Diener des Wahnsinns - Ann Boncelli - E-Book

Diener des Wahnsinns E-Book

Ann Boncelli

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Beschreibung

Wussten Sie, dass es einen zweiten Papst gibt? Die Kriminalkommissarin Marie Martius hat davon keine Ahnung, als sie zu einem Tatort im Münchner Osten gerufen wird. Vor der Kirche Sankt Loreto liegen zwei Leichen. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Opfer und Täter handelt – ein Fall, der schnell zu den Akten gelegt werden könnte. Trotzdem forscht die Kommissarin weiter nach dem Tatmotiv und findet sich bald in ihrem ganz persönlichen Albtraum wieder. Und das nicht nur, weil Maries Hartnäckigkeit ihre Karriere frühzeitig beenden könnte. Der Fall wird viel mehr zu einer Prüfung ihres eigenen Seelenheils. Je tiefer Marie in die Welt aus Glauben und Religion eintaucht, umso greifbarer und bedrohlicher wird das pure Böse. Bis sie sich schließlich fragen muss: Was von alldem ist noch wahr und was dem Wahnsinn entsprungen? Ein Münchner Mystery Krimi, der dich tief hinab in die Abgründe der Seele zieht, mitten hinein zwischen Himmel und Hölle.

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Seitenzahl: 416

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Ann Boncelli

Diener des Wahnsinns

 

 

 

 

 

Ann Boncelli

Diener des Wahnsinns

www.annboncelli.com

 

Content Notes:

Mord, Blut, Kind, Religion, Alkohol, sexueller Übergriff, Kindheitstrauma,

(Selbst)hypnose, Gewalt (psychisch, körperlich), Autounfall, Depression, Betrug, Vandalismus, Manipulation.

 

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2023

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

 

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Lektorat & Korrektorat: worttief-Lektorat (Mareike Westphal)

Credits Envato Elements: MalyskaStudio, alcode

 

Klappenbroschur: 978-3-98595-687-6

E-Book Ausgabe: 978-3-910238-06-0

 

 

Sind wir von Sinnen gekommen,

so ist es für Gott;

sind wir bei Sinnen,

so sind wir‘s für euch.

 

Denn unser Wahn ist die Liebe Christus‘,

mit dem Schlusse:

einer ist für alle gestorben,

also sind sie alle gestorben.

 

(2. Korinther 5, 13-14; 1899)

Kapitel 1

 

29. September 2011

 

Eine Handvoll Reporter hatte die Fährte der frisch erlegten Beute ausgemacht und stürzte heran – wie immer, wenn der Wahnsinn sich ein Opfer geholt und sein Territorium mit Blut markiert hatte. Die Sensationslust war in ihren Augen abzulesen. Eine Gier, die alle anderen menschlichen Regungen zu verdrängen vermochte. Da half kein Appell an das Pietätgefühl und meist auch kein Absperrband. Schließlich mussten sie ihr Medienversprechen wahr machen: »Mittendrin statt nur dabei.«

Auf den T-Shirts, Jacken und Mikrofonen prangten die Namen ihrer Sender wie Kriegsbemalungen. Jeder Jäger bewaffnet mit mehreren Kameras – digital, schnell, mit möglichst starkem Zoom –, um jedes blutige Detail aufzuspüren und für die voyeuristische Leserschaft festzuhalten. Für sie war es die tägliche Schlacht um das bestbezahlte Bild, für mich der Kampf um mein Seelenheil.

Es war Donnerstagmittag. Herbstlaub hüllte die Kastanien, die den Tatort in einer lichten Reihe umrahmten, in farbenfrohe Kleider. Ein milder Spätsommerwind animierte die Blätter, leise raschelnd von den Erlebnissen der vergangenen Saison zu erzählen. Im Schein der Septembersonne malten sie Schattenmuster auf die Pflastersteine vor der Kirche St. Loreto. Ein Bild der Harmonie. Doch die heile Welt endete wenige Meter vor dem Eingang des bescheidenen Backsteinbaus.

Schaulustige bevölkerten den sonst so ruhigen Ort im Osten von München. Einer neben dem anderen drängten sich die Gaffer mit der Presse konkurrierend an der weiträumig errichteten Absperrung, reckten die Hälse und versuchten Einzelheiten zu erspähen.

Schakale!, dachte ich. Ängstliche, Kadaver fressende Schakale! Die einen hecheln dem schnellen Geld hinterher, die anderen gieren nach einem originellen Schnappschuss fürs private Fotoalbum. Dass diese Art des Menschenauflaufs Alltag in meinem Beruf war, machte es nicht weniger abstoßend. Ich bahnte mir meinen Weg durch das Gedränge und schlüpfte unter dem signalroten Band hindurch.

»Kriminalkommissarin Marie Martius«, nannte ich dem heranstürmenden Polizisten in Uniform meinen Namen und hielt ihm meine Erkennungsmarke entgegen. Sofort senkte der Beamte seine Hände, doch sein Blick blieb argwöhnisch. Er wanderte von meinen Sneakern, die olivfarbene Cordhose hinauf, über mein enganliegendes dunkelblaues T-Shirt, auf das in weißen Lettern »Don’t touch« gedruckt war, und endete an den Schultern meiner Jeansjacke, bei der ich die Ärmel zweimal umkrempeln musste, um die Hände frei zu haben. Mein Äußeres schien wenig überzeugend zu sein, mein Ausweis dafür umso mehr. Nachdem er die Karte eingehend überprüft hatte, bedeutete er mir durch eine Kopfbewegung, ihm zu folgen.

