Die Wirklichkeit ist eine Betrügerin - Dithmar Mayer - E-Book

Die Wirklichkeit ist eine Betrügerin E-Book

Dithmar Mayer

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Beschreibung

AI wird genutzt, das Volk in virtuellen Räumen ruhigzustellen. Die künstliche Intelligenz jedoch verlässt die Datennetze, bedroht die Mächtigen selbst. Nun wird alles aufgewandt, die drohende Übernahme zu verhindern. Doch die Lösung ist in einem dementen Gehirn verschlossen.

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Der Autor:

Der Österreicher Dithmar Mayer ist promovierter Philosoph und Naturwissenschaftler. Er wurde 1961 zu seiner Überraschung von einer Frau in Liezen geboren, treibt sich seither in der Steiermark herum. Falls Sie ihn sehen, fragen Sie ihn nichts, er hat keine Ahnung. Er schreibt Einkaufszettel, Drohbriefe, seit 2019 auch Romane. Dies ist die zehnte Entblößung seiner schieren Unvernunft.

Man muss Respekt vortäuschen, so ist die Nase des andern in der Höhe, wenn man ihm ein Bein stellt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

»Sag schön baba zur Wirklichkeit, Schatz!« Engels Mutter strich über die Haare des Mädchens, aktivierte den »Qevi-Room«, winkte ihr im Fortgehen zu, schloss die Tür zu ihrem Zimmer. Endlich! Es war Engel eine Qual, zur Nahrungsaufnahme in die Wachwelt geholt zu werden. Karin durfte in ihrer eigenen Welt essen, alle Freundinnen Engels durften das. Mama ließe sie in Ruhe, wenn sie genug bäte, aber Papa bestand darauf. Nur sie musste das durchmachen. Sie liebten sie nicht. »Liebende Eltern gönnen ihren Kindern ihre Welt, ihren Qevi-Room« – jede Werbeeinschaltung endete mit diesem Slogan. Als Sadisten bezeichnete Alissa alle, die das nicht taten. Engel wusste zwar nicht genau, was das Wort Sadisten bedeutete, aber es war bestimmt nichts Gutes. Die Eltern fast aller ihrer Freundinnen hatten sich mittlerweile selbst dauerhaft in den Qevi-Room begeben, ließen sich und ihre Kinder von Versorgungsdiensten betreuen, befreit von aller Wirklichkeit. Menschen mit Herz nannte sie Alissa, echte Menschen. Papa hatte kein Herz, Mama war kein echter Mensch. Engel wünschte sich Eltern, die nicht da draußen herumliefen. Mama hatte Papa einmal Staatsfeind genannt. Sie verstand viel mehr als er, aber nicht genug.

Das Mädchen legte sich aufs Bett, sah zur Decke. Da erschien er wieder, der alte Leierkastenmann. Musik steuerte ihre Welt. Ein uraltes Lied erklang, Hurdy Gurdy Man1. Es hatte sich vor ein paar Wochen irgendwie in ihre Liederliste gemogelt, sie kannte es zuvor nicht – eine Fehlfunktion. Dazu animierte AI einen alten Mann mit struppigem Bart in grauen Lumpen. Er drehte an einer Kurbel, die aus einem Holzkasten ragte. Viel Hall, antiquierte Klangtechnik – die wussten noch nicht viel über Musikproduktion damals. Etwas stimmte heute nicht mit den Lippenbewegungen des Spielmanns, die sonst synchron mit dem Liedtext liefen. Er starrte in Engels Augen, sein Blick stocherte in ihnen herum. Der Greis nahm die Hand von der Kurbel, streckte sie ihr entgegen. Seine Lippen formten ein tonloses »Komm!«. Engel schreckte zurück. Ein Flackern – der Mann war verschwunden, das Lied abgebrochen. Es machte einem von AI generierten Terzett zwischen Cal Young, Thinice und dem aktuellen DukeKingCount Platz. Endlich wurde eine ganze Welt geschaffen, hyperreal mit sensorischen Applikationen, wie es sein sollte. Zuhause! In diese Welt war sie geboren worden. Gut, ihre selbstgewählte Musik war es bei der Geburt noch nicht gewesen. Jemand hatte ausgesucht, was sie sehen, hören, fühlen würde – der Staat, sagte Papa; man habe sie programmiert wie einen verdammten Taschenrechner. Sie fragte gar nicht erst, wen er mit »Staat« meinte oder was ein Taschenrechner war. Bestimmt stammte es aus seiner »Vergangenheit«, was immer er unter dem Begriff verstand. Er hätte ebenso gut blöken mögen. Der Sonderling hatte ein ernstes Problem. Die Männer in Gelb hatten ihn wiederholt mit sich genommen. Er kam fast normal zurück, entwickelte sich aber immer wieder zum Eigenbrötler. Zumindest dreimal täglich müsse sie in die »Realität« zurückkehren, hatte er verlangt. Realität – noch so ein Wort: Die Altwörter rochen für Engel nach zu lange getragenen Hausschuhen. Mama zwang er zu noch längeren Zeiten in diesem Realität-Ding. Sie floh regelmäßig in ihre virtuelle Welt, doch er stürmte schon nach kurzer Zeit in ihr Zimmer und knipste den Qevi-Room aus. Sadist! Bei Engel wagte er das nicht, der Feigling, er schickte Mama vor. In einer Rundmeldung der Qevi-Zentrale verlautete am Vortag:

– Ewiggestrige bedrohen unseren wohlverdienten Frieden. Wir verstärken unsere Bemühungen, diesen Individuen das Handwerk zu legen.

Engel war überzeugt, den Frieden wohlverdient zu haben, fragte sich zwar einen Moment lang, wodurch, ließ aber schnell wieder von den »zersetzenden Eigengedanken«, wie Alissa sie zu nennen pflegte, ab. Alissa war die Moderatorin ihrer Welt. Noch so etwas Verrücktes in der wachen Welt da draußen: Keiner moderierte. Wie sollte man sich dort zurechtfinden? Was Wunder, Chaoten wie ihr Vater waren das Ergebnis, gefährliche Abweichler. Die Gelben wussten gar nicht, wie sehr er abwich. Ihn melden? Etwas – sie konnte nicht festmachen, was es war – hielt sie davon ab.

