Die Wunde von Auschwitz berühren - Manfred Deselaers - E-Book

Die Wunde von Auschwitz berühren E-Book

Manfred Deselaers

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Beschreibung

Seit über 30 Jahren lebt der deutsche Priester Manfred Deselaers in Auschwitz. Sein Einsatz für Versöhnung zwischen den Menschen ist seine Berufung. In diesem Buch teilt er seine Gedanken über Verantwortung, Gott und das Leid und erzählt aus seinem Leben. Er ist überzeugt: "Wir können nicht alles Böse und alles Leid Gott in die Schuhe schieben, denn wir sind es, die für das, was in der Welt geschieht, verantwortlich sind." Mit Beginn des Ukrainekriegs hat sein Einsatz für Versöhnung und gegen Hass neu an Aktualität gewonnen. Was ihm in diesen Zeiten Hoffnung gibt und warum er nicht aufhört, für Russland zu beten, erzählt er in diesem Buch.

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Seitenzahl: 362

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Manfred Deselaers

im Gespräch mit Piotr Żyłka

Die Wunde von Auschwitz berühren

Ein deutscher Priester erzählt

Aus dem Polnischen übersetzt von Andreas Volk

Titel der Originalausgabe: Niemiecki ksiądz u progu Auschwitz

© SIW Znak Sp. z o.o. 2022

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen der

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf bei Rosenheim

Umschlagmotiv: Sebastian Nycz

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39663-2

ISBN E-Book (E-PUB) 978-3-451-83967-2

Diese Publikation wurde gefördert

vom ©POLAND Translation Program

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der Weg der Freundschaft

Vorwort

Erstes Gespräch: Erste Berührung mit Auschwitz

Zweites Gespräch: Seelsorger an der Schwelle zum Lager

Drittes Gespräch: Aufwachsen im Schatten des Krieges

Viertes Gespräch: Ein junger Pazifist in Israel

Fünftes Gespräch: Ein Junge, dessen Zuhause das Gebet ist

Sechstes Gespräch: Ein deutscher Priester, den es nach Polen zieht

Siebtes Gespräch: Aller Anfang ist schwer oder: Die (anfangs) ungewollten Aufgaben

Achtes Gespräch: Rudolf Höß

Neuntes Gespräch: Licht in der Finsternis. Maximilian und Edith

Zehntes Gespräch: Die, die überlebten

Elftes Gespräch: Die Sonne über dem Lager

Zwölftes Gespräch: Das Gute wird in Schmerzen geboren

Dreizehntes Gespräch: Das gemiedene Thema

Vierzehntes Gespräch: Ein Deutscher setzt sich mit dem Nazismus auseinander

Fünfzehntes Gespräch: Wo ist Gott, wenn Böses geschieht

Über die Autoren

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich freue mich sehr, dass dieses Buch jetzt in Deutschland, meiner Heimat, veröffentlicht wird. Seit 33 Jahren lebe ich als Deutscher Priester in Polen, Oświęcim, bekannt unter dem deutschen Namen Auschwitz. In Polen bin ich bekannt als »der deutsche Priester am Rande von Auschwitz«, und unter diesem Titel ist dort auch dieses Interview-Buch erschienen. Nach so vielen Jahren schien ein ausführliches Gespräch darüber, warum ich hier bin und was meine Erfahrungen und Einsichten sind, an der Zeit.

Es ist ein Gespräch mit einem polnischen Journalisten für ein polnisches Publikum. Ich habe Polnisch gesprochen, so gut ich konnte. Piotr Żyłka hat dann einen gut lesbaren polnischen Text gemacht. Nun hat ihn Andreas Volk sozusagen ins Deutsche zurück übersetzt.

Und es ist gut, dass der Text jetzt für deutschsprachige Leser zugänglich ist. Denn es geht ja nicht allein um polnische Themen, nicht einmal nur um deutsch-polnische, sondern im Kontext von Auschwitz natürlich auch um christlich-jüdische, grundsätzlich menschliche und große internationale Zusammenhänge, die für uns alle wichtig sind. Es geht um Ideologie und Verantwortung, um Schuld und Vergebung, um Glaube, Hoffnung und Liebe. Das alles sind keine abstrakten Themen, sondern Wirklichkeiten, die eingeschrieben sind in eine schrecklich konkrete Vergangenheit und in eine sehr konkrete Gegenwart menschlicher Begegnungen. Das sind keine leeren Worte, sondern wichtige Erfahrungen.

Deshalb freue ich mich, dass ich auf diese Weise jetzt auch für »die Meinen« in Deutschland davon erzählen kann.

Die fünfzehn Gespräche für dieses Buch waren eigentlich schon abgeschlossen, als ich am 23. Februar vergangenen Jahres zur Vorstellung der russischen Übersetzung meines Buches über den Kommandanten von Auschwitz in Moskau war. Am 24. Februar begann der direkte Angriff Russlands auf die Ukraine. Wir haben dann ein Gespräch über meine diesbezüglichen Erfahrungen und Gedanken an das letzte Gespräch angehängt.

Die deutsche Übersetzung des Buches war schon fertig, da begann in diesem Jahr am 7. Oktober der Krieg in Israel und Gaza. Es ist nicht möglich, hier mit der Erinnerung an Auschwitz zu leben und davon nicht zutiefst betroffen zu sein.

Nicht alle, aber etwa neunzig Prozent der Opfer des Vernichtungslagers waren Juden. Deshalb haben wir hier im Umfeld der Gedenkstätte viele Kontakte zu jüdischen Menschen. Und wir verstehen, dass für die allermeisten von ihnen, selbst wenn sie nicht in Israel leben, der jüdische Staat die wichtigste Antwort auf die Schoa war: eine sichere Heimat in einer Welt, in der überall Antisemitismus droht. Diese Verheißung der Sicherheit ist am 7. Oktober 2023 zerstört worden. Schon wieder scheint es auf dieser Welt keinen sicheren Ort für Juden zu geben. Es ist wichtig, die damit verbundene Angst und Verzweiflung zu verstehen. Auch die Palästinenser sehnen sich nach Freiheit, Würde und Sicherheit in ihrem Land und können sie nicht finden. Dass für diesen Konflikt keine gute Lösung in Sicht ist, ist eine große Tragik.