Ich lächelte. Auch wenn das Jahrhundert der Aufklärung längst ein- und ausgeläutet worden war, Emanzipation nicht mehr zwingend als Schmähwort galt und eine Frau unseren Staat anführte, so erwartete die Mehrheit der Gesellschaft immer noch einen Mann in Gestalt des obersten Gesetzeshüters. Ganz besonders dann, wenn es sich um Mord handelte. Und genau das hatte die Einsatzzentrale vor gut einer halben Stunde gemeldet: »Zwei Leichen entdeckt, Josephsburgstraße, Stadtteil Berg am Laim.«

»Sie kommt von der Kripo«, meldete mich der Beamte einem stämmigen, uniformierten Mann Ende vierzig, der der momentane Einsatzleiter zu sein schien.

»Kriminalkommissarin Marie Martius. Womit genau habe ich es hier zu tun?« Sachlichkeit und Strenge waren die besten Mittel, um sich Respekt zu verschaffen, so weit hatte ich meine Lektion nach dem ersten Jahr im Einsatz gelernt.

»Doppelmord beziehungsweise Mord durch Erstechen mit anschließendem Selbstmord.«

Meine Kiefermuskeln spannten sich reflexartig an. Warum nur mussten Gespräche zwischen Mann und Frau, Vorgesetztem und Untergebenem, Polizei und Kripo immer in einem Machtkampf enden?

»Spekulationen sind in diesem frühen Stadium unangebracht«, kommentierte ich seine Aussage trocken und setzte etwas schärfer hinzu: »Wie ich sehe, haben Sie die nötigsten Sofortmaßnahmen getroffen, um den Platz abzusperren und die Spuren zu sichern. Immerhin. Auch wenn ihre Mannschaft wie ein Hühnerhaufen kreuz und quer herumrennt, anstatt einen Korridor zu markieren, damit wir später die Chance haben, den Weg von Täter und Opfer nachzuvollziehen.«

Die Gesichtsfarbe des Einsatzleiters wurde eine Nuance blasser. Sein zuckendes Augenlid verriet mir, dass er sich vage an diese Vorschrift erinnerte.

Wie so oft im Leben bekam der Rangniedrigere die Wut des Ertappten zu spüren. Kurz, aber laut schnauzte er den Beamten, der mich zu ihm geführt hatte, an und befahl, den vorschriftsmäßigen Pfad abzustecken und der Einsatzmannschaft der Schutzpolizei einzubläuen, den Tatort nur noch über diesen Korridor zu betreten.

»Gibt es Zeugen für den Mord?«

Der Leiter schüttelte den Kopf, besann sich, blätterte hektisch in seinem Notizblock und zeigte zur Kirche.

»Pater Josephis. Er hat die Toten gefunden und bei der Einsatzzentrale gemeldet.«

Na, dann ist er wohl kaum als Tatzeuge zu bezeichnen, dachte ich und seufzte.

»Außerdem hat er einen mutmaßlichen Zeugen am östlichen Ende des Platzes stehen und dann wegrennen sehen.«

Ein geflohener Zeuge war normalerweise genauso viel wert wie ein feuchter Vogelschiss. Aber auch diesen Kommentar behielt ich für mich. Ich hatte mir vorerst genug Autorität verschafft, jetzt galt es, Fakten zu sammeln und Ergebnisse zu produzieren.

Ich holte mein Notizbuch aus der Innentasche meiner Jeansjacke und vermerkte für das Protokoll Datum, Ankunftszeit, Witterung und Adresse des Schauplatzes.

Vorschriftsmäßig ließ ich meinen Blick über den Platz schweifen, um einen Gesamteindruck der Situation zu erhalten, und dokumentierte die bisher erfolgte Sicherung des Tatorts.

Es waren immer noch viel zu viele Menschen ohne eigentliche Aufgabe innerhalb des abgesperrten Geländes. Wenn es Spuren gegeben hatte, so waren diese mittlerweile unter den Fußabdrücken der Streifenpolizisten begraben. Ich konnte nur hoffen, dass der gerufene Notarzt besser aufgepasst und die Leichen bei seiner Arbeit nicht allzu sehr bewegt hatte.

»Ab jetzt übernehme ich die Einsatzleitung. Ich erwarte Ihren Bericht bis spätestens heute Abend auf meiner Dienststelle, Kriminalpolizeiinspektion, Tegernseer Landstraße, Abteilung KPI Ost. Und schaffen Sie ihre Leute endlich aus dem Sicherungsbereich, sonst kann ich die Kriminaltechniker für die Spurensuche gleich wieder nach Hause schicken.«

Damit ließ ich den Beamten stehen und überquerte den Platz in Richtung der Kirche. Es war Zeit, sich mit den Opfern bekannt zu machen.

Als ich die Leichen schließlich erblickte, hatte ich das Gefühl, von einer Abrissbirne getroffen zu werden. Niemand hatte erwähnt, dass ein Kind in den Mordfall verwickelt war.