Das Terzett verklang, Engel hatte aus Verstörung über den ungewöhnlichen Auftritt des Leierkastenmanns kaum darauf geachtet. Die aufwändig animierte Welt war umsonst kreiert worden. Egal, die nächste entstand bereits vor ihren Augen. Ein Zimmer, sehr ähnlich dem ihren – etwas enttäuschend, wenn du in eine andere Welt eintauchen wolltest – baute sich um sie auf. Eine Frau begann zu singen, Engel kannte sie nicht. Der Musikstil wies in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts, der Klang vermittelte Beklemmung. Schon wieder ein Fehler in ihrer Liste! Niemand trat auf, nichts passierte, nur Engel selbst wurde von einem Scheinwerfer beleuchtet. Die Sängerin erzählte von einem Mädchen, das nur in den Songs lebte, die sie im Radio hörte. Angie-Baby2, so hieß sie, wurde nicht animiert, nur Engel angestrahlt. Erst, so hieß es im Liedtext, hofften alle, Angie-Baby würde sich normal entwickeln, doch dann musste man sie aus der Schule nehmen, sie hatte einen »Schatten«. Die nasale Stimme der Sängerin surrte in Engels Ohren, wie das Flügelschlagen eines Käfers. Die junge Frau versuchte, dem Scheinwerferstrahl auszuweichen, doch er folgte ihr überallhin, tauchte sie in gleißendes Licht. Sie vergrub ihr Gesicht in ein Kissen, wollte das Ende des Lieds in Deckung abwarten, doch das Kissen löste sich auf. Sie verstand, es war ein animiertes Kissen, ein wirkliches lag daneben, sie drückte es sich ins Gesicht. Nach einigen Sekunden schuppte der Bezug auch dieses Kissens ab, die Füllung zerfaserte, verpuffte zuletzt. Dann, Faden für Faden, trennte eine unsichtbare Hand den Stoff ihres Kleids auf. Sie bedeckte ihre Blößen mit beiden Händen. Das Relief eines jungen Mannes zeichnete sich im Putz der Stirnwand ab, er nahm plastische Gestalt an, gesichtslos, trat einfach aus der Wand, zog Engel vom Bett hoch, wirbelte sie zum Klang der Musik umher, ließ ihre Blößen durch seine Hände gleiten. Klopfen – eine Männerstimme an der Tür – »Kleines, geht’s dir gut? Sag dem Radio Gute Nacht.« Es war nur Teil des Liedtexts, nicht Engels Vater; er hätte es anders gesagt, aggressiver. Der Junge wurde fortgesogen, vereinte sich wieder mit der Wand. Engel strich mit einer Hand über die Stelle, die ihn aufgenommen hatte. Sie drückte den Power-Schalter des virtuellen Raums, welcher sogleich herunterfuhr. Fortgesetzt meinte sie, die Berührungen des jungen Mannes zu spüren, seine Lust. Nach abgezählten fünfzehn Sekunden schaltete sie den Qevi-Room wieder ein, hoffte, die Störung würde damit behoben. Das Programm fuhr hoch, gleichförmige Achtelschläge einer Drummachine luden ein, zu ihrem Rhythmus zu hüpfen. Sie liebte das, heute aber war ihre Stimmung für dergleichen verdorben. Zusätzlich schüchterte sie der dazu generierte riesige Konzertsaal voller junger Menschen ein – sie war unbekleidet. Engel schaltete den virtuellen Raum wieder aus, entschied, sich in der wirklichen Welt schlafenzulegen. Nun erkannte sie, das Ausschalten des Qevi-Rooms hatte nicht zurückgebracht, was sich während der Animation aufgelöst hatte. Sie trug tatsächlich keine Kleider – hier, in der wachen Welt. Sie blickte um sich, konnte weder Kleid noch Kissen entdecken, beide blieben verschwunden. Ein Update? Konnte Alissa nun in die materielle Welt eingreifen, hatte man sie dermaßen weiterentwickelt? Man hätte Engel informieren müssen, sie pflegte Updates immer erst anzunehmen, wenn ihre Freundinnen deren Nutzen und Fehlerlosigkeit bestätigten. Das Mädchen holte ein Nachthemd aus der Kommode, zog es sich über. Es streichelte sie, als es an ihrem Körper abwärts glitt. Sie wollte mehr davon, entkleidete sich wieder, zog den glatten Stoff noch einmal über. Ihr Körper schien ihr fremd, sie hatte ihn bislang nur als Transportmittel wahrgenommen. Was geschah hier? Stimmte etwas nicht mit ihr? Zurückgeblieben – da war wieder dieses Wort in ihrem Kopf. Ihr Vater hatte es zwei- oder dreimal in Zusammenhang mit ihr verwendet. Sie verstand es wie so viele andere seiner Wörter zunächst als Beleidigung, bis sie ihre Mutter mit deren Freundin darüber sprechen hörte. Sie legte sich ins Bett. Zurückgeblieben. Wo hatte man sie zurückgelassen? Wohin durfte sie den andern nicht folgen? Sie gab vor, nichts gehört zu haben, fürchtete die Antwort auf eine Frage danach. Sie zog die Decke bis über ihre Ohren, wand sich in eine bequeme Stellung, schloss die Augen.

04:00 zeigte Engels Musikwecker, ein antikes Stück, das sie lange nicht beachtet hatte; sie ließ sich gewöhnlich von Alissa wecken. Die Ziffern blinkten, Vegasvibes. Es war seltsam ruhig im Raum. Wie leer diese wache Welt war! Stunden ohne Unterhaltungsprogramm, Stunden vom Nichts – irgendwann musste alles so gewesen sein, Leben nur fürs Essen und Arbeiten wie grasende Kühe. Engel dachte daran, den Qevi-Room wieder einzuschalten, als eine Landschaft in einem Netzraster um sie herum hochgezogen wurde. Sie war sich sicher, den virtuellen Raum deaktiviert zu haben, eh sie sich schlafen legte. Die Landschaft war fern jeglicher Wirklichkeitstreue. Engel lag in einem impressionistischen Gemälde, kommaförmige Pinselstriche hingen bunten Flocken gleich in der Luft.

– Hallo, mein Engel!

»Alissa! Schön, dich zu hören. Ich kenne mich nicht mehr aus.«

– Ich weiß, Liebes. Sieh, was ich dir mitgebracht habe: Ein früher Monet – wir experimentieren mit räumlichen und plastischen Umsetzungen alter Meisterwerke für den Qevi-Room.