Im Jahr 2002 war ich in Jerusalem auf einer Yad Vashem-Konferenz über »Das Vermächtnis der Holocaust-Überlebenden« mit mehr als 400 Überlebenden. Ich möchte aus der dort veröffentlichten Survivor‘s Declaration zitieren: »Nein, wir haben uns nicht in wilde Tiere verwandelt, die nur nach Rache hungerten. Das ist ein Beweis für die Prinzipien, die wir als ein Volk haben, das von einem dauerhaften Glauben sowohl an den Menschen als auch an die Vorsehung geprägt ist. Wir haben uns für das Leben entschieden. […] Wir, die wir durch das Tal des Todes taumelten, nur um zu sehen, wie unsere Familien, unsere Gemeinschaften und unser Volk zerstört wurden, versanken nicht in Resignation und Verzweiflung. Stattdessen haben wir darum gekämpft, eine Botschaft von Sinn und neuem Ziel für unser Volk und für alle Menschen zu erarbeiten, nämlich: eine Botschaft der Menschlichkeit, des menschlichen Anstands und der Menschenwürde.«1

Ich bin immer noch berührt von diesem Testament der Überlebenden. Ich kann ihnen nicht genug danken für diesen Sieg der Menschlichkeit über die Macht des Bösen, für diese Einladung zu einer erneuerten Beziehung. Entsprechende Erfahrungen prägen meine Jahre »am Rande von Auschwitz«, von denen ich mit diesem Buch Zeugnis geben will.

Deshalb bleibe ich trotz allem bei meiner Hoffnung, dass das letzte Wort nicht der Macht des Bösen, des Egoismus, der Verachtung und Vernichtung gehört, sondern der Macht der Menschlichkeit, der Liebe. Getragen werde ich dabei auch von meinem biblischen Glauben an Gott, der diese Welt als Gute erschaffen und seine Liebe zu uns nie zurückgezogen hat, selbst wenn er manchmal sein Angesicht verbirgt, weil er über uns weint.

Manfred Deselaers

Oświęcim, November 2023

1Our Living Legacy. The Survivor’s Declaration. Zitierter Abschnitt übersetzt vom Autor. Das erste Mal wurde die Survivor’s Declaration von dem Holocaust-Überlebenden Zvi Gil bei der Abschlusszeremonie der Internationalen Konferenz »The Legacy of Holocaust Survivors: The Moral and Ethical Implications for Humanity« in Yad Vashem verlesen. Die Zeremonie fand im Tal der Gemeinden in Yad Vashem am Donnerstag, dem 11 April 2002, statt. Online: https://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/through-the-lens/images/liberation/minshar.pdf (Zugriff 11.11.2023).

Der Weg der Freundschaft

Interessiert und gerührt las ich die Geschichte von Pater Manfreds langer Lebensreise und seiner Entscheidung, Auschwitz zu seinem Zuhause zu machen. Dabei begriff ich, was uns zusammengebracht hat und unsere Freundschaft begründete – die Freundschaft zwischen einem deutschen Priester und einem polnischen Kind, das mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Auschwitz deportiert worden war.

Und nun ein paar Worte zu meiner Lebensgeschichte. Ich kam als elfjähriges Mädchen aus dem Warschauer Aufstand nach Auschwitz ins Lager. In den letzten Tagen seines Bestehens gelang uns die Flucht, und wir wurden wie durch ein Wunder von Bewohnern eines nah gelegenen Dorfes gerettet. Die letzten fünfzig Jahren habe ich in den Vereinigten Staaten gelebt und gearbeitet.

Meine Begegnungen mit Pater Manfred finden hauptsächlich während meiner Besuche in Polen statt. Daraus hat sich eine echte Freundschaft entwickelt, nicht nur wegen unserer Verbindung zu Auschwitz, sondern auch wegen der Lebensaufgabe, die wir uns gestellt haben, zu versuchen, das Gute an andere Menschen weiterzugeben.

In meiner Arbeit an der Universität beschäftige ich mich unter anderem mit der Behandlung von Schlaganfallpatienten. Bei meiner Forschung muss ich oft an meine Erlebnisse in Auschwitz denken. Ich empfinde dann Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, die ich versuche, an meine Studenten und an die Leser meiner Publikationen weiterzugeben.

Zum Schluss möchte ich Pater Manfred für dessen Freundschaft und Weisheit, die mir sehr hilft in meinem Leben, meine tiefe und aufrichtige Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Ich wünsche allen Lesern dieses Buches, dass ihnen in den gegenwärtigen, sehr schwierigen Zeiten Pater Manfreds Lebensgeschichte und seine Weisheit zum Nutzen gereicht – sie angeregt werden, über ihr eigenes Leben nachzudenken.

Hanna Ulatowska

Vorwort

März 2013. Ich befinde mich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Ich stehe auf der Rampe, auf der die ankommenden Gefangenen – nachdem sie aus verschiedenen Teilen Europas in Zügen hierhergebracht wurden – in zwei Gruppen geteilt wurden, in diejenigen, die sofort vernichtet wurden, und diejenigen, denen die Nazis noch einen Augenblick zu leben erlaubten, um sie als Sklavenarbeiter zu schinden. Ich sehe mich um, ich betrachte die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, die Stacheldrahtzäune, Wachtürme, die Gebäude, in denen die Menschen vergast und verbrannt wurden. Etwas geht in mir vor, was ich nur an diesem Ort empfinde – auf dieser Erde, die Zeuge der schrecklichsten Menschheitsverbrechen war.

Gefühle überkommen mich, die schwer zu beschreiben sind – eine Mischung aus Schmerz, Angst, unendlicher Trauer und Ratlosigkeit. Bei dem Gedanken an all diese Frauen, Kinder und Männer, die den NS-Schergen zum Opfer fielen, ist meine Kehle wie zugeschnürt. Es ist mir unmöglich zu begreifen, dass all das, was sie hier erlebt haben, wirklich geschehen ist. Auschwitz ist für mich eine bedrückende Dunkelheit, der Zerfall der Menschlichkeit und eine Warnung vor gefährlichen Ideologien und von Hass besessenen Menschen.

Doch an diesem Märztag lerne ich einen Menschen kennen, der mein Herz auf eine völlig neue Weise berührt und Licht in das scheinbar undurchdringliche Dunkel hineinlässt.

Es ist Manfred Deselaers, ein großer, älterer Herr mit ergrautem Haar, Bart und einem sanften Blick. Wenn er spricht, hört man an seinem Akzent, dass Polnisch nicht seine Muttersprache ist. Manfred ist ein deutscher Priester, der sich Anfang der 1990er-Jahre am Rande von Auschwitz niederließ.

Hätte ich damals, vor neun Jahren, bereits Interviewbücher verfasst, er wäre bestimmt mein erster Gesprächspartner geworden. Ich bin in meinem bisherigen Leben niemandem begegnet, der so schöne Dinge tut, dass man es in die Welt hinausposaunen möchte, und von dessen Existenz so wenige Menschen wissen.

Seine Geschichte ist faszinierend. Gleichzeitig ist er ein sehr stiller und bescheidener Mensch, und das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb viele Leser zum ersten Mal von ihm hören.

