Die zweite Schwester - Chan Ho-kei - E-Book

Die zweite Schwester E-Book

Chan Ho-kei

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Siu-Man, ein Hongkonger Schulmädchen, begeht Selbstmord, indem sie sich aus einem Fenster im zwanzigsten Stockwerk stürzt. Aufgezogen wurde sie von Nga-Yee, ihrer älteren Schwester. Diese ist der festen Überzeugung, dass es irgendein falsches Spiel gegeben haben muss. Siu-Man wurde einige Zeit vor ihrem Tod Opfer eines sexuellen Übergriff s in der U-Bahn und in der Folge auf einer Online-Klatschplattform von einer anonymen Person verleumdet. Nga-Yee setzt alles daran, herauszufinden, wer es war – und wer die Schuld an Siu-Mans Tod trägt. Sie nimmt Kontakt zu einem Hacker auf, der nur als N bekannt ist. Doch der exzentrische Mann nimmt noch lange nicht jeden Auftrag an. Kann Nga-Yee ihn ausreichend für ihren Fall interessieren – und kann sie es sich leisten, wenn er Ja sagt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 806

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Chan Ho-Kei

Die zweite Schwester

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

© by Atrium Verlag AG, Zürich, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017 by Chan Ho-Kei

Translated from the English language: SECOND SISTER.

Published in the UK in 2020 by Head of Zeus, Ltd. First published in the Traditional Chinese language by Crown Publishing Company, Ltd. The German edition is published by arrangement with Crown Publishing Company, Ltd. in association with The Grayhawk Agency through Literary Agency Liepman AG, Zürich

Lektorat: Claudia Jürgens

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Fotos von © d3sign / Getty Images

Zitat von Lew Tolstoi aus: Lew Tolstoi, Anna Karenina. Deutsch von Rosemarie Tietze © 2009 by Carl Hanser Verlag, München

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-173-9

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

Prolog

Als Nga-Yee um acht Uhr morgens ihre Wohnung ver- ließ, ahnte sie nicht, dass sich an diesem Tag ihr Le- ben für immer verändern würde.

Sie war sicher gewesen, dass die Zeiten nach dem Albtraum des letzten Jahres endlich wieder besser werden würden. Sie mussten nur die Zähne zusammenbeißen und irgendwie durchhalten. Sie war davon überzeugt, dass das Schicksal gerecht war, und wenn etwas Schlimmes geschah, konnte darauf nur etwas Gutes folgen. Leider spielen uns die Mächte da oben am liebsten grausame Streiche.

Um kurz nach sechs Uhr abends schleppte Nga-Yee sich erschöpft heimwärts. Während sie von der Bushaltestelle nach Hause lief, überschlug sie in Gedanken, ob der Kühlschrank noch genug für ein Abendessen hergab. Innerhalb der letzten sieben, acht Jahre waren die Preise erschreckend gestiegen, während die Löhne gleich geblieben waren. Nga-Yee konnte sich noch an Zeiten erinnern, als ein Pfund Schweinefleisch um die zwanzig Hongkong-Dollar gekostet hatte. Heute bekam man dafür kaum noch die Hälfte.

Im Kühlschrank lagen wahrscheinlich noch ein paar Gramm Schweinefleisch und etwas Spinat. Genug für eine Ingwerpfanne. Dazu ein paar gedämpfte Eier, und fertig wäre ein einfaches, nahrhaftes Abendessen für zwei. Ihre acht Jahre jüngere Schwester Siu-Man liebte gedämpfte Eier, und Nga-Yee griff oft auf das seidenweiche Gericht zurück, wenn der Vorratsschrank mal wieder leer war – mit gehackten Frühlingszwiebeln und einem Spritzer Sojasoße richtig lecker. Und vor allem: Eier waren billig. Damals, als das Geld noch knapper war, hatten sie mit der Hilfe von Eiern so manche Durststrecke überbrückt.

Auch wenn für diesen Abend noch genug da war, überlegte Nga-Yee, ob sie ihr Glück auf dem Markt versuchen sollte. Sie mochte es nicht, wenn der Kühlschrank leer war – ihre Erziehung verlangte, immer einen Plan B in petto zu haben. Außerdem gingen viele Händler kurz vor Schluss mit den Preisen runter, und vielleicht konnte sie für den nächsten Tag ein paar Schnäppchen machen.

Ein Streifenwagen raste mit heulender Sirene vorbei und vertrieb alle Gedanken an preisreduzierte Lebensmittel. Erst jetzt bemerkte Nga-Yee die Menschenmenge, die sich vor ihrem Wohnblock Wun Wah House versammelt hatte.

Was da wieder los sein mochte? Nga-Yee ging in gleicher Geschwindigkeit weiter. Sie gehörte nicht zu denen, die vorne mit dabei waren, sobald irgendwas passierte. Auch deshalb war sie damals von vielen Mitschülerinnen und Mitschülern als Einzelgängerin, als Introvertierte, als Nerd abgestempelt worden. Nicht dass ihr das was ausgemacht hätte. Jeder hat das Recht, zu leben, wie er leben will. Der Versuch, sich den Vorstellungen anderer Leute anzupassen, ist nichts als Dummheit.

»Nga-Yee! Nga-Yee!« Eine dicke Frau um die fünfzig mit lockigen Haaren winkte ihr aus der Gruppe Schaulustiger zu: Auntie Chan, ihre Nachbarin aus dem zweiundzwanzigsten Stock. Sie kannten sich vom Sehen, aber das war’s dann auch schon.

Auntie Chan kam auf Nga-Yee zugerannt, packte sie am Arm und zerrte sie in Richtung Eingang. Bis auf ihren Namen verstand Nga-Yee kein Wort von dem, was die Frau zu ihr sagte – blanke Panik verzerrte alles zu einer fremden Sprache. Als sie dann das Wort »Schwester« heraushörte, beschlich Nga-Yee eine schreckliche Vorahnung.

Im Licht der untergehenden Sonne bahnte sie sich einen Weg durch die Schaulustigen. Dann verstellte nichts mehr den schrecklichen Anblick.

Etwa zehn Meter vom Haupteingang entfernt kauerten einige Menschen. Dort lag ein Mädchen in weißer Schuluniform auf dem Beton. Die wirren Haare verdeckten das Gesicht, und um den Kopf sammelte sich eine Pfütze aus dunkelroter Flüssigkeit.

Das ist doch jemand aus Siu-Mans Schule, war Nga-Yees erster Gedanke.

Zwei Sekunden später begriff sie, dass die reglose Gestalt auf dem Boden Siu-Man war.

Ausgestreckt auf dem kalten Beton lag ihre kleine Schwester.

Ihre ganze Familie.

Um sie herum drehte sich alles, dann stand die Welt still.

War das ein Albtraum? Wenn sie doch nur träumen würde. Nga-Yee blickte in die umstehenden Gesichter. Sie erkannte ihre Nachbarn, aber die Leute wirkten auf sie wie Fremde.

»Nga-Yee! Nga-Yee!« Auntie Chan packte sie am Arm und rüttelte sie heftig.

»Siu … Siu-Man?« Auch als sie den Namen laut aussprach, gelang es Nga-Yee nicht, das leblose Objekt auf dem Boden mit ihrer kleinen Schwester in Einklang zu bringen.

Siu-Man ist inzwischen zu Hause und wartet darauf, dass ich uns Abendessen mache.

»Treten Sie bitte zurück.« Ein Polizist in ordentlich gestärkter Uniform drängte sich durch die Menge, und neben Siu-Man gingen zwei Sanitäter mit einer Trage in die Knie.

Der Ältere hielt ihr eine Hand unter die Nase und legte zwei Finger auf ihr linkes Handgelenk, dann hob er ein Augenlid und leuchtete mit einer Stiftlampe in die Pupille. All das dauerte nur wenige Sekunden, doch Nga-Yee erlebte die einzelnen Handgriffe als unendlich langsame Aneinanderreihung von Standbildern.

Für sie war die Zeit zum Stillstand gekommen.

Ihr Unterbewusstsein versuchte, sie vor dem, was als Nächstes kam, zu bewahren.

Der Sanitäter richtete sich in Zeitlupe auf und schüttelte den Kopf.

»Bitte treten Sie zurück, machen Sie den Weg frei!«, sagte der Polizist. Mit ernsten Gesichtern entfernten sich die Sanitäter von Siu-Man.

»Siu … Siu-Man? Siu-Man! Siu-Man!« Nga-Yee schob Auntie Chan von sich weg und rannte auf ihre Schwester zu.

»Miss!« Ein groß gewachsener Polizist eilte hinterher, schlang einen Arm um ihre Taille und hielt sie fest.

»Siu-Man!« Vergeblich versuchte Nga-Yee, sich loszumachen, dann drehte sie sich verzweifelt zu dem Polizisten um. »Das ist meine Schwester. Sie müssen Sie retten!«

»Bitte beruhigen Sie sich«, sagte der Polizist in einem Tonfall, der verriet, wie klar ihm war, dass seine Worte nichts ausrichten würden.

»Bitte, rettet sie! Sanitäter!« Mit aschfahlem Gesicht rief Nga-Yee den bereits wieder abfahrenden Sanitätern hinterher. »Warum lassen Sie sie hier? Schnell! Sie braucht Hilfe!«

»Miss? Sind Sie die Schwester? Sie müssen sich beruhigen«, sagte der Polizist, den Arm noch immer um ihre Taille. Er bemühte sich um einen möglichst mitfühlenden Tonfall.

