Die Zeugin - Klaus Kuhn - E-Book

Die Zeugin E-Book

Klaus Kuhn

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Beschreibung

Sie sind jung, und sie wollen leben! Zwei Freundinnen beschließen kurz vor ihrem 18. Geburtstag, die Sekte der Zeugen Jehovas zu verlassen. Sie müssen aufpassen, dass ihr Vorhaben nicht zu früh ruchbar wird. Und sie erleben, was alle Aussteiger und Ausgeschlossene erleben: Totale Ausgrenzung: Niemand darf sie mehr kennen. Die Tendenz der Sekte der Abschottung nach außen entfaltet gerade für diese Menschen ihre volle zerstörerische Wirkung. Nur durch engen Zusammenhalt gelingt es den beiden, ihr Leben auf eine neue Grundlage zu stellen. Sie haben dabei aber auch eine gehörige Portion Glück. Solchermaßen gestärkt können sie zum Gegenangriff auf diese Sekte, die dabei war, ihr Leben zu zerstören, übergehen und entfalten eine katastrophale Wirkung dabei. Und endlich können sie alles, wirklich alles nachholen, was ihnen die Sekte bezüglich Sexualität bisher verboten hat. Letztlich stellt dieser Roman auch eine Anleitung zum Ausstieg aus allen Sekten mit einem totalitären Anspruch dar.

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ÜBER DIESES BUCH

Sie sind jung, und sie sind in die Sekte der Zeugen Jehovas hinein geboren worden. Sie haben sich unter dem Druck dieser umstrittenen Glaubensgemeinschaft dem Ritual der Taufe unterzogen, sich aber zunehmend von der Sekte entfremdet. Als die beiden jungen Frauen gemeinsam beschließen, sie zu verlassen, müssen sie erkennen, dass das gar nicht so leicht geht: Diese Sekte setzt einen totalitären Anspruch konsequent durch. Sie kennen niemanden, der nicht Mitglied ist. Diese Sekte steht für Abschottung nach außen. Und sie droht jedem, der austritt oder ausgeschlossen wird mit totaler Ächtung. Die Folge: Ihnen droht komplette Vereinsamung, Verlust sämtlicher sozialer Kontakte. Sie verstehen: Austritt geht nur gemeinsam, und das auch nur, wenn sie fest zusammen halten. Als dann auch noch für beide eine Zwangsehe – natürlich mit einem Zeugen Jehovas – droht, müssen sie handeln. Sie entfliehen dem Würgegriff der Sekte, entdecken gemeinsam, wie schön es ist, auch und gerade die Fesseln, was Sexualität angeht, abzuwerfen. Und es gelingt ihnen, zum Gegenangriff überzugehen, in der Versammlung der Zeugen Jehovas eine handfeste Krise herbei zu führen. So bleiben sie am Ende die Sieger.

DER AUTOR

Klaus Kuhn, *1961 in Berlin, verheiratet, ein Sohn, lebt und arbeitet als freier Journalist in Wang bei Moosburg an der Isar (Kreis Freising). Er legt hier seinen zweiten echten Roman vor.

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ACH JA:

Muss man an dieser Stelle sagen: „Explizite Inhalte!“ Das Buch ist für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet.

Alle in diesem Buch zitierten Bibelstellen sind entnommen aus der Jehovas-Zeugen-amtlichen „Neue-Welt“-Übersetzung. Die Abweichungen von der Luther-Bibel oder der Einheitsübersetzung sind also gewollt und haben dokumentarischen Zweck.

Und noch etwas: Alle Personen und Orte in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Namensgleichheiten sind unbeabsichtigt.

Inhalt:

Mitten drin

Lügen, lügen

Beschluss: Gemeinsamer Ausstieg

Der Druck steigt

Ein Job!

