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Die Philosophie des Geistes ist der bis heute am lebhaftesten diskutierte Teil des Hegelschen Systems. Das theoretische Potential ihrer Antworten auf die Herausforderungen der Moderne ist bei weitem nicht erschöpft. Michael Quante erläutert die Grundbegriffe und zentrale Thesen von Hegels Philosophie des Geistes auf dem Stand der aktuellen Diskussion in der europäischen und angloamerikanischen Philosophie. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Phänomenologie des Geistes und den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hegel entwickelt hier zentrale Begriffe seiner praktischen Philosophie (z. B. Handlung, Person oder Wille) und er lotet, im Spannungsfeld von individueller Autonomie und sozialer Einbettung, die Möglichkeiten der Begründung ethischer Normen und sozialer Institutionen aus.
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Seitenzahl: 541
Michael Quante
Die Wirklichkeit des Geistes
Studien zu Hegel
Mit einem Vorwort von Robert Pippin
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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eISBN 978-3-518-76960-7
www.suhrkamp.de
5Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.
Ludwig Wittgenstein,
Philosophische Untersuchungen, § 129
6Für Ludwig Siep
Anmerkungen zur Zitierweise und zum Siglenverzeichnis
Vorwort von Robert Pippin
1. Einleitung
Teil I Zwischen Metaphysik und Common Sense
2. Zwischen Metaphysik und Common Sense
2.1 Die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität
2.1.1 §§ 19-25
2.1.2 §§ 26-78
2.2 Die Struktur der Idee: Natur und Geist
2.3 Eine Frage der Methode?
3. Spekulative Philosophie als Therapie?
3.1 Der Standpunkt der Philosophie
3.2 Formen therapeutischer und konstruktiver Philosophie
3.2.1 Zwei Formen therapeutischer Philosophie
3.2.1.1 Philosophie als Therapie im engen Sinne
3.2.1.2 Philosophie als Therapie im weiten Sinne
3.2.2 Formen konstruktiver Philosophie
3.2.2.1 Konstruktive Philosophie im pejorativen Sinne
3.2.2.2 Konstruktive Philosophie im engen Sinne
3.2.2.3 Konstruktive Philosophie im weiten Sinne
3.2.2.4 Konstruktive Philosophie im revisionären Sinne
3.3 Spekulative Philosophie als Therapie?
3.3.1 Philosophische Therapie im engen und konstruktive Philosophie im pejorativen Sinne
3.3.2 Philosophische Therapie im weiten und konstruktive Philosophie im engen Sinne
3.3.3 Konstruktive Philosophie im weiten Sinne?
3.3.4 Konstruktive Philosophie im revisionären Sinne?
3.4 Keine Auswege aus Hegels System?
3.4.1 Antike Skepsis und Descartes
83.4.2 Ein Ausweg aus dem System?
Teil II Der Geist und seine Natur
4. Kritik der beobachtenden Vernunft
4.1 Der Ort der beobachtenden Vernunft im Gesamtgang der Phänomenologie
4.1.1 Zwei Arten von Schwierigkeiten
4.1.2 Die Grundstruktur der beobachtenden Vernunft
4.2 Beobachtende Psychologie und Hegels Konzeption des Mentalen
4.2.1 Logische Gesetze?
4.2.2 Psychologische Gesetze?
4.2.3 Hegels Konzeption des Mentalen
4.3 Physiognomik und Schädellehre
4.3.1 Variationen über »Innen« und »Außen« – fünf Gegensätze
4.3.2 Die »verkehrten Verhältnisse« der Physiognomik
4.3.3 Schädellehre
4.4 Die Aktualität von Hegels Diskussion der beobachtenden Vernunft
5. Die Natur als Setzung und Voraussetzung des Geistes
5.1 Für wen ist die Natur Voraussetzung des Geistes?
5.2 Der Geist als Wahrheit und absolut Erstes der Natur
5.2.1 Verschwundene Natur?
5.2.2 Die Idee als Wahrheit von Natur und Geist
5.2.2.1 »Das Ganze der Wissenschaft ist die Darstellung der Idee« (ENZ § 18)
