Die Zukunft der Demokratie - Prof. Dr. Herfried Münkler - E-Book

Die Zukunft der Demokratie E-Book

Prof. Dr. Herfried Münkler

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Beschreibung

Demokratie und Rechtsstaat sind bedroht: durch Autokraten wie Putin von außen, die fürchten, auch für sie könnte das Streben der Bevölkerung nach politischer Selbstbestimmung gefährlich werden; durch Autokraten im Inneren, die auf einer Welle populistischer Erregung ins Amt kommen und den Rechtsstaat aushöhlen; durch eine lethargische und politisch gleichgültige Bürgerschaft, die zwar seit längerem in einer Demokratie angelangt ist, sich nun aber an dieser langweilt und nicht mehr engagiert. Die Welle der Demokratisierung, die 1989 losgebrochen ist, ist verebbt. Inzwischen gibt es weltweit wieder mehr autokratische Regime als Demokratien. Wohin steuern wir, und können wir die Zukunft der Demokratie lenken? Erhellend wie präzise analysiert Herfried Münkler die Bedrohungen der Demokratie, um daraus Reformvorschläge und Lösungsstrategien für ihre Zukunft zu entwickeln.

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Herfried Münkler

Die Zukunftder Demokratie

Aus der Reihe »Auf dem Punkt«Herausgegeben von Hannes Androsch

Vorwort des Herausgebers

Vorbemerkung

1Wie es um die Demokratie bestellt ist

2Warum und seit wann die Demokratie in die Defensive geraten ist

3Worin die Gefährdungen und Bedrohungen der Demokratie bestehen

4Was die Demokratie braucht: Kompetente und engagierte Bürgerinnen und Bürger

Literatur

Endnoten

Der Autor

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Unsere Welt befindet sich in tiefgreifendem, rasantem Wandel. Der Umbruch der Gesellschaft mit ihrer zunehmenden Komplexität und der Umbruch politischer Ordnungen führen zu neuer Unübersichtlichkeit, welche wachsende Verunsicherung erzeugt.

Um dies abzuwenden, bedarf es Orientierung und zukunftsfähiger Perspektiven. Angesichts von Halbwahrheiten und Schlagworten in alten und neuen Medien ist es notwendig, Relevantes und Irrelevantes, Sinn und Unsinn zu unterscheiden. Und es wird fundiertes Wissen über die großen Themen der Gegenwart benötigt, um durch die Flut von Daten, Halbwahrheiten und Fake News navigieren zu können und sich zurechtzufinden. Aus diesem Grund nehmen führende Intellektuelle, Expertinnen und Experten in der Reihe Auf dem Punkt zu den großen Fragen unserer Zeit Stellung.

Die Menschheitsgeschichte ist geprägt von Unterwerfung, Unterjochung und Verknechtung in autokratischen Systemen. Demokratie hingegen ist eine jüngere Entwicklung, zumal in der Form, in der wir sie heute verstehen. Abraham Lincoln formulierte im Jahr 1863 den Wunsch, »dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge«. Diese Regierungsform ist Ausdruck einer Entwicklung, die ihre Wurzeln im Humanismus und in der Aufklärung hat. Sie hat Ausprägung in der amerikanischen Unabhängigkeitsregierung und der französischen Revolution gefunden. Winston Churchill nannte die Demokratie in einer Rede 1947 »die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind«.

Demokratien sind fragil und immer wieder gefährdet, sehr leicht sterben sie einen stillen Tod in Dunkelheit. Die Zunahme autokratischer Regime zeigt dies deutlich. Herfried Münkler führt uns hier kenntnisreich durch die Geschichte der Entwicklung der Demokratie, zeigt ihre zunehmende Gefährdung im postfaktualen Zeitalter auf und eröffnet uns den Blick auf das, was zu tun ist, um Freiheit und Rechtsstaatlichkeit unter demokratischen Bedingungen zu gestalten und damit zu erhalten.