Wohnung und Versuch eines Geschenks

Die Eskalation

Geburtstag feiern

Die erste große Sünde

Die Gewissheit

Erster Arbeitstag

Noch mehr Wahrzeiten

Böse Sünde: Wenn schon – denn schon

Die Friedenspfeife der Mutter

Das Geburtstagsgeschenk

Der Großangriff

MITTEN DRIN

Elena saß wie meist im vorderen Drittel im Königreichssaal, vorne redete der Älteste. Was, das interessierte sie schon seit Jahren nicht mehr wirklich. Sie hoffte vielmehr, dass das ganze bald wieder vorbei sein möge. Sie musste in die allsonntäglichen Zusammenkünfte, und auch an anderen Tagen, mitkommen, für sie die reinste Zeitverschwendung. Ihr Vater aber war schließlich Kreisaufseher, hatte 21 Versammlungen zu betreuen und war schon jemand in dieser Religionsgemeinschaft, in die sie hinein geboren worden war, und mit der sie je länger desto weniger anzufangen wusste. Bibelverse hatte sie in der Vergangenheit auswendig lernen müssen, ständig waren ihre Eltern an ihr dran, versuchten ihr, die Lehre der Zeugen Jehovas einzutrichtern. Schließlich musste sie mit 14 Jahren und damit mit Eintritt der Religionsmündigkeit letztlich schon so weit sein, dass sie willig die Prozedur der Taufe über sich ergehen ließ. Sie wurde dafür komplett unter Wasser getaucht. Sie bereute diesen Schritt längst, aber der Druck war auch zu groß gewesen. Wenn sie sich geweigert hätte, der Teufel wäre los gewesen. Ihr Vater war ja schon auf der Karriereleiter, war Ältester, stand vorn bei den Zusammenkünften im Königreichssaal. Wer nicht einmal die eigene Tochter im Griff hatte, der konnte unmöglich eine Versammlung leiten, geschweige denn, wie es jetzt eben der Fall ist, Kreisaufseher werden mit guten Chancen, weiter aufzusteigen in der Hierarchie. Jetzt war sie fast 18, ihre Mutter saß neben ihr, lauschte geradezu andächtig, was der da vorne erzählte. Von der modernen Musik hatte er es. Natürlich führen die Zeugen Jehovas keine „schwarzen Listen“, aber Musik mit sexualisierenden Texten oder auf andere Weise sündigen Inhalten und damit garantiert stark 75 Prozent aller Pop- und Rockmusik, das dürfe nicht sein. Da brauchte es auch keine schwarzen Listen. Die würden ja auch täglich länger werden. Tanzvergnügen? Ja, aber…. Und dann kam wieder das Gesabbel von wegen, dass die meisten heute nur in die Disco gehen, um einen Sex-Partner zu finden, und dass der gläubige Mensch doch bitte aufpassen solle. Selbstverständlich sollte es Tanz auch für die Mitglieder geben, aber dann bitte unter Aufsicht! Sie konnte das nicht mehr hören. Verbote und Bedenken, erhobene Zeigefinger und moralische Verurteilung wohin sie auch schaute, vor allem, wenn es um alles das ging, was auch nur im Entferntesten mit Sexualität zu tun hatte. „Mein Gott! Wenn der Kerl da vorne aufzählen würde, was erlaubt ist, der wäre in der halben Zeit fertig“, dachte Elena bei sich. Sie wusste, dass auch ihre Eltern Radio hörten, und da kam eben auch solche Musik, die der da vorne gerade verdammte. Sie wusste aber auch: Ihre Mutter werde wieder Kontrollfragen stellen, werde wissen wollen, ob sie auch ja alles verstanden habe, und bitte: Richtig verstanden! Sie beschloss, sich darauf zu konzentrieren und diesen Widerspruch anzusprechen. Das werde reichen. Auf der anderen Seite von ihr saß Phillipp. Wieso eigentlich immer der? Sie hatte ihn noch nie gemocht, aber irgendwie brachte es ihre Mutter immer fertig, dass sie zwischen ihr und diesem unsäglichen Typen zu sitzen kam. Seit fast zwei Jahren ging das schon so. Sie beschlich schon bald der Verdacht, dass sie und er irgendwie zusammen gebracht werden sollten. Gefühlt jeder vierte Satz von ihm war „Mein Vater ist Rechtsanwalt.“ Das stimmte sogar, aber was war er selber? Eine ziemliche Null, auf dem besten Weg, das Abi zu vergeigen. Sie hatte kein Abi machen dürfen. „Mädchen brauchen das nicht“, war das Kredo ihres Vaters, und so war die Hauptschule alles, was ihr zugestanden wurde. Stattdessen sollte sie lernen, einen Haushalt zu führen, zu kochen. Sie begriff immer mehr: Wenn sie da hängen bleibe, werde sich der Rest ihres Lebens um die berühmten drei „K‘s“ drehen: „Kinder, Küche, Kirche“, wobei letzteres in ihrem Fall durch „Königreichssaal“ zu ersetzen war. Wahrlich eine tolle Lebensperspektive! Sie bekam schon wieder mächtig schlechte Laune. Der da vorne sabbelte immer noch. Wenigstens hielt Phillipp sein dummes Mundwerk. Seine und ihre Eltern waren schon lange befreundet. „Familientreffen“ durften sein, aber als sie andeutete, ihren bevorstehenden 18. Geburtstag feiern zu wollen, hatte es wieder eine Predigt gegeben. Und was für eine! Predigen! Mein Gott! Immer wieder sollte sie lernen, zu predigen. Sie sollte also die „frohe Botschaft“ zu den Leuten bringen, möglichst neue Mitglieder werben für eine Religionsgemeinschaft, die sie selbst immer mehr als eine erlebte, die dabei war, ihr die Luft abzuschnüren. Sie werde nicht sehr überzeugend predigen, da war sie sich sicher. Sie sah sich mit genervter Mine um, und dabei sah sie plötzlich Simone, die weiter vorn saß, sich umgedreht hatte und sie fest ansah. Ernst schaute sie, fast traurig. Ihre Blicke trafen sich. „Simone! Verdammt, was will sie?“ Sie nickt ihr zu, als wollte sie sagen: „Ich hab‘ verstanden.“ Sie mochte Simone, die etwa so alt war wie sie, sogar sehr. Auf Jugendfreizeiten – natürlich nur für Mädchen und nur für Zeugen Jehovas – hatten sie sich angefreundet, hatten als 14-jährige unter der Dusche Größenvergleiche ihrer noch wachsenden Brüste angestellt. Mit ihr konnte sie wenigstens was anderes reden als bloß über die Bibel und das, was nach den geltenden Regeln der Sekte davon zu halten ist. Heimlich hatten sie sich Musik-Videos angeschaut, heimlich hatten sie Mädchen-Zeitschriften gemeinsam durchgeblättert. Alles das musste heimlich passieren. Als ihre Eltern mal nicht zu Hause waren war sie auch mal bei ihr gewesen. Da hatten sie sich einfach so mal ausgezogen und sich gegenseitig begutachtet, wie weit sie sich mit ihren Körpern denn schon entwickelt hätten. Sie fand das damals lustig, vor allem aber war es Protest. Simone hatte mal gemeint, die Pubertät sei für ihre Eltern schlimmer als für sie selbst gewesen. Bis zu fünf Stunden pro Woche die Schriften Jehovas studieren, das war mit Simone leichter zu ertragen, man konnte so tun als ob, konnte sich prächtig unterhalten. Missionieren musste sie noch nicht. Aber die Eltern! Zehn Stunden pro Woche! Ihr graute davor, ihre Zeit mit diesem blöden „Wachturm“, den sie selbst nicht einmal lesen mochte, an irgendwelchen Straßenecken herum zu stehen. Nach ihrem 18. Geburtstag könnte das kommen. Auch Simone hatte nicht aufs Gymnasium gedurft. Sie beschloss, sie heute