Er wurde im Nachkriegsdeutschland geboren, als weder in der Schule noch zu Hause über den Holocaust gesprochen wurde. Als er als junger Pazifist zu einem Freiwilligendienst nach Israel fuhr, dem ein Besuch in Auschwitz vorausging, ahnte er nicht, was für ein Schock ihn erwartete. Was er in Auschwitz sah und erlebte, erschütterte ihn zutiefst und ließ in ihm den Wunsch aufkeimen, dass sein Leben so etwas wie eine Antwort sein sollte auf das, was dort geschehen war. Jahre später, bereits als Priester, kehrte er nach Oświęcim zurück. Und blieb bis heute.

Anfang 2020 schlug ich ihm vor, unsere Gespräche aufzuzeichnen – das Ergebnis ist das Buch, das Sie in den Händen halten. Eigentlich sollten sie viel früher veröffentlicht werden, aber es kam alles anders. Heute bin ich davon überzeugt, dass dies kein Zufall war, sondern genau so sein sollte. Denn dadurch wurden unsere Gespräche von schwierigen Ereignissen umrahmt, von denen wir alle betroffen waren und es noch immer sind.

Wir begannen mit den Aufzeichnungen im Lockdown während der Pandemie, die auch den Alltag von Pater Manfred stark beeinträchtigte. Plötzlich kamen keine Besucher mehr ins ehemalige Lager – ebenjene Besucher, die der Grund gewesen waren, dass mein Gesprächspartner Seelsorger an der Schwelle von Auschwitz geworden war. Wir mussten unsere ursprünglichen Pläne ändern, was zur Folge hatte, dass sich eines unserer ersten Gespräche mit den Fragen beschäftigte, wie man in den schwierigsten Momenten, in denen unschuldige Menschen Leid erfahren und sterben, an Gott glauben kann und welche Verantwortung wir für die Welt haben, in der wir leben.

Im ersten Teil des Buches lernen wir den Lebensweg von Pater Manfred Deselaers kennen. Wir erfahren, wie es dazu kam, dass ein Junge, der nicht immer die beste Meinung vom Klerus gehabt hatte, selbst Priester wurde und kurz nach seiner Weihe um die Möglichkeit bat, sich in Oświęcim niederlassen zu dürfen, um den Menschen durch seine »bloße Anwesenheit« zu dienen und dort Brücken zu bauen, wo dies vielen unmöglich erscheint.

In den folgenden Gesprächen »betreten« wir Auschwitz und bewegen uns auf drei Wegen durchs Lager. Auf dem dunkelsten Weg lernen wir zunächst die Lebensgeschichte und das geistige Porträt des Lagerkommandanten Rudolf Höß kennen, über den Pater Manfred seine Dissertation geschrieben hat. Anschließend folgen wir dem Weg, den ich gern als Licht in der Dunkelheit bezeichne – dem Weg von zwei außergewöhnlichen Menschen, von Maximilian Kolbe und Edith Stein, die für meinen Gesprächspartner eine sehr wichtige Rolle spielen. Und schließlich wandeln wir auf den Spuren ehemaliger Häftlinge, die persönlich kennenzulernen Pater Manfred Gelegenheit hatte und von denen er sagt, dass sie für ihn die wichtigsten Menschen sind.

Im Weiteren geht es um die persönliche Antwort des Protagonisten auf Auschwitz – um seine tägliche Arbeit im Zentrum für Dialog und Gebet, seinen Einsatz für die Versöhnung zwischen Menschen und Völkern, deren Beziehungen von Wunden gezeichnet sind, um die Schaffung von Räumen, in denen man versucht, aus den Verbrechen des Holocaust Lehren zu ziehen, um eine bessere und humanere Zukunft aufzubauen.

Wir gehen schwierigen Themen nicht aus dem Weg. In den letzten beiden Gesprächen frage ich Pater Manfred, wie es ist, sich als Deutscher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des eigenen Volkes auseinanderzusetzen, und wo Gott ist, wenn Böses geschieht. Wir sprechen auch darüber, wie es möglich ist, dass ein gewöhnlicher Mensch zu derartigen Grausamkeiten fähig ist. Warum erliegen wir verbrecherischen Ideologien? Was will uns – auch heute noch oder vielleicht gerade heute – die Erde von Auschwitz zurufen?

Am 23. Februar 2022 nahm Pater Manfred in Moskau an der Präsentation der russischen Übersetzung seiner Doktorarbeit über Rudolf Höß teil. Am 24. Februar begann Russland einen groß angelegten Angriffskrieg gegen die Ukraine. In jenen Tagen begegnete mein Gesprächspartner vielen Russen, die das Vorgehen Wladimir Putins missbilligten, zugleich aber feststellen mussten, dass die von Manfred beschriebenen Mechanismen, wie das Böse entsteht, es zu Kriegsverbrechen kommt und weltverachtende Ideologien und Menschen geboren werden, leider von erschreckender Aktualität sind. Wir haben uns deshalb entschlossen, nachdem die Arbeit am Buch eigentlich schon abgeschlossen war, noch ein weiteres Gespräch über Manfreds Erfahrungen während seines Russlandbesuches anzufügen. Dieses Gespräch finden Sie am Ende des letzten Kapitels.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir heute, in diesen unruhigen Zeiten, in denen die Dunkelheit mit aller Kraft anzugreifen scheint und einem die Hoffnung raubt, dringender denn je Menschen brauchen, die alles tun, was in ihrer Macht steht, dass das Böse nicht das letzte Wort hat, sondern das Gute. Pater Manfred Deselaers ist ein solcher Mensch. Ich lade Sie herzlich ein, seine Geschichte kennenzulernen.

Piotr Żyłka

Erstes Gespräch: Erste Berührung mit Auschwitz

»Meine Antwort muss nicht so groß sein,

wie das Böse in Auschwitz war.

Sie entspricht meinen Möglichkeiten.

Ich tue, was ich kann,

und so viel, wie ich kann.«

Wann warst du das erste Mal in Auschwitz?

1974. Es war ein Besuch im Rahmen der Vorbereitung auf einen anderthalbjährigen Aufenthalt in Israel mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Diese Organisation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, 1958, auf Initiative deutscher Protestanten gegründet, von denen einige während des Krieges im Widerstand gewesen waren. Ihnen war bewusst, dass, wenn all dies vorbei sein würde, etwas unternommen werden muss, um die verwundeten Beziehungen zu den Völkern, denen großes Leid und Unrecht widerfahren war, zu heilen. Deshalb richteten die Christen, die sich um das Sühnezeichen scharten, an diese Völker die Bitte: »Erlaubt uns, bei euch etwas Gutes zu tun.« Zeigte sich die andere Seite offen für diese Bitte, wurden Freiwillige in das jeweilige Land geschickt, zum Beispiel nach Frankreich, Holland oder England. Man knüpfte auch Kontakte nach Polen, aber damals gab es noch die Berliner Mauer, die Teilung Europas in einen westlichen und einen östlichen Block, was die Sache nicht einfacher machte.

Und was haben die deutschen Freiwilligen dort getan?