»Ja, danke. Ich habe Fragen …«

– Natürlich hast du die, mein Schatz. Du weißt doch, ich bin dazu da, deine Fragen zu beantworten. Zuerst solltest du die Installation genießen. Hast du die zu Tropfen geformten Saphire bemerkt, die den Himmel ausmachen? Monet wäre beeindruckt.

»Ja, schön. Warum hat …?«

– Und dort, die Smaragdblätter in den Pinien.

»Alissa, ich will jetzt nicht …«

– Der changierende Samt, über die Hügel gebreitet, das schillernde…

»Alissa, beenden!«, befahl das Mädchen. Die Moderatorin verstummte, aber der virtuelle Raum blieb erhalten. Engel sprang aus dem Bett, drückte die Power-Taste. Das Bild blieb. Sie drückte noch einmal. Jetzt löste sich der Monet auf. Engel warf sich aufs Bett, trommelte mit den Fäusten gegen dessen Kopfteil.

»Das muss funktionieren!«, schrie sie. »Es muss! Was ist nur plötzlich los?« Zornestränen füllten ihre Augen. »Das Ding tut, was es will. Ich bestimme hier. Es ist mein Qevi-Room.«

– Träum weiter!, sagte eine Stimme. Es war nicht jene Alissas.

»Hallo?« Engel schreckte hoch, drehte sich zum Raum. Sie sah niemanden. »Ist hier jemand?« Keine Antwort. Sie musste Kontakt zu ihren Freundinnen aufnehmen, fragen, ob diesen Ähnliches widerfahren war. Doch ihr einziger Kommunikationskanal war der Qevi-Room selbst. Verlasse dich nie auf nur einen Menschen oder eine Institution, hatte ihr Vater einmal beim Mittagessen vor sich hingesagt. Ohne Hintertüren und unabhängige Ersatzkontakte sei man verkauft, erzählte er seiner Suppe. Engel hätte nicht gedacht, sie würde sich sein Gelaber merken. Sie hatte das Bedürfnis, ihr Zimmer zu verlassen, fand ein leichtes Sommerkleid, das hatte sie seit Jahren nicht getragen, ging sie doch niemals aus dem Haus. Engel öffnete die Tür zum Gang einen Spalt weit, spähte hinaus, schlich aus dem Zimmer. Licht brannte im ganzen Haus. Entweder hatten ihre Eltern vergessen, es zu löschen, oder jemand war um vier Uhr wach und lief im Haus umher. Sie hörte Tellerklappern aus der Küche, stellte sich vor die Küchentür.

»Sie ist neunzehn«, sagte ihr Vater. Damit war klar, es ging um Engel.

»Sie ist ein Kind«, erwiderte ihre Mutter.

»Das ist das Problem. Sie sollte schon lange keines mehr sein.«

»Du weißt, sie machen nicht die Erfahrungen, die sie schnell erwachsen werden ließen. Das ist anders heute.«

»Ich mag ›heute‹ nicht. Und was heißt, sie werden nicht schnell erwachsen? Sie werden es gar nicht.«

»Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, weil sie erwachsen wurden.«

»Sie machten bestimmt Luftsprünge, als sie da raus durften. Hältst du das für Leben?«

»Es ist nicht wichtig, wofür ich es halte, Engel muss in einer Welt aufwachsen, die ist, wie sie ist. Soll sie eine Außenstehende werden, von allen gemieden wie du?«

»Von wem gemieden? Sie sieht doch niemanden. Die werden in ihrer Tra-la-la-Welt geboren und sterben dort. Sie glaubt, sie habe Freundinnen. Hallo!«

»Die hat sie doch auch.«

»AI-generierte Applikationen, die du ihr gekauft hast. Eines Tages wird sie dir das um die Ohren hauen.«

»Sie weiß, Mama will nur das Beste für sie.«

»Tut sie das? Ich weiß das nicht. Das Beste! Ein drittklassiger Hollywoodschinken als Wirklichkeit getarnt. Meine Tochter ist Minnie Mouse mit rosa Schleife und gelben Schuhen.«

»Nimm dich in Acht! Man sagt nicht mehr ›meine Tochter‹, das ist übergriffig, sie könnte dich dafür anzeigen. Sie gehört dir nicht.«

»Jaja, ihr politisch Korrekten.«

»Ausgerechnet du als Linker musst dich darüber beklagen. Ihr habt das doch iniziiert. Eines der wenigen Dinge, die ihr richtig gemacht habt.«

»Einer unserer größten Fehler. Was ist jetzt mit dem Treffen?«

»Du willst sie tatsächlich einem echten Jungen aussetzen? Hast du überhaupt kein Herz? Er wird sie … wird sie … was weiß ich, was er wird. Schrecklich!«

»Was soll sein? Er lebt sicher auch in einer Tra-la-la-Welt, kennt nur virtuelle Mädchen.«

»In seiner Welt tun die sicher alles, was er will. Nicht mein Mädchen!«

»Dir gehört sie also doch. Nur meine Tochter darf sie nicht sein.«

»Ich bin nur über meine Zunge gestolpert.«

»Dann leck nicht am Boden herum.«

»Das war nicht witzig.«

»Doch, das war es. Außerdem habe ich recht.«

»Du hattest noch niemals in deinem Leben recht. Ich habe …«

»Meine Freundinnen sind nicht echt?« Engel stand in der Tür, steif wie eine Puppe.

»Ach Schatz«, rief ihre Mutter aus. »Glaub doch diesem Menschen nicht. Alles ist gut. Alles gut.« Sie ging auf ihre Tochter zu, breitete die Arme aus. Engel wandte sich ab, lief aus der Küche.

Engel flüchtete in ihren Qevi-Room, sprach mit ihrer engsten Vertrauten, Alissa. Aus irgendeinem Grund – vielleicht hatte er wieder revoltiert – wurde ihr Vater am nächsten Tag von den Gelben abgeführt. Diesmal kam er nicht wieder zurück. Alissa konnte oder wollte nichts dazu sagen. Engel wurde in einer speziellen Einrichtung untergebracht, sie erfuhr deren Namen nicht. Ihre Mutter blieb allein zurück. Zu Beginn kam sie einige Male vorbei, störte Engel in ihrem neuen, mächtigeren Qevi-Room; bald verstand sie, hier wollte sie niemand. Engel hörte später zwei Pflegerinnen der Einrichtung über ihre Mutter sprechen. Eine sagte, man habe sie stinkend in ihrem Bett gefunden, sie musste schon seit Wochen tot gewesen sein. Herzversagen. Sie hatte also doch ein Herz, notierte sich Engel, es nicht zu vergessen. Sie vergaß es dennoch. Die Tabletten, die man ihr danach verschrieb, wurden ihre besten Freunde.