noch zu besuchen. Besuche unter Mitgliedern durften schließlich sein, das war unverdächtig. Simone nickte ihr wieder zu und drehte sich dann wieder um. Elena wollte ihren Besuch bei Simone damit begründen, dass sie mit ihr noch einmal das Thema von heute durchgehen wolle. Simone habe angedeutet, Fragen zu haben. Garantiert würden ihre Eltern daraufhin ihren Besuch gutheißen, zumal Simones Eltern und ihre Eltern sich ebenfalls gut kennen. Und wenn Sie dieser Simone auch noch behilflich sein könne, das gerade gehörte zu verstehen, dann wäre das ja direkter Dienst an der Versammlung. Überhaupt: Man kennt sich sowieso untereinander. Das gab ein absolut dichtes Netz von sozialer Kontrolle. Kontakte nach außerhalb der Gemeinschaft waren mindestens kritisch zu bewerten, wenn nicht gar verboten. Ganz sicher verboten wäre, wenn sie plötzlich ertappt würde, wie sie mit einem Kerl rummacht, der nicht Mitglied ist. Sie hatte schon gelesen, dass das nicht erwünscht sei. Wenn sie dann auch noch aus einer Familie kommt, wo der Vater auf der Karriereleiter zum nächsten Sprung ansetzt, konnte sie das völlig vergessen. Sie werde also lügen müssen, sich mit Lügen ein klein wenig Freiraum verschaffen. Simone hatte den Eindruck gemacht, Hilfe zu brauchen. Die Versammlung ging zu Ende, man erhob sich und wie immer suchten die Mitglieder noch das Gespräch untereinander. „Braten im eigenen Saft“ nannte Elena das, suchte Simone in dem ganzen Haufen, fand sie schließlich. Es gelang ihr, sie ein wenig abseits zu lotsen. „Heute, sagen wir, halb fünf im Eiscafé? Ich hab das Gefühl, dass du reden willst.“ Elena flüsterte nur. Die ständige Kontrolle, die natürlich auch für Simone galt und mit zunehmenden Alter auch intensiver wurde, hatte sie von dem Plan, sie zu besuchen, abrücken lassen. Simone flüsterte zurück: „Danke! Guter Plan!“ Elena schaute, dass sie aus dem Gebäude raus kam. Bloß nicht diesem Phillipp wieder über den Weg laufen! Der Verdacht, dass dieser Widerling sich tatsächlich für sie interessieren könnte, hatte sie schon vor Monaten beschlichen. Es gelang ihr, dem allgemeinen Gewusel zu entkommen. Sie eilte nach Hause. Wenigstens jetzt, wo sie in ihrem Zimmer angekommen war, hatte sie etwas Ruhe, konnte sich Gedanken über Simone machen. Was könnte sie wollen? Elena beschloss, Theater zu spielen. Die Bibel ist immer griffbereit. Und die legte sie dann auch demonstrativ mitten auf ihren Tisch, dazu einen Block, einen Stift. Es kam, wie es kommen musste: Ihre Mutter erschien in ihrem Zimmer und wollte wissen, warum sie sich so schnell aus dem Staub gemacht habe. Man habe doch so gute Gespräche gehabt. „Simone hat Fragen zu den heutigen Themen gehabt. Ich treffe sie heute Nachmittag, aber da will ich vorbereitet sein“, log Elena. Die Mutter sah die mit etlichen Lesezeichen versehene Bibel auf dem Tisch und war deutlich friedlicher gestimmt. „Das ist gut, wenn du anderen auf den rechten Weg helfen willst. Aber jetzt essen wir erst mal.“ Sie war gedanklich schon weiter: Wer aussteigen will aus diesem Club, der muss sich vor dem Ältestenrat rechtfertigen, hatte sie von einer Aussteigerin heimlich im Internet gelesen. Den Teufel werde sie tun! Sie werde schriftlich ihren Austritt erklären, keine Begründung abliefern, und Ende. Schriftlich müsse schon deshalb sein, weil sie damals, mit 14 und damit religionsmündig, diese lausige Taufe hat mitmachen müssen, vorbereitende Gespräche mit den Ältesten, die diese Taufe schließlich genehmigen mussten. Etwas anderes, was sie von derselben Frau, die auch 20 Jahre nach dem Ausstieg lieber anonym bleiben wollte, gelesen hatte, machte ihr aber zu Schaffen: „Zeugen Jehovas müssen die Straßenseite wechseln, wenn sie ihr begegnen.“ Sie werde also verachtet werden, niemand werde sie mehr kennen. Und wenn man – Stand jetzt – nur Zeugen Jehovas kennt werde es garantiert einsam um einen. Ausstieg gehe also letztlich nur zu zweit. Simone? „Uff!“ Elena erschrak etwas über sich selbst. Dachte sie wirklich schon so konkret darüber nach, alles hinter sich zu lassen, zu riskieren, dass ihre eigenen Eltern sie nicht mehr kennen, weil ja Jehova über allem, wirklich allem, steht? Sie wusste ja nicht einmal, ob Simone am Ende auch schon so weit war. Sie hörte ihre Mutter in der Küche werkeln, machte die Tür auf und rief hinunter: „Brauchst du Hilfe?“ - „Nein, noch nicht, aber deck‘ bitte in etwa 20 Minuten den Tisch!“ - „Geht klar! Draußen oder drinnen? Ich bin für draußen.“ - „Draußen auf der Terrasse!“ - „Gut!“ Also noch 20 Minuten Zeit. Die wollten genutzt werden. Sie legte eine Liste an mit dem, was bei einem Ausstieg zu machen sei: „Job“ stand ganz oben, mit drei Ausrufezeichen. Und schon wieder musste sie sich ärgern. Den Lebensunterhalt bestreiten mit einem Job, bei dem man nur Hauptschulabschluss braucht, da ging es schon los. „Wohnung“ stand darunter. Mit Simone zusammen könnte das finanzierbar werden. Aber verdammt! Simone! Sie plante schon mit Simone. Das konnte sie doch gar nicht. So konnte das nicht gehen, ärgerte sie sich und stapfte jetzt lieber doch erst mal nach unten. Im Erdgeschoss angekommen raste sie aber noch mal nach oben. Der Zettel! Der durfte auf keinen Fall offen auf dem Tisch liegen. Hastig ließ sie ihn in einer Mappe verschwinden, bevor sie anfing, das Geschirr auf die Terrasse zu tragen. Beim Mittagessen war ihr Vater schon im Bilde, lobte sie für ihr Engagement für Simone. Uff! Jetzt konnte sie mit Simone reden. Sie musste nur sicherstellen, dass Simone kritische Fragen ihrer Eltern genauso beantwortet wie besprochen. Aber das werde sie hinkriegen. Natürlich wollten die Eltern wissen, warum sie sich mit Simone im Eiscafé treffen wollte. „Möööönsch, heute ist Sonntag und schönes Wetter. Da darf man sich doch mal was gönnen.“ - „Du weißt, was dein Vater von diesem Eiscafé, wo diese Musikvideos ständig laufen, die die Menschen auf unreine Gedanken bringen, hält. Ich finde das auch gar nicht gut. Wir müssen alles vermeiden, was dich vom rechten Weg abbringt.“ Elena verdrehte die Augen. „Es ist schönes Wetter, und wir sitzen draußen, wo der Fernseher nicht läuft, ok? Und wir haben ja heute gehört, was von Pop-Musik zu halten ist.“ - „Aha, ich sehe, du hast gut zugehört. Ich habe nämlich manchmal den Eindruck, dass das nicht immer der Fall ist.“ - „Und was hörst du jetzt für Sender in deinem Küchenradio?“ - „Darüber muss ich in der Tat noch nachdenken.