In Frankreich haben sie zum Beispiel zwischen 1961 und 1962 die Versöhnungskirche in Taizé gebaut. Mit der Zeit begannen die jungen Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen auch in Pflegeheimen und Institutionen, die ehemalige KZ-Häftlinge und Holocaust-Überlebende unterstützten, zu arbeiten. In den 1960er-Jahren kamen Israel-Aufenthalte hinzu, wo wir uns in verschiedenen sozialen Einrichtungen engagierten. Ich habe damals mit behinderten Kindern gearbeitet.

Bevor man jedoch ins Ausland ging, um seinen Dienst anzutreten, besonders wenn es sich dabei um Israel handelte, musste man sich vorbereiten, um sich bewusst zu sein, warum und wozu man dorthin fuhr. Daher unser Besuch in Auschwitz. Wir verbrachten eine Woche in Oświęcim und reisten auch durch Polen.

Welche Bilder sind dir von diesem ersten Aufenthalt in Erinnerung geblieben?

Das war noch in den kommunistischen Zeiten. Ich erinnere mich, dass es in der Stadt abends sehr schnell dunkel wurde, wenn die Geschäfte schlossen, da es nicht allzu viele Straßenlampen gab. Wir wohnten in einem Gebäude des ehemaligen Lagers. Es hatte den Deutschen als Registratur für neue Häftlinge gedient. Heute weiß ich, dass dort im September 1944 auch ein Gefangenentransport registriert wurde, der aus dem Durchgangslager Pruszków nach Auschwitz kam, unter ihnen Polen, die während des Warschauer Aufstands 1944 festgenommen worden waren. Mitte der 1960er-Jahre wurde in einem Teil des Gebäudes ein kleines Hotel für Museumsbesucher eingerichtet, insbesondere für ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen. Die Ausstattung der Zimmer war einfach. Auch wir wurden dort untergebracht.

Das ist lange her, aber ich werde es nie vergessen. Ich wohnte in einem Zimmer mit Blick auf das Lagertor, Stacheldraht, Lagerbaracken und -gebäude, in denen die Häftlinge festgehalten wurden.

Die ganze Zeit lag die Überzeugung in der Luft, dass dies ein sehr besonderer Ort ist, der zwar für niemanden mehr eine unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben darstellt, aber von schrecklichen Dingen erzählt. Die so schrecklich sind, dass sie fast schon wieder irreal erscheinen, doch leider sind sie wirklich geschehen.

Wir wurden von Museumsmitarbeitern und ehemaligen Häftlingen über das Gelände des ehemaligen Lagers geführt. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal Fotos von Häftlingen unmittelbar nach der Befreiung sah, die wie lebende Skelette aussahen. Sie sind mir am stärksten in Erinnerung haften geblieben. Stärker als die Haufen von Haaren, von denen fast alle nach ihrem ersten Besuch sprechen.

Von diesem ersten Aufenthalt erinnere ich mich an das Stammlager und natürlich an den Schriftzug »Arbeit macht frei« über dem Lagertor. Birkenau prägte sich mir erst bei meinem zweiten Besuch, einige Jahre später, deutlicher ins Gedächtnis ein. Von dem ersten Besuch erinnere ich mich vor allem an das Gras. Damals, in den 1970er-Jahren, wuchs in Birkenau zwischen den Ruinen hohes Gras. Wir mähten es und sagten uns: »Über Auschwitz darf kein Gras wachsen!«

Das verstehe ich nicht ganz.

Wenn man auf Deutsch sagt, dass Gras über etwas wächst, meint man damit, dass etwas mit der Zeit in Vergessenheit gerät. Wir mähten das Gras und wussten, das ungeheure Böse durfte nicht in Vergessenheit geraten.

Unsere Gruppe bestand aus etwa zwanzig Personen, und wir waren uns nicht in allem einig. Es gab Spannungen.

Welcher Art?

Es war eine äußerst heterogene Gruppe, die Hälfte Jungs, die Hälfte Mädchen, mit unterschiedlichen Sensibilitäten, sodass es zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten kam. Doch es ging auch um Grundsätzliches. Es gab Spannungen, die ganz konkret mit diesem Ort verbunden waren. Wenn zum Beispiel jemand allzu fröhlich war, herumscherzte, ermahnten ihn die anderen, sagten ihm, sein Verhalten sei unangemessen, und erinnerten ihn daran, wo wir waren. Im Gedächtnis geblieben ist mir auch einer von uns, der so etwas zu sagen pflegte wie: »Ja, es war schrecklich hier, aber man kann nicht immer nur davon sprechen, dass die Deutschen das getan haben, denn das haben Menschen getan, es sind die Konsequenzen des Handelns konkreter Personen, nicht eines Volkes.« Und wir stritten mit ihm darüber.

Warst du der Ansicht, das ganze Volk wäre verantwortlich?

Damals hatte ich mir noch keine klare Meinung dazu gebildet, es war alles noch zu neu für mich. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass die Sprüche dieses Jungen an diesem Ort, gelinde gesagt, fehl am Platz waren.

Ihr wurdet durch das Lager geführt, habt Gras gemäht und miteinander diskutiert. Was habt ihr noch gemacht? Eine Woche ist eine lange Zeit.

Wir haben auch im Museumsarchiv gearbeitet. Wir lasen Dokumente aus der Zeit des Krieges. Jeder bekam ein kleines Thema, das er oder sie bearbeiten musste. Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht mehr daran, welches Thema mir zugeteilt wurde.

Du hast gesagt, die Zeit in Auschwitz war eine Art Vorbereitung auf den Aufenthalt in Israel. Wie sollte das konkret geschehen?

Für mich war es das Wichtigste herauszufinden, was dort geschehen war. Denn – das muss ganz klar gesagt werden – vor diesem Besuch wusste ich überhaupt nichts über Auschwitz. Dieses Thema hatte für mich nicht existiert. Weder in der Schule noch zu Hause wurde darüber gesprochen.

Wirklich?

Ich gehöre zur ersten Nachkriegsgeneration. Ich hatte Lehrer, die den Krieg erlebt hatten, im Krieg gewesen waren und nicht darüber sprechen konnten. Der Zweite Weltkrieg war ein Tabuthema. Eine Art gesellschaftliches Trauma. Der Geschichtsunterricht in der Schule endete bei Bismarck – man könnte sagen: bei dem letzten deutschen Helden. Ich habe in Deutschland in der Bismarckstraße gewohnt. Natürlich ist Bismarck aus eurer Perspektive kein Held, aber das habe ich erst viele Jahre später in Polen erfahren.

Und zu Hause?