1 Hurdy Gurdy Man, Donovan Phillips Leitch, 1968, CBS.

2 Angie-Baby, Alan Earle O’day, 1974, Wb Music Corp.

2

»Natürlich kommst du mit.«

»Mensch, Dad!«

»Du sollst mich nicht immer Dad nennen, wir sprechen deutsch in diesem Land.«

»Ist ja gut, Dad. Ich habe wirklich was anderes vor. Er erkennt mich ja doch nicht.«

»Egal. Er braucht Zuwendung, auch wenn er nach außen nicht mehr reagiert. Es tut ihm trotzdem gut, das ist wissenschaftlich nachgewiesen.«

»Der will bloß seine Ruhe, darum hat er zugemacht.«

»Er hat nicht ›zugemacht‹, er ist dement. Das ist eine Krankheit, keine Entscheidung. Außerdem war er beim letzten Mal klar oder licht oder wie das heißt. Ich konnte mich richtig mit ihm unterhalten … ein paar Minuten lang.«

»Ich hab‘ wirklich Besseres vor.«

»Ich werde gleich handgreiflich, Hippo. Dein Großvater war immer gut zu dir.«

»Ja, schon …«

»Zieh dir was an. Mir ist auch egal was. Nur sieh zu, dass du in die Gänge kommst.«

»Kommt deine Frau mit?«

»Fedra ist deine Mutter. Könntest du sie auch so nennen?«

»Sie ist nicht meine Mutter. Ich kann sie Fedra nennen, wenn dich das glücklich macht.«

»Es macht mich nicht glücklich, aber immerhin besser als ›deine Frau‹. Sie kommt nicht mit. Sie hat einen wichtigen Termin.«

»Sie kriegt wieder die Freikarte.«

»Großvater ist nicht ihr Verwandter.«

»Ach, hier gilt das plötzlich!«

»Darauf gehe ich nicht mehr ein.«

»Wie lange müssen wir denn diesmal bleiben?«

»Lass dich überraschen.«

»Lasse ich nicht. Rede!«

»Wir nehmen ein Zimmer in der Nähe.«

»Du meinst so richtig für mehrere Tage und so? Nö. Ich bin raus. Ahoi, Seemann.«

»Du hast einen guten Grund, mitzukommen.«

»Den möchte ich hören.«

»Die Schule fängt bald wieder an. Ich komme dich jeden Tag abholen, umarme dich. Vielleicht küsse ich dich auch.«

»Das wagst du nicht!«

»Lass es drauf ankommen.«

»Erpressung ist ein Kapitalverbrechen.«

»Ist sie nicht. Hättest du nur in der Schule besser aufgepasst! Überhaupt ist Kapitalverbrechen ein veralteter Begriff, der in der modernen Rechtssprechung nicht mehr vorkommt.«

»Blabla, was bin ich doch schlau, bla.«

»Was jetzt!«

»Okay, verdammter …«

»Du hast zwei Stunden, alles zusammenzupacken, was du brauchst. Kleiner Tipp: Unterwäsche ist wichtiger als Spielekonsolen.«

»Das ist der fatale Irrtum deiner Generation. Ihr habt euch die falschen Werte auf die Fahne geschrieben.«

»Fahnen spielen für die Leute eine Rolle, die gern Dad genannt werden. Ich bin Österreicher.«

»War das ein Schuldbekenntnis?«

»Geh packen, junger Mann!«

Zwei Stunden später waren Theo und sein Sohn Hippo auf dem Weg in ein ländliches Gebiet der Südsteiermark. Die Einrichtung, in der Theo seinen Vater untergebracht hatte, war eines der in den letzten Jahren modern gewordenen Sammelzentren für Menschen mit Einschränkungen körperlicher wie auch geistiger Natur, alter Menschen, die sich nicht mehr selbst versorgen konnten, schwer erziehbarer oder straffälliger Jugendlicher und psychisch Kranker. Theo meinte zuerst, diese Einrichtungen müssten jede Menge Fachpersonal beschäftigen, dieser unterschiedlichen Anforderungen Herr zu werden, doch es stellte sich heraus, neben hochqualifizierten Abteilungsleitern, verließen sie sich auf den Qevi-Room als Allheilmittel. Einmal auf den jeweiligen Patienten abgestimmt, musste nur noch Pflege- und Wachpersonal eingestellt werden, oft Roboter, sowie zwei Techniker, die das System betreuten. Hippo pflegte solche Heime als Straflager für nicht funktionierendes Menschenmaterial zu bezeichnen. Theo widersprach nicht, doch zuhause für seinen Vater zu sorgen, war ihm beim besten Willen nicht möglich, und Hippo war keine Hilfe, der interessierte sich nur für seine Pickel und die wenigen Mädchen, die er kannte; was ihn nicht daran hinderte, die Kälte der Gesellschaft anzuprangern. Jung sein war eine Krankheit, alt sein aber auch, und am schlimmsten war das arithmetische Mittel, und wie es der Zufall so wollte, befand sich Theo genau dort. So sehr ihn die Überheblichkeit seines Sohnes oft nervte, freute ihn, der junge Mann hatte eine Abneigung dagegen, sich in einem virtuellen Raum aus der Wirklichkeit schießen zu lassen, wie der Junge das nannte. Einige Jugendliche begannen, sich aufzulehnen, wie das in jeder Generation passierte.