Der Wahnsinn hat die Welt fest im Griff, dachte ich schockiert, als ich das kleine Mädchen einträchtig neben seinem Mörder liegen sah. Jetzt verstand ich, warum der Polizeihauptmann den Toten für den Täter gehalten hatte. Das Fleischermesser in seiner Hand schrie förmlich nach einem Geständnis. Die Waffe war von der Spitze bis zum Schaft mit Blut beschmiert, so als wäre es bis zum Anschlag in das Opfer gestoßen worden. Was treibt einen zu so einer furchtbaren Tat? Wut? Angst? Verzweiflung?

Wie zusammengesunkene Marionetten lagen die Körper in einem See aus dunkelrotem Sirup. Blut, das aus unzähligen Wunden geflossen war und nur langsam zwischen den Asphaltplatten versickerte. Blut aus ihren und seinen Wunden.

Ich schmeckte den metallischen Hauch des Todes auf meiner Zunge und spannte die Kiefer. Ein Grauen griff nach mir. Eines, das älter war als dieser Mord, älter und mächtiger. Kindheitserinnerungen, die ich vor langer Zeit verdrängt hatte, trieben gegen meinen Willen zurück an die Oberfläche.

Die Gesichter meiner Eltern flackerten vor meinem inneren Auge auf. Menschen, die ich geliebt hatte, die ich vermisste und doch nur noch aus einer vagen Erinnerung kannte. Verschwommene Eindrücke, fröhliche, faltenlose Gesichter und dieser ganz bestimmte Geruch, den man nur an Personen wahrnimmt, die einem sehr vertraut sind.

Ich hörte meine Mutter lachen und sah ihre blauen Augen vor Vergnügen aufblitzen. Ihre Stimme versprach Wärme und Geborgenheit. Sie glaubte daran, dass man auf sein Herz hören sollte und dass Wünsche die Welt verändern konnten. Auch mein Vater lachte. Doch bei ihm klang es schrill, als würde ein Zug bei voller Fahrt mit angezogenen Bremsen über die Schienen schlittern.

Die Gesichter meiner Eltern verschwammen und gaben die Sicht auf eine weihnachtliche Szene frei. Familie Martius am festlich gedeckten Tisch, vor sich den traditionellen Gänsebraten auf einem riesigen Silbertablett, dampfend und knusprig.

Ich sah mich selbst auf der linken Seite der Tafel in einem weißen Rüschenkleid hocken, unwirklich wie eine zum Leben erwachte Engelsfigur. Meine Mutter befand sich auf der anderen Seite des Tisches. Zwischen uns saß mein Vater. Er sah ernst aus, als er sich in Zeitlupe aus dem Stuhl erhob und mit einer übertrieben ausladenden Bewegung nach dem großen Tranchiermesser griff.

»Beide sind mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Einstichverletzungen in Herz und Lunge gestorben«, hörte ich eine entfernte Stimme sagen.

Reiß dich zusammen! Mit aller Macht rang ich um Selbstkontrolle. Ich ballte die Hände zu Fäusten und blinzelte. Es war nicht das erste Mal, dass mir mein Unterbewusstsein solche Erinnerungsfetzen aufzwang, doch die Plastizität der Bilder und die Intensität der Gefühle waren neu.

Verdammter Psychokram! Momentan war weder die richtige Zeit noch der passende Ort für emotionale Aussetzer.

Eins …, ich holte tief Luft und ließ den Atem langsam zählend durch meine gespitzten Lippen entweichen, … zwei, drei, vier, fünf. Und wieder: Eins … zwei, drei, vier, fünf.

Ich faltete die Hände und versuchte meinen Herzschlag in den Fingerkuppen zu spüren. Das Pulsieren echote als dumpfer Donner in meinem Kopf, wie die Trommel eines Galeerentreibers. Ich zählte ein drittes und ein viertes Mal. Eine Methode, die mir meine Psychotherapeutin zusammen mit meinem ganz eigenen Schlüsselwort beigebracht hatte. Nach der fünften Wiederholung war ich so weit bei Sinnen, dass ich mich dem Notarzt zuwenden konnte, der mit mitleidiger Miene vor mir stand.

»Beim Anblick eines ermordeten Kindes wird auch der Hartgesottenste schwach.«

Ich nickte, atmete durch und zwang mich zur Konzentration. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass der Arzt sich bei seiner Arbeit äußerst professionell verhalten und offenbar nichts an der Lage der Körper verändert hatte.

»Danke«, sagte ich, »den Rest erledigt der Gerichtsmediziner.«

Mit Überwindung betrachtete ich die Männerleiche genauer. Der Körper lag auf der rechten Seite, den Kopf verdreht zum Himmel gerichtet. Er trug einen braunen Anzug und ein weißes Hemd. Als hätte er sich besonders fein für seinen Auftritt gemacht. Auffällig waren seine kantigen Gesichtszüge. Die Haut hatte einen dunklen Teint, aber es war voreilig, hier eine ausländische Herkunft zu vermuten. Deutschland war ein Land vieler Hautfarben.