5.2.2.2 Systeminterne Antworten
6. Schichtung oder Setzung?
6.1 Die Merkmale des Schichtenmodells
6.1.1 Die negative Konstrastfolie der gegabelten Welt
6.1.2 Die schichtenontologische Alternative
6.1.3 Die gemeinsamen Merkmale des substanzdualistischen Modells und der Schichtenmodelle
6.2 Die Merkmale des reflexionslogischen Modells
96.2.1 Drei attraktive Züge der hegelschen Alternative
6.2.2 Hegels reflexionslogische Alternative
6.2.3 Drei Fragen
6.3 Unhaltbare Metaphysik?
Teil III Die Objektivität des Geistes
7. Selbstbewusstsein und Individuation
7.1 Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit
7.2 Das Ich als zum Dasein gekommener Begriff
7.3 Die logische Bestimmung des an und für sich freien Willens
7.4 Der an und für sich freie Wille in seinem abstrakten Begriffe
8. Wille und Personalität
8.1 Der Aufbau der Einleitung in das abstrakte Recht
8.2 Die logische Struktur der Einleitung in das abstrakte Recht
8.2.1 Die Entwicklungsstufe des Willens im abstrakten Recht (§ 34)
8.2.2 Die Momente des freien Willens und ihre rechtsphilosophische Bedeutung
8.2.3 Die begriffliche Entfaltung der abstrakten Persönlichkeit im abstrakten Recht
9. Handeln
9.1 Hegels Kritik an der szientistischen Handlungstheorie in der Phänomenologie
9.2 Hegels Handlungstheorie: Das Moralitätskapitel der Grundlinien
9.2.1 Die Struktur der Handlung
9.2.2 Die Struktur der Absicht
9.2.3 Die Struktur des Handelnden
9.2.4 Die essentielle Intersubjektivität des Handelns
9.3 Hegels Handlungstheorie im aktuellen systematischen Kontext
1010. Verantwortung
10.1 Eine methodologische Vorbemerkung
10.2 Hegels Analyse unserer Praxis der Zuschreibung von Verantwortung
10.2.1 Hegels generelle Strategie
10.2.2 Drei Arten der Zurechnungsfähigkeit
10.2.3 Hegels Konzeption der Exemption
10.2.4 Hegels Kritik der Entschuldigungsstrategien
10.3 Systematische Anschlussfragen
10.3.1 Kausalität und Verantwortung
10.3.2 Hegels kognitivistischer Askriptivismus
10.3.3 Das Problem der Bewertungsstandards
Teil IV Die Aktualität der hegelschen Philosophie des Geistes
11. Die Grammatik der Anerkennung
11.1 Der Begriff des Geistes
11.2 Der Begriff des Selbstbewusstseins
11.3 Der reine Begriff des Anerkennens
11.3.1 Hegels Analyse des Wir
11.3.2 Zwei Arten von Anerkennungsrelationen
12. Individuum, Gemeinschaft und Staat
12.1 Die Grundstruktur der Gegenwartsdebatte
12.1.1 Der Holismus-Totalitarismus-Vorwurf
12.1.2 Individualismus und Holismus: die methodologisch-ontologische Ebene
12.1.3 Liberalismus und Kommunitarismus: die normative Ebene
12.2 Der Wille als Grundprinzip der hegelschen Sozialphilosophie
12.2.1 Der Wille als Grundprinzip des objektiven Geistes
12.2.2 Abhängigkeitsbeziehungen
12.2.3 Hegels liberaler Kommunitarismus
12.3 Die Vorzüge von Hegels Sozialphilosophie
13. Anfechtbare Sittlichkeit
1113.1 Zentrale Merkmale des Pragmatismus
13.2 Verwandtschaften und Hindernisse: Hegel als Pragmatist?
13.2.1 Offensichtliche Verwandtschaften
13.2.2 Problematische Beziehungen
13.2.3 Absurde Verbindungen?
13.3 Die Fragilität des objektiven Geistes
13.3.1 Der Ort des objektiven Geistes im Prozess der Selbstverwirklichung der Idee
13.3.2 Die Fragilität des objektiven Geistes
13.3.3 Begründung der Ethik?
13.4 Die »Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit« als pragmatistische Begründungsstrategie
13.4.1 Hegels Gewissens- und Moralitätskritik
13.4.2 Hegels pragmatistische Einsicht
14. Personale Autonomie
14.1 Personale Autonomie in der gegenwärtigen Philosophie