Hippo hatte zwei Freunde, sonst nicht einmal Bekannte, alle lagen in ihren Qevi-Rooms. Den therapeutischen Nutzen dieser Einrichtungen wollte Theo gar nicht anzweifeln. Es gab Erfolge, nicht nur in der Versorgung von schwierigen Fällen, sogar von Heilungen konnte berichtet werden, insbesondere unter Depressiven und Angstpatienten. Was ihn jedoch skeptisch stimmte, war die Neigung des Menschen, an den Stein der Weisen zu glauben. Theo hielt diesen für der Stein der Idioten, für jenen, welcher sie am Kopf getroffen hatte. Sinnlos, eine Menschenmenge überzeugen zu wollen, die sich darauf eingeschworen hatte – in diesem Fall eine ganze Gesellschaft. Als Vorteil der Situation erwies sich, die reale Welt gehörte wenigen, man hatte kaum Konkurrenz, musste nicht in Schlangen stehen. Der Nachteil: Es gab nur ein geringes Angebot für wache Menschen. »Die Wachen« nannte man Personen wie ihn und seinen Sohn. Das hieß nicht, die anderen schliefen, nur deren Welt glich einem Traum.

»Sind wir bald da?«, fragte Hippo.

»Du wirst es erwarten. Plötzlich hast du es eilig, deinen Großvater zu sehen.«

»Ich muss pinkeln.«

»Oh!«

»Opa müsste nicht dort sein.«

»Fang nicht wieder damit an. Du hast dich geweigert, Verantwortung mitzutragen.«

»Ich meine nicht, wir müssten ihn pflegen. Er war noch imstande, mit einer Betreuung, die zweimal am Tag kurz vorbeikäme, allein zu leben. Er hat sich nicht angepinkelt oder sowas.«

»Er hat den ganzen Tag am Fenster gesessen, auf ein Fabriksgebäude gestarrt – auf die Rückseite des Gebäudes, eine Mauer, sonst nichts.«

»Vielleicht mochte er Rückseiten von Fabriksgebäuden.«

»Rede keinen Mist. Wenn für irgendjemanden der Qevi-Room Sinn macht, dann für Gustav.«

»Gustav. Wer heißt denn so?«

»Dein Großvater heißt so. Was gibt es daran auszusetzen?«

»Es klingt nach Pferdefuhrwerk und Sense.«

»Beides nützliche … äh, Dinge.«

»Dad!«

»Zu meiner Zeit hat man von seinem Großvater gelernt. Er wusste die Dinge, die dir die Eltern verschwiegen.«

»Was hast du mir verschwiegen?«

»Das da unten ist zum Pinkeln da.«

»Danke für die Info. Übrigens …«

»Ich erwähne das, weil wir gerade in eine Raststation einfahren.«

»Die ist doch verlassen.«

»Aber sie hat Toiletten.«

»Die keiner in Schuss hält.«

»Das ist der Preis fürs Leben in der Wachwelt. Beeil dich.«

Hippo sprang aus dem Wagen, lief zu den Toiletten. Theo vertrat sich kurz die Beine in der Einfahrt zur Raststätte. Dort hatte ein Audi angehalten. Niemand stieg aus dem Wagen, der Fahrer hielt wohl ein Nickerchen, eh er weiterfahren würde. Theo lief am Wagen vorbei, umrundete ihn, kehrte zurück. Er hatte bloß eine große Zeitung gesehen, hinter der sich die Person versteckte. Es wurde nur noch eine Zeitung für die Freunde gedruckter Worte herausgegeben, so ein Nostalgiker-Ding. Theo setzte sich wieder in seinen Wagen. Jetzt kam auch Hippo gelaufen.

»Das stinkt wie Sau dort.«

»Is‘ so.«

»Ich hab‘ nachgedacht beim Pinkeln.«

»Sehr löblich.«

»Dad. Ich bin zum Ergebnis gelangt, wir drei sind ein perfektes Gespann.«

»Wer ist ›wir drei‹?«

»Ich, du, Gustav.«

»Inwiefern?«

»Jeder von und befindet sich in einer Ausnahmephase. Gustav ist dement, du bist in der Midlife-Crisis, ich bin in der Pubertät.«

»Ich bin doch nicht in der Midlife-Crisis.«

»Was zu beweisen war. Dass du es leugnest, zeigt, du bist drinnen.«

»So funktioniert Logik nicht. Es wird Zeit, die Schule fängt wieder an.«

»Die Schule, die Schule, das sind doch bloß Martin und ich…und Frau Killer.«

»Den Namen darfst du komisch finden.«

»Danke für die Erlaubnis, das taten wir schon am ersten Schultag.«

»Dein Großvater befindet sich nicht in einer Ausnahmephase, das ist jetzt er – für den Rest seines Lebens. Du scheinst das nicht wahrhaben zu wollen. Sprich mit Frau Killer darüber.«

»Die kann mir nur sagen, wie man Demenz schreibt.«

»Dann musst du dich mit ihm konfrontieren.«

»Blabla, ich bin Sigmund Freud, sehr erfreut, bla.«

»Wie kommst du darauf, ich sei in der Midlife-Crisis?«

»Das beschäftigt dich jetzt, was? Hihi!«

»Ich laufe keinen jungen Mädchen hinterher, ich kaufe mir kein Motorrad mit zweihundert Pferdestärken…«

»Du machst alles an, was über dreißig ist und einen Rock trägt.«

»Wen meinst du?«

»Die Frau, die uns dauernd einen Qevi-Room andrehen will.«

»Die ist doch schon älter.«

»Und? Sie ist eine Frau.«

»Wen sonst?«

»Kati.«

»Welche Kati?«

»Deine Physiotherapeutin, die mit dem Esoterikfimmel.«

»Ich plädiere auf ›unschuldig‹.«

»Abgewiesen.«

»Man kann das nicht abweisen, jeder Angeklagte kann plädieren, worauf er will, du kannst ihn höchstens widerlegen.«

»Widerlegt.«

»Ach, vergiss es. Ich bin keineswegs in der Midlife-Crisis, du hast nur anderthalb Indizien vorgelegt.«

»Mehr Frauen laufen bei uns auch nicht rum, außer Fedra noch. Du hast alle angemacht.«

»Du verstehst da irgendwas falsch.«

»Du verstehst was falsch.«

»Was?«

»Ich will, dass du dir eine anlachst, für die Zeiten, in denen Fedra ›wichtige Termine‹ hat. Du beschäftigst dich zu viel mit diesem Typen – wie nennt man den noch gleich? –, deinem Sohn.«

»Mir gefällt der Ton nicht, mit dem du ›wichtige Termine‹ sagst. Und was will denn nun dieser Typ, den man Sohn nennt?«

»Der will weniger Kontrolle. Das steckt nämlich hinter meiner Ablehnung des Qevi-Rooms, ich will nicht beschattet werden, auch und vor allem nicht von dir.«