»Siu-Man …« Nga-Yee drehte sich zu der leblosen Gestalt auf dem Gehweg um. Zwei weitere Polizisten waren dabei, sie mit einer dunkelgrünen Plane zuzudecken. »Was tun Sie denn? Hören Sie auf! Hören Sie sofort auf damit!«

»Miss! Miss!«

»Nicht abdecken! Sie bekommt keine Luft! Ihr Herz schlägt doch noch!« Nga-Yee krümmte sich nach vorn. Plötzlich hatte all ihre Kraft sie verlassen. Der Polizist, der sie eben noch gebremst hatte, musste sie stützen. »Rettet sie! Sie müssen sie retten! Ich flehe Sie an … Sie ist meine Schwester, meine einzige Schwester …«

Und in diesem Augenblick, an diesem ganz normalen Dienstagabend, auf dem Gehweg vor Wun Wah House im Lok Wah Estate im Bezirk Kwun Tong, Kowloon, Hongkong, verstummten die sonst so redseligen Nachbarn. Das einzige Geräusch zwischen den kalten Wohnsilos war das herzzerreißende Weinen einer großen Schwester, deren Schluchzer wie heulender Wind in die Ohren der Umstehenden fuhren und sie mit einem Leid erfüllten, das ihnen durch Mark und Bein ging.

Erstes Kapitel

1

»Ihre Schwester hat sich das Leben genommen.«

Als Nga-Yee in der Leichenhalle aus dem Mund des Polizisten diese Worte vernahm, rief sie, fast lallend vor Schock: »Das kann nicht sein! Sie müssen sich irren, so was würde Siu-Man niemals tun!« Sergeant Ching, ein schlanker Mann um die fünfzig mit einem ersten Hauch Grau an den Schläfen, sah selbst ein bisschen aus wie ein Verbrecher, doch etwas in seinem Blick sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. Trotz Nga-Yees hysterischem Ausbruch behielt er seinen ruhigen Tonfall bei, und das, was er mit seiner tiefen, sonoren Stimme sagte, brachte sie zum Schweigen.

»Miss Au, sind Sie wirklich sicher, dass Ihre Schwester sich nicht das Leben genommen hat?«

Auch wenn Nga-Yee es sich nicht eingestehen wollte, wusste sie nur zu gut, dass Siu-Man allen Grund gehabt hatte, sich den Tod zu wünschen. Der Druck, dem sie das letzte halbe Jahr lang hatte standhalten müssen, war mehr, als ein fünfzehnjähriges Mädchen je erleben sollte.

Aber wir sollten am Anfang beginnen, mit den vielen Unglücksjahren der Familie Au.

Nga-Yees Eltern kamen beide in den Sechzigerjahren zur Welt, als Immigranten der zweiten Generation. Als es 1946 in China zwischen den Nationalisten und den Kommunisten zum Krieg kam, bewegten sich große Flüchtlingsströme von Festlandchina in Richtung Hongkong. Schließlich gingen die Kommunisten als Sieger hervor, installierten ein neues Regime und schlugen jedwede Opposition nieder. Infolgedessen retteten sich noch mehr Flüchtlinge in den sicheren Hafen der britischen Kolonie. Nga-Yees Großeltern waren aus Guangzhou gekommen. Weil Hongkong billige Arbeitskräfte brauchte, wurde kaum jemand, der illegal in die Kronkolonie gelangt war, abgewiesen. Es gelang ihren Großeltern, Wurzeln zu schlagen, sie bekamen irgendwann Papiere und wurden Bürger Hongkongs. Trotzdem blieb ihr Leben weiter hart, sie schufteten von früh bis spät für einen Hungerlohn. Auch ihre Lebensumstände waren hart. Trotzdem: Hongkong erlebte wirtschaftlichen Aufschwung, und solange man bereit war, ein bisschen Leid auf sich zu nehmen, konnte man seine Situation durchaus verbessern. Manche ritten auf der Welle sogar bis hin zu echtem Erfolg.

Unglücklicherweise blieb Nga-Yees Großeltern diese Chance verwehrt.

Im Februar 1976 zerstörte ein Großbrand im Stadtteil Shau Kei Wan in der Aldrich Bay über tausend Holzhütten und machte mehr als dreitausend Menschen obdachlos. Nga-Yees Großeltern starben in diesem Inferno, nur ihr zwölfjähriger Sohn überlebte: Nga-Yees Vater Au Fai. Weil er in Hongkong sonst keinerlei Familie hatte, wurde er von einem Nachbarn aufgenommen, der bei dem Brand seine Frau verloren hatte. Dieser Nachbar hatte eine siebenjährige Tochter namens Chau Yee-Chin. Sie wurde später Nga-Yees Mutter.

Weil sie arm waren, bekamen Au Fai und Chau Yee-Chin nie die Chance auf eine richtige Schulbildung. Sie fingen beide weit vor ihrer Zeit an zu arbeiten, Au Fai als Lagerarbeiter, Yee-Chin als Kellnerin in einem Dim-Sum-Restaurant. Obwohl sie sich abrackern mussten, beklagten sie sich nie, und als sie sich ineinander verliebten, konnten sie sogar ein kleines Stückchen Glück für sich in Anspruch nehmen. Bald war von Hochzeit die Rede. Als Yee-Chins Vater 1989 krank wurde, heirateten sie schnell, um ihm vor seinem Tod wenigstens diesen Wunsch erfüllen zu können.

Ein paar Jahre lang sah es so aus, als wäre es den Aus gelungen, das Pech abzuschütteln.

Drei Jahre später bekamen Au Fai und Chau Yee-Chin eine Tochter. Yee-Chins Vater hatte damals in China eine gute Bildung genossen. Vor seinem Tod hatte er ihnen gesagt, sie sollten ihr Kind Chung-Long nennen, falls es ein Junge würde, und Nga-Yee, falls sie ein Mädchen bekämen – »Nga« wie Eleganz oder Schönheit und »Yee« wie Freude. Die kleine Familie zog in eine Mietwohnung nach To Kwa Wan, wo sie ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben führten. Wenn Au Fai abends nach Hause kam, gaben ihm die lächelnden Gesichter seiner Frau und seiner Tochter das Gefühl, wunschlos glücklich zu sein. Yee-Chin war eine geschickte Hausfrau. Nga-Yee war wissbegierig und folgsam, und Au Fai hatte nur den einen Wunsch, etwas mehr Geld zu verdienen, um seiner Tochter eines Tages das Studium zu ermöglichen. Er wollte nicht, dass sie vorzeitig die Schule abbrechen musste, um zu arbeiten, wie er und seine Frau es hatten tun müssen. Inzwischen war eine akademische Ausbildung die Voraussetzung dafür, es in Hongkong zu etwas zu bringen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren bekam man noch mühelos einen Job, solange man bereit war, hart zu arbeiten, doch die Zeiten hatten sich geändert.

Als Nga-Yee sechs wurde, war das Glück den Aus hold: Nach Jahren auf der Warteliste waren sie endlich an der Reihe und bekamen eine staatliche Wohnung zugeteilt.

Im überbevölkerten Hongkong war Baugrund knapp, und es gab bei Weitem nicht genug staatlich geförderten Wohnraum, um den Bedarf zu decken. 1998 bekam Au Fai die Nachricht, ihnen sei eine Wohnung im Wohnkomplex Lok Wah zugewiesen worden. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können. Im Kielwasser der Finanzkrise war es in Au Fais Firma zu einschneidenden Restrukturierungsmaßnahmen gekommen, und er gehörte zu den Arbeitern, die gehen mussten. Sein Chef half ihm noch, anderswo unterzukommen, doch der Lohn war viel niedriger, und er hatte Mühe, das Schulgeld für Nga-Yees Grundschule aufzubringen. Der Brief von der Wohnungsbehörde war wie ein Geschenk des Himmels. Die neue Miete würde weniger als die Hälfte dessen betragen, was sie momentan bezahlten, und wenn sie sparsam lebten, würden sie in Zukunft sogar etwas Geld beiseitelegen können.

Zwei Jahre nach dem Umzug nach Wun Wah House wurde Chau Yee-Chin erneut schwanger. Au Fai war überglücklich, zum zweiten Mal Vater zu werden, und Nga-Yee war inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass ihr als großer Schwester die Pflicht zufiel, hart zu arbeiten und ihren Eltern beim Schultern der Last zu helfen. Da sein Schwiegervater ihnen für jedes Geschlecht nur einen Namen hinterlassen hatte, steckte Au Fai hinsichtlich eines zweiten Mädchennamens in der Klemme. Er wandte sich mit der Bitte um Hilfe an ihren Nachbarn, einen ehemaligen Lehrer.

»Wie wäre es mit Siu-Man?«, schlug der alte Mann vor, als sie vor ihrem Hochhaus auf einer Bank saßen. »Siu wie ›klein‹ und Man wie ›bunte Wolken im Abendlicht‹.«

Au Fai folgte dem Finger des Mannes mit seinem Blick und sah, wie die untergehende Sonne den Wolkenhimmel in umwerfende Rosarottöne tauchte.

»Au Siu-Man … ein schöner Name. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr Huang. Ich bin viel zu dumm, als dass mir so etwas Schönes von allein eingefallen wäre.«

Seit sie zu viert waren, wurde es in der Wohnung in Wun Wah House ein bisschen zu eng. Die Wohnungen in diesem Komplex waren lediglich für zwei bis drei Bewohner ausgelegt und besaßen keine Zwischenwände. Au Fai stellte einen Antrag auf eine größere Wohnung. Sie bekamen Angebote in Tai Po oder Yuen Long, doch als das Paar sich beriet, sagte Yee-Chin mit einem Lächeln zu ihrem Mann: »Wir haben uns an das Leben hier gewöhnt. Das ist alles so weit weg. Dein täglicher Weg zur Arbeit wäre ein Albtraum, und Nga-Yee müsste die Schule wechseln. Hier ist es vielleicht ein bisschen eng, aber weißt du noch, wie eng es damals in unserer Holzhütte war?«

So war Chau Yee-Chin, immer zufrieden mit dem, was sie hatte. Au Fai kratzte sich am Kopf und wusste dem nichts entgegenzusetzen, auch wenn er insgeheim weiter auf ein eigenes Zimmer für jede seiner Töchter hoffte, wenn sie auf die Oberschule wechselten.