Dr. Hannes Androsch

Vorbemerkung

Die Demokratie der Zukunft wird eine andere sein als die Demokratie der Gegenwart. Bliebe sie dieselbe, so hätte die Demokratie keine Zukunft. Sie muss vielmehr durch eine Reihe von Veränderungen zukunftsfähig gemacht werden, um Bedrohungen und Herausforderungen gewachsen zu sein, wie sie bereits jetzt erkennbar sind. Es sind Bedrohungen von außen, die im Zuge einer sich dramatisch verändernden Weltordnung auf die Demokratien zukommen, unter anderem in Form einer hybriden Kriegsführung, mit der die russische Führung seit Jahren die europäischen Demokratien zu destabilisieren sucht. Es sind aber ebenso Bedrohungen von innen – einerseits meine ich damit eine wachsende Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber der bürgerschaftlichen Teilnahme an der Politik, andererseits eine offen zur Schau gestellten Feindseligkeit gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat vonseiten derjenigen, die meinen, eine Demokratie gebe es nur dann, wenn ihr eigener Wille gelte und durchgesetzt werde. Weil das jedoch nicht der Fall ist und die liberale Demokratie eine Reihe von rechtlichen Beschränkungen des Volkswillens aufweist, erklären diese Menschen, die bestehende Ordnung sei überhaupt keine Demokratie und eine Demokratie habe man in Europa schon lange nicht mehr.

Gegen diesen doppelten Angriff muss sich die Demokratie verteidigen können, aber das hat Voraussetzungen, die zurzeit nicht oder nur teilweise gegeben sind. Dabei geht es weniger um rechtliche Möglichkeiten und institutionelle Arrangements als um den entschiedenen Willen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die demokratische Ordnung gegen ihre Feinde verteidigen zu wollen. Demgemäß steht die Gestalt engagierter Bürgerinnen und Bürger im Zentrum dieses Essays. An ihnen, ihrer Bereitschaft zum Engagement, ihrer Sachkompetenz und ihrer politischen Urteilskraft, entscheidet sich die Zukunft der Demokratie. Die zahllosen Herausforderungen, die sich bereits jetzt stellen und die in Zukunft noch bedrängender werden dürften, von der Resilienz gegenüber den sich mit großer Wahrscheinlichkeit häufenden Pandemien bis zur Begrenzung des Klimawandels und des Artensterbens, von der Bekämpfung des Hungers im globalen Süden bis zu den Kriegen an den Rändern Europas, werden sich in demokratischer Form nur bearbeiten lassen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes aus Bürgerinnen und Bürgern besteht, die sich den bürgerschaftlichen Aufgaben auch stellen. Das heißt: Wenn die Demokratie als politische Ordnung so attraktiv ist, dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Willen hat, nicht nur qua Personaldokumente, sondern im politikpartizipativen Sinn Bürgerin und Bürger zu sein. Die Demokratie der Zukunft ist auf das Vorhandensein möglichst vieler engagierter, sachlich kompetenter und urteilsfähiger Menschen angewiesen – oder aber sie hat keine Zukunft.

An den engagierten

Bürgerinnen

und Bürgern,

ihrer Bereitschaft

zum Engagement,

ihrer Sachkompetenz

und ihrer politischen

Urteilskraft,

entscheidet sich

die Zukunft

der Demokratie.

1 Wie es um die Demokratie bestellt ist

Die Zuversicht der 1990er Jahre, wonach der Demokratie die politische Zukunft gehöre und nur noch einige wenige Länder ihrer Demokratisierung Widerstand leisteten, ist schon seit längerem verflogen.

Dass die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist, dass ihr Gefahr von innen heraus droht, ist eine Beobachtung der 2010er Jahre, die eng mit dem Aufkommen populistischer Bewegungen verbunden ist. Größere Teile der Bürgerschaft haben sich von der Demokratie abgewandt, entweder weil sie an der politischen Teilhabe – dem Unterscheidungsmerkmal der Demokratie gegenüber anderen Regierungsformen – desinteressiert sind oder gar behaupten, die bestehende Demokratie sei überhaupt keine »Herrschaft des Volkes«, wie der Name es eigentlich festlegt, sondern eine Oligarchie, in der einige wenige das Sagen hätten und »das Volk« belogen und betrogen werde.