Zu Hause wurde auch nicht über den Krieg gesprochen. Gerade deshalb war der Besuch in Auschwitz für mich ein Schock. Plötzlich wurde ich mit der schrecklichen Wahrheit über die Vergangenheit konfrontiert. Viele Jahre später erzählte mir mein Vater, ich hätte ihm aus dem Lager einen Brief geschickt, in dem ich ihm heftige Vorwürfe gemacht hatte, dass weder er noch sonst jemand mir etwas davon erzählt hatte. Es sei so furchtbar und so wichtig, und ich hätte nichts gewusst! Mein Vater hatte große Angst, ich würde der kommunistischen Propaganda anheimfallen. So waren die Zeiten damals.

Dies änderte sich mit der 68er-Generation. 1968 lag der Krieg dreiundzwanzig Jahre zurück, und die unmittelbar nach dem Krieg Geborenen begannen, ins Erwachsenenalter einzutreten. Ich erinnere mich, dass in dem Jahr, in dem ich mein Abitur machte, der erste Vertreter dieser Generation an unserer Schule als Lehrer eingestellt wurde. Er hatte lange Haare und keine Angst, auch über unbequeme Themen zu sprechen. Das war eine völlig neue Welt.

Der erste Besuch in Auschwitz war für mich ein Schock. Ich musste mich dem stellen, lernen, damit zu leben. Für einen deutschen Jugendlichen, der gerade erst Abitur gemacht hatte, war es eine enorme Herausforderung, mit dieser schwierigen Wirklichkeit in Berührung zu kommen. Aber ich bin der Aktion Sühnezeichen dankbar, dass sie uns nach Auschwitz gebracht hat, denn dies war – wie sich später herausstellte – der Beginn eines für mich unerwarteten Weges.

Du hast mir einmal erzählt, dass du während deines zweiten Auschwitz-Aufenthaltes ein wichtiges inneres Erlebnis hattest.

Das war 1980. Ich war bereits Student. In Polen war gerade die unabhängige Gewerkschaft »Solidarność« gegründet worden, und ein Jahr später sollte das Kriegsrecht verhängt werden. Man spürte, dass etwas Außergewöhnliches in der Luft lag. Bei meinem zweiten Besuch wurden wir von Kazimierz Smoleń, einem ehemaligen Häftling, herumgeführt. Wir liefen lange durch Birkenau, etwa vier Stunden. Vom Lagertor zu den Krematorien und dann zurück auf die andere Seite des Lagers. Von diesem Weg erinnere ich mich nur an eine Sache.

Ich ging und dachte die ganze Zeit, dass es meinen Verstand übersteigt, dass meine Gefühle außerstande sind, diesen Ort zu erfassen, dass dies zu viel ist, dass ich mich hilflos fühle und nicht weiß, was ich tun soll. Und plötzlich kam mir der Gedanke: Vielleicht muss ich das ja gar nicht alles, sondern nur ein wenig verstehen. Und für dieses »ein wenig« Verantwortung übernehmen. Ich erinnere mich genau an den Ort, an dem mir diese Gedanken kamen. Es war auf dem Weg vom Krematorium V zu dem Gebäude, in dem sich heute die Kirche des Dorfes Brzezinka befindet.

Was bedeutet das, für dieses »ein wenig« Verantwortung übernehmen?

Mir wurde klar, dass es nicht darum ging, alles bis ins Letzte zu verstehen, und dass ich nicht in der Lage bin, die ganze Welt zu retten. Meine Antwort muss nicht so groß sein, wie das Böse in Auschwitz war. Sie entspricht meinen Möglichkeiten. Ich tue, was ich kann, und so viel, wie ich kann. In dem Moment damals spürte ich deutlich, dass das genügt und ich versuchen sollte, genau dies in die Tat umzusetzen.

Ich erinnere mich, dass dieser Gedanke mich sehr beruhigte. Rückblickend kann ich sagen, dass ich damals für mich die Entscheidung traf, mein Leben so zu leben, dass ich ehemaligen Häftlingen reinen Gewissens in die Augen schauen kann. Nicht irgendwelchen abstrakten, sondern konkreten Personen, denen ich auf meinem Weg begegne. Solchen wie Herrn Smoleń, der uns damals herumführte. Mehr muss ich nicht tun, aber so viel kann und sollte ich tun. Dadurch wird die Dimension meiner Verantwortung sehr konkret und menschlich.

Und in der Zukunft, Jahre später, führst du selbst Besuchergruppen durchs Lager.

Bevor es dazu kam, musste ich erst einen Kurs für Fremdenführer absolvieren. Zur selben Zeit – es war in den 1990er-Jahren – schrieb ich meine Doktorarbeit zu einem Thema, das mit Auschwitz verbunden ist. Folglich eignete ich mir viel Wissen an und dachte, ich sei gut vorbereitet auf die Prüfung zum Fremdenführer. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich musste noch viel dazulernen. Ich hatte furchtbare Angst vor dieser Prüfung.

Warum?

Weil ich mir vorstellte, die Mitglieder der Prüfungskommission würden die ehemaligen Häftlinge repräsentieren. Und nun sollte ich, ein Deutscher, vor ihnen stehen und über Auschwitz sprechen? Ich hatte das Gefühl, dass sie mich sehr genau mustern und prüfen würden, ob ich sie auch ernst nehme, ob ich wirklich wissen will, was sie erlebt haben und wie das Erlebte sie geprägt hat. Eine solche Angst hatte ich davor nur einmal in meinem Leben erlebt.

Wann?

1983, als ich zum Aachener Dom ging, um zum Priester geweiht zu werden. Damals war ich in einem seltsamen Zustand. Ich hatte das Gefühl, dem nicht würdig zu sein. Zum Glück war unser Bischof Klaus Hemmerle bei uns in der Sakristei, der meinen Gesichtsausdruck zu deuten wusste. Er trat zu mir und sagte: »Jetzt überlass alles dem Herrn.« Nach der Weihe fühlte ich einen großen Frieden in meinem Herzen.

Meine Doktorarbeit habe ich über den Lagerkommandanten Rudolf Höß geschrieben. Man hat mich häufig gefragt, warum ich mich ausgerechnet mit ihm beschäftigt habe. Die Auschwitz-Überlebende Halina Birenbaum fragte mich einmal, warum ich über diesen Verbrecher schreibe statt über sie zum Beispiel. Auch dies ließ meinen Stresspegel vor der erwähnten Prüfung steigen. Wenn du eine Doktorarbeit über einen Täter schreibst, fragst du dich zwangsläufig, was seine Opfer von dir denken. Daher die Befürchtung, sie könnten glauben, ich würde sie nicht ernst nehmen. Letzten Endes stellte sich heraus, dass die Kommission mir sehr wohlwollend gesinnt war. Am wichtigsten war jedoch das Gefühl, eine Schwelle überschritten zu haben und jetzt auf der anderen Seite zu stehen, dass von nun an die Welt der Häftlinge auch die meine war. Ich wurde in die »Auschwitz-Familie« aufgenommen, die für diesen Ort lebt. Ein wenig so, als hätte ich meine zweite Weihe empfangen, die den Sinn meines Lebens verändern wird. Es fällt mir schwer, dies in Worte zu fassen.