Er konnte nicht ahnen, dass er das nicht mehr erleben würde.

Im Jahr 2004 starb Au Fai bei einem Arbeitsunfall. Er war vierzig Jahre alt.

Nach der Finanzkrise von 1997 und dem SARS-Ausbruch von 2003 erlebte Hongkongs Wirtschaft eine Flaute. Um Kosten zu senken, lagerten viele Unternehmen einzelne Arbeitsbereiche aus oder stellten ihr Personal nur noch befristet ein, um der Last der Sozialleistungen zu entgehen. Eine große Firma beauftragte eine kleine für gewisse Leistungen, und die kleine Firma lagerte den Auftrag an noch kleinere Subunternehmer aus. Weil jeder sich seinen Anteil am Kuchen nahm, waren die Arbeitslöhne viel niedriger als zuvor, aber in prekären Zeiten wie diesen blieb den Arbeitern keine Wahl, als stillschweigend zu akzeptieren, was ihnen geboten wurde. Auch Au Fai machte bei den Subunternehmern die Runde und kämpfte mit den anderen Arbeitern um die wenigen verfügbaren Jobs. Zu seinem Glück hatte er lange in einem Lagerhaus gearbeitet und besaß einen Gabelstaplerführerschein, was ihm bei Jobs in der Logistik oder im Hafen einen entscheidenden Vorteil verschaffte. Auf den Docks bewegte er keine Waren, sondern Taue. Die Trossen der Frachtschiffe waren zu dick und zu schwer, um von Hand gesichert zu werden, und mussten mit dem Stapler geschleppt werden. Um sein Einkommen aufzustocken, hatte Au Fai noch einen weiteren Job. In einem Lagerhaus in Kowloon bewegte er Ware, und an den Kwai Tsing Container Terminals löschte er Schiffsladungen. Er wollte möglichst viel Geld verdienen, solange er noch die Kraft dazu hatte. Er wusste, dass seine Energie nicht ewig reichen und der Tag kommen würde, an dem er seinem Körper diese Schufterei nicht mehr zumuten konnte, selbst wenn er wollte.

An einem nieseligen Abend im Juli 2004 bemerkte der Vorarbeiter auf dem Kwai Tsing Dock Nummer vier das Fehlen eines Gabelstaplers. Au Fai war in Richtung Zone Q13 unterwegs gewesen, und dort stießen seine Kollegen auf einen heftig ramponierten Pfahl. Die gelben Plastikbruchstücke auf dem Asphalt daneben waren eindeutig als Teile des Gabelstaplers erkennbar, den Au Fai unabsichtlich ins Wasser gelenkt hatte, wo er selbst, zwischen dem Fahrzeug und den Gabelzacken eingeklemmt, hängen geblieben war, in sechs Meter Tiefe im Hafenbecken. Als der Gabelstapler mithilfe eines Krans geborgen werden konnte, war Au Fai längst tot.

Nga-Yee war zwölf Jahre alt, als sie ihren Vater verlor, Siu-Man war vier.

Obwohl Yee-Chin über den Tod ihres geliebten Mannes untröstlich war, ließ sie nicht zu, dass sie in Trauer versank, denn ab jetzt hing das Schicksal ihrer Töchter allein von ihr ab.

Das Arbeitsrecht besagte, dass der Familie eines Arbeitnehmers, der in Ausübung seiner Arbeit zu Tode gekommen war, zum Ausgleich sechzig Monatsgehälter zustanden, eine Summe, von der Yee-Chin und ihre Töchter ein paar Jahre hätten leben können. Leider schlug das Pech der Familie Au auch diesmal zu.

»Mrs Au, es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht helfen möchte, aber etwas anderes kann die Firma Ihnen nicht anbieten.«

»Das verstehe ich nicht, Ngau. Fai hat viele Jahre hart für Yu Hoi gearbeitet. Er hat im Morgengrauen das Haus verlassen und ist erst zurückgekommen, wenn die Mädchen längst im Bett lagen. Er hat seine eigenen Töchter kaum zu Gesicht bekommen. Ich stehe ab jetzt alleine da, eine mittellose Witwe mit zwei vaterlosen Mädchen. Wir haben niemanden, der uns unterstützt. Und Sie wollen mir sagen, dass wir nur diese winzige Summe bekommen?«

»Die Firma ist, ehrlich gesagt, selbst schlecht dran. Gut möglich, dass wir nächstes Jahr zusperren müssen, und wenn das passiert, könnten wir Ihnen nicht mal diese kleine Summe auszahlen.«

»Wieso müssen Sie denn selbst für die Summe aufkommen? Fai war versichert.«

»Na ja … es gibt da offensichtlich ein Problem mit Fais Versicherungsansprüchen.«

Ngau arbeitete noch länger für die Firma als Fai und war Yee-Chin schon ein paarmal begegnet, weshalb sein Chef Mr Tang ihn gebeten hatte, sich mit ihr zu »unterhalten«. Nach allem, was Ngau ihr sagte, hatte die Firma tatsächlich eine Versicherung für Au Fai abgeschlossen, doch nachdem ein Gutachter der Versicherungsgesellschaft den Vorfall geprüft hatte, lehnte sie die Forderungen ab. Der Unfall hatte sich nach Schichtende zugetragen, und es ließ sich nicht beweisen, dass Au Fai den Gabelstapler dienstlich bewegt hatte. Außerdem waren am Fahrzeug selbst keinerlei Mängel festzustellen, und man konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Au Fai am Steuer das Bewusstsein verloren hatte.

»Ich habe gehört, sie hätten sogar eine Schadenersatzklage für den Gabelstapler in Erwägung gezogen, aber der Boss meinte, jemanden, der am Boden liegt, soll man nicht noch treten. Fai hat hart für unsere Firma gearbeitet, und wir sind der Meinung, auch wenn die Versicherung in seinem Fall nicht zahlt, müssen wir etwas für ihn tun. Deshalb bietet die Firma Ihnen aus Anteilnahme wenigstens diese kleine Summe. Wir hoffen sehr, Sie akzeptieren diese Geste.«

Als Yee-Chin den Arm ausstreckte, um den Scheck entgegenzunehmen, zitterte ihr die Hand. Die Worte »Schadenersatzklage für den Gabelstapler« hatten sie so wütend gemacht, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre, aber ihr war klar, dass Ngau lediglich der Überbringer der Nachricht war. Dieses Geld – der Gegenwert von drei Monatsgehältern – war nichts als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Yee-Chin spürte, dass Ngau ihr etwas verheimlichte, aber sie sah keine Möglichkeit, sich zu wehren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Scheck zu nehmen und sich bei Ngau zu bedanken.

Yee-Chin hatte, seit die Mädchen zur Welt gekommen waren, nicht mehr voll gearbeitet, hatte nur hin und wieder in einem Waschsalon ausgeholfen, um sich ein bisschen was dazuzuverdienen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder in einem Dim-Sum-Restaurant kellnern zu gehen. Obwohl die Lebenshaltungskosten in den letzten zehn Jahren, seit sie zuletzt in diesem Bereich gearbeitet hatte, förmlich explodiert waren, war der Lohn derselbe wie früher. Als ihr klar wurde, dass sie und ihre Töchter davon unmöglich überleben konnten, sah sie sich gezwungen, einen zweiten Job anzunehmen. An drei Tagen pro Woche übernahm sie die Nachtschicht in einem Minimarkt, hörte um sechs Uhr morgens auf zu arbeiten und machte sich nach knapp fünf Stunden Schlaf auf den Weg ins Restaurant.

Einige Nachbarn bedrängten Yee-Chin, ihre Jobs aufzugeben und Sozialhilfe zu beantragen, aber sie weigerte sich. »Ich weiß, dass ich mit meiner Arbeit kaum mehr verdiene, als ich von der Wohlfahrt kriegen würde, und ich weiß, dass ich mich selbst um Nga-Yee und Siu-Man kümmern könnte, wenn ich aufhören würde zu arbeiten«, erwiderte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Aber wie sollen meine Töchter dann jemals lernen, auf eigenen Füßen zu stehen?«

Solche Äußerungen ihrer Mutter prägten sich Nga-Yee ganz besonders ein.

Der Verlust ihres Vaters war für Nga-Yee ein schwerer Schlag. Sie besuchte zu dem Zeitpunkt die erste Klasse der Oberschule, und Au Fai hatte versprochen, dass die ganze Familie nach ihrem Schulabschluss für drei Tage nach Australien fliegen würde – nun war er ihnen entrissen worden, ehe diese Träume wahr werden konnten. Nga-Yee war schon immer introvertiert gewesen, doch jetzt zog sie sich noch mehr in sich selbst zurück. Trotzdem ließ sie sich nicht von ihrer Verzweiflung überwältigen – ihre Mutter lebte ihr vor, dass man stark bleiben musste, mochte das Leben auch noch so grausam sein. Weil Yee-Chin rund um die Uhr schuftete, musste Nga-Yee sich um den Haushalt kümmern: putzen, einkaufen und kochen, ihre vierjährige Schwester betreuen. Noch vor ihrem vierzehnten Geburtstag war Nga-Yee erfahren im Umgang mit all diesen Herausforderungen, und sie wusste, was Sparsamkeit hieß. Sie konnte niemals nach der Schule die Einladung einer Klassenkameradin annehmen und auch nie an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen. Ihre Klassenkameraden sahen in ihr einen Nerd und eine Einzelgängerin, doch Nga-Yee war das egal. Sie kannte ihre Pflichten.