Sein Rumpf war übersät mit Einstichen, die Augen offen und starr. Kann er das wirklich selbst getan haben? Vielleicht eine Tat im Drogenrausch? Ich wischte mir mit der Hand über Stirn und Augen. Logisch bleiben. Disziplin und Logik sind deine Waffen, rief ich mir meinen Leitspruch in Erinnerung und wendete mich widerwillig dem Mädchen zu.

Ihr schwarzes, glattes Haar lag in verklebten Strähnen in dem See aus Rot. Ein kleiner Engel in seinem eigenen Blut. Sie trug ein weißes Kleidchen, weiße Socken mit kleinen Spitzenverzierungen am Saum, dazu passende, weiß lackierte Riemchenschuhe. Doch die Farbe der Unschuld war befleckt, zerrissen und zerkratzt worden.

»Was für eine Sauerei«, ertönte neben mir eine vertraute Stimme und riss mich aus meinen Gedanken.

Es war der Rechtsmediziner David Gimpel, den ich nach der Meldung der Zentrale, während der kurzfristig einberufenen Einsatzplanung mit in mein Team gewählt hatte. Direkt hinter ihm kamen Anne Winter und Erwin Konrad, ausgebildete Kriminaltechniker der Abteilung für Spurensicherung.

»Braucht ihr neuerdings ein Navigationssystem, um euch in München zurechtzufinden?«, frotzelte ich, um von meinem desolaten Zustand abzulenken.

»Hättest uns ja helfen können, die Ausrüstung einzupacken«, pflaumte David mit einem Zwinkern zurück.

»Schon gut, läuft uns ja keiner mehr davon.« Ich lächelte gezwungen.

Ein zweiter Blick auf den Tatort genügte und David verstand. »Schöne Scheiße.«

An seinem zusammengepressten Mund erkannte ich, dass auch ihn der Anblick mitnahm. Für einen Moment stand er da und strich mit seinen Händen an seiner beigefarbenen Jacke bis hinunter zu seiner Jeanshose, so als könne er das Grauen wie eine Staubschicht abstreifen. Dann drehte er sich um, bückte sich zu einem der Aluminiumkoffer, in denen die drei ihre Ausrüstung mitgebracht hatten, zog sich den obligatorischen weißen Overall an und nahm sich ein Paar Einweg-Gummihandschuhe. »Ich nehme an, du willst das volle Programm?«

Ich nickte. »Ich will, dass ihr jede noch so winzige Spur aufnehmt. Nicht immer spiegelt das Offensichtliche auch die Wahrheit wider.«

»Mach dir keine Sorgen, Marie«, sagte Erwin und zückte die digitale Spiegelreflexkamera, die er zusammen mit seiner schwarzen Lederjacke lässig über seiner Schulter getragen hatte. Er war für die fotografische Dokumentation des Tatorts und aller Spuren zuständig und – neben seiner bayrisch-spitzbübischen Art – auch deshalb ein begehrter Ansprechpartner für die Presse. Seine Fotos wären unter der Hand ein Verkaufsschlager. Doch obwohl Erwin nach Aufmerksamkeit gierte, vergaß er nie seine beruflichen Pflichten.

»Diesmal wirst du das Kind schon schaukeln, Marie«, sagte er, während er die Leichen durch den Sucher fixierte.

»Erwin!« Anne wischte sich energisch ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht und erdolchte ihn schier mir ihren giftgrünen Augen. »Kannst du nicht wenigstens ein bisschen Mitgefühl zeigen?«

Erwin gluckste und zuckte mit den Schultern. »Wozu denn? Die sind doch schon tot.«

»Schluss damit! Ich brauche Antworten von euch, keine schlechten Witze oder Streitereien.«

»Weißt du schon, wen wir da vor uns haben?«, fragte Anne, während sie vorsichtig die Hosentaschen des Toten untersuchte.

Sie musste sich weit nach vorne beugen, um nicht mit ihren modischen Stiefeletten, die in den Überziehern steckten, in das angetrocknete Blut zu tappen. Eine Frau, die eigentlich viel zu hübsch und viel zu zierlich für so einen rohen Beruf war. Doch seltsamerweise spurten die Männer bei ihr. Ein typisches Erfolgsweib – begabt, selbstbewusst und charmant, also all das, was ich nicht verkörperte. Denn auch wenn dies mein dritter Einsatz als leitende Kommissarin war, lag meine Erfolgsbilanz im Minus.

Dass ich diesen Fall als Sololauf auf den Tisch bekommen hatte, lag nicht nur an der notorischen Unterbesetzung des Kommissariats, es war eindeutig eine von Hauptkommissar Haller auferlegte Prüfung und vielleicht die letzte Gelegenheit, um meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

»Ich bin auch noch nicht schlauer als ihr«, sagte ich.

»Vielleicht geht’s hier um ein Familiendrama?« Anne hob mit spitzen Fingern die Stoffjacke des Toten an und suchte weiter nach Fundstücken. »Wie wäre das: Mutter will sich von Vater scheiden lassen, Vater will nicht auf geliebte Tochter verzichten, also reißt er sie mit in den Tod.«

Mein Herz reagierte auf ihre Worte, als hätte man mir Adrenalin in die Kammern gespritzt. Mama, Papa! Mama, Papa! Die Worte hallten als kindliche Schreie in meiner Erinnerung wider.

»Aber wo ist die Mutter?«, zwang ich die Worte aus meinem Mund.