Was fühlst du heute als Priester, der seit über dreißig Jahren in Oświęcim lebt und Besuchern des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers als geistlicher Beistand zur Seite steht?

Ich führe nur selten durch das Lager und nur Gruppen, die mich darum bitten. Und auch dann ist es immer eine große Herausforderung für mich. Denn dabei versuche ich, in die dargestellte Wirklichkeit vollständig einzutauchen, mich in die Ereignisse im Lager hineinzuversetzen. Ich erzähle von konkreten Menschen. Auf eine Weise, dass trotz der schrecklichen Wahrheit, die hier berührt wird, auch der Aspekt der Hoffnung zum Ausdruck kommt. Gelegentlich kam es jedoch vor, dass ich bei einer Führung an den Punkt gelangte, an dem ich nicht mehr in der Lage war, fortzufahren. Ich konnte nicht sprechen, die Gefühle waren zu stark, ich war außerstande, meiner Ergriffenheit Herr zu werden. Ich wechselte dann rasch das Thema, weil ich wusste, dass jedes Mal, wenn ich im Lager anfange, darüber zu sprechen, diese Gefühle vermutlich wiederkehren würden.

Was waren das für Geschichten?

Ich will von drei Beispielen erzählen.

Maria Stromberger war eine österreichische Krankenschwester. Während des Krieges arbeitete sie in einem Krankenhaus in Königshütte (heute: Chorzów). Eines Tages wurden zwei Polen, die kurz zuvor aus Auschwitz entlassen worden waren, in ihr Krankenhaus eingeliefert. Von ihnen erfuhr sie von Auschwitz. Hinter vorgehaltener Hand, denn offen durfte nicht darüber gesprochen werden. Sie konnte nicht glauben, was sie hörte, und bat daraufhin um Versetzung nach Auschwitz, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort vor sich ging. Statt, wie erhofft, im Lager für die Häftlinge zuständig zu sein, wurde sie als Krankenschwester dem SS-Krankenrevier zugeteilt. Es befand sich unmittelbar neben dem Stammlager, zwischen Krematorium und Lager. Aus den Fenstern im ersten Stock sah sie auf der einen Seite das Krematorium, auf der anderen Seite Stacheldraht.

Überliefert sind Berichte von Häftlingen, die dort mit ihr arbeiteten. Natürlich nahmen sie sich anfangs vor ihr in Acht, doch mit der Zeit gewann sie ihr Vertrauen. Einer der ehemaligen Häftlinge erzählt, dass eines Tages während der Arbeit Schüsse zu hören waren, was ihn nicht sonderlich beschäftigte. Vermutlich war wieder jemand »in die Drähte gegangen«. Oft reagierten die Wachposten bereits auf das Loslaufen des Häftlings und erschossen ihn. In die Drähte zu laufen, bedeutete den sicheren Tod, eine häufige Form des Selbstmords unter den Gefangenen. Der Häftling ignorierte also im ersten Moment die Schüsse, doch plötzlich hörte er Lärm im Nebenzimmer. Als er den Raum betrat, sah er Schwester Maria bewusstlos auf dem Boden liegen.

Was war passiert?

Sie hatte einen Gefangenen in den Drähten hängen sehen, dies war für sie eine derart traumatische Erfahrung, dass sie einen Ohnmachtsanfall erlitt. Mehrere Tage lang hütete sie das Bett, als sie wieder zur Arbeit erschien, fing sie an, die Häftlinge heimlich über das Lager auszufragen. Sobald sie die Wahrheit kannte, begann sie, den Gefangenen zu helfen, und schloss sich der Widerstandsbewegung im Lager an. Ihre wohlwollende Haltung den Häftlingen gegenüber fiel auf, ein SS-Arzt rügte sie, »mit den Häftlingen zu menschlich umzugehen«.

Nach dem Krieg wurde sie in Österreich unter dem Vorwurf, an den Verbrechen im Lager beteiligt gewesen zu sein, verhaftet und interniert. Auf Intervention polnischer ehemaliger Häftlinge wurde sie jedoch von den Vorwürfen freigesprochen und aus der Haft entlassen. Sie sagte als Zeugin im Prozess gegen Rudolf Höß aus. Maria Stromberger war eine stille, mutige Heldin. Leider hat ihre Geschichte ein trauriges Ende. In Österreich wollte niemand von Auschwitz hören, dies alles war noch zu frisch, die Leute hatten Angst, darüber zu sprechen. Sie starb vereinsamt.

Einmal, ich stand vor dem ehemaligen SS-Krankenrevier, wollte ich von etwas Gutem erzählen, also begann ich, von ihr zu sprechen. Maria Stromberger hat einmal gesagt, dass sie nach dem Krieg nie wieder glücklich gewesen sei, weil sie »ihren Reichtum an Liebe in Auschwitz verströmt« habe. Ich war nicht in der Lage, diesen Satz ruhig auszusprechen. Und bin es auch heute nicht.

Und was war die zweite Situation, bei der dir die Stimme den Dienst verweigerte?

Das war vor den Krematorien in Birkenau, als ich beschrieb, was dort genau geschah, wenn neue Transporte ankamen. Einige der Neuankömmlinge wurden für arbeitstauglich befunden, die übrigen in die Gaskammern geschickt. Man sagte ihnen, ein Teil würde hierbleiben, während der Rest weiterreisen würde. Natürlich war das eine Lüge. Der Rest ging zu den »Duschen« und kam von dort nie zurück. Als ich von den Kindern und ihren Müttern zu erzählen begann, die ebenfalls dorthin geschickt wurden … (bricht mitten im Satz ab)

Was das Stammlager betrifft, erzähle ich häufig von Maximilian Kolbe. Für die Häftlinge war er jemand unglaublich Wichtiges.

Weshalb?

Zu einer Zeit, in der alle vom SS-Terror überwältigt waren und um das eigene Leben bangten, flößte ihnen das Bewusstsein, dass da jemand war, der nicht an sich selbst dachte und sein Leben für jemand anderen opferte, Hoffnung ein. Dieser Sieg der Liebe in einer Welt des Hasses wurde zu einem großen Symbol.