Im Gegensatz dazu blieb Siu-Mans Entwicklung vom Tod ihres Vaters offenbar unberührt.

Behütet von ihrer Mutter und ihrer großen Schwester, verbrachte Siu-Man eine beinahe unbeschwerte Kindheit. Manchmal fürchtete Nga-Yee, dass sie ihre kleine Schwester zu sehr verwöhnte, doch ein einziger Blick auf Siu-Mans unbefangenes Lächeln sagte ihr, dass es normal war, ihre kleine Schwester anzubeten. Ab und zu schlug Siu-Man etwas zu sehr über die Stränge und musste von Nga-Yee mit strenger Miene zurechtgewiesen werden. Doch wann immer Nga-Yee die Verantwortung über den Kopf wuchs und sie in Tränen ausbrach – schließlich war auch sie noch ein Teenager –, war es Siu-Man, die sie tröstete, ihr Gesicht streichelte und sagte: »Bitte, nicht weinen, große Schwester.« Manchmal, wenn Yee-Chin spätabends von der Arbeit nach Hause kam, fand sie ihre Töchter eng aneinandergeschmiegt in einem Bett, versöhnt nach einem Streit.

Es war für Nga-Yee nicht einfach, die fünf Oberschuljahre zu überstehen, aber sie hielt durch und schaffte es sogar unter die Jahrgangsbesten. Ihre Noten reichten für einen Platz im College, und ihr Klassenlehrer war überzeugt, dass sie mühelos einen Studienplatz an einer renommierten Universität ergattern könnte. Doch sosehr ihre Lehrer auch versuchten, sie umzustimmen, sie bestand darauf, die Schule zu beenden und sich Arbeit zu suchen. Diese Entscheidung hatte Nga-Yee bereits in dem Jahr getroffen, als ihr Vater starb: Wie gut ihre Abschlussnoten auch sein mochten, sie würde auf ein Studium verzichten.

»Mom, wenn ich anfange zu arbeiten, haben wir zwei Einkommen, und du kannst endlich etwas kürzertreten.«

»Nein, Yee, du hast für deine guten Noten sehr hart gearbeitet. Bitte wirf jetzt nicht alles hin. Mach dir keine Sorgen um Geld. Wenn es ganz eng wird, suche ich mir auch noch einen dritten Teilzeitjob …«

»Mom, es reicht! Du machst dich kaputt, wenn du so weiterschuftest. Es war schwer genug, mein Schulgeld für die letzten Jahre zusammenzukratzen, ich kann das nicht noch länger zulassen.«

»Es sind nur noch zwei Jahre. Ich habe gehört, dass es an den Universitäten so etwas wie Unterstützungsgelder gibt. Dann müssen wir uns um die Studiengebühren keine Sorgen machen.«

»Die Dinger heißen Studienkredite, Mom – das heißt, ich müsste das Geld nach dem Abschluss zurückzahlen. Die Anfangsgehälter sind für Absolventen heutzutage nicht gerade berauschend, und Leute mit dem Schwerpunkt Geisteswissenschaften wie ich haben auch keine große Auswahl. Dann müsste ich von meinem Minigehalt auch noch den Kredit abstottern. Da bliebe kaum noch was übrig. Wie soll das denn gehen? Noch fünf Jahre, in denen du allein für uns sorgst, und dann wahrscheinlich noch mal fünf oder sechs, in denen ich kaum was beitragen kann? Du bist jetzt vierzig, Mom. Willst du wirklich, bis du fünfzig bist, so weiterschuften?«

Darauf hatte Yee-Chin keine Antwort. Nga-Yee hatte sich beinahe zwei Jahre auf diese Rede vorbereitet, und ihre Argumente waren wasserdicht.

»Wenn ich mir einen Job suche, wird alles anders«, fuhr Nga-Yee fort. »Erstens: Ich kann sofort anfangen, Geld zu verdienen, und nicht erst in fünf Jahren. Zweitens: Ich verschulde mich nicht beim Staat. Drittens: Ich kann Arbeitserfahrung sammeln, solange ich noch jung bin. Und, das Wichtigste, solange wir beide hart arbeiten, haben wir, wenn Siu-Man mit der Schule fertig ist, genug gespart, damit sie sich wegen all dieser Dinge keine Sorgen mehr machen muss, sondern sich auf ihr Studium konzentrieren kann. Vielleicht haben wir bis dahin sogar genug Geld, um sie an eine Uni im Ausland zu schicken.«

Nga-Yee war noch nie eine große Rednerin gewesen, aber diese Worte kamen von Herzen, und sie äußerte sie sicher und überzeugend.

Schließlich gab Yee-Chin nach. Objektiv betrachtet hatte Nga-Yee ein paar ziemlich gute Argumente angeführt. Gegen die Traurigkeit kam Yee-Chin trotzdem nicht an. War sie eine schlechte Mutter, weil sie zuließ, dass ihre ältere Tochter zum Wohle der jüngeren ihre Zukunft opferte?

»Vertrau mir, Mom, wir tun das Richtige.«

Nga-Yee hatte alles genau durchdacht. Das einzige Hobby, das sie zwischen Hausarbeit und der Betreuung ihrer kleinen Schwester noch unterbringen konnte, war Lesen. Weil sie kein Geld hatten, stammten die meisten Bücher aus der öffentlichen Bibliothek, und dort hoffte sie jetzt einen Job zu bekommen. Und tatsächlich: Sie bewarb sich erfolgreich um eine Stelle als Bibliotheksgehilfin in der East-Causeway-Bay-Filiale und wurde Angestellte beim Kulturreferat von Hongkong.

Obwohl Nga-Yee somit für die Regierung arbeitete, wurde sie durch die Stellung nicht automatisch zur Staatsdienerin und kam auch nicht in den Genuss der damit verbundenen Privilegien. Um Kosten zu sparen, hatte die Regierung von Hongkong – wie viele Privatunternehmen – zugunsten von Zeitarbeitsverträgen viele feste Stellen abgebaut. Die befristeten Verträge liefen über ein oder zwei Jahre, danach endete die Anstellung einfach, ohne jeglichen Verwaltungsaufwand und ohne Abfindung. Auf diese Weise kam es in Zeiten von wirtschaftlichem Abschwung zu einer natürlichen Ausdünnung der Gehaltslisten, während, falls Geld übrig war, Verträge unkompliziert erneuert werden konnten. So behielt der Arbeitgeber die absolute Kontrolle über die Personaldecke und die damit verbundenen Kosten. Darüber hinaus betrieb auch die Regierung in gewissen Arbeitsbereichen Outsourcing. So konnte es durchaus sein, dass jemand, der in einer öffentlichen Bibliothek die Regale bestückte, in Wirklichkeit für einen Dienstleister arbeitete, und das zu noch schlechteren Konditionen als die direkten Angestellten. Als Nga-Yee all das erfuhr, musste sie daran denken, wie ihr Vater behandelt worden war. Im Geiste sah sie ihn in Gestalt eines der alten Bibliotheksaufseher vor sich sitzen.

Trotzdem war Nga-Yee nicht unzufrieden. Ihre Position rangierte sehr weit unten, aber sie brachte im Monat etwa zehntausend Hongkong-Dollar nach Hause, was die wirtschaftliche Situation der Familie erheblich verbesserte. Yee-Chin konnte ihren Zweitjob aufgeben und es nach Jahren der Schufterei endlich etwas langsamer angehen lassen. Sie arbeitete weiter in dem Dim-Sum-Restaurant, konnte aber mehr Zeit zu Hause verbringen und nahm allmählich wieder größeren Anteil an Siu-Mans Erziehung. Nga-Yee arbeitete in ständig wechselnden Schichten, sodass sie keinen regelmäßigen Tagesablauf hatte und wesentlich weniger Zeit mit ihrer kleinen Schwester verbringen konnte. Anfangs stürzte Siu-Man sich auf die erschöpfte Nga-Yee, sobald sie nach Hause gekommen war, erzählte ihr fröhlich plappernd dies und das, doch bald schon schien sie zu akzeptieren, dass ihre Schwester viel zu tun hatte, und hörte auf, ihr auf die Nerven zu gehen. Langsam kehrte in Nga-Yees Familie Normalität ein. Sie mussten sich nicht mehr ständig Sorgen darüber machen, ob das Geld reichte. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, wurde ihr Leben endlich ein wenig leichter, und in ihrem einst so chaotischen Alltag hielt ein gewisses Regelmaß Einzug.

Leider hielt diese Atempause nur fünf Jahre an.

Im vergangenen März war Yee-Chin im Restaurant gestürzt und hatte sich den rechten Oberschenkel gebrochen. Als Nga-Yee davon erfuhr, nahm sie sich sofort den restlichen Nachmittag frei und eilte ins Krankenhaus, ohne zu ahnen, dass dort weit schlimmere Nachrichten auf sie warteten.