“ Ihr Vater pflichtete bei. Es sei gut, wenn Elena auch in der eigenen Familie konstruktiv in diesem Sinne mitdenke, lobte er die Tochter. Elena wurde fast schwindelig. Wenn der wüsste, worüber sie so intensiv nachdenkt! Sie meldete brav, heute wegen Simone 30 Minuten intensives Bibelstudium betrieben zu haben und erhielt weiteres Lob. Ihr wurde klar: Mit einem Ausstieg würde sie ihre Eltern ins Mark treffen. Sie würden menschlich total enttäuscht sein. Aber das, begriff sie gleichzeitig, ist Teil der Gesamtstrategie der Sekte. Die Familien trafen sich zum Nachmittagscafé, und es kam natürlich Familie Kobitzki mit Phillipp. Elena musste gute Mine zum bösen Spiel machen und wusste: Sie werde sich enorm zusammenreißen müssen, zumal dieser Phillip – Welch ein Zufall! – wieder neben ihr platziert wurde. Und so ging das Braten im eigenen Saft wieder los. Ihre Mutter eröffnete bei Kaffee und Kuchen – immerhin konnte ihre Mutter großartig backen – die Unterhaltung mit Elenas Engagement für Simone, wissend, dass auch Kobitzkis eng mit Simones Familie befreundet waren. Manfred Kobitzki fand das großartig. Das sei Mission, definierte er. „Auch, wenn es in der eigenen Versammlung ist. Simone ist schwierig geworden, unsicher im Glauben. Da muss Mission sein. Elena dient damit unmittelbar und hilfreich in der Versammlung.“ Elena hörte genau hin. „Unsicher im Glauben!“ In dieser Unsicherheit, sollte sie tatsächlich bestehen, werde sie Simone nach Kräften bestärken, beschloss sie und spitzte weiter die Ohren. „Feind hört mit“, dachte sie bei sich. „Der Satan ist unter euch!“ Marianne Kobitzki ließ dann noch einen weiteren Hammer fallen: „Eigentlich wäre das ja die Aufgabe von Thorsten, Simone im Glauben zu festigen.“ Thorsten? Der? Elena musste sich enorm anstrengen, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr dämmerte jetzt nur, warum Simone sie so hilfesuchend angeschaut hatte. Sie war wenige Tage älter als sie, stand also noch näher vor dem 18. Geburtstag. Droht der Simone am Ende eine Heirat mit diesem Thorsten? Sie beschloss, sich ruhig zu verhalten, sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn ihr das zunehmend schwer fiel. Das waren ja heiße Nachrichten! Elenas Mutter pflichtete vorsichtig bei, meinte aber auch, dass es Elena gewesen sei, die den Missionsbedarf erkannt habe. Sie da jetzt raus zu ziehen sei vielleicht nicht gut, denn man solle doch die jungen Menschen motivieren zu missionieren. Das wiederum fand Manfred Kobitzki ein starkes Argument. Damit war Elenas Treffen mit Simone allseits abgesegnet, man wechselte das Thema und sprach lieber über die Pop-Musik. Elenas Vater fand, der Älteste hätte hier ruhig noch deutlicher werden können. Er erkenne einen klaren Trend hin zu immer sündigeren Texten. Elena musste fast lachen. Gut, dass ihr Vater ihre Playlist nicht kannte. Der wisse nicht einmal, was das sei, vermutete sie und war sicher, dass niemand in der Runde hier wusste, dass sie überhaupt eine hat. Und das war sicher gut so angesichts von Bands wie Umbra et Imago mit dem Stück „Kleine Schwester“ oder anderen Songs dieser moralischen Preisklasse. Aber ihr Vater schwadronierte schon wieder, ganz der Kreisaufseher. „Das Thema muss vertieft werden. Die Jugend braucht hier mehr Orientierung.“ Die aktuelle Debatte um den Ballermann-Klassiker, der angeblich von einer Bordellbetreiberin handele, gehe nicht weit genug, ereiferte er sich regelrecht. Dem Kreisaufseher in Glaubensdingen zu widersprechen ist nicht ratsam, und so kam es von mehreren Seiten: „Ja, Günter.“ So lief das immer. Elena kannte das Ritual schon, nur diesmal konnte sie sich mit dem Segen aller zurück ziehen, was sie dann auch mit einem freundlichen Lächeln in alle Richtungen tat, um jetzt umso dringender mit Simone zu reden. Auf dem Weg zum Eiscafé beschloss sie, erst mal Simone reden zu lassen. Die war überpünktlich, saß unter der Markise draußen und hatte das Kinn in die linke Hand gestützt, als Elena kam. „Scheiße!“ Das war Simones erstes Wort. Elena setzte sich erst mal, und dann bestellten beide einen Kaffee und ahnten, dass das nicht der letzte gewesen sein dürfte. „So. Jetzt von Anfang an: Was ist Scheiße?“ Simone sah Elena an: „Hast du gesehen, wer heute morgen mal wieder neben mir gesessen ist?“ – „Nee, hab’ ich nicht drauf geachtet. Aber ich habe den ganz bestimmten Verdacht, dass es Thorsten gewesen ist.“ – „Volltreffer! Und gestern hat sich dessen Mutter verplappert und was von einer bevorstehenden Hochzeit verzapft.“ – „Na super! Willkommen im Club. Was glaubst du denn wohl, warum ständig dieser unsägliche Phillipp neben mir sitzt?“ – „Ach du Scheiße!“ Simone lehnte sich zurück, schaute sich unsicher um. Dann sprach sie leiser weiter: „Ich kann den Kerl nicht nur nicht ausstehen.“ – „Und wieder: Willkommen im Club. Aber wieso sagst du „nicht nur“? Kapier’ ich nich…“ Simone holte tief Luft, griff wieder zu ihrer Kaffeetasse, sah auf den Boden, schwieg.“ Elena stellte sich darauf ein, dass jetzt ein Hammer fallen würde. Aber was für einer? Hatte ihre Freundin am Ende einen anderen Kerl? Das hätte sie garantiert längst erzählt, nicht überall natürlich, aber ihr. Simone griff wieder zu der Kaffeetasse, aber die war schon leer. „Ok“, kam es schließlich leise. „Ich will überhaupt keinen Kerl.“ Jetzt war es raus. Elena schnappte nach Luft. Ihre beste Freundin war lesbisch! Und sie war es eindeutig nicht. Sie wollte schon einen Mann bei sich haben, wenn sich denn mal der richtige finden lassen würde. „Uff!“ Mehr brachte sie erst mal nicht raus. Dann sah sie die Angst in Simones Augen. Es war panische Angst. Diese Angst wiederum machte Elena Angst, Angst davor, jetzt das falsche zu sagen. Und diese Gefahr war groß. Zugleich aber verlangte die Situation eine sofortige überzeugende Reaktion. Instinktiv griff sie zu Simones Hand, drückte sie, sah ihr in die Augen und bemerkte mit Schrecken, dass diese sich mit Tränen füllten. „Simone….“ Elena rang um Worte. Endlich fand sie diese, glaubte es zumindest, sie gefunden zu haben: „Du bist und bleibst meine beste Freundin.“ Sie beobachtete Simone genau, bemerkte eine gewisse Erleichterung und vermutete, auf dem richtigen Weg zu sein. „Coming out ist kein Zuckerschlecken, nicht wahr?“ Simone nickte. „Du bist die erste, bei der ich mich getraut habe, das zu sagen, dass ich auf Frauen stehe.“ Bei Elena ratterte das ganze Zeugen-Jehovas-Gesabbel schon wieder durch den Kopf: „Jeder Mensch kann sich ändern“, und „Jehova hat den Menschen als Mann und Frau erschaffen“, und so weiter. Quintessenz: Homosexuelle können nicht zu Jehova kommen. Das ist Ballast, der abzuwerfen ist auf dem Weg zu ihm. Und dieser Simone drohte nun eine Heirat unter dem Druck der Sekte. Thorsten werde natürlich ihren Körper fordern, werde sie schwängern. Sie wollte sich das alles gar nicht ausmalen. Aber sie musste sich jetzt gedanklich damit befassen. „Scheiße“ sagte jetzt auch sie.