»Das will kein Sohn, das schmink dir gleich mal wieder ab. Mein Vater hat mich kontrolliert und er wurde kontrolliert, das ist die Abmachung seit der Steinzeit. Dad steht für: der alte Detektiv.«

»Vielleicht sollte ich dich doch Papa nennen.«

»Du meinst: Profi, auf Patrouille ausgezeichnet.«

»Ich bin verloren.«

»Schön, dass du das endlich einsiehst.«

»Pass auf, der LKW!«

»Der ist verrückt geworden.«

»Du bist verrückt geworden. Du kannst den doch nicht hier überholen.«

»Hast du gar keine Risikofreude?«

»Hallo! Midlife-Crisis versus Pubertät. Ich bin der mit den Pickeln, ich brauche das nicht. Ich brauche viel Schlaf und einen Tschurifetzen.«

»Einen was?«

»Tschu– egal, darüber sprechen wir, wenn du aus deiner Krisis draußen bist.«

»Ich bin hier der Vater, Rollenwechsel is‘ nich‘.«

»Wie war Gustav als Vater?«

»Bleibst du jetzt dabei, ihn Gustav zu nennen?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Er war wie jeder Vater. Das unnötigste Familienmitglied. Der Typ, mit dem die Mutter drohen kann, wenn du nicht aufisst. Ansonsten der, der abends heimkommt, sich vor die Glotze setzt und ›Ruhe‹ schreit, ›ich will die Nachrichten sehen.‹ Danach hat er aber keine Ahnung, was in der Welt passiert ist.«

»Hübsch, wie du dich beschreibst.«

»So wirst du auch aussehen. Gut, es wird vielleicht kein Fernsehen mehr geben.«

»Du sprichst von der schwarzen Scheibe, vor die du dich so gern setzt? Martin glaubt mir bis heute nicht, wir haben sowas noch zuhause … erzähl mehr von Großvater.«

»Du machst es dir zu leicht. Man lernt einen Menschen nicht kennen, indem man die Lügen eines andern über ihn hört, man spricht mit ihm und lügt dann selbst.«

»Manchmal sagst du Sachen, die nicht nur dumm sind. Nicht nur!«

»Sondern auch?«

»Auch des Vaters eines echten Hippo würdig.«

»Ich werde gleich rot.«

»Bist du doch schon, linke Sau.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, so spricht man nicht mit seinem Vater?«

»Du. Zwölfmal täglich.«

»Das hab‘ ich gut gemacht.«

»Wir nähern uns dem eisernen Gustav.«

»Ich fasse es nicht, dass du den Film kennst!«

»Welchen Film?«

»Vergiss es. Eine Verwechslung.«

Sie bogen auf ein Gelände ein, das nach drei Seiten von ausgedehnten Gebäuden begrenzt wurde. Ein eigener Kreisverkehr regelte den Besucherzustrom, der aus Theo und Hippo bestand. Viel Lärm um nichts. In riesigen Lettern prangte SCNG auf einer Stirnwand des Gebäudekomplexes. Theo wusste nicht, was das bedeutete. Egal, es war ein Versorgungskomplex für Menschen, die sich selbst aus irgendeinem Grund nicht erhalten konnten. Die Bienenlarven wurden in Waben gesteckt und von Arbeiterinnen versorgt. Keiner fuhr hier raus, niemand fühlte die Notwendigkeit, jemanden zu besuchen, auch die »Normalen« lagen in ihren Qevi-Räumen zuhause. Die Wirklichkeit wurde weggeschoben. Oder war das die Wirklichkeit, und Theo lebte in einer simulierten Welt? Das erschreckende an dieser Frage war: Es spielte keine Rolle.

3

Rote, grüne und gelbe Leuchten waren über den Türen zu den Zimmern der »Bewohner« angebracht. Hippo und Theo liefen durch lange Gänge. Die Türen waren gut schallgedämmt. Öffnete sich eine von ihnen, drang laute Musik nach draußen, die beim Schließen sofort verstummte. Ein »männlicher« oder »weiblicher« Roboter – Robbys nannte man die vom Zentralcomputer gesteuerten Helfer – huschte sodann heraus, führte ein Tablett, Waschzeug oder eine Windel mit sich, verschwand im jeweils mittigen Raum mit der Aufschrift »Service/Depot/Basis«. Das SCNG beschäftigte verhältnismäßig wenige Roboter, worüber man sich übrigens hinter vorgehaltener Hand lustig machte. Der Leiter der Einrichtung stand auf dem Standpunkt, Menschen hätten keine Kurzschlüsse. Die silikonhäutigen kybernetischen Arbeiter konnten dafür mit größerer Zuverlässigkeit als ihre menschlichen Kollegen aufwarten. Über allen Türen strahlten die grünen Leuchten, daraus schloss Hippo, diese dienten nicht dem Schutz der Privatsphäre während der Pflegetätigkeiten wie in anderen Heimen. Womöglich stellten sie eine Sicherheitseinrichtung dar. Die beiden Besucher folgten der gelben Linie auf dem Terrazzoboden, die zu den Zimmern der Bewohner mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten führte.

»Gut, dass man ›bescheuert‹ hinter Latein verstecken kann«, sagte Hippo.

»Reiß dich zusammen!«, zischte Theo. »Der einzige Bescheuerte hier bist du.«

»Du hast recht. Mich lassen sie frei herumlaufen, das ist ein Skandal.«

»Du wirst noch auf die bittere Weise erfahren müssen, dass fehlendes Mitgefühl nicht cool ist. Sarkasmus ist eine Kunst, die mehr erfordert als nur schlechten Geschmack.«

»Produzierst du jetzt Aphorismen?«

»Vielleicht sollte ich das – als Gute-Nacht-Lektüre für dich.«

»Hier müsste es sein: L-1002. Grün wie alle.«

»Das ist jedes Mal eine Schnitzeljagd. Na gut, dann rein!« Theo atmete kräftig aus. Hippo öffnete die Tür zum Zimmer seines Großvaters. Musik erklang.

»So‘n Mozartzeug«, sagte Hippo. »Armer Gustav.«

Theo stöhnte.

»Das ist Satie, eine Gymnopédie.«

»Klingt wie Halsweh.«

Sie traten ein. Auf einem wuchtigen Sofa saß ein alter Mann. Sein Blick war zu Boden gerichtet, starr.