Dass die Demokratie akut von außen bedroht ist, dass sie in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf mit autoritär-technokratischen Systemen (etwa China) oder autoritär-autokratischen Regimen (Russland und weiteren) steht und sich dabei eher in der Defensive als in der Offensive befindet, ist eine Erkenntnis jüngerer Zeit. Diese Dynamik zeigte sich vor allem in den 2020er Jahren, seitdem China nicht mehr nur als Absatzmarkt für eigene Produkte und Lieferant billiger Waren, sondern als systemischer Konkurrent wahrgenommen wird und Russland als aggressiver Widerpart der demokratischen Ordnung auftritt, der seine Nachbarn mit militärischer Gewalt zu überziehen bereit ist – zumal dann, wenn es sich um Länder mit demokratischer Ordnung handelt. Sicherlich kann man sagen, es sei eher ein Zeichen demokratischer Stärke als Schwäche, wenn sich die autokratische Führung im Kreml durch die Konsolidierung von Demokratien in ihrer Umgebung bedroht fühlt, doch wenn sie die demokratischen Pflänzchen in ihrer Nachbarschaft ausreißt, trägt die russische Politik – statistisch betrachtet – zum globalen Rückgang der Demokratie, zur »demokratischen Regression« bei.1

Der demokratische Rechtsstaat ist in den 2020er Jahren also von zwei Seiten her bedroht: von außen und von innen, wobei sich die Gefahr von außen in unterschiedlicher Form manifestiert: durch das drohende und gewaltsame Agieren Russlands und durch die leise, aber raumgreifende Ausweitung der chinesischen Einflusszonen.

Bedrohung von außen: Russland und China

Nun wird man schwerlich behaupten können, Putins brutaler Überfall auf die Ukraine und die Spur der Verwüstung, die er dabei hinterlassen hat, habe zur gesteigerten Attraktivität autoritär-autokratischer Systeme in West- und Mitteleuropa beigetragen. Im Gegenteil: Zumindest kurzfristig hat der Ukraine-Krieg dazu geführt, dass die vordem zutiefst gespaltene Europäische Union sowie die an der Frage nach ihrem Sinn und Zweck laborierende NATO wieder zu leidlicher Geschlossenheit zurückgefunden haben und das Bewusstsein vom Wert einer freiheitlichen Ordnung in großen Teilen der europäischen Bevölkerung einen neuen Aufschwung erhalten hat. Andererseits hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aber auch die dramatische Verwundbarkeit des demokratischen Europa offengelegt. Erstens im Hinblick auf die dominierende Vorstellung, wonach die Ära der militärischen Macht zu Ende sei und künftig wirtschaftliche Macht und kulturell-zivilisatorische Attraktivität die Hauptrolle spielen würden.2 Zweitens mit Blick auf die ausgeprägte Sorglosigkeit, die sich gerade in Demokratien hinsichtlich der unterstellten Friedfertigkeit autoritär-autokratischer Akteure breitgemacht hat, verbunden mit einem starken Widerwillen, alles, was dieser Annahme widerspricht, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Erst mit dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde in der breiten Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass Putins Russland schon seit Langem immer wieder zum Mittel militärischer Gewalt gegriffen hat: vom Zweiten Tschetschenienkrieg und den Ruinen Grosnys über den Krieg gegen Georgien im Jahre 2008 und die Annexion der Krim sowie die militärische Unterstützung der Separatisten im Donbas in 2014, sodann die massive Intervention in den syrischen Bürgerkrieg seit dem Jahre 2015 bis hin zum Einsatz der Söldnereinheit »Gruppe Wagner« in den innergesellschaftlichen Kriegen Nordafrikas.3