LÜGEN, LÜGEN

Es half nichts: Simone musste raus aus diesem Gefängnis der Sekte. Aber Simone redete schon wieder: „Ich hab doch auch ein Recht, glücklich zu sein, auf meine Weise.“ Elena sah sie an: „Das Recht hast du, aber das musst du dir nehmen. Und der Preis ist der Ausstieg bei den Zeugen Jehovas, weil du dieses Glück nur außerhalb dieser komischen Organisation finden wirst.“ – „Ich weiß.“ – „Ach darum giltst du bereits als unsicherer Kantonist. Du glaubst gar nicht, wie glücklich alle waren, als ich denen was vorgelogen habe, dass ich versuchen wolle, dich im Glauben zu stärken.“ Simone musste jetzt direkt lächeln. „Dann werde ich jetzt auch mal lügen und sagen, dass ich ein sehr gutes und festigendes Gespräch mit dir hatte.“ – „Guter Plan! Darum wollte ich dich sowieso bitten. Aber was mach’ ich denn jetzt mit dir, meine Liebe? Ich bin echt ratlos.“ – Simone rang schon wieder mit sich, diesmal aber nicht so lange. Dann kam die Frage aller Fragen tatsächlich: „Du stehst nicht etwa auch auf Frauen?“ Elena musste erst mal Kaffee-Nachschub für beide bestellen. So war das also! Simone wollte sie nicht als beste Freundin, sondern als die Freundin zum lieb-haben, zusammen leben, heiraten, was ja neuerdings auch ging, und dann natürlich guten, intensiven, beglückenden Sex. Elena atmete tief durch, der Kaffee kam, und jetzt griff sie selbst nach der Tasse. „Meine liebe Simone“, sagte sie dann. „Ok, dann schnall’ dich mal an! Ja! Ich stehe auf Frauen. Ich finde Frauen große Klasse. Du glaubst gar nicht, wie gern ich gut gemachte Bilder von nackten Frauen anschaue. Es muss geil sein, die richtige auch mal intensiv dran zu lassen und selbst…. Na ja, du weißt schon. Der Blödsinn ist nur: Ich mag auch mal einen“ – sie sah sich intensiv um, ob jetzt auch ja niemand zuhört – „einen ordentlichen steinharten Schwanz drin haben von einem Kerl, der mich mal so richtig intensiv und ausdauernd ran nimmt. Muss natürlich der richtige sein. Dieser Phillipp ist es garantiert nicht. Ich will einen Kerl, weißt du, einen richtigen Kerl und keinen Milchbubi.“ Wie zur Bestätigung kam ein Biker vorgefahren, Mitglied im „MC Strokers“, wie die Kutte verriet. Es war so der Typ „gemütlicher Schrank“, der jetzt Richtung Eiscafé steuerte. Elena war direkt dankbar: „Siehst du den Biker da? Das ist für mich ein Kerl. Nur damit du weißt, was ich meine.“ Simone riss die Augen auf. „Uff! Ok, jo, das ist ein richtiger Mann.“ Das Eiscafé war fast voll. Der Typ bemerkte die interessierten Blicke der beiden jungen Frauen sehr schnell, lächelte freundlich herüber, als er sich setzte. „Ist was? Ihr schaut so interessiert.“ Elena lächelte zurück. „Klar ist was! Alles andere wäre jetzt gelogen. Ich hab’ meiner Freundin gerade erklärt, dass ich, wenn ich einen Kerl dran lasse, nur Kerls deiner Preisklasse bevorzuge und nicht irgendwelche Milchbubis.“ Sie sagte das laut, deutlich, und über mehrere Tische hinweg, so dass etliche Leute sich umdrehten und nicht schlecht staunten über so viel Offenheit. Der Kerl staunte jetzt aber auch. „Hey! Du redest ja nicht um den heißen Brei herum. So was mögen wir!“ Elena gefiel das Spiel plötzlich. „Starke Frauen brauchen starke Kerls, ok?“ Simone wurde es ganz anders: Vor ihren Augen und Ohren, in aller Öffentlichkeit in dem vollen Eiscafé machte Elena jetzt diesen Biker volle Lotte an! Und jetzt nahm dieser auch noch seinen Kaffeebecher und kam einfach zu den beiden Frauen herüber. „Wie heißt du? Das will ich jetzt wissen!“ Der Typ hatte eine dunkle sympathische Stimme. „Ich bin Elena, und das ist meine beste Freundin Simone. Aber sie ist, was Männer angeht, völlig anders drauf. Darum“ – und damit zwinkerte sie ihm zu – „kommen wir uns auch nicht ins Gehege.“ Sie zwinkerte auch Simone zu, deren Daumen nach oben wies. „Das hast du jetzt aber gut gesagt. Genau so ist das, auch wenn ich dich jetzt spontan in Ordnung finde.“ – „Ok, ich bin der Tobi“, stellte der Typ sich vor. „Und bei dir bin ich quasi draußen, auch wenn du mich ganz ok findest, richtig?“ Simone holte Luft. „Hey, hier geht es sprachlich echt zur Sache. Aber ok. Du willst es so direkt, du kriegst es so direkt: Genau so ist das.“ – „Voll in Ordnung! Geschmäcker sind verschieden auch bei Frauen, was Männer angeht. Und du hast eine respektvolle Art. Passt.“ Der Typ wandte sich Elena zu, sah ihr in die Augen. „So, Elena. Und ich sag’s jetzt mal so: Ihr beide seht verdammt gut aus. Und ich bin auch nur ein Mann, und Geschmäcker sind verschieden, und ich finde Elena auch die hübschere von euch beiden. Und ich mag Frauen, die klar sagen, was Sache ist. Tu’ ich nämlich auch, auch wenn das nicht immer gut ankommt. Elena war gespalten: Einerseits interessierte sie dieser Typ da wirklich, andererseits wollte sie mit Simone ihr Problem besprechen. Es war die Kirchturmuhr und das Schlagen derselben, die diesen Konflikt löste. „Scheiße! Viel zu spät! Gibt wieder Stress daheim!“ Elena zog die Augenbrauen hoch. „Au Mist! Ja! Ok, hau ab! Deine Zeche geht auf mich. Und wir sagen das daheim so wie besprochen?