oles Fuß. Sie stellte sich vor, wie der Hausmeister aus der Schule gerannt kam und einen bewusstlosen Jungen unter all den Fahrrädern entdeckte. Ein Rettungswagen traf ein. Ole wurde auf eine Trage gehoben und mit einer goldenen Rettungsdecke zugedeckt. Die Rettungsleute mit ernsten Mienen. Der Wind wehte die Rettungsdecke kurz hoch, und sie sah, dass ein Fahrradlenker in Oles Brust steckte … Sie hatte wirklich zu viel Fantasie. Lilli wischte sich über die Augen – und erschrak. Scheppernd flog etwas gegen die Fensterscheibe.

Lillis erster Gedanke war, Ole stünde da unten im Garten und würde ihr Fenster mit Erdbrocken oder gar Steinen bombardieren. Aber bis auf das einmalige Scheppern blieb es still. Lilli kroch aus dem Bett und lugte durch die Scheibe, konnte aber nichts erkennen. Eilig kramte sie ihre Taschenlampe aus einer ihrer vielen Bettschubladen und öffnete leise das Fenster. Nichts Auffälliges war zu entdecken. Lilli leuchtete zum Gewächshaus. Bei den Hühnern war alles ruhig. Dann leuchtete sie nach links über die Hecke der Röhrichs. Einzelne Tropfen in der regennassen Hecke reflektierten den Lichtstrahl. Vielleicht hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet? In der Dunkelheit ihrer Weihnachtsinsel verlor sich kurz der Schein der Taschenlampe, tauchte dann aber am Holzlagerschuppen ihres Vaters wieder auf und wanderte über das Einfahrtstor bis zur Werkstatt. Nichts. Nur eine Amsel flog auf.

»Ein Vogel«, murmelte Lilli. Sie richtete den Strahl ihrer Taschenlampe direkt unter sich. Im Lichtkegel lag regungslos ein winziger Vogel auf dem Rost vom Kellerschacht.

Lilli schlich sich raus. Es war ein Rotkehlchen. Sie riss ein Rhabarberblatt ab und legte den leblosen Vogel darauf. Sie wartete ein paar Minuten in der Hoffnung, dass das Rotkehlchen durch den Aufprall nur kurz das Bewusstsein verloren hatte. Aber Lilli wartete umsonst. Starr lag der Vogel da, den Schnabel geöffnet. Vielleicht war das genau der Schnabel, der heute Nachmittag so fröhlich für sie gezwitschert hatte.

Lilli wickelte den toten Vogel in das Rhabarberblatt und trug ihn zu ihrem Friedhof. Sie war barfuß und das nasse Gras war kalt.

Lillis Tierfriedhof lag zwischen der Weihnachtsinsel und dem Komposthaufen unter den Birken. Hier lagen jede Menge Käfer begraben, ein Maulwurf, verschiedene Vögel und eine Libelle. Die meisten Grabsteine waren nur bunte Kiesel, aber es gab auch ein paar Holzkreuze und kleine, aus Gräsern geflochtene Kränze.

Lilli grub ein Loch, legte das Rhabarberblatt mit dem toten Rotkehlchen in das Grab und schob Erde darüber. Dabei verrutschte die Taschenlampe, die neben Lilli auf dem Boden lag. Der Lichtkegel fiel jetzt auf ihre Hühnergötter. Hühnergötter, so nennt man Steine, die ein Loch in der Mitte haben. Solche Lochsteine findet man häufig an der Ostsee. Lilli hatte alle ihre Hühnergötter auf Schnüre gefädelt, zu mehreren, manche aber auch einzeln. Und so hingen sie in den Zweigen der Birken. Einmal hatte ihr Papa durch so einen Stein hindurchgeguckt und behauptet, durch das Loch könne man in den Himmel sehen. Seither musste Lilli beim Anblick der Steine immer an ihre Mutter denken, obwohl die ja gar nicht tot war und erst recht nicht im Himmel, sondern einfach nur nicht da.