»Mrs Chau hat sich den Knochen nicht bei dem Sturz gebrochen – sie ist gestürzt, weil der Knochen brach«, sagte der behandelnde Arzt. »Es besteht der Verdacht auf ein multiples Myelom. Wir müssen noch ein paar Tests machen.«

»Ein multiples was?«

»Ein multiples Myelom. Das ist eine Form von Blutkrebs.«

Zwei angsterfüllte Tage später bekamen sie die Diagnose. Chau Yee-Chin hatte Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Das multiple Myelom ist eine Autoimmunerkrankung, bei der eine Mutation der Plasmazellen an vielen Stellen im Körper gleichzeitig zu Knochenmarkkrebs führt. Wird die Krankheit rechtzeitig erkannt, besteht für die Patienten eine Lebenserwartung von fünf Jahren oder länger. Mit der richtigen Therapie überleben manche sogar mehr als zehn Jahre. Doch in Yee-Chins Fall war es für Chemotherapie oder eine Stammzelltransplantation längst zu spät. Die Ärzte gaben ihr noch sechs Monate.

Yee-Chin hatte zwar Symptome bemerkt – Blutarmut, Gelenkschmerzen, Muskelschwäche –, sie jedoch auf Arthrose und Erschöpfung geschoben. Als sie schließlich doch zum Arzt gegangen war, hatte der lediglich die üblichen Abnutzungserscheinungen und eine Nervenentzündung festgestellt. Das multiple Myelom trifft meistens ältere Männer und nur selten eine Frau in den Vierzigern.

In den Augen von Nga-Yee war ihre Mutter so widerstandsfähig wie Úrsula Iguarán, die Frau von Buendía in Hundert Jahre Einsamkeit, und würde deshalb mindestens genauso alt werden. Erst als sie ihre Mutter plötzlich genauer ansah, erkannte sie mit Schrecken, dass diese Frau von nicht mal fünfzig Jahren schon längst nicht mehr jung war. Jahrelange Knochenarbeit hatte an ihr gezehrt, und die Falten um ihre Augen waren so tief wie die Furchen einer Baumrinde.

Die Hand ihrer Mutter haltend, weinte Nga-Yee stumme Tränen, während Yee-Chin ihre Selbstbeherrschung auch jetzt nicht verlor.

»Nicht weinen, Nga-Yee. Schau mal, wenigstens bist du mit der Schule fertig und hast einen Job. Wenn ich jetzt gehe, muss ich mir wenigstens um euch keine Sorgen machen.«

»Nein, nein, du darfst …«

»Nga-Yee. Du musst stark sein. Versprich es mir. Siu-Man ist so empfindlich, du musst dich um sie kümmern.«

Yee-Chin hatte keine Angst vor dem Tod, auch deshalb nicht, weil sie wusste, dass ihr Mann auf der anderen Seite auf sie wartete. Ihre Töchter waren das Einzige, das sie noch an diese Welt band.

Am Ende hielt Yee-Chin nicht einmal so lange durch, wie die Ärzte es prognostiziert hatten. Zwei Monate später war sie tot.

Auf der Trauerfeier für ihre Mutter verbot Nga-Yee sich die Tränen. In diesem Augenblick begriff sie vollkommen, wie es ihrer Mutter damals ergangen war, als sie von ihrem Vater hatten Abschied nehmen müssen – so traurig, so untröstlich sie auch sein mochte, sie musste jetzt stark sein. Ab jetzt hatte Siu-Man außer ihr niemanden mehr, auf den sie bauen konnte.

In Siu-Man erkannte Nga-Yee sich selbst wieder, wie sie vor zehn Jahren gewesen war: hohläugig, in tiefer Trauer um ihren Vater.

Trotzdem ahnte Nga-Yee, dass der Tod ihrer Mutter Siu-Man noch härter traf. Nga-Yee war schon immer eher still gewesen, Siu-Man war von ihnen beiden die Quirlige. Doch jetzt verstummte sie und zog sich völlig in sich selbst zurück. Der Kontrast war so groß, dass Siu-Man ihr wie ein anderer Mensch vorkam. Nga-Yee erinnerte sich, wie fröhlich es beim Abendessen früher zugegangen war, wenn Siu-Man von der Schule erzählte – welcher Lehrer sich blamiert hatte, weil er in der Schulversammlung was Falsches gesagt hatte, mit welchem Lehrer sich der Vertrauensschüler angelegt hatte, was für ein sinnloses Wahrsagerspiel in der Schule mal wieder die Runde machte. Diese Glücksmomente kamen Nga-Yee vor wie aus einer anderen Welt. Jetzt schaufelte Siu-Man mechanisch ihr Essen in sich hinein, hob kaum den Blick, und wenn Nga-Yee nicht die Mühe auf sich nahm, ein Gespräch zu beginnen, sagte Siu-Man nur »Ich bin satt« und verließ den Tisch. Sie zog sich in ihr »Zimmer« zurück – als Nga-Yee zu arbeiten begonnen hatte, hatte Yee-Chin die Möbel umgestellt, um ihren Töchtern ein bisschen Privatsphäre zu verschaffen, hatte mit Bücherregalen und Schränken zwei kleine Schlupfwinkel abgeteilt – und tippte mit abwesendem Blick auf ihrem Telefon herum.

Sie braucht Zeit, dachte Nga-Yee. Sie wollte ihre Schwester nicht unter Druck setzen, vor allem nicht in dem heiklen Alter von vierzehn. Das würde die Sache nur schlimmer machen. Nga-Yee war sicher, dass Siu-Man über kurz oder lang von selbst wieder aus ihrer Depression herausfinden würde.

Und tatsächlich, etwa ein halbes Jahr später war Siu-Man langsam wieder sie selbst. Nga-Yee war froh, ihre Schwester wieder lächeln zu sehen. Keine von beiden hätte sich träumen lassen, dass das Schicksal noch viel Schlimmeres für sie bereithielt.

2

Um kurz nach sechs Uhr abends am 7. November 2014 bekam Nga-Yee einen unerwarteten Anruf und eilte voller Angst zum Polizeihauptquartier von Kowloon. Ein Polizist führte sie in einen Verhörraum der Kriminalpolizei. Auf einer Bank in der Ecke saß, in ihrer Schuluniform, Siu-Man, neben ihr eine Polizistin. Nga-Yee eilte zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen, doch Siu-Man ließ die Umarmung nur stumm über sich ergehen, ohne jede Reaktion.

»Siu-Man …«

In dem Moment, als Nga-Yee den Mund aufmachte, um zu fragen, was geschehen war, kam Siu-Man plötzlich zu sich, klammerte sich an ihre Schwester, presste das Gesicht an ihre Brust und fing bitterlich an zu weinen. Nachdem sie zehn Minuten lang geschluchzt hatte, beruhigte sie sich wieder ein bisschen.

Die Polizistin sagte: »Sie müssen keine Angst haben, Miss. Ihre Schwester ist jetzt hier. Wollen Sie uns nicht erzählen, was passiert ist?«

Nga-Yee, die das Zögern in den Augen ihrer Schwester bemerkte, nahm Siu-Mans Hand und drückte sie in stummer Ermutigung. Siu-Man sah die Frau an und dann das Aussageformular auf dem Tisch, das bereits mit ihrem Namen und ihrem Alter ausgefüllt war. Sie holte Luft und fing mit zitternder Stimme an zu berichten, was etwa eine Stunde zuvor passiert war.

Siu-Man besuchte die Enoch Secondary School auf der Waterloo Road in Yau Ma Tei. Die Schule konnte sich mit anderen Eliteschulen messen lassen, wie etwa dem Kowloon Wah Yan College, dem True Light Girls’ College oder der ELCHK Lutheran Secondary School. Die Prüfungsergebnisse von Enoch waren zwar nicht ganz so gut wie die dieser vornehmen Privatschulen, doch sie gehörte trotzdem zu den besseren Missionarsschulen des Bezirks und war für ihren Schwerpunkt auf E-Learning, die Verwendung von Tablets im Unterricht und andere innovative Hightech-Lehrmethoden bekannt. Jeden Morgen fuhr Siu-Man mit dem Bus vom Lok Wah Estate zum Bahnhof Kwun Tong und von dort aus eine halbe Stunde mit der U-Bahn weiter nach Yau Ma Tei. Der Unterricht endete um vier Uhr nachmittags, doch manchmal saß Siu-Man im Anschluss daran noch in der Bibliothek, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Und so machte sie sich am 7. November ein bisschen später als üblich auf den Heimweg und verließ die Schule gegen fünf Uhr.

Im September hatten sich in Reaktion auf bevorstehende Wahlreformen in Hongkong Massenproteste erhoben, und die Regierung hatte mit dem gewaltsamen Einschreiten der Bereitschaftspolizei zur Eskalation der Situation beigetragen. Aufgebrachte Bürger gingen in Massen auf die Straße, besetzten die Hauptverkehrsadern der Bezirke Admiralty, Mong Kok und Causeway Bay und legten damit Teile der Stadt lahm. Aufgrund blockierter Straßen und umgeleiteter Buslinien wichen viele Pendler auf die U-Bahn aus und sorgten für eine massive Überlastung des Systems. Vor allem zur Rushhour waren die Bahnsteige derart überfüllt, dass man oft zwei oder drei Züge abwarten musste, ehe man sich in einen Waggon quetschen konnte. In den Waggons selbst war es noch schlimmer – an einen Haltegriff zu gelangen, war unmöglich, und oft stand man so dicht gedrängt, dass man sich nicht einmal umdrehen konnte. Die Pendler standen gepresst wie die Ölsardinen, Rücken an Rücken oder Brust an Brust, oft nur auf Zehenspitzen vorwärts und rückwärts schwankend, sobald der Zug beschleunigte oder abbremste.

Siu-Man stieg in Yau Ma Tei zu und ergatterte einen Platz im vierten Waggon, gegen die linke Tür gedrückt. Auf der Kwun-Tong-Linie öffnen sich die Türen nur in den Stationen Mong Kok und Prince Edward nach links, und nach diesen beiden Haltestellen wurde Siu-Man immer weiter in die Mitte gedrängt. Dort war ihr Stammplatz. Sie stieg erst an der Endhaltestelle aus, und so konnte sie wenigstens bleiben, wo sie war, anstatt an jeder Station irgendwie beiseitetreten zu müssen, um andere Pendler ein- und aussteigen zu lassen.