“ – „Ja, unbedingt! Danke für alles!“ Damit winkte Simone Tobi zu, gab Elena ein Bussi auf die Wange und machte, dass sie auf ihr Fahrrad kam. Elena war jetzt mit Tobi allein. „Das war jetzt keine Finte von Simone, uns allein zu lassen. Die steht ziemlich unter der Fuchtel der Eltern. Ich weiß das.“ Tobi nickte, lächelte freundlich. „Arme Frau! Verdammt noch mal, Eltern sollten auch loslassen können.“ Simone nickte. „Da hast du Recht, aber erzähl’ doch mal was von dir.“ Damit lehnte sie sich zurück, sah Tobi interessiert an, nahm sich ihren Kaffee. Auch Tobi lehnte sich zurück. „Was willst du denn wissen?“ Der Kerl spielte den Ball also zurück. Das konnte ja was werden. „Na, zum Beispiel, wie alt du bist, ob du von hier bist, was du beruflich machst, und so weiter. Ich will jetzt nicht glauben, dass du verheiratet bist und soundso viele Kinder hast und hier gerade eine Affäre anfängst.“ Tobi musste lachen. „Also, Elena, ich bin 21, bin auf der Meisterschule als Karosseriebauer, jau, und ich bin solo, das hast du ja jetzt hören wollen, hab’ schon kapiert. Und ich bin tatsächlich von hier. Meine Eltern haben den Autoverwertungsbetrieb am Stadtrand. „Ach, der mit den Abschleppwagen?“ – „Genau!“ – „Und Motorradfahren ist dein Hobby genau wie der MC?“ – „So ist das. Mein Bap ist der Chapter-Chief.“ –„Der was?“ – „Na, also der Vorsitzende.“ – „Ah, ich kenn’ doch die ganzen Ausdrücke nicht.“ – „Ist doch klar. Und was machst du?“ – Elena konnte nicht anders: Der Typ da, der wurde immer interessanter: Ein angehender Handwerksmeister also, bereit, den Betrieb der Eltern zu übernehmen. Der stellte schon was dar, anders als Phillipp, dieser Looser, der wahrscheinlich das Abi würde wiederholen müssen. „Ich bin fast 18, hab die Hauptschule, und dann haben meine Eltern mich keine Lehre machen lassen, weil sie meinen, ich heirate ja sowieso.“ Der Typ zog die Augenbrauen hoch. „Das ist aber Scheiße! Und doch bist du dermaßen selbstbewusst? Respekt! Und wenn du 18 bist sagst du „Arschlecken! Ich mach’ jetzt eine Berufsausbildung!“ Und dann bist du erst mal weg.“ – „Ist eine Option. Ehrlich. Aber mach’ das mal, von einem Lehrlingsgehalt eine Wohnung, und fressen willst du ja auch was.“ Tobi nickte. „Ist fast nicht drin. Und einen Kerl hast du nicht, denn ich will jetzt auch nicht glauben, dass du hier gerade anfängst, fremd zu gehen.“ Damit grinste er sie frech an. Jetzt musste von ihr das Geständnis kommen. Sie grinste genau so frech zurück. „Treffer!“ – „Ok, aber warum hat eine derart schöne Frau keinen Kerl? Du könntest an jedem Finger einen haben. Oder bist du dermaßen wählerisch, dass du selbst schuld bist, dass du noch keinen abgekriegt hast? Und dann musst du mir noch was erklären: Die Klamotten, die du trägst, die sind ja dermaßen – sagen wir mal – brav und bieder, geradezu langweilig. Du machst ja gar nichts aus dir!“ Elena musste lachen. „Ja, ich bin wählerisch, sonst hätte ich längst einen an der Backe, der jetzt gerade dabei ist, das Abitur zu vergeigen, und der noch dazu von einer körperlichen Preisklasse ist, dass… nee, jetzt wird’s fies.“ Tobi musste auch herzhaft lachen. „Lassen wir das! Aber jetzt mal im Ernst: Ich bin nicht freiwillig wieder solo, weißt du? Meine hat Schluss gemacht, will lieber einen, der sich die Hände nicht dreckig macht, der ganz regelmäßige Arbeitszeiten hat, und statt Blaumann Anzug und Krawatte trägt.“ Elena nickte. „Diese Sorte kenn’ ich. Aber gut! Dann will ich mal mit der ganzen Wahrheit raus gehen: Wenn ich mich jetzt näher für dich interessiere, dich mal in deinem Betrieb besuche, bei euch anfange zu arbeiten, wir uns weiter unterhalten, uns vielleicht einig werden, dann droht ein geradezu gigantischer Stress. Meine ganze Family ist nämlich bei den Zeugis, weißt du? Das erklärt auch meinen langweiligen Aufzug. Und ich stehe davor, aus diesem Sauladen auszusteigen, weil mir das einfach zu eng wird.“ Tobi riss die Augen auf. „Ach du Scheiße! Die mit dem Wachturm an der Straßenecke? Die nix tun, wenn andere arbeiten, weil sie – äh – missionieren müssen?“ – „Genau die!“ – „Hey, steig’ da aus! Da kriegt eine Frau wie du garantiert einen Vogel! Du bist doch viel zu stark als Frau.“ – „Genau darüber denke ich nach. Ich brauch’ einen Job, der mich ernährt. Meine Eltern werden mich hochkant rausschmeißen. Alles das steht dann an, ok? Einfach sagen: „Hey Leute, ab sofort bin ich nicht mehr dabei“, das reicht einfach nicht.“ Sie sah Tobi an, wie er jetzt grübelte. Dann sah er auf die Uhr. Ok, bei uns gibt’s gleich Abendessen. Er fischte eine Visitenkarte aus dem Motorradkombi. „Ruf bitte unbedingt morgen mal an, auch wegen Job.“ Elena lächelte. „Du kennst die Versprechen. Und dann passiert gar nichts. Aber du kannst dich hier wirklich darauf verlassen: Ich werde anrufen. Sobald ich irgendwie unbeobachtet bin morgen.“ Tobi bezahlte die ganze Zeche, bevor Elena protestieren konnte, entbot ihr den Ghettogruß, den sie mit entschlossenem Grinsen erwiderte, schwang sich auf seine Harley Davidson, und rauschte davon.