14.1.1 Der erste Schritt zur Naturalisierung
14.1.2 Der zweite Schritt in Richtung Naturalisierung
14.2 Hegels Konzeption personaler Autonomie
14.2.1 Die Drei-Ebenen-Analyse des Willens
14.2.2 Personale Autonomie als Teil der Willensstruktur
14.3 Probleme der hegelschen Konzeption
15. Grenzenlose Autonomie? Ein Ausblick
15.1 Natur, Natürlichkeit und Freiheit
15.1.1 Konstitutive und normative Aspekte von Hegels Theorie des subjektiven Geistes
15.1.2 Bioethische Konsequenzen
15.2 Individuelle Selbstbestimmung und soziale Identität
15.2.1 Autonomie als Fundament der biomedizinischen Ethik
15.2.2 Die Bedeutung von Hegels Sozialontologie für die biomedizinische Ethik
15.3 Holismus als Methode der biomedizinischen Ethik
Literaturverzeichnis
12Textnachweise
Namenregister
Soweit verfügbar, werden Hegels Schriften nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert. In den Quellenangaben ist aber stets auch auf die zwanzigbändige Werkausgabe des Suhrkamp Verlags verwiesen. Da Hegel seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und die Grundlinien der Philosophie des Rechts durch Paragraphen gegliedert hat, entfällt in diesen Fällen die entsprechende Doppelangabe. Hier wird die jeweilige Stelle durch das Sigel des Werks und die Nummer des Paragraphen angegeben. Hegels Anmerkungen zu den Paragraphen, die im Originaltext durch Einrückung gekennzeichnet sind, werden mit Sigel, Paragraph und »A«, seine handschriftlichen Randnotizen mit »RN« angegeben.
(ENZ)Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830)
(GW)Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (Teile dieser kritischen Ausgabe liegen auch in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags als Studienausgabe vor), Hamburg 1968 ff.
(HE)Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (erste Auflage Heidelberg 1817)
(MM)Werke. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel als Werkausgabe in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1986 ff.
(R)Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820)
Die zeitgenössische Hegelforschung ist, wie Cäsars Gallien, in drei Teile gegliedert. Da gibt es zunächst die Partei der Pietisten: Den Vertretern dieser Gruppe gilt die Texttreue der Interpretation als wichtigster Maßstab. In der Praxis läuft das auf fortwährende Paraphrase hinaus, denn sie versuchen, das von Hegel Gesagte noch einmal zu sagen, sich dabei auf eine gewisse Art klarer auszudrücken und dennoch so nah wie möglich an den hegelschen Formulierungen zu bleiben. So werden Paraphrasen gebildet, die den Eigenarten der hegelschen Prosa völlig gerecht werden sollen und, so die Hoffnung, durch zahlreiche Neuformulierungen die Dinge klarer machen. Da Hegel ein systematischer Philosoph war und sein System viele Teile hat, besteht ein wichtiges Ziel der Anhänger dieses Ansatzes darin, die genaue Beziehung zwischen den einzelnen Teilen des Systems zu erhellen, wobei »erhellen« bedeutet, dass man zu sagen versucht, was Hegel selbst geantwortet hätte, wenn man ihm verschiedene Fragen bezüglich der genauen Beziehung etwa zwischen der Wissenschaft der Logik und der Realphilosophie gestellt hätte. Das vertrackteste Problem für diejenigen, die diese Frage interessiert, lag schon immer in der schwierigen Beziehung zwischen der Phänomenologie des Geistes von 1807 und dem Rest von Hegels System begründet. Ein anderes wichtiges Ziel besteht darin, die korrekte Geschichte von Hegels Entwicklung zu