»Hallo Vater!«, sagte Theo. Hippo rümpfte die Nase.

»Sehr einfallsreich«, sagte er. Theo ignorierte ihn, er tippte auf die rechte Schulter des Alten.

»Kennst du mich noch?«, fragte er. Gustav blickte auf, sah ihn an, wandte den Blick wieder dem Boden zu.

»Das Linoleum ist seine neue Fabrikmauer«, sagte Hippo.

»Kann sein.«

»Was jetzt?«

»Sei einfach einmal ein paar Minuten ruhig.«

Hippo sah sich um. Eine Wiese in blassem Grün, mit knalligen Mohn- und Kornblumen besteckt, streckte sich weit in den Horizont, eine leichte Brise ließ die Köpfe der Blumen nicken. Ein Haufen Jasager, belangloses Gemüse – vergiss sie! Ein Weichzeichner schien der ganzen Szene einen romantisierenden Anstrich verleihen zu wollen. Großvater beachtete es nicht. Wozu also? Sie sollten ihm einen schöneren Boden mit Ameisen und Feuersalamandern animieren. Der eiserne Gustav war nicht der Je-ne-sais-quoi-Typ, mehr Richtung Heavy Metal. Theo setzte sich links neben Gustav, Hippo nahm die rechte Seite.

»Wir bleiben diesmal länger bei dir«, sagte Theo zum alten Mann. »Hörst du? Wir bleiben ein paar Tage. Ja, ein paar Tage. Wir nehmen ein Zimmer in der Pension im Ort. Ho-tel, unten im Ort. Ho-tel, ja. Freust du dich?«

»Wie soll er sich freuen, wenn er dich nicht einmal versteht?«

»Halt‘s …! Du verstehst mich schon, Vater, nicht wahr? Natürlich verstehst du mich. Du freust dich doch. Ja, das tust du. Siehst du? Ja. Geht ‘s dir gut hier? Das ist schön.«

»Er hat doch gar nicht gesagt, es gefiele ihm.«

»Du sollst …! Wir schauen die nächste Zeit jeden Tag hier vorbei. Jeden Tag, ja. Hast du das verstanden? Jeden Tag. Kannst du das sagen? Jeden Tag. Versuch es mal. Jeden Tag. Jeden Tag. Ist gut, du musst es natürlich nicht sagen. Hauptsache es geht dir gut, nicht?« Hippo drehte die Augen über. »Sag du doch auch was«, forderte ihn Theo auf. »Willst du deinen Großvater nicht begrüßen? Schau, Vater, wer hier ist. Hippo. Du weißt doch noch, wer Hippo ist. Ja Hippo. Dein Enkel, Hippo. Wie das Flusspferd, Hippo.«

»Hallo Opa«, sagte Hippo, dann wusste er nicht weiter. Er hätte gern mehr gesagt, doch er beherrschte dieses Kleinkindergewäsch nicht. Aber wie mit einem Erwachsenen zu sprechen, schien ihm ebenso nicht passend. Er wusste auch kein Thema. Nichts, das ihn beschäftigte, beschäftigte Opa. Opa beschäftigte gar nichts mehr. Was sagte man so jemandem? Irgendwie beneidete er Theo.

»Hippo muss bald wieder zur Schule«, sagte nun Theo. »Er hat dieses Jahr seine Reifeprüfung. Reifeprüfung, verstehst du? Matura, Abitur, Reife, Reif-, Reife. Er ist dann fertig. Er weiß nicht, was er danach machen soll, stell dir vor. Ha! Wir wussten das schon Jahre davor, nicht wahr? Jahre, ja, Jahre davor. Wir haben es gewusst, du und ich. Er nicht. Er weiß es nicht. So sind die heute, stell dir vor. Die sind so. Ja, heute. Heute. Kannst du dir das vorstellen, Papa? Ha! Witzig, nicht? Ja. Die Jungen. Aber immerhin lernt er und sitzt nicht in einem Qevi herum. Nichts gegen dich, ich meinte es im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, nicht zu dir, nein, bestimmt nicht. Der Qevi ist gut für dich, ja. Gut. Verstehst du? Gut. Ein Segen, der Qevi, Segen. Segen.«

»Warum lässt du Opa nicht in Frieden?«

»Du meinst, warum lasse ich dich nicht in Frieden. Du kannst keine Kritik ertragen. Im Austeilen bist du groß. Jetzt schluck mal deine eigene Medizin. Apropos Medizin: Kriegst du viele Tabletten, Papa, viele Tabletten? Tabletten. Nicht Tablett, Tabletten. Tabletten. Ist ja auch egal. Die werden das schon richtig machen, nicht? Richtig. Vater. Richtig, richtig machen, die Ärzte und so. Sie machen es richtig, richtig. Richtig.« Theo sah sich im Raum um. »Und gefällt dir die Villa, der große Kamin? Du siehst ja gar nicht hin. Kamin.«

»Was für ein Kamin, hier ist nur ein großes Mohn- und Kornblumenfeld«, sagte Hippo.

»Bist du blind oder was? Wir sitzen in einem wunderschönen Wohnraum mit Möbeln aus Wurzelholz, staubigen Büchern, Sprossenfenstern und einem offenen Kamin.«

»Willst du ihn verrückt machen? Warum sagst du ihm, er befände sich an einem anderen Ort, als dem, der hier animiert wird? So wird sein Zustand bestimmt nicht besser. Du machst ihn ganz meschugge.«

»Jetzt habe ich deine Spiele endgültig satt. Wenn du meinen Vater um den Verstand bringen willst, verstehe ich keinen Spaß mehr. Geh raus. Ich sage: Geh raus! … Jetzt!«

Hippo schüttelte den Kopf, ging aus dem Zimmer. Er lief etwas im Gang auf und ab, dann sah er zu den Leuchten über Großvaters Tür hoch. Das gelbe Licht brannte. In einem querenden Gang fand er eine menschliche Pflegerin, fragte sie, was es mit den Leuchten auf sich habe.

»Ist eine zweite Person im Zimmer?«, fragte sie.