Elena machte sich auch auf dem Heimweg. Abendessen war jetzt eine gute Idee. Sie hatte Hunger. Und sie war sich sicher: Jetzt werde sie ganz vorsichtig agieren müssen. Klar: Der Typ war interessant. Mehr aber erst mal auch nicht. Erst mal. Und er könnte eine Arbeit für sie haben. Damit war sie weiter als Simone, obwohl die den weitaus größeren Druck hatte. Sie musste unbedingt das Gespräch mit Simone fortsetzen. Zugleich aber spürte sie instinktiv: Die Entscheidung, einen Weg heraus aus der Sekte zu suchen, war gefallen. Der heutige Sonntag war also wichtig gewesen. Beim Abendessen wollten natürlich die Eltern wissen, wie das Gespräch mit Simone verlaufen ist. Sie hielt sich an die Abmachungen und log: „Ich fand’s sehr gut. Ich denke, ich habe bei Simone einige Zweifel ausräumen können. Jedenfalls ist sie sehr viel fröhlicher wieder heim gefahren.“ Ihr Vater klopfte ihr auf die Schulter. „Deine erste erfolgversprechende Mission! Ich bin stolz auf dich!“ Da war es wieder, dieses in der Fachliteratur „Love Bombing“ genannte Verhalten. „Wir haben uns alle lieb, wir halten zusammen, wir trotzen gemeinsam der bösen Welt da draußen.“ Wie sie das hasste! Aber da kam es auch noch von den eigenen Eltern. Aber sie hatte schon kapiert: Erst kam Jehova, dann kam ganz lange nichts, und dann – vielleicht – die eigene Tochter. Sie half ihrer Mutter noch beim Abwasch und verabschiedete sich dann Richtung Bett. Sie war zwar noch lange nicht bettreif, aber sie hatte auch keine Lust mehr, sich unten bei den Eltern aufzuhalten. Sie konnte sich zurück ziehen, saß wieder über der To-do- Liste für den Ausstieg und strengte ihr Gehirn an: „Krankenversicherung“ schrieb sie auf den Zettel. „Einwohnermeldeamt“, kam dazu. „Post-Nachsendeauftrag“, und dann: „Klamotten!“ Das Ausrufezeichen musste sein. Diese langweiligen biederen Sachen, die sie tragen musste, die mussten weg. Tobi hatte einfach Recht. Die Liste nahm Ausmaße an. Die Visitenkarte versteckte sie in der Mappe, zusammen mit der Liste, bevor sie dann doch schlafen ging. Sie zog die Decke über sich, knipste das Licht aus, und dachte an Simone. Dabei wanderte ihre rechte Hand an ihrem Körper hinunter bis zwischen die Beine. Sie liebte ihren Körper, genoss die aufsteigenden Gefühle, und stellte sich jetzt Simone vor. Das wäre jetzt eigentlich ihr Job. Da waren sie also, die gefürchteten „unreinen Gedanken“, die bei Selbstbefriedigung angeblich entstehen. Aber sie wollte diese Gedanken! Und was daran „unrein“ sein sollte hatte ihr noch niemand erklären wollen oder können. Also! Ausdauernd kraulte sie den dichten Busch, den sie hatte, ließ ihre geübten Finger um die Klitti kreisen, und genoss einfach ihren eigenen schönen Körper. „Verdammt noch mal! Wenn Jehova das nicht gewollt hätte, dass Frauen es sich gemütlich und genüsslich selbst machen, dann hätte er eben keine Klitti verbauen dürfen am weiblichen Körper. Selbst schuld!“ So dachte sie und ließ ihre rechte Hand weiter arbeiten, bis sie am Höhepunkt angekommen war, sich auf die Seite drehte, die Hand zwischen den Beinen ließ, und entspannt einschlief.

Der Montag begann früh: Elenas Vater musste ins Büro. Er war Versicherungskaufmann und gut im Geschäft. Ihre Mutter wollte noch einiges einkaufen. Zeit für Elena, mit Tobi zu telefonieren. Sie vermied aber das Telefon daheim. Die Wiederwahltaste war ihr zu verräterisch.