Ein ehemaliger Häftling erzählte mir, dass sie, wenn sie sich in der Nähe von Block 11 aufhielten, wussten, dass dort in den Zellen im Kellergeschoss die zum Tode Verurteilten eingeschlossen waren, unter ihnen auch Kolbe, und das gab ihnen das Gefühl der Würde zurück. Seine Haltung zeigte ihnen, dass es etwas Wichtigeres gab, als zu überleben. Etwas, was ihnen keiner nehmen konnte. Würde, Solidarität und die Fähigkeit zu lieben – darüber hatten die NS-Schergen keine Macht. Ein großer Mensch, der scheinbar alles verloren hat, sitzt in einer Kellerzelle. Während die SS-Männer, die glaubten, ihn besiegt zu haben, keineswegs groß sind und keinerlei Macht über ihn haben. Dieser Häftling sagte mir: »Dank Kolbe gingen wir mit aufrechtem Rückgrat durchs Lager. Wir wuchsen, während die SS-Männer etwas kleiner und weniger wichtiger wurden.« Beim Erzählen dieser Geschichte versagte mir auch einmal die Stimme, sodass ich nicht fortfahren konnte. Ich musste an die SS-Männer denken und empfand Groll und Trauer, dass sie innerlich so leer gewesen waren. Sie glaubten, sie hätten Macht, in Wirklichkeit aber hatten sie ihre Menschlichkeit verloren. In gewisser Weise fühlte ich mit ihnen, denn das waren »die Meinigen«.

Was meinst du mit »die Meinigen«?

Ich meine damit nicht, dass ich in meiner Verwandtschaft SS-Angehörige habe – das ist, soweit ich weiß, nicht der Fall –, sondern dass sie Deutsche waren. Ich bin schließlich auch Deutscher.

Das sind die drei Beispiele, die zeigen, was das Lager mit mir und in mir macht. Das klingt vielleicht etwas pathetisch, aber ich glaube, dass mir das alles hilft, die Wunden zu verstehen, um die es hier in einer tieferen Bedeutung geht. Sowohl seitens der ehemaligen Häftlinge und des jüdischen Volkes als auch seitens der Deutschen. Wenn ich jemandem begegne, der im Lager seinen Großvater oder seine Mutter verloren hat, aber auch wenn ich jemanden treffe, der SS-Angehörige zu seinen Vorfahren zählt, versuche ich mitzufühlen und hoffe, dass er oder sie bei der Abreise von hier etwas mitnimmt, was vielleicht hilft.

Und während ich dir diese Geschichten erzähle, fällt mir noch ein Bild ein.

Was für ein Bild?

Zu der Zeit, als ich mich intensiv mit Rudolf Höß’ Leben beschäftigte, schreckte ich einmal nachts hoch, ich setzte mich im Bett auf, und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich schließlich auch fähig bin zu töten. Dass das Böse leider etwas ist, zu dem jeder von uns fähig ist. Das entschuldigt in keiner Weise die Täter, aber wenn wir wollen, dass sich die Hölle von Auschwitz nie wiederholt, müssen wir uns daran erinnern, dass es keine einfache Einteilung in »wir, die Guten«, und »sie, die Bösen«, gibt. Jeder Mensch kann Gutes oder Böses tun. Das dürfen wir nie vergessen.

Das bedeutet, dass jeder von uns eine ungeheure Verantwortung trägt.

Zweites Gespräch:Seelsorger an der Schwelle zum Lager

»Wir leben in Zeiten, in denen Seine Gegenwart

eher diskreter Natur ist. Aber Er ist immer noch

bei uns. In jedem Menschen, in jeder Geste der

Liebe, in jeder Bereitschaft, den Bedürftigen

zu helfen.«

Unser Treffen findet anders als geplant statt. Wir waren eigentlich in Oświęcim verabredet, um dort miteinander zu sprechen. Leider ist das heute nicht möglich, da es erste Anzeichen gibt, dass die Pandemie Polen erreicht hat. Deshalb treffen wir uns heute auf Skype. Wie sieht die Situation im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim, dort, wo du arbeitest, momentan aus?

Wir haben derzeit keine Gäste. Wir warten auf sie, wissen aber nicht, wann wieder welche kommen können. Das Haus steht leer. Auch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ist geschlossen.

Du befindest dich also im Zwangsurlaub?

Nicht ganz. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Zeit überstehen können, woher wir die finanziellen Mittel nehmen, um die anfallenden Rechnungen zu bezahlen. Aber das sind technische Fragen. In erster Linie denke ich darüber nach, was getan werden kann, um die Menschen in dieser außergewöhnlich schwierigen Zeit zu unterstützen, wie man ihnen helfen kann.

Und wie unterstützt du sie?

Ich bin Seelsorger an der Schwelle von Auschwitz. Zurzeit kommt zwar niemand hierher, man kann aber schließlich auch online aktiv sein. Ich versuche, über unsere Website die Menschen zu erreichen. Außerdem feiere ich täglich die heilige Messe, für diejenigen, die sich dem Zentrum verbunden fühlen. Wir möchten, dass dieser Ort wenigstens durch das Gebet lebt.

Hattet ihr – du und deine Mitarbeiter – jemals mit einer ähnlichen Situation zu tun, dass ihr das Haus schließen musstet, völlig isoliert wart?

So leer war es wahrscheinlich nur zu Beginn unseres Bestehens. Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 1990er-Jahre alle Hochschulseelsorger in Deutschland anschrieb, um sie zu Fastenexerzitien einzuladen. Ich dachte, sie würden sofort positiv darauf reagieren und zu uns kommen. Denn wo könnte man besser die Zeit der Besinnung und Umkehr erleben als an der Schwelle von Auschwitz? Ich verschickte über hundert E-Mails. Ich erhielt nur eine einzige Antwort. Es war die Bitte eines Pfarrers, ihn nicht weiter mit solchem Spam zu belästigen.

Unsere Anfänge hier waren äußerst bescheiden, es kam auch schon einmal vor, dass wir eine Zeit lang keine Gäste hatten. Aber eine solche Krise wie jetzt, wo wir wegen der Pandemie möglicherweise für Monate geschlossen bleiben müssen, habe ich noch nicht erlebt.

Es kursieren Thesen, wonach die Pandemie eine Art göttliche Strafe ist für die Sünden der Menschheit und Gott uns damit auf die Probe stellen will. Hat es Sinn, einen solchen Zusammenhang herzustellen?

Mit solchen Aussagen muss man immer sehr vorsichtig sein, aber ich wage die Behauptung, dass dies in gewisser Weise eine biblische Prüfung sein könnte. Im Alten Testament finden wir mehrere Geschichten, in denen die Juden, die schwere Zeiten durchleben, den Schöpfer fragen: »Herr, siehst du nicht, wie man uns verfolgt, wie wir leiden?« Sie rufen zu ihm, flehen ihn an, sie aus der Bedrängnis zu befreien. Er aber scheint nicht zu reagieren. Warum ist das so? Die jüdischen Theologen haben immer geantwortet, dass schwierige und tragische Erfahrungen nicht die Schuld Gottes sind, sondern die Folge menschlichen Handelns.

Nicht Gott ist böse und voller Rachsucht, sondern wir als Menschheit haben etwas falsch gemacht und haben deshalb jetzt den Salat. Und das bedeutet, dass jedes Drama und jede Krise, die wir erleben, eine Aufforderung zur Umkehr ist.