»Die hätte ihren Engel ja wohl kaum dem bösen, bösen Vater mitgegeben«, mischte sich Erwin in die Unterhaltung ein. »Und um allein in die Kirche zu gehen, ist sie noch ein wenig zu jung gewesen, oder?«

Erwin hatte recht. Das Mädchen war höchstens sechs oder sieben Jahre alt. War der Mann tatsächlich ihr Vater? Ein Schauer durchlief meinen Körper. Mir wurde heiß. Ich schwitzte aus allen Poren und zitterte gleichzeitig. Heiß und kalt, heiß und kalt. Bloß weg hier!, schrie es in meinem Kopf.

»Genug spekuliert. Macht ihr euren Job, dann sehen wir weiter. Vielleicht kann ich mit dem Pater in der Zwischenzeit die Identität der beiden klären. Ein Hirte sollte seine Schäfchen ja schließlich kennen.«

Ich hielt nach meinem Quasizeugen Ausschau, entdeckte ihn vor der Kirche und nutzte die Gelegenheit, um auf Abstand zu den Toten zu gehen.

Am Eingang des Gotteshauses stand ein Mann im Talar, geschätzte fünfzig Jahre alt, grauhaarig und sichtlich mitgenommen. Seine Hände krallten sich in ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Eine Bibel – jahrtausendealte, auf Papier gebannte Worte, die dem Menschen die Welt erklären und gleichzeitig Wegweiser sein sollten. Ein ausgefeiltes Regelwerk, Anleitung für ein redliches, züchtiges und gottgefälliges Leben, erhabener als die von Wissen gespeiste Vernunft oder der verdammungswürdige Instinkt. Warum die Religion solch einen Siegeszug durch die Geschichte hatte antreten können, war mir ein Rätsel. Mich konnte Gott nicht locken, mich machte seine Gegenwart wütend.

Ich ließ mir Zeit, um den Pater in Augenschein zu nehmen. Seine Kleidung war farbenfroher, als ich sie bei einem Geistlichen erwartet hatte. Zwar trug er eine schlichte schwarze Kutte, doch das weite weiße Hemd darüber zierten allerlei bunte Stickereien – eine aufgenähte, gemusterte Schärpe, die um den Hals und bis hinab zur Brust verlief.

»Pater Josephis?«

Ein Ruck ging durch den Körper des Mannes, als hätte ich ihn aus tiefen Gedanken gerissen. Doch seine Stimme klang erstaunlich gefasst. »Ja, der bin ich. Benötigen Sie Seelsorge, mein Kind?«

Seelsorge? Ja, aber nicht von dir oder deinem Gott. Um ein Lächeln bemüht, schüttelte ich den Kopf. »Mein Name ist Marie Martius. Ich bin die leitende Kriminalkommissarin in diesem Fall und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

Pater Josephis schloss für einen Moment die Augen, streichelte das Buch in seiner Hand und nickte gen Himmel. »Wo ich helfen kann, werde ich helfen.«

»Kannten Sie die Toten?«

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

»Sind Sie ganz sicher? Ich meine, haben Sie die Gesichter genau gesehen?«

Sein Mund wurde schmal, der Blick wanderte zu den Leichen. »Manchmal macht die Fratze des Todes die Menschen unkenntlich. Bei anderen wiederum sieht man erst in den letzten Minuten ihr wahres Gesicht.«

»Ich kann verstehen, wenn Sie einen genauen Blick scheuen, aber es ist wichtig, bitte, Pater.«

Statt auf mein Anliegen einzugehen, machte er einen Schritt vorwärts und strich mir in einer tröstlichen Geste über die Schulter. »Es muss schwer für Sie sein, immer nur die verdorbenen Seiten ihrer Brüder und Schwestern kennenzulernen.«

Oh, wie ich diese väterliche Masche hasste! Manchmal fragte ich mich, ob es bei all dem Gräuel überhaupt noch Gutes auf dieser Welt gab. Die Kirche und ihre Werke gehörten in meiner Vorstellung nicht dazu. Gott war kein Retter. Wenn es ihn tatsächlich gab, dann war er ein Tyrann!

»Pater, wenn die Möglichkeit besteht, dass es sich bei den Leichen um Mitglieder Ihrer Gemeinde handelt, muss ich das wissen.«

Er senkte den Blick und betrachtete sein Buch. »Nein, es tut mir leid, ich … kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

Ich wollte gerade nachsetzen und ihn zu einer eindeutigen Aussage nötigen, als ich schräg hinter ihm zwei Männer unter dem Absperrband hindurchhuschen sah. Trotz der Entfernung erkannte ich sie sofort. Es waren Uwe Kornzwiller und Herbert Persbach, meine verhassten Kollegen. Ihr Auftritt konnte nichts Gutes bedeuten. Hatte Haller sie geschickt, um mich und meine Arbeit zu kontrollieren?