Als der Zug die Station Prince Edward verließ, passierte laut Aussage von Siu-Man etwas.

»Ich … ich spürte, wie jemand mich berührt …«

»Wo berührt?«, fragte die Polizistin.

»Am … an meinem … Po«, stammelte Siu-Man. Sie hatte, die Schultasche an die Brust gepresst, mit dem Gesicht zur Tür gestanden und konnte deshalb nicht sehen, wer hinter ihr war. Sie spürte eine Hand, die nach ihr griff. Sie wandte den Kopf und blickte in lauter abweisende Gesichter. Bis auf ein paar Ausländer, die sich unterhielten, einen korpulenten, gähnenden Büroangestellten und eine Frau mit lockigen Haaren, die laut telefonierte, hielten alle die Köpfe gesenkt und starrten auf ihre Bildschirme. Mochten die Züge auch noch so voll sein, niemand war bereit, auch nur eine Sekunde soziale Medien, Chat oder Stream zu verpassen.

»Zuerst … zuerst dachte ich, ich hätte mich geirrt …« Siu-Mans Stimme war so dünn wie das Summen einer Mücke. »Es war so voll im Zug, ich dachte, vielleicht hat nur jemand sein Telefon aus der Tasche geholt und mich versehentlich gestreift. Aber dann, kurze Zeit später, spürte ich – ach …«

»Hat er dich noch mal angefasst?«, wollte Nga-Yee wissen.

Siu-Man nickte gequält.

Als die Polizistin mit einigen Fragen nachhakte, lief Siu-Man tiefrot an, dann erzählte sie stockend weiter. Sie hatte gespürt, wie die Hand langsam über ihre rechte Pobacke glitt, hatte verzweifelt versucht, sie zu fassen zu kriegen, doch es waren zu viele Menschen um sie herum, und sie erwischte sie nicht. Weil sie sich nicht richtig umdrehen konnte, verrenkte sie, so gut es ging, den Hals, um den Perversen mit einem bösen Blick aufzuhalten, aber sie konnte immer noch nicht sagen, wer es gewesen war. Der Mann im Anzug direkt hinter ihr, der glatzköpfige alte Knacker daneben oder jemand außerhalb ihres Blickfelds?

»Hast du denn nicht um Hilfe gerufen?« Noch im selben Augenblick bereute Nga-Yee die Frage. Sie wollte auf keinen Fall klingen, als würde sie ihrer Schwester Vorwürfe machen.

Siu-Man schüttelte den Kopf.

»Ich – ich hatte Angst, mich aufzuführen wie …«

Nga-Yee wusste genau, was ihre Schwester meinte. Sie war selbst einmal Zeugin geworden, als ein Mädchen, das in der U-Bahn belästigt worden war, sich lautstark wehrte und den Angreifer wegschlug. Als Reaktion darauf erntete das Opfer angewiderte Blicke, und der Täter verhöhnte sie noch. »Hältst du dich für ein Supermodel, oder was? Warum sollte ich denn bitte dir an die Titten fassen?«, hatte er spöttisch gerufen.

Siu-Man verstummte. Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder etwas im Griff und fuhr zögernd fort. Die Beamtin schrieb mit. Siu-Man berichtete, wie sie in Panik geraten war. Dann verschwand die Hand plötzlich. In dem Moment, als sie erleichtert aufatmete, spürte sie, wie der Rock ihrer Schuluniform nach oben geschoben wurde und die Hand anfing, ihren Oberschenkel zu streicheln. Siu-Man hatte das Gefühl, ihr würden Kakerlaken übers Bein laufen, und sie überkam eine heiße Woge der Übelkeit. Im Waggon war es immer noch zu eng, um sich zu rühren, und sie konnte nur beten, dass die Hand sich nicht noch weiter nach oben bewegte.

Aber ihre Gebete wurden nicht erhört.

Die Hand des Perversen kehrte zu ihrem Po zurück, Finger schlängelten sich unter den Gummi ihres Höschens und bewegten sich auf ihre Scham zu. Siu-Ma wurde starr vor Schreck. Sie konnte nichts tun, als hektisch ihren Rock nach unten zu ziehen und ihn so davon abzuhalten, noch weiter zu gehen.

»Ich – ich weiß nicht, wie lange das dauerte … ich flehte ihn die ganze Zeit stumm an, damit aufzuhören.« Siu-Man zitterte beim Sprechen. Der Anblick tat Nga-Yee in der Seele weh. »Doch dann hat die Frau mich gerettet.«

»Welche Frau?«, fragte Nga-Yee.

»Mehrere beherzte Mitreisende haben geholfen, den Täter aufzuhalten«, erklärte die Polizeibeamtin.

Als der Zug in die Haltestelle Kowloon Tong einfuhr, erschallte die Stimme einer Frau. »He, Sie! Was treiben Sie da?« Es war die mittelalte Frau, die so laut telefoniert hatte.

»Als die Frauenstimme ertönte, war die Hand plötzlich weg«, sagte Siu-Man zittrig.

»Sie! Ich rede mit Ihnen! Was haben Sie da gerade gemacht?«

Die Frau schrie einen großen Mann an, der etwa zwei oder drei Passagiere von Siu-Man entfernt stand. Er war etwa Anfang vierzig, hatte wachsgelbe Haut, hervorstehende Wangenknochen, eine flache Nase und schmale Lippen. Es lag etwas Durchtriebenes in seinem Blick. Er trug ein verwaschen blaues Hemd, das ihn noch blasser aussehen ließ.

»Meinen Sie mich?«

»Ja, Sie! Ich habe gefragt, was Sie da gerade gemacht haben!«

»Was denn? Was habe ich denn gemacht?«

Der Mann wirkte nervös. Der Zug blieb in Kowloon Tong stehen, und die Türen öffneten sich nach rechts.

»So, Sie Perversling, ich frage Sie jetzt: Haben Sie dem Mädchen da unter den Rock gefasst?« Die Frau nickte in Siu-Mans Richtung.

»Sind Sie verrückt?« Der Mann schüttelte den Kopf und versuchte, mit den aussteigenden Fahrgästen den Zug zu verlassen.

»Hiergeblieben!« Die Frau drängelte sich durch die Menge und packte ihn am Arm, ehe er verschwinden konnte. »Sag, Mädchen, hat der Mann hier dir an den Po gefasst?«

Siu-Man biss sich auf die Unterlippe, ihr Blick huschte hin und her, sie wusste nicht, ob sie die Wahrheit sagen sollte.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kann das bezeugen. Sag es einfach.«

Voller Angst nickte Siu-Man stumm.

»Ihr seid doch beide verrückt! Ich will aussteigen!«, schrie der Mann. Die Mitreisenden merkten inzwischen ebenfalls, was los war, und einer drückte den Notknopf, um den Zugführer zu informieren.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Leugnen ist zwecklos. Sie kommen jetzt mit zur Polizei!«

»Ich – ich bin nur aus Versehen gegen sie gestoßen. Sehen Sie sich die doch an. Glauben Sie etwa, ich würde so einer an den Hintern fassen? Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, zeige ich Sie an! Das ist Freiheitsberaubung!« Der Mann schubste die Frau zur Seite und versuchte, auszusteigen, aber ein ziemlich starker Kerl in einem Muskelshirt streckte den Arm aus und hielt ihn auf.

»Egal, ob Sie das getan haben oder nicht, Sir, es wäre besser, wenn Sie mit aufs Revier gehen und die Sache aufklären«, sagte er mit drohendem Unterton.

Siu-Man stand inmitten des Tumults in einer Ecke und spürte die Blicke der anderen Fahrgäste auf sich. Manche waren voller Mitleid, in manchen lag unverhohlene Neugier und in einigen sichtliche Erregung. Die Blicke mancher Männer waren besonders schlimm – als wollten sie sagen: »Ach was? Du wurdest angefasst? Und? Wie hat sich’s angefühlt? Schämst du dich? Hat’s dir gefallen?« Ihr zitterten die Knie. Sie sank zu Boden, kauerte sich zusammen und fing an zu schluchzen.

»Hey, nicht weinen! Ich kümmere mich um dich«, sagte die laute Frau.

Dann wurde Siu-Man von der Frau, dem muskelbepackten Mann und einer weiteren Frau, die aussah wie eine Büroangestellte, aufs Polizeirevier begleitet, um eine Aussage zu machen. Nach den Worten der Frau mit dem Telefon waren die anderen Fahrgäste alle mit ihren Smartphones beschäftigt gewesen, weshalb sie die Einzige gewesen war, die bemerkt hatte, wie aufgelöst Siu-Man wirkte. Als dann in Shek Kip Mei Bewegung in die Menge kam, konnte sie plötzlich sehen, wie Siu-Mans Rock hochgeschoben wurde und eine Hand ihr an den Po griff. Sobald sie sich lautstark bemerkbar machte, hielten einige Mitreisende sofort mit ihren Smartphones drauf. Einen Ort ohne Kameras gibt es heutzutage im Grunde gar nicht mehr.