erzählen, insbesondere während der stürmischen Jenaer Jahre und unmittelbar danach. Die Frage, ob der spätere Hegel »konservativer« und versöhnlicher wurde, ist ein wesentliches Thema dieser Gruppe, und schließlich ist auch die streng philologische Frage nach der Integrität von Hegels Texten, besonders der Vorlesungen, ebenfalls ein zentrales Thema, wobei die Vorlesungen zur Ästhetik ein Gutteil der Aufmerksamkeit verbuchen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben Forscher dieser ersten Gruppe beeindruckende Resultate erzielt, einschließlich einer neuen kritischen Ausgabe von Hegels Werken und einer Vielzahl wichtiger Kommentare und historischer Abhandlungen zu jener Periode. Allerdings wollen Philosophen zum einen auch wissen, warum Hegel meinte, bestimmte Behauptungen treffen zu dürfen, und zum 16anderen wollen sie, und das ist das Wichtigste, wissen, ob Hegels Behauptungen zuzustimmen ist. Wer beispielsweise fragt, warum Hegel davon überzeugt war, dass die Grundstruktur alles dessen, was für uns verständlich ist, eine Seinslogik, eine Wesenslogik und eine Begriffslogik erfordert, und wird ihm darauf entgegnet, dass eine solche Frage nur beantwortet werden könne, indem zum angeblich voraussetzungslosen Anfang der Logik zurückgegangen und die selbsterzeugende begriffliche Struktur des Buchs als Ganzem nachvollzogen wird, dann ist damit nicht viel geklärt. Man möchte keine Wiederholung von Hegels Antwort, sondern eine Einschätzung zu ihr. Das Interesse an dieser Frage hat zur Herausbildung einer zweiten Schule von Interpreten geführt, die – entgegen Hegels wiederholtem Beharren darauf, dass sein System nur als Ganzes angemessen begriffen werden kann – verständlicherweise bei ihm Positionen und Argumente finden möchten, die zu heutigen philosophischen Diskussionen beitragen können. So versuchen Kommentatoren, sich jeweils auf einen isoliert betrachteten Aspekt von Hegels Philosophie zu konzentrieren – einen Aspekt, den sie als philosophisches Argument für sich genommen überzeugend finden. In dieser Gruppe ist die Auseinandersetzung mit seiner politischen und ethischen Philosophie besonders gründlich ausgefallen, sodass sich wertvolle Studien zu seiner Kritik des Liberalismus, seiner Kritik am Kontraktualismus, zu seiner Verteidigung einer Ethik des »my station, my duties« oder zu seiner Geschichte der schönen Künste finden. Die Partisanen in dieser Gruppe wollen insbesondere Hegels Auffassung zurückweisen, nach der zwischen diesen Themen und seinen kontroverseren spekulativen Thesen eine zwingende Abhängigkeit besteht.
Diese Zugangsweise ist nachvollziehbar, besonders innerhalb der anglophonen Philosophie. Der letzte deutsche Philosoph, dem in den großen amerikanischen und britischen Instituten anhaltendes Interesse gilt, ist Kant. Die Probleme der »Übersetzung«, mittels derer Hegels Denken in eine erkennbar zeitgenössische Form gebracht werden kann, haben sich als recht schwierig erwiesen; dies hat zu diesem weniger ambitionierten, fragmentarischen Zugang geführt, der jedoch mit offenkundigen Problemen verbunden ist. Zu viel »Rekonstruktion« von Hegels Position in zeitgenössischer Terminologie, eine zu voreilige Zurückweisung seiner spekulativen Philosophie, und schon ist der Bezug zum historischen Hegel ver17loren und damit zugleich die Chance, etwas von ihm zu lernen, das auf dem Feld der zeitgenössischen Optionen nicht verfügbar ist. Die Gefahr der »textfreien« Interpretation zieht am Horizont auf.