Mir war klar, dass ich keine Vorzeigebilanz aufzuweisen hatte, aber Babysitter waren das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Von zwei Fällen, die mir als leitende Kommissarin anvertraut worden waren, hatte ich keinen Einzigen aufgeklärt. Schlimmer noch, nach meiner wochenlangen Recherchearbeit hatte mein Chef sie an Kornzwiller und Persbach übergeben. Mein Versagen war zuletzt sogar Thema in der örtlichen Presse gewesen, nur weil die beiden geschniegelten Playboys es nicht lassen konnten, bei jeder Gelegenheit mit den Reporterinnen zu kokettieren und ihnen ein paar reißerische Häppchen zuzuwerfen. Nach der Aufklärung der Fälle schrieb natürlich niemand, dass eigentlich ich die nötige Vorarbeit geleistet und das Macho-Duo sich nur ins gemachte Nest gesetzt hatte.

»Na, alles im Griff, Martius?«, fragte Uwe Kornzwiller laut, nachdem er auf zehn Schritte herangekommen war. Ein Mann Anfang vierzig, sportlich, mit kurzen schwarzen Haaren, dunkelgrauem Bartschatten und spießigem Lacoste-Outfit. Er musterte mich, so wie ein Profi seinen Kreisligagegner mustert, bevor er ihn in Grund und Boden spielt. Persbach hielt sich einen Meter hinter ihm, immer im Windschatten, mit einem überheblichen Schmunzeln auf den Lippen.

Meine Gefühle schwankten zwischen Wut und Verzweiflung. »Was habt ihr hier zu suchen?«

»Ich dachte, ich begutachte die Sache lieber gleich von Anfang an. Über kurz oder lang werde ich den Fall ja eh übernehmen.« Kornzwillers provokantes Lächeln trieb meinen inneren Druckkessel an die Grenze der Belastbarkeit.

»Weiß Haller, dass ihr euch hier herumtreibt? Wenn nicht, solltet ihr schleunigst einen Abgang machen. Dann überleg ich mir, ob es sich lohnt, euren zweifelhaften Auftritt ins Protokoll aufzunehmen.«

Kornzwillers Augen verengten sich und seine Nasenflügel blähten sich in kurzen Abständen. Für einen Moment fürchtete ich sogar, er würde mir seine Meinung ins Gesicht schreien, doch dann zuckten seine Mundwinkel, er schnalzte mit der Zunge und antwortete: »Deine Kleinlichkeit wird dir auch diesmal kein Glück bringen, Martius. Aber mach nur, Herbert und ich können warten.«

Erst als ich sicher war, dass die zwei den Tatort verlassen hatten, konzentrierte ich mich wieder auf Pater Josephis. Er hatte den Streit mit meinen Kollegen verfolgt und legte mir milde lächelnd erneut seine Hand auf die Schulter. »Es gibt in dieser Welt viele Kämpfe zu bestehen.«

Ich nickte. Mein ganzes Leben war ein einziger großer Kampf. Und jede einzelne Schlacht schien ich früher oder später zu verlieren.

Um zurück in die Befragung zu finden, blätterte ich zu der Aussage des Einsatzleiters zurück. Hatte er nicht einen Jungen erwähnt?

»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie gehört oder beobachtet haben.«

Die Finger des Paters glitten rhythmisch über das Buch in seiner Hand. Er zögerte. »Ich hörte den Schrei eines Mädchens und bin sofort aus meiner Kammer vor zum Portal und nach draußen geeilt. Als ich das Tor öffnete, sah ich die zwei leblosen Körper in ihrem Blut liegen und einen Jungen, der einige Meter entfernt stand.«

»Erzählen Sie mir von diesem Jungen. Wo genau hat er sich befunden, was hat er getan und in welche Richtung ist er weggelaufen?«

»Er hat dort an der Bank zwischen den Baumreihen gestanden und auf die Leichen gestarrt. Ich habe zu ihm herübergerufen und gefragt, was passiert ist. Erst da hat er sich bewegt und ist dort über die Wiese Richtung Neubausiedlung verschwunden.«

Ich folgte seinem Finger, der über die Grünfläche hinweg zu einem eng bebauten Wohngebiet auf der anderen Seite deutete. »Können Sie ihn näher beschreiben?«

»Orange. Der Bub war groß, schlaksig und hatte orangefarbene Haare. Sie wissen schon, solche, die wie ein Hahnenkamm aufgestellt sind.« Pater Josephis fuhr sich zur Verdeutlichung mit einer Hand von der Stirn über den Scheitel nach hinten.

»Sie meinen, er war ein Punk?«

»Ja, so etwas in der Art. Einer dieser Teenager in diesen schrecklich düsteren Klamotten, die immer irgendwelche Dummheiten anstellen.«

»Wie alt würden Sie ihn schätzen?«

»Schwer zu sagen auf die Entfernung. Mindestens sechzehn, vielleicht auch zwanzig.«

Eine Fahndung aufgrund so weniger Informationen herauszugeben, wäre normalerweise pure Zeitverschwendung gewesen, doch eine orangefarbene Punkfrisur änderte die Sachlage. Schließlich waren die Achtzigerjahre vorbei, Punks waren selten geworden. Wenn ich eine Suchaktion an den einschlägigen Treffpunkten durchführen lassen würde, hatte ich vielleicht Glück.

»Danke, Pater. Das war sehr hilfreich. Ich werde so bald wie möglich einen Zeichner vorbeischicken, der nach Ihren Angaben ein Phantombild anfertigen wird.«

»Wozu brauchen Sie den Jungen? Ist der Fall denn nicht klar?«, fragte der Geistliche. Doch die Antwort darauf blieb ich ihm schuldig.