Der Mann, den sie festgehalten hatten, hieß Shiu Tak-Ping. Er war dreiundvierzig Jahre alt und Besitzer eines Schreibwarenladens in Lower Wong Tai Sin. Er bestritt die Vorwürfe, bestand darauf, dass er versehentlich gegen Siu-Man gestolpert sei und dass sie die Sache jetzt nur aufblase, weil die beiden im Vorfeld eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt hätten. Seine Version der Ereignisse lautete, dass Siu-Man sich an der Haltestelle Yau Ma Tei im Kiosk beim Bezahlen an der Kasse so viel Zeit gelassen hatte, dass sich hinter ihr eine Schlange bildete. Shiu Tak-Ping hatte direkt hinter ihr gestanden und sie angeschnauzt, sie solle sich gefälligst beeilen. Deswegen sei sie sauer auf ihn gewesen und habe, als sie ihn dann im Zug wiedergesehen hätte, beschlossen, sich mit einer falschen Anschuldigung zu rächen.

Die Polizei befragte den Mann an der Kioskkasse, welcher bestätigte, dass es zu einem unangenehmen Zwischenfall gekommen sei. Laut seiner Aussage war Shiu Tak-Ping ziemlich ausfallend geworden und hatte seinem Unmut, nachdem Siu-Man den Laden schon wieder verlassen hatte, weiter Luft gemacht: »Die jungen Leute von heute sind alles Nichtsnutze. Führen sich auf wegen nichts und wieder nichts. Die treiben Hongkong noch in den Ruin.« Das reichte jedoch nicht, um zu beweisen, dass Siu-Man Groll gegen ihn hegte, wohingegen Shiu Tak-Pings Reaktion auf seine Schuld hinzudeuten schien: Er war ausfallend geworden und hatte versucht, den Zug zu verlassen, obwohl Kowloon Tong nicht seine Haltestelle war – er war in Wong Tai Sin zu Hause.

»Also, Miss, ich bitte Sie, sich das hier durchzulesen und sicherzugehen, dass Sie mit allem, was hier steht, einverstanden sind«, sagte die Polizistin und legte Siu-Man die Aussage hin. »Falls das so stimmt, unterschreiben Sie bitte hier unten.«

Siu-Man nahm den Kugelschreiber und setzte zögerlich ihren Namen unter das Protokoll. Nga-Yee hatte ein solches Formular noch nie zuvor gesehen. Über der gepunkteten Unterschriftslinie stand eine Erklärung: »Ich bin mir im Klaren, dass eine wissentliche Falschaussage ein Vergehen darstellt und eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen kann.« Das klang gravierend. Nga-Yee musste in ihrem Leben so gut wie noch nie ein offizielles Dokument unterschreiben, und hier saß ihre kleine Schwester Siu-Man, fast noch ein Kind, und setzte ihren Namen unter ein derart schwerwiegendes Dokument.

Während der Fall seinen Gang durch das Justizsystem nahm, tauchten hier und da ein paar kurze Pressemeldungen auf, in denen Siu-Man ausschließlich als »Miss A« vorkam. Ein Reporter versuchte, die Story aufzubauschen, indem er bekannt machte, dass Shiu Tak-Ping in seinem Schreibwarenladen auch schlüpfrige Zeitschriften verkaufte, von denen sich manche um japanische Schulmädchen drehten, und dass er ein begeisterter Hobbyfotograf war; ab und zu buchte er offenbar gemeinsam mit ein paar befreundeten Fotonarren ein Model für eine Session, und der Artikel deutete an, dass er sich besonders für minderjährige Mädchen interessierte. Trotzdem wurde einem Fall, in dem es um Erregung öffentlichen Ärgernisses ging, nicht besonders viel Platz eingeräumt, und unter dem Strich nahm die Öffentlichkeit kaum davon Notiz. Schließlich kam es tagtäglich zu solchen Vorfällen, und zu jenem Zeitpunkt konzentrierte sich die Berichterstattung der Printmedien auf die Occupy-Bewegung und andere politische Nachrichten.

Am 9. Februar fand die erste Anhörung statt, und Shiu Tak-Ping wurde offiziell wegen sittenwidrigen Verhaltens angeklagt. Er plädierte auf »nicht schuldig«, und sein Anwalt beantragte eine Vertagung des Verfahrens mit dem Argument, die »umfassende Berichterstattung der Medien« würde einen fairen Prozess unmöglich machen. Der Antrag wurde abgelehnt, und der Richter setzte den Prozessbeginn für Ende des Monats fest. Nga-Yee erhielt eine schriftliche Vorladung für Siu-Man mit der Erlaubnis, ihre Aussage vor Gericht per Videolink aus einem Nebenraum zu machen. Nga-Yee hatte Angst um ihre Schwester, weil sie dort ganz alleine würde stehen müssen, um sich den Fragen von Shius Anwalt zu stellen, der sie mit Sicherheit schonungslos zu jedem noch so kleinen Detail des Vorfalls und ihres Privatlebens befragen würde.

Wie sich herausstellte, hatte Nga-Yee sich umsonst Sorgen gemacht.

Zum Prozessbeginn am 26. Februar plädierte Shiu Tak-Ping überraschend auf »schuldig«, was zur Folge hatte, dass sämtliche Zeugenbefragungen überflüssig wurden. Dem Richter blieb nur noch, das psychiatrische Gutachten sowie weitere schriftliche Einlassungen zu lesen und das Urteil zu fällen. Am 16. März wurde Shiu zu drei Monaten Haft verurteilt, würde jedoch dank Schuldeingeständnisses und erkennbarer Reue nur zwei Monate absitzen müssen. Das Urteil trat mit sofortiger Wirkung in Kraft.

Nga-Yee glaubte, damit wäre die Sache erledigt, Siu-Man könnte das schreckliche Ereignis vergessen und sich allmählich wieder der Normalität zuwenden. Stattdessen begann, einen Monat nachdem Shiu die Haft angetreten hatte, ein Albtraum, der ihre Schwester schließlich in den Suizid trieb.

Am Freitag, den 10. April, eine Woche vor Siu-Mans fünfzehntem Geburtstag, wurde auf Popcorn, einer lokalen Chat-Plattform, folgender Beitrag gepostet:

 

GEPOSTETVON kidkit727 AM 10.04.2015, 22:18

Vierzehnjährige Schlampe ist schuld, dass mein Onkel in den Knast gewandert ist!!!

Ich pack’s nicht mehr. Ich muss endlich meinen Onkel verteidigen.

Mein Onkel ist 43. Er lebt mit seiner Frau in Wong Tai Sin und hat ein Schreibwarengeschäft. Er schuftet jeden Tag, um seine Familie über Wasser zu halten. Er ist nicht sehr gebildet – er ist mit vierzehn von der Schule abgegangen –, aber er ist voll in Ordnung. Er hat an der Kasse angefangen, und weil er immer so ehrlich und höflich war, hat sein Vorgänger ihm den Laden übergeben, als er in Rente ging. Ich habe von meinem Onkel noch nie eine Lüge gehört, seine Preise sind fair, und sämtliche Nachbarn würden euch dasselbe erzählen. Aber dann hat eine vierzehnjährige Schlampe ihm eine echt üble Geschichte angehängt, und jetzt sitzt er im Gefängnis.

Es passierte letzten November, auf der Kwun-Tong-Linie. Eine vierzehnjährige Schülerin hat behauptet, mein Onkel hätte ihr an den Hintern gefasst. Aber das stimmt überhaupt nicht! Das Mädchen wollte sich nur rächen! Kurz vorher war mein Onkel im Kiosk Yau Ma Tei, um Zigaretten zu holen. Er stand hinter dem Mädchen an der Kasse an. Ich glaube, sie wollte Telefonguthaben kaufen, aber als sie zahlen sollte, hatte sie nicht genug Geld. Sie hat eine Ewigkeit in ihrer Tasche nach Münzen gekramt, während die Schlange hinter ihr immer länger wurde. Schließlich rief mein Onkel: »Beeil dich mal! Wir warten hier alle nur auf dich. Geh zur Seite, wenn du nicht bezahlen kannst.« Sie drehte sich um und fing an zu kreischen, und mein Onkel hat natürlich Kontra gegeben. Er hat gesagt, sie wäre schlecht erzogen, und dann noch irgendwas Abfälliges über ihre Eltern. Sie starrte ihn nur an. Es heißt ja, Hunde, die bellen, beißen nicht, und diese Schlampe ist das perfekte Beispiel dafür, dass es genau andersrum ist. Sie hat die ganze Zeit, während mein Onkel auf sie einschimpfte, kein Wort gesagt, aber hinterher hat sie sich auf ganz fiese Art gerächt, mit einer falschen Anschuldigung.

Dabei hat er ihr in Wirklichkeit nie was getan, deshalb konnte er auch nichts gestehen. Doch die Presse war total gegen ihn. Das war eine echt harte Zeit für meinen Onkel und seine Frau. Er fotografiert gerne – sein einziges Hobby. Sie haben nicht viel Geld, und er hat nur eine billige Secondhandausrüstung. In seinem Laden verkauft er auch Fotozeitschriften, und manchmal trifft er sich mit ein paar Kumpels, um Landschaften oder Menschen zu fotografieren. In der Zeitung klang das, als wäre er ein Pädophiler, der nackte Mädchen fotografiert. Also bitte! Im Laden von meinem Onkel gibt es zig Fotobücher. Natürlich haben die Reporter genau das mit den zwei Mädchen in Schuluniform rausgepickt und die Sache mordsmäßig aufgeblasen. Die Fotosessions haben nur ein- oder zweimal im Jahr stattgefunden, aber in der Presse klang das, als hätte es jeden Monat eine Orgie gegeben.