Die Gründe für das Ignorieren der militärisch aggressiven Politik Russlands im Westen, insbesondere in Europa, waren vielfältiger Art; beginnend bei einem forcierten Desinteresse an außen- und sicherheitspolitischen Fragen, wie es für Demokratien durchaus charakteristisch ist, über den Einwand, man könne Putin nicht zum Vorwurf machen, was der »Westen« selber tue – womit man westliche Militärinterventionen von Bosnien über den Irak bis nach Afghanistan meinte –, bis hin zu der Behauptung, Russlands militärisches Handeln sei auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion begrenzt und darum nicht eigentlich bedrohlich, sondern nur an der Wiederherstellung des früheren Herrschaftsraums der Zaren oder Sowjets interessiert – womit dem aggressiven Auftreten Russlands eine gewisse Legitimität zugebilligt wurde. Seit der tiefgreifenden Zäsur vom 24. Februar 2022 – dem russischen Überfall auf die Ukraine – kann man dies grundlegend anders deuten: Die Interventionen des »Westens« waren entweder, wie die in Afghanistan, UN-mandatiert oder sie dienten, wie die in Bosnien und im Kosovo, der Beendigung eines Bürgerkrieges – der Irakkrieg der USA und einiger Verbündeter ist hier die große Ausnahme –, während sich derlei von Putins Kriegen schwerlich sagen lässt: Diese dienten und dienen der Aufrechterhaltung oder Ausweitung russischer Einflusszonen und haben insofern eine stark imperialistische Dimension, die sich hinter der Behauptung verbirgt, man agiere lediglich so wie die USA und deren Verbündete. Dass die westlichen Interventionen, jedenfalls überwiegend, der Verhinderung oder Beendigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder der Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten dienten, geriet dabei ebenso in den Hintergrund wie der Umstand, dass die russischen Kriege gegen Demokratien geführt wurden, die dem Herrschaftswillen Putins im Weg standen – und dies gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung in den angegriffenen Staaten. Indem man das russische und das westliche Vorgehen gleichsetzte, entledigte man sich der Herausforderung, für die Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie in aller Welt Partei ergreifen zu müssen. Man versteckte sich hinter den Beschlüssen oder Nicht-Beschlüssen des UN-Weltsicherheitsrats und tat so, als sei man ein neutraler Zuschauer des Weltgeschehens, für den das Veto einer autoritär-autokratischen Macht politisch und moralisch dasselbe Gewicht hat wie die lange beratenen und mühsam austarierten Beschlussvorlagen der demokratischen Staaten.

Zu dem für Demokratien charakteristischen Desinteresse an außen- und sicherheitspolitischen Fragen gehört auch das vorherrschende Ignorieren der seit mehr als einem Jahrzehnt von Russland betriebenen Politik einer systematischen Destruktion gegenüber EU und NATO. Diese Politik verfolgt durchweg das Ziel, die jeweiligen Mitgliedsstaaten gegeneinander auszuspielen oder gegeneinander aufzubringen, um deren Zusammenhalt zu schwächen und einzelne Mitgliedsländer aus dem Verbund von EU oder NATO herauszubrechen – sei es nun durch gezielte und kampagnenförmig organisierte Desinformationen, sei es durch die finanzielle Unterstützung von Parteien und Initiativen, die gegen die Grundprinzipien des liberaldemokratischen Rechtsstaats Front machen. Man kann darüber streiten, wie groß der Anteil russischer Hacker am Wahlerfolg Trumps in den USA und der Beitrag verdeckter Kampagnen russischer Organisationen zum Brexit waren, aber es steht außer Frage, dass der Kreml in beiden Fällen auf den Ausgang demokratischer Entscheidungen Einfluss zu nehmen versuchte und dass sich die westlichen Demokratien dabei als ausgesprochen verwundbar erwiesen haben.4

Indem man

das russische und

das westliche

Vorgehen gleichsetzte,

entledigte

man sich der

Herausforderung,

für die Verteidigung

der Menschenrechte

und der Demokratie (…)

Partei ergreifen

zu müssen.