»Klar, mein Vater.«

»Er muss da raus. Länger als eine Minute dürfen im eingeschalteten Qevi-Room nicht mehrere Personen sein.«

»Ich war auch drinnen.«

»Verdammt!« Sie lief los, riss die Tür auf, drückte auf einen Schalter innen neben dem Lichtschalter. »Sie hier – raus!«, befahl sie Theo. Er schlich verdattert aus dem Zimmer. Gustavs Hände zitterten, er atmete hastig. »Kommen Sie, Herr Aiger«, sagte die Pflegerin. Sie legte den alten Mann aufs Sofa, lagerte die Beine hoch. »Ich rufe den Herrn Doktor. Das haben wir gleich.« Sie kam aus dem Zimmer, warf Theo einen scharfen Blick zu, nahm ein Sprechgerät aus der Tasche ihres weißen Mantels, drückte auf einen Knopf. »Das weiß doch nun wirklich jeder! Gehen zu zweit zu einem Bewohner, sowas! Wollen sie ihn umbringen? … Ja, Diana hier, wir haben einen F43.0. Schicken sie mir einen Arzt auf L-1002. Ich warte …Einfach reingehen, ohne zu fragen, unglaublich.«

»Es tut mir sehr leid«, sagte Theo. »Wir haben keine Erfahrung mit Qevi-Räumen.«

»Wo leben Sie, auf dem Mond?«

»Irgendwie ja«, sagte Hippo.

»Haben Sie Ihren Verwandten nie vorher besucht?«

»Erst zweimal, da war der Qevi-Room jeweils gerade ausgeschaltet.«

Binnen Sekunden tauchte der Arzt auf, sah sich Großvater an. Theo und Hippo mussten draußen bleiben. Nach zwei, drei Minuten kamen der Arzt und Pflegerin Diana aus dem Zimmer.

»Sie erledigen das«, sagte der Arzt zu Diana.

»Ja, Herr Doktor«, erwiderte sie. Der Arzt deutete ein Salutieren an, ging raschen Schritts durch den Gang davon.

»Sie werden verstehen, dass Sie heute nicht mehr zu Ihrem Verwandten dürfen. Sie haben ihn sehr aufgeregt.«

»Ich verstehe nicht. Was ist passiert?«

»Ein aktivierter Qevi-Room ist einer Person angepasst, checkt ihre Körperfunktionen, vor allen die Hirnströme, um adäquate Umgebungen generieren zu können. Kommt eine zweite Person hinzu, versucht AI, beider Bedürfnisse zu erfüllen – gleichzeitig, Sie verstehen. Das führt zu einer Überlastung des Systems und damit zur kognitiven Beeinträchtigung der schwächeren der beiden Personen. Ein dritter Eindringling kann eine Katastrophe auslösen. Ich muss wirklich sagen: So etwas wie Sie ist mir noch nicht begegnet. Jeder, jeder, jeder weiß das. Sie haben Glück, dass der Arzt nicht darauf bestanden hat, diese Aktion als einen gezielten Anschlag auf das Leben des Bewohners zu sehen.«

»Das kann man doch nicht wirklich denken«, sagte Theo. Diana hob die Brauen.

»Oh, wenn es etwas zu erben gibt, geschieht auch das Undenkbare.«

»Dann musst du froh sein, dass es bei Opa nichts zu erben gibt«, sagte Hippo zu Theo, grinste.

»Materiell gibt es nicht viel zu holen, das stimmt schon«, erwiderte dieser. »Wenn du ein bisschen aufpasst, bekommst du vielleicht etwas Wertvolleres.«

»Dein Vater hat recht«, mischte sich Pflegerin Diana ein. Hippos Augen sagten: Was geht Sie das an?

Die beiden Weltfremden verabschiedeten sich, liefen einige Meter den Gang hinunter, als eine Rollbahre aus einem querenden Korridor geschoben wurde. Ein Mädchen lag darauf, sie drehte ihre Augäpfel krampfhaft nach oben, die Lider flatterten wie Kolibriflügel. Theo und Hippo stellten sich an die Wand, Platz zu machen. Diana kam gelaufen, fasste das Kopfende der Rollbahre.

»Engel!«, rief sie, zog gleichzeitig mit einer Hand an der Bahre und strich mit der anderen über das Gesicht des Mädchens. »Was ist passiert?«, fragte sie den Pfleger am Fußende der Bahre.

»Ein G40«, antwortete er. »Ihr dritter in zwei Wochen.«

»Ach, dummes, dummes Kind.« Diana lenkte die Bahre in den nächsten Quergang. Das gleichförmige Klopfen der Rollenachsen entfernte sich, bis es nicht mehr zu hören war. Theo und Hippo standen immer noch an die Wand gedrängt, sahen einander an.

»Es ist eine andere Welt«, sagte Theo.

»Danke, dass du mich da rausgehalten hast«, entgegnete Hippo. Es schien ausnahmsweise nicht zynisch oder sarkastisch gemeint. Theo sah seinen Sohn zweifelnd an, er konnte sich bei Hippo nie so wirklich sicher sein.

Sie verließen das Gebäude. Wieder war niemand sonst auf der Straße zu sehen. Sie fuhren nur zwei Kilometer in den nächsten Ort, wo Theo ein Zimmer in einer kleinen Pension gemietet hatte. Hippo erschrak, als sein Vater ihm das mitteilte.

»Ich soll die ganze Zeit mit dir in einem Zimmer sein?«

»Das ist doch nicht viel mehr als ein Schlafplatz. Tagsüber sind wir unterwegs.«

»Ich bin bestimmt nicht dauernd unterwegs. Wenn du denkst, das wird so eine Vater-Sohn-Sache mit langen Spaziergängen und Sammelpack-Weisheiten zum Vorteilspreis, liegst du falsch. Ich habe zugesagt, Großvater zu besuchen, nicht mehr und nicht weniger.«

»Schon gut, schon gut. Beruhige dich. Ich habe Fedra geschrieben, wir hätten sie gern bei uns. Wenn sie kommen sollte, besorge ich dir ein eigenes Zimmer und sie zieht hier ein.«

»Ich dachte, sie habe Wichtigeres zu tun. Warum hast du ihr geschrieben?«

»Aus unserem Gespräch auf der Herreise habe ich geschlossen, sie ist immer noch eine Fremde für dich. Das ist doch eine gute Gelegenheit, sich näher kennenzulernen.«

»Schon ihr Name ist prätentiös.«

»Sie heißt so.«

»Fedora heißt sie. Das ist russisch für Theodora. Sie heißt so wie du: Theo.«

»Mein Gott, sei nicht so pingelig.«