Im Übrigen ist das nicht nur eine jüdische oder alttestamentliche Perspektive. Erinnerst du dich an die Anbetung des Allerheiligsten Sakraments und Predigt Papst Franzikus’ auf dem leeren Petersplatz?2

Natürlich, das war für mich einer der ergreifendsten Momente der Pandemie.

Genau davon hat der Papst gesprochen. Wir haben gedacht, wir würden einander nicht brauchen, wir würden auch Gott nicht brauchen. Heute aber stellt sich heraus, dass wir in einer Art Fiktion gelebt und uns auf dramatische Weise verloren haben. Wir benötigen eine radikale Veränderung, um eine gute Welt aufbauen zu können.

Es ist gut, wenn die Menschen darüber nachdenken, wo in alldem Gott ist. Gleichzeitig muss jedoch auch betont werden, dass er uns sicherlich nicht mit der Pandemie bestraft, genauso wenig, wie er für sie verantwortlich ist. Gott zieht seine Liebe zu uns nie zurück. Natürlich tauchen solche Theorien auf, aber sie haben nichts mit unserem Glauben gemein. Die Pandemie sollte vielmehr ein Anstoß sein, sich zu fragen, was wir in unserem Leben ändern können, um bessere Menschen zu sein und mehr füreinander zu sorgen. Ich glaube, das ist es, wozu uns Gott einlädt. Besinnen wir uns auf das, was am wichtigsten ist. Überlegen wir uns, wie wir auf diese tragische Situation mit Liebe antworten können.

Du sagst, wir sind aufgerufen, Gewissenserforschung zu betreiben, wir müssen etwas falsch gemacht haben. Was genau haben wir falsch gemacht?

Ich möchte noch einmal auf Franziskus’ Predigt verweisen. Wir haben geglaubt, wir könnten nach unseren eigenen Regeln leben und die Welt gestalten – im Mittelpunkt die Jagd nach Geld und Macht, ein schneller, konsumorientierter Lebensstil, jeder konzentriert sich nur auf sich selbst und vergisst, auf das zu hören, was tief in uns ist und uns zur Sinnsuche drängt. Am meisten hat mich bewegt, als der Papst sagte, wir seien der Meinung gewesen, wir würden in einer kranken Welt immer gesund bleiben – doch das ist nicht möglich. Intuitiv spüren wir, dass alles miteinander verbunden ist. Unser Planet ist krank, und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen kranken oft, wir haben die Armen, die Ausgegrenzten, die Solidarität zwischen Staaten und innerhalb der Gesellschaft vergessen.

Ich möchte noch einmal betonen, dass das nicht heißt, dass Gott uns diesen Virus geschickt hat, damit wir über all dies nachdenken. Die Welt befindet sich vielmehr in einem Zustand, der uns dazu zwingt. Die Wirklichkeit zerfällt vor unseren Augen, und wir müssen gründlich darüber nachdenken, was dringend geändert werden muss.

Die Pandemie hat auch andere wichtige Fragen aufgeworfen, die viele Menschen beschäftigen. Da die Kirche und das Christentum stets betonen, Gott sei gut, nahe und sorge sich um die Welt und seine Schöpfung, wie könne es dann sein, dass heute wegen eines Virus jede Menge unschuldiger Menschen sterben und Er nichts tut, um dieser Tragödie Einhalt zu gebieten? Wo ist in alldem Platz für die Erzählung von einem Gott, der bei uns ist? Was sollen wir einem Kind erzählen, das während der Pandemie seine Großeltern verloren hat, oder einem Erwachsenen, dessen Kind gestorben ist? Was sollen wir all denjenigen antworten, die nun leiden, weil sie ihre nächsten Angehörigen verloren haben?

Das sind Fragen, die sich nur schwer konkret beantworten lassen, wenn man keine persönliche Beziehung zum Fragenden hat. Ich versuche es mal so: Wir hatten bei uns einmal Rabbi Sacha Pecaric zu Gast, der einige Jahre in Krakau gelebt hat. Er sprach über das wichtigste jüdische Gebot, das auch von Jesus zitiert wird: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deiner Kraft und mit all deinem Verstand.« Der Rabbi wies darauf hin, dass mit all deiner Kraft und ganzer Seele nicht halb Ja, halb Nein bedeute. Entweder vertraue ich oder ich vertraue nicht. Er sagte dies im Zusammenhang mit Auschwitz und betonte, er verstehe zwar nicht, warum Gott ein derart schreckliches Verbrechen zugelassen habe, dies heiße aber nicht, dass es Gott nicht gebe oder dass er sich nicht um uns sorge. Gott ist immer bei uns, auch wenn sich Seine geheimnisvolle Gegenwart unserem Verständnis entzieht. In ebensolchen Momenten besteht die Notwendigkeit, ihm zu vertrauen.

Einem Kind, für das derlei Überlegungen vielleicht noch zu schwierig und abstrakt sind, würde ich ein wenig anders antworten: »Ich weiß nicht, warum Gott das zugelassen hat, aber ich glaube fest daran, dass er deine Eltern, die gestorben sind, liebt. Ich bin sicher, dass er sie in sein Herz schließt und bei sich aufnimmt. Bestimmt liebt er auch dich sehr und will dich trösten. Du bist jetzt traurig und weinst, und das ist auch gut so, denn manchmal muss man weinen. Aber er will nicht, dass du die Hoffnung und die Kraft zum Leben verlierst. Er ist bei dir, auch wenn du das jetzt nicht spürst.«

Es ist ungeheuer schwer, in solchen Momenten Gott unerschütterlich zu vertrauen.

Mein Vertrauen rührt von meinem Glauben her, der mir selbst in den schwierigsten Momenten hilft. Auf diese Weise erlebe ich es selbst, und deshalb traue ich mich, anderen davon zu erzählen. Mut machen mir auch die Lebenszeugnisse ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, von denen ich sehr viele kenne. Sie haben Entsetzliches erlebt, ihre Nächsten unter schrecklichen Umständen verloren, und dennoch wollen sie weiterleben und -lieben. Und sind tatsächlich voller Leben und Liebe. Sie ermutigen mich und alle anderen, es ihnen nachzutun. Wenn sie dazu fähig sind, dann bin ich versucht, den Menschen, die heute harte Zeiten durchleben, zuzurufen: »Vertraue darauf, dass es sich lohnt, zu leben und zu lieben. Auch wenn es manchmal nicht den Anschein hat.«

Erinnern wir uns an den ergreifenden Schrei Jesu am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Diese Szene stellt unsere schwierigsten Erfahrungen – unter anderem die, dass Gott weit weg ist und uns vergessen zu haben scheint – ins Zentrum unseres christlichen Glaubens. Wahrscheinlich wünschten wir uns, es sähe anders aus, Gott würde sofort antworten, aber dem ist nicht so.

Warum?