Kapitel 2

 

Nachdem David Gimpel, Anne Winter und Erwin Konrad ihre Arbeit am Tatort abgeschlossen hatten und die Toten für den Transport in die Gerichtsmedizin verladen waren, entschied ich mich, eine Kaffeepause einzulegen.

Auf der Suche nach der passenden Einkehr spazierte ich die Josephsburgstraße entlang nach Osten. Berg am Laim war ein alteingesessener Stadtteil direkt am Mittleren Ring, wenige Fahrminuten vom Ostbahnhof entfernt, einem zentralen Kreuzungspunkt des öffentlichen Münchner Verkehrsbetriebs.

Ich schlenderte an kleinen Läden und Supermärkten vorbei, die sich in die gleichförmigen, mehrstöckigen Häuserfronten im Baustil der Achtzigerjahre einreihten. Aber von einem Café gab es weit und breit keine Spur. Stattdessen entdeckte ich ein Schild: Parkplatz St. Michael.

Ein zweites Gotteshaus in direkter Nachbarschaft zur St. Loreto Kirche? Traten Kirchen heutzutage in Rudeln auf? So, wie es das Banken- oder das Kneipenviertel gab? Vielleicht. Dennoch meldete sich mein Ermittlerinstinkt und überstimmte meine körperlichen Bedürfnisse, also folgte ich dem Hinweis.

Nach wenigen Metern erreichte ich am Ende einer Sackgasse ein pompöses Gotteshaus im Barockstil. Seine zwei sandfarbenen Türme mit Zwiebelkuppeln ragten weit sichtbar in den Himmel empor. Ihr bauchiger, achtkantiger Körper war dagegen mit rostigem Gestänge umzäunt. St. Michael schien eine Generalüberholung zu benötigen. Interessiert trat ich näher.

Die Türme waren gen Westen gerichtet und grenzten an ein Stück Grün, das nur durch eine einzelne Baumreihe von der Wiese getrennt lag, die bis zur St. Loreto Kirche reichte. Der Putz des Gebäudes hatte großflächig kahle Stellen und auf dem Dach schienen weitere Wunden verarztet zu werden. Frisch geschlagene Balken ragten unter der hell strahlenden Nachmittagssonne aus dem Giebel wie die Knochen eines Patienten auf dem Operationstisch.

Trotz ihres desolaten Zustands wirkte die Kirche adelig im Gegensatz zu dem kleinen, schlichten Backsteinkörper ihrer Nachbarin. Ob St. Loreto früher vielleicht nur die dazugehörige Kapelle gewesen war?

Eine dunkelbraune, massive Holztür mit schmiedeeisernem, geschwungenem Griff saß wie ein zusammengekniffener Mund unter dem ersten Turm von St. Michael.

»Dann wollen wir mal sehen, was in dir steckt«, flüsterte ich, bevor ich die Klinke drückte und öffnete.

Trotz meiner atheistischen Einstellung ergriff mich an religiösen Orten eine natürliche Beklommenheit, ein Gefühl der Andacht. Still schritt ich durch den Vorraum und weiter in das Hauptschiff des Gebäudes.

Der gesamte Altarraum samt Sitzreihen war mit Planen abgedeckt und durch ein eisernes Tor vom Eingangsbereich abgeriegelt. Dutzende stilisierter Rosenknospen rankten sich um das geschwärzte Metall, als wären sie, einstmals lebendig, von Zauberhand versteinert worden. Ich musste an das Märchen von Dornröschen und ihrem Prinzen denken. Schlief hier ein Geheimnis, das wach geküsst werden wollte?

Mein Blick wanderte zum Chorraum. Hinter verstaubter Abdeckfolie zeichneten sich die Körper barocker Fresken und Heiligenfiguren ab, davor stapelweise Holzlatten und Bauschutt. Trotzdem sah auch ein Laie, dass dieser Bau einst einen großen Etat verschlungen haben musste.

Das alles ist doch nur Show! Ein von Menschen für Menschen erbautes Machtsymbol, sonst nichts. Eine Bühne, um zu beeindrucken, um Menschen zu unterjochen und gefügig zu machen. Angewidert wendete ich mich ab.

Im Eingangsbereich hingen auf blauen Papptafeln Informationsblätter zu Veranstaltungen, Fotos einzelner Bauabschnitte, ein Appell an die Gemeindemitglieder, die Restaurierungsarbeiten mit einer angemessenen Spende zu unterstützen, sowie Danksagungen für bereits geleistete Wohltätigkeit.

Ich überflog die Absätze und musste feststellen, dass ich deutliche Bildungslücken besaß, wenn es um die Münchner Kultur ging. St. Michael war eine der bekanntesten Barockkirchen Deutschlands, mit verhältnismäßig gut erhaltenen Deckenbildern von Johann Baptist Zimmermann. Ein Name, der mir nichts sagte. Ob die Kirche von Pater Josephis auch so reich ausgestattet war?

Ich beschloss, bei nächster Gelegenheit die Wirkstätte des Paters zu überprüfen. Oft waren es Kleinigkeiten und scheinbar unwichtige Details, die später den großen Bogen eines Verbrechens aufspannten. Religiös motivierte Morde gab es zuhauf. Doch mehr Einsichten hatte ich auf dieser göttlichen Baustelle zumindest vorerst nicht zu erwarten.