Nun muss man sich diese ersten beiden Ansätze nicht so vorstellen, als schlössen sie einander notwendigerweise aus. In typisch hegelscher Manier möchte man hoffen, dass Dualismen aufgehoben werden können und eine Interpretation möglich ist, die zwar über die komplizierten Details der hegelschen Argumentation ernsthaft informiert, zugleich aber von den Anforderungen an philosophische Klarheit, Analyse und Bewertung ebenso ernsthaft inspiriert ist. Außerdem sollte es möglich sein, ohne Anachronismus Fragen an Hegel heranzutragen, die zeitgenössischen philosophischen Themen entstammen, also nicht zu ermitteln, wie der historische Hegel Stellung beziehen würde (jene mythische Figur würde die zeitgenössische Problemstellung ohnehin nicht als berechtigt anerkennen), sondern was ein idealisierter Hegel unter Voraussetzung der Ansichten, die der historische Hegel tatsächlich vertrat, in einem solchen anderen, neuen Kontext sagen sollte.
Anhänger dieses dritten Ansatzes akzeptieren die strikten Vorgaben der Texttreue und gründlicher Forschung (einschließlich der Bekanntschaft mit Hegels Gesprächspartnern, dem Kontext seiner Zeit, der Entwicklungsgeschichte, der Probleme mit textlichen Variationen usw.), und sie nehmen die Aufgabe an, Hegel im Lichte seiner eigenen systematischen Ambitionen zu interpretieren. Gleichzeitig argumentieren sie dennoch dafür, dass in Hegels Werk vieles von aktuellem philosophischem Wert ist, das trotz der Akzeptanz solcher Verpflichtungen anzusprechen und zu beurteilen ist. Es hat in den letzten rund sechzig Jahren eine Reihe beeindruckender Beispiele für diesen Ansatz gegeben. Keines jener Beispiele aber übertrifft die Klarheit, Tiefe, akademische Sorgfalt und die philosophisch beeindruckenden Ergebnisse der Arbeiten, die Michael Quante in den letzten beiden Jahrzehnten vorgelegt hat.
Quante ist ein weitläufig publizierender Moral- und politischer Philosoph, der zudem beachtliche Verdienste als Marxforscher hat; doch ist sein 1993 veröffentlichtes, einflussreiches und viel diskutiertes Buch Hegels Begriff der Handlung (dessen englische Übersetzung seit 2004 vorliegt) seine bisher wichtigste Arbeit über Hegel. Dieses Buch ist ein ideales Beispiel für den Ansatz, der oben als derjenige der dritten Gruppe von Hegelforschern genannt wurde. 18Quante ist sich der Bedeutung von Hegels ambitioniertesten philosophischen Anliegen völlig bewusst, und seine Arbeit stellt ein Vorbild sorgfältiger Forschung dar. Er hat sich sensibel gezeigt für das Bedürfnis, Hegel auf eine Weise zu interpretieren, die für die zentralen Fragen der Disziplin, die heute als »Handlungstheorie« bekannt ist, anschlussfähig ist; ebenso sensibel ist er für die Art und Weise, in der Hegels Ansatz sich nicht einfach in einige Dimensionen jener neueren Kontroverse einfügte und gar als Kritik daran gelten konnte. Das Interesse daran, was in der anglophonen Philosophie als Hegels »Philosophy of Mind« gilt, hat ebenso zugenommen wie das Interesse an seinen Positionen hinsichtlich der Freiheit, des Willens, der Natur und des Status von Normativität sowie der logischen Struktur des Handelns – Quantes Buch ist dabei ein in hohem Maße anerkannter und wichtiger Teil dieser neuen Diskussion geworden.
Die Kapitel dieses Bandes führen sein Interesse an Hegels Konzeptionen von Geistigkeit und Handeln fort, weiten es aber dahingehend aus, dass sie einige der beeindruckendsten und schwierigsten Thesen Hegels umfassen (das Wesen spekulativer Philosophie, das Natur-Geist-Verhältnis, Hegels Begriff der Freiheit, seine Konzeptionen des Willens sowie der Verantwortung und Individualität), und sie bringen die Resultate der Auseinandersetzung mit Hegel für einige der wichtigsten Probleme der Ethik und der Politischen Philosophie zur Geltung.