Eine strukturell andere Herausforderung für die Demokratien westlichen Typs stellt China dar. Es spricht manches dafür, dass dies auf längere Sicht die gefährlichere Herausforderung ist, auch wenn die russische Bedrohung seit dem Angriff auf die Ukraine im Mittelpunkt der Debatte steht. China setzt bei der Ausweitung und Neuschaffung seiner Einflusszonen weniger auf militärische als auf wirtschaftliche Macht und tritt damit sehr viel smarter auf als Russland.5 Dass es der chinesischen Führung mit ihrer Strategie der neuen Seidenstraßen gleichwohl um die Herstellung von Einflussgebieten und Abhängigkeiten geht, ist in den letzten Jahren zunehmend deutlich geworden. Das Ziel dieser Strategie ist die Kontrolle Zentralasiens, die Einkreisung Indiens mit China zugewandten Staaten und der Vorstoß bis nach Afrika, um die dortigen Rohstoffe der chinesischen Industrie verfügbar zu machen. Ein anderer Strang der Seidenstraße-Strategie hat inzwischen den Südosten der Europäischen Union erreicht und sorgt im 17+1-Format dafür, dass sich die Europäer mit chinakritischen Äußerungen zurückhalten. Im Unterschied zu Russland, das Einflussgebiete schafft, indem es Demokratien zerschlägt oder autokratische Regime, wie das des Assad-Clans in Syrien oder das Lukaschenkos in Belarus, mit brutaler Gewalt an der Macht hält, engt China durch den Bau von Infrastrukturprojekten und die Vergabe von nur auf den ersten Blick großzügigen Krediten die politischen Spielräume der scheinbar begünstigten Regierungen so weit ein, dass diese davon absehen, Entscheidungen oder Festlegungen zu treffen, von denen sie annehmen, dass sie den chinesischen Interessen entgegenstehen.

Für die Zukunft der Demokratie im Weltmaßstab noch bedeutsamer als eine an den Interessen und Vorgaben der großen Mächte ausgerichtete Politik ist allerdings die Orientierung der Eliten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas an den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsmodellen. Die Wahl eines politischen Vorbilds ist nicht nur für die Anlehnung an die eine oder andere der großen Mächte maßgeblich, sondern sie schafft auch Pfadabhängigkeiten, die dafür sorgen, dass der einmal beschrittene Entwicklungsweg so schnell nicht mehr verlassen werden kann. Politische Bündniswechsel mögen bei veränderten Opportunitätsstrukturen immer noch möglich sein, aber eine Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung ist ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzieht und der allen Enttäuschungen und Rückschlägen zum Trotz kontinuierlich vorangetrieben werden muss, um erfolgreich zu sein. Wie langwierig der Weg zu einer konsolidierten Demokratie ist, hat sich nach 1989/90 in den Ländern Mittel- und Südosteuropas gezeigt, von denen die meisten das ursprünglich angestrebte Ziel bis heute nicht erreicht haben und einige inzwischen in abwegige Richtung steuern.

Während Russland nur für einige Militärdiktatoren und selbstherrliche Autokraten zum Vorbild geworden ist – seine politische Attraktivität insofern als begrenzt eingeschätzt werden kann –, gilt das chinesische Modell für viele auf dem Modernisierungsweg befindliche Länder inzwischen als attraktive Alternative zum westlichen Vorbild der parlamentarischen Demokratie mit politischer Gewaltenteilung und vitaler Zivilgesellschaft, dem zu folgen für die Eliten vieler Länder mühseliger ist, als sich auf den chinesischen Weg zu begeben. Es kommt hinzu, dass die Wohlstandszuwächse Chinas in den letzten Jahrzehnten deutlich über denen des »Westens« lagen. Die Politikwissenschaftler Armin Schäfer und Michael Zürn resümieren: »Spätestens seit der Finanzkrise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Provenienz eine ordnungspolitische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus beides ist: anders und erfolgreich.«6 Diese Konkurrenz ist anders als das westliche Modell, weil sie die Dynamik des Marktes nicht an die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaats koppelt und darum für die amtierenden politischen Eliten leichter zu handhaben ist und für die bestehende Gesellschaftsordnung keine Herausforderung darstellt, und sie ist erfolgreich, insofern sie bei der Überwindung von Armut und Hunger spektakuläre Erfolge in Aussicht stellt. China und Singapur zeigen, »dass gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist, ohne dass die Machthabenden demokratischer Kontrolle unterliegen und ohne dass Individualrechte garantiert werden«.7 Was sich damit abzeichnet, ist ein geopolitischer Gegensatz, eine globale Konfrontation zwischen der demokratischen Ordnung und autokratischen Regimen, bei der alles andere als sicher ist, dass die Demokratien daraus als Sieger hervorgehen werden. Man kann mit den Worten der Historikerin Anne Applebaum mithin von einer umfassenden »Verlockung des Autoritären« sprechen, die auch vor den konsolidierten Demokratien nicht haltmacht.8