BESCHLUSS: GEMEINSAMER AUSSTIEG

Sie rief lieber erst mal Simone an. Die war auch daheim, und sie war auch allein. „Wie geht es dir, meine Liebe? Ich wollte ja noch länger mit dir reden gestern. Hast du Ärger gekriegt?“ – „So gerade nicht. Nee, mir geht es besser. Du warst so lieb gestern.“ – „Hab viel an dich denken müssen.“ – „Ich auch an dich, wir müssen unbedingt weiter reden.“ – „Ja, das müssen wir. Und ich sag’ dir jetzt mal, wohin bei mir die Reise geht: Ich bin entschlossen, diesen Laden zu verlassen. Denk bitte mal darüber nach, ob wir das zusammen tun sollen. Wenn wir zu zweit sind geht es leichter.“ – „Darüber denke ich nach, aber die Zeit droht mir davon zu laufen, fürchte ich.“ – „Dann müssen wir umso dringender weiter reden! Pass auf: Heute, sagen wir, um vier Uhr Nachmittags auf der Bank beim Friedhof, von wo aus man den Kirchturm sieht? Da ist nix los, da sieht keiner, dass wir die Köpfe zusammen stecken.“ – „Klasse! So machen wir das!“ Dann schwang Elena sich aufs Fahrrad. Der Betrieb von Tobi war ja nicht weit weg. Das war perfekt: Gerade mal fünf Minuten brauchte sie, und dann stand sie vor dem mächtigen Tor. Sie ging einfach hindurch. An einer Tür stand „Büro“. Da klopfte sie einfach und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, hinein. Vor ihr saß eine junge Frau und wollte wissen, was sie wolle. „Ist Tobi da?“ – „Ja, der ist draußen, aber da darf nicht jeder hin. Unfallgefahr, weißt du?“ – „Oh, wusste ich nicht.“ – „Woher auch? Warte, wir haben Betriebsfunk!“ Es dauerte keine zwei Minuten, da stand Tobi vor ihr. Jetzt eben im beschriebenen Blaumann, dem man ansah, dass mit Öl gearbeitet wird, und er lächelte sie an. „Du, das ist ja toll, dass du selbst gleich vorbei kommst.“ – „Ich wollte nicht telefonieren. Anrufliste, du weißt schon. Wollte fragen, wann wir unser Gespräch fortsetzen können, auch wegen Job vielleicht. Jetzt wirst du Stress haben.“ Tobi musste nachdenken. „Für dich brauch’ ich Zeit“, murmelte er. Dann sagte er: „Du, es ist doch am Donnerstag Feiertag. Und die Ausfahrt mit dem Club hat abgesagt werden müssen. Komm doch einfach, sagen wir, um zwei Uhr Nachmittags, und dann kann ich auch dir den Betrieb zeigen. Was Job angeht konnte ich noch nichts Konkretes raus bringen, aber bis dahin vielleicht.“ – „Guter Plan! Bin schon wieder weg und lass dich arbeiten!“ Jetzt war sie schneller mit dem Ghetto-Gruß, Tobi erwiderte den kräftig, und Elena rauschte, der jungen Frau ein Lächeln schenkend, zur Tür wieder raus. Alles angeleiert, alles aufs Gleis gesetzt! Sie war zufrieden mit sich. Und dieser Tobi, der sah im Blaumann echt gut aus: Ein Handwerker, der hart arbeitet. Sie begann, die Frau, die ihn verlassen hatte, zu verachten und hoffte, ihr nicht zu begegnen. Jetzt war Montag. Bis Donnerstag war das also noch eine Weile hin, und das ärgerte sie fast schon. Sie ertappte sich selbst bei dem Gedanken, dass sie Tobi schon früher gern wieder gesehen hätte. Aber das ging nun mal jetzt nicht. Sie radelte wieder heim, stellte fest, dass ihre Mutter noch nicht wieder da war, und baute schnell wieder alles auf, dass es wie Bibelstudium aussah. Notizen dazu hatte sie noch genügend aus früheren Jahren. Die breitete sie teilweise auf dem Tisch aus, betrachtete zufrieden dieses Werk, und genau in dem Augenblick hörte sie das Auto vorfahren. Sie half, die Einkäufe ins Haus zu schleppen.

Sie schaffte es, pünktlich am Treffpunkt zu sein. Ihre Hoffnung, mit Simone ganz allein zu sein, wurde ebenfalls erfüllt. Mitgebracht hatte sie die Liste dessen, was zu tun war. Auch Simone war fast pünktlich. Erst mal drückte sie ihre Freundin fest an sich, hatte das Gefühl, dass das nötig sei, musste aber auch zugeben, dass sie Simones Nähe und Wärme genoss. Aber dann wollte sie die Initiative ergreifen: „So! Wo waren wir stehen geblieben gestern?“ Simone musste grübeln. „Dass du bi bist ist jetzt klar“, sagte sie. „Und der Kerl, der da gekommen ist, der hat dich ja sofort voll interessiert. Brutal, wie du den angedremmelt hast!“ Elena musste lachen. „Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, aber es war echt von Erfolg. Der Typ interessiert sich auch für mich. Am Donnerstag könnte ich schon einen Job in seiner Firma haben. Zumindest schließt der das nicht aus, will das nach Möglichkeit klar kriegen, ob oder ob nicht.“ Sie wurde jetzt aber sehr ernst: „Damit bin ich weiter als du. Das kann so nicht bleiben. Du musst raus aus dieser Sekte, ich auch. Du brauchst einen Job, der dich ernährt, ich auch. Wir brauchen eine Wohnung, weil unsere Eltern uns garantiert hochkant rausschmeißen.“ Mit diesen Worten zog sie ihren schlauen Zettel heraus. „Und weiter: Krankenversicherung, Post-Nachsendeauftrag, endlich gescheite Klamotten, Einwohner-Meldeamt!“ Simone wurde schwindelig, aber Elena redete noch weiter: „Und das muss alles verdammt schnell passieren. Wir werden beide demnächst 18. Ich hab’ ein verdammt mieses Gefühl, was diesen unsäglichen Phillipp angeht und auch, was diesen Thorsten betrifft. Simone! Wir haben verdammten Druck, kapiert? Und was deine intimen