Mein Onkel hatte Angst, dass diese Geschichten den Richter beeinflussen würden. Er wusste, dass der Versuch, wegzulaufen, als diese Schlampe ihn beschuldigt hat, dumm gewesen war. Sein Anwalt machte ihm klar, dass der Fluchtversuch und die Tatsache, dass die Nebenklägerin unter sechzehn ist, ihn vor Gericht schlecht dastehen lassen würden. Er riet ihm, auf »schuldig« zu plädieren, um wenigstens mit einer leichteren Strafe davonzukommen. Andernfalls wäre das Mädchen seinetwegen »gezwungen« gewesen, die ganze Geschichte vor Gericht zu bezeugen, der Richter hätte gedacht, er würde keine Reue empfinden, und am Ende wäre er nur noch länger ins Gefängnis gewandert. Am Anfang blieb mein Onkel standhaft, aber irgendwann knickte er ein. Seiner Frau geht es nicht gut, und er hatte Angst, sie zu lange allein zu lassen. Er dachte, es wäre besser, die Sache schnell hinter sich zu bringen. Nachdem diese albernen Geschichten in der Zeitung gestanden hatten, kamen jeden Tag Leute in den Laden, zeigten mit dem Finger auf die Frau meines Onkels und fingen an zu tuscheln. Mein Onkel liebt sie sehr, deshalb hat er beschlossen, sich der Ungerechtigkeit zu beugen und ins Gefängnis zu gehen.

Ein so guter und liebender Ehemann wie mein Onkel hätte sich niemals in der U-Bahn an einem Mädchen vergriffen.

Abgesehen davon gibt es einige Ungereimtheiten in dem Fall:

1. Mein Onkel ist eins achtundsiebzig groß und dieses Mädchen gerade mal eins sechzig. Das macht satte achtzehn Zentimeter Unterschied. Sie hat gesagt, mein Onkel hätte ihren Rock hochgeschoben, um ihr an den Hintern zu fassen. Hätte er sich dazu nicht ziemlich weit runterbeugen müssen? Ohne dass jemand was mitbekommt?

2. Natürlich wollte mein Onkel abhauen. Wäre doch jedem so gegangen, oder nicht? Stellt euch vor, irgendeine fiese, verlogene Kuh würde euch zu Unrecht was vorwerfen, würdet ihr einfach so dastehen und euch das gefallen lassen? In Hongkong geht es zurzeit drunter und drüber – es gibt Macht, aber keine Gerechtigkeit. Das Gesetz hat keine Bedeutung mehr, und wenn irgendwer ankommt und behauptet, schwarz wäre weiß, stimmen die Leute ihm zu. Wie sollte mein Onkel sichergehen, dass jemand ihm glaubt?

3. Die Polizei sagt, der Fall sei schwerwiegend, weil das Opfer unter sechzehn war. Und was ist mit den Beweisen? Wenn ihre Behauptungen stimmen würden, wären Textilfasern unter seinen Fingernägeln gewesen und der Schweiß seiner Finger in ihrem Höschen. Hat irgendwer einen DNA-Test gemacht?

Aber am wichtigsten: Mein Onkel würde niemals ein solches Risiko eingehen. Warum sollte er seine Familie, seinen Laden, ja sein ganzes Leben aufs Spiel setzen? Wofür denn? Für eine langweilige, nichtssagende Minderjährige?

Mein Onkel hat auf »schuldig« plädiert, um die Sache möglichst schnell zu beenden. Ich habe den Mund gehalten und mitgespielt, wollte den Sturm an mir vorbeiziehen lassen, aber was ich heute gehört habe, hat mich wieder total wütend gemacht.

Ein Freund von mir hat ziemlich üble Dinge über diese vierzehnjährige Hure ans Licht gezerrt. An ihrer Schule wissen alle, dass sie eine kleine Schlampe ist, die ständig Ärger macht. Sie tut zwar nach außen hin nett, aber hinter dem Rücken der Leute intrigiert sie. Einem Mädchen hat sie den Freund ausgespannt und ihn abserviert, sobald ihr langweilig wurde. Deshalb hat sie auch überhaupt keine Freunde. Aus ihrer Klasse will niemand was mit ihr zu tun haben. Nach der Schule hängt sie immer mit total fertigen Typen rum und säuft, wer weiß, vielleicht nimmt sie sogar Drogen und hurt durch die Gegend.

Laut jemandem aus ihrer Klasse wuchs sie ohne Vater auf. Letztes Jahr ist ihre Mutter gestorben, und seitdem hat sie keiner mehr unter Kontrolle. Sie wurde immer schlimmer. So wie ich das sehe, lässt sie ihr Unglück an ihrer Umgebung aus. Nach der Nummer in der U-Bahn spielt sie das arme kleine Opfer, um möglichst viel Mitleid zu kriegen. Aber was hat mein Onkel denn verbrochen? Soll er jetzt sein Glück und das Glück seiner Familie ihren egoistischen Wünschen opfern?

Tut mir leid, Onkel, ich weiß, du wünschst dir nur, dass die ganze Sache endlich vorbei ist, aber ich kann nicht mehr länger den Mund halten!

 

Nicht mal einen Tag nach Erscheinen avancierte der Hass-Post zum beliebtesten Beitrag der Seite und ging kurz darauf auf Facebook und anderen sozialen Medien viral. Die Regenschirm-Bewegung sorgte generell für Misstrauen gegenüber den Behörden. Viele Menschen unterstellten der Polizei Machtmissbrauch, die Anwendung von übertriebener Gewalt, und manche sogar, mit den Triaden unter einer Decke zu stecken. Wenn die Polizei versuchte, für Ordnung zu sorgen, warfen die Protestierenden ihr vor, totalitär zu agieren und die Rechte der Bürger zu unterdrücken. Vor diesem Hintergrund schlugen sich viele Popcorn-Leser auf die Seite des anonymen Verfassers. Der Post passte zum Narrativ der Stunde: Der Gerechtigkeit war nicht Genüge getan worden, die Polizei hatte geschlampt und ihre Pflichten vernachlässigt, also musste Shiu Tak-Ping unschuldig sein. Sie bedrohten »Miss A« und kündigten an, sie bloßzustellen. Ein paar Tage später postete jemand im gleichen Thread ein Foto von Siu-Man, zusammen mit ihrem vollständigen Namen, dem Namen ihrer Schule und ihrer Adresse. Weil es illegal ist, die Daten von Minderjährigen zu veröffentlichen, wurde der Post von den Moderatoren schnellstens gelöscht, aber nicht, ehe unzählige Nutzer das Foto samt Informationen per Screenshot gesichert und mit ein paar verknappten Angaben repostet hatten, um das Gesetz zu umgehen: »Au_Man, die kleine Schlampe von der E_School in Yau Ma Tei« oder »Die vierzehnjährige Hure aus Lok_Estate, _ Siu-Man.« Die Leute posteten schreckliche Unterstellungen und verfremdeten ihr Gesicht per Photoshop zu jeder Menge demütigender Bilder.

Nga-Yee liebte Bücher, aber was das Internet betraf, war sie quasi Analphabetin. Weil sie keine Freunde hatte, waren die sozialen Medien und Chatforen für sie absolut unbekanntes Terrain. Für ihren Job in der Bibliothek musste sie den Umgang mit E-Mails lernen, aber das war’s dann auch schon. Aus diesem Grund hatte sie erst drei Tage nachdem der Post erschienen war davon erfahren, als eine ihrer Kolleginnen ihr am Montag davon erzählte. Da erst begriff sie, weshalb Siu-Man das ganze Wochenende so verstört zu Hause gesessen hatte. Ihr verstaubter PC war ein Billigmodell, das zusammen mit dem Internetzugang installiert worden war. Weil in ihrem Wohnblock so viele Menschen lebten, bot der Provider eine niedrige Monatsflat an. Sie hatten sich den Zugang legen lassen, nachdem Nga-Yee zu arbeiten begonnen hatte, als das Geld nicht mehr ganz so knapp gewesen war. Yee-Chin hatte dem Verkäufer nicht widerstehen können, als er sagte, das Paket würde »Ihrer Tochter helfen, noch bessere Noten zu erzielen«. Im Grunde blieb der schwarze Desktop-Computer so gut wie unbenutzt, denn als Siu-Man auf die weiterführende Schule wechselte, hatte sie sich ein günstiges Smartphone zugelegt und ging damit über das heimische WiFi ins Netz.

Nachdem Nga-Yee den Post auf dem Tablet ihrer Kollegin gelesen hatte, schäumte sie vor Wut. Die verleumderischen Vorwürfe »nimmt Drogen« und »hurt durch die Gegend« waren schlimm, doch erst als sie sich wieder beruhigt hatte, wurde ihr klar, wie ernst die Sache war. Sie geriet in Panik und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sollte sie ihre Schwester anrufen? Aber Siu-Man saß jetzt im Unterricht. Sie rief in der Schule an und bat darum, mit Miss Yuen verbunden zu werden, Siu-Mans Klassenlehrerin. Es stellte sich heraus, dass Miss Yuen bereits von den Gerüchten erfahren hatte und man an der Schule einen Ausschuss einberufen hatte, um sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Au. Heute im Unterricht wirkte Siu-Man ganz normal. Ich behalte sie im Auge, und wir vereinbaren einen Termin bei unserer Sozialpädagogin«, sagte Miss Yuen.

Auf dem Nachhauseweg bereitete Nga-Yee sich darauf vor, ihre Schwester zu trösten – auch wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte –, aber Siu-Mans Reaktion überraschte sie.

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte sie tonlos.

»Aber …«

»Ich bin am Ende. Sämtliche Lehrer wollten mit mir reden. Mir reicht’s für heute.«

»Siu-Man, ich möchte doch nur …«

»Nein!«, schrie Siu-Man. »Ich will nicht darüber sprechen! Fang du nicht auch noch an!«

Nga-Yee war schockiert von Siu-Mans Reaktion. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Schwester zum letzten Mal so ausgerastet war.