Bedrohung von innen: Enttäuschung und Resignation

Es sind aber nicht nur die spektakulären Erfolge Chinas bei der ökonomischen Entwicklung und der Entstehung einer leistungsfähigen Mittelschicht, die der Demokratie als globales Vorbild zu schaffen machen, sondern es hat sich auch im Innern vieler als demokratisch rubrizierter Länder eine tiefe Skepsis gegenüber Liberalität und Rechtsstaatlichkeit breitgemacht, die als zu langsam und schwerfällig gelten und denen eine übergroße Einschränkung des Mehrheitswillens der Bevölkerung vorgehalten wird.9 Das war und ist der Nährboden für das Aufkommen populistischer Bewegungen, die im Namen der Demokratie gegen den liberaldemokratischen Rechtsstaat Front machen. Es hat sich eine gleichermaßen unübersehbare wie unüberhörbare Frustration gegenüber dem Typus der westlichen Demokratie ausgebreitet, ein Oszillieren zwischen Enttäuschung und Ablehnung, das, nach den Gründen der Unzufriedenheit gefragt, weithin diffus bleibt und auch keine anderen Änderungsvorschläge geltend zu machen weiß als die, dass man zu einer direkten Demokratie zurückkehren müsse, in der dem »Volkswillen« wieder die entscheidende Bedeutung zukomme. Wie dieser »Volkswille« ermittelt werden soll, bleibt indes unklar. Das seit jeher für die Demokratie zentrale Problem des Beratschlagens der Bürgerinnen und Bürger nach Einholung diverser Ratschläge bleibt dabei ebenso ausgespart wie die Frage, wie mit der bei der Beschlussfassung unterlegenen Minderheit umzugehen ist oder wie zu verfahren ist, wenn die Mehrheitsverhältnisse unklar bleiben und wer überhaupt an der Bildung des Volkswillens teilnehmen darf und wer davon ausgeschlossen bleibt. Und so bleibt zuletzt nicht viel mehr übrig als die Behauptung eines Gegensatzes zwischen »dem Volk« auf der einen und den Eliten beziehungsweise der politischen Klasse auf der anderen Seite – eine Klassenanalyse, die sich in tendenziell gleicher Weise beim Rechts- wie beim Linkspopulismus findet und die auch erklärt, warum beide Seiten relativ leicht im Kampf gegen »die da oben« zusammenfinden.10

Das alles spricht nicht unbedingt dafür, dass es sich bei der populistischen Kritik um eine treffsichere Analyse der Probleme und Defizite in der Demokratie westlichen Typs handelt, sondern verweist eher darauf, dass der Populismus sich als Profiteur und Nutznießer einer Unzufriedenheit positioniert, die zum erheblichen Teil aus einer Komplexitätsüberforderung der Bürgerinnen und Bürger resultiert. Im Unterschied zur attischen Demokratie in der Antike ist die in den USA und Europa seit dem späten 18. Jahrhundert entstandene politische Ordnung, die sich zunächst nicht als Demokratie bezeichnet und Analogien zur antiken Demokratie ausdrücklich zurückgewiesen hat,11 von Anfang an auf Komplexität, auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte und Instanzen zwecks Verhinderung einer »Tyrannei der Mehrheit«, wie Tocqueville es ausdrückte,12 angelegt gewesen – also auf die Blockierung genau dessen, was in der Sprache des Populismus als »Volkswille« bezeichnet wird, der unmittelbar und ohne Zeitverzug zur Geltung gebracht werden soll.