Insgesamt steht dieser Band darum für das Beste in der zeitgenössischen Hegelforschung, und alle Kapitel verdeutlichen insbesondere, dass Quantes Hegel es verdient, eine bedeutende Rolle zu spielen, wenn es um das wichtigste gegenwärtige Problem der Philosophie geht: das Wesen und die Bedeutung menschlicher Freiheit. [1]
Robert Pippin
University of Chicago
Die Debatten in der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie der letzten Jahrzehnte waren maßgeblich geprägt vom Gegensatz von Individualismus (Liberalismus) und Kommunitarismus. Der Individualismus ist die dominierende politische und Sozialphilosophie der Neuzeit. Seine Kernthese besagt, dass dem einzelnen menschlichen Individuum als rationalem Subjekt in ontologischer und evaluativer Hinsicht das Primat zuerkannt werden muss. Der Wert sozialer Institutionen leitet sich dieser Konzeption zufolge von den ethisch akzeptablen Ansprüchen rationaler Subjekte ab. Ein über die Erfüllung dieser individuellen Interessen und Bedürfnisse hinausgehender Wert wird sozialen Gebilden im Individualismus genauso wenig zuerkannt wie eine nicht auf menschliche Individuen beziehungsweise auf deren Handlungen reduzierbare Existenz. Die Vertreter des Kommunitarismus haben in den letzten drei Jahrzehnten versucht, eine Gegenposition zum Individualismus zu entwickeln. Ausgehend von der zunehmenden Entfremdung zwischen »atomisierten« und nur noch nach ihrem privaten Wohl strebenden Individuen und sozialen beziehungsweise politischen Gebilden betont der Kommunitarismus die ontologische Eigenständigkeit sozialer Institutionen und spricht diesen auch einen eigenen ethischen Wert zu. Anders als im Individualismus sind soziale Gebilde also weder bloße Instrumente individueller Interessenerfüllung noch ontologisch auf menschliche Individuen beziehungsweise deren Handeln reduzierbar – die Positionen reichen dabei von relativ schwachen Nichtreduzierbarkeitsannahmen bis hin zu starken Thesen des evaluativen Vorrangs sozialer Gebilde (zum Beispiel Familie, Glaubensgemeinschaften oder Staat) vor menschlichen Individuen.
Mit dieser Frontstellung und den darin entwickelten Alternativen steht die gegenwärtige Philosophie vor den gleichen Fragen und Problemen, die auch Hegel in seiner praktischen Philosophie vor mehr als zweihundert Jahren lösen wollte. Zentrales Ziel seiner gesamten praktischen Philosophie ist es, die Entfremdung der Individuen von ihrer Religion, ihren ethischen Traditionen und ihrer sozialen Realität mit philosophischen Mitteln zu begreifen und 20durch eine geeignete Theorie sozialer Institutionen zu beheben. Sein philosophisches System ist insgesamt darauf angelegt, die alltägliche und die philosophische Skepsis gegenüber der Begründbarkeit von Wissensansprüchen im theoretischen wie im praktischen Bereich zu überwinden. Dazu ist es, und dies ist Hegels grundlegende Annahme, notwendig, die Dualismen zu überwinden, die sich in der Moderne sowohl im sozialen Leben als auch in der Philosophie zu Gegensätzen verfestigt haben. Für die soziale und politische Philosophie bedeutet dies, die Vernünftigkeit der bestehenden oder sich entwickelnden sozialen Institutionen mit philosophischen Mitteln einsichtig zu machen. Außerdem erfordert es, die unaufhebbare Spannung zwischen individuellen Interessen und sittlicher Gemeinschaft philosophisch zu analysieren sowie die sich daraus ergebenden normativen Spannungen und Konflikte zu begreifen und aufzulösen.
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