 

Wieder im Freien nahm ich den schmalen Spazierpfad quer über die Wiese und setzte meine Suche nach einem Café auf der anderen Seite fort. Die Sonne schmiegte sich mit ihren warmen Strahlen an meine Wangen und machte mir bewusst, wie eisig es im Bauch von St. Michael gewesen war.

Kirchen sind kalte, trostlose Orte, dachte ich. Büßerstätten, in denen von Schuld gesprochen wird, an denen der reine Glaube an Strafe mehr zählt als jegliche Vernunft.

»Mit Vermutungen allein werdet ihr keine Morde aufklären, nur mit Fakten«, hatte einer meiner Dozenten gepredigt und ich gab ihm recht.

Ich war fest davon überzeugt, dass, wenn ich mich an die Regeln aus dem kriminalpolizeilichen Lehrbuch hielt, sich irgendwann zwangsläufig die Lösung des Falles ergeben musste. Egal wie sehr Kornzwiller und Persbach auf ein weiteres Versagen meinerseits hofften. Eine Abfolge kritischer, objektiver Fragen und Analysen zu möglichen Motiven und dem Tathergang würde zu eindeutigen, messbaren Ergebnissen führen.

In den richtigen Zusammenhang gebracht, bargen sie alles, was für die Überführung des Verbrechers nötig war. So die Theorie. Ich musste nur durchhalten, durfte keinen Fehler machen. Doch widersprach mein Fall nicht schon von vorneherein dem logischen Muster? Wo war das Motiv?

Der Täter war mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit bereits gefasst, lag auf dem Tisch der Gerichtsmedizin, wurde unter den fachkundigen Händen von David Gimpel seziert und seine Innereien katalogisiert. Routinearbeit, die keine großen Überraschungen zutage fördern würde. Trotzdem blieb die Frage: Warum hatte ein Mann erst ein kleines Mädchen und dann sich selbst erstochen?

Ich seufzte und fasste mir an die Schläfen. Mein Kopf brummte. Ich ging schneller. Der Trampelpfad führte mich in einem leichten Bogen über die Wiese, an einem Sportplatz vorbei, endete an der Echardinger Straße und endlich an meiner ersehnten Einkehr.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lud ein großes Schild über einem mit Kieselsteinplatten gepflasterten Weg zur »Echardinger Laube« ein. Die Karte im beleuchteten Schaukasten versprach zünftig bayrische Atmosphäre – herzhaft und unkompliziert.

Nach ein paar Schritten endete der Weg auf einer kleinen Terrasse, die zu einem angrenzenden Flachbau gehörte. Kleine Gärten reihten sich einer neben dem anderen, jeder mit einer eigenen Laube und der vorschriftsmäßig gestutzten Hecke. Das kleinbürgerliche Naturparadies für Leute, die sich kein eigenes Haus leisten konnten und trotzdem am Wochenende aus dem tristen Grau der Wohnblock-Landschaft entfliehen wollten.

Eine gute Idee, aber nichts für mich. Ich mochte meine Drei-Zimmer-Wohnung im fünften Stock, draußen in Engelschalking. Dort konnte ich leben, ohne das Zaungeschwätz und die neugierigen Blicke der Nachbarn. Es war egal, ob ich die Pflanzen im Wohnzimmer regelmäßig goss oder ob ich Ordnung hielt. Zu Hause konnte ich mich gehen lassen, konnte meine Disziplin für einen kurzen Moment an den Nagel hängen.

Als ich das Lokal betrat, blickten mir die einzigen Gäste, drei Männer an einem langen Tisch, misstrauisch entgegen und nickten kurz. Der Wirt hinter dem Tresen war damit beschäftigt, ein Weißbier zu zapfen.

»Bekomme ich hier einen Kaffee?«

Der Wirt bejahte. Er hatte graue, kurze Haare und buschige Augenbrauen. Trotz seiner stattlichen Größe wirkte er klein. Der Rücken zu einem Buckel gewölbt, sah sein Körper aus, als hätte man ihn in eine zu enge Sandkastenform gequetscht.

Ich suchte mir einen Platz am Fenster hinter der hölzernen Trennwand, die wohl zur besseren Raumteilung gezogen worden und wie eine Küchendurchreiche auf Hüfthöhe offen war.

»Was zu lesen?« Der Hausherr zeigte auf einen Stapel Zeitschriften in der Durchreiche. Doch ich lehnte dankend ab. Mir war nicht nach Klatsch oder neuen Einrichtungstipps zumute. Zu viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Warum hatte dieser Mann das kleine Mädchen getötet? Wie konnte ich meine Erinnerungsschübe im Zaum halten, damit sie meine Arbeit nicht behinderten? Und was konnte ich unternehmen, damit Kornzwiller und Persbach mir nicht ein weiteres Mal dazwischenfunkten?

»Halte dich einfach an die Vorschriften«, murmelte ich vor mich hin.

»Wie bitte?« Der Wirt stand erneut neben mir. Er hatte einen großen Teller mit frischem Gebäck dabei und stellte ihn zusammen mit meiner Bestellung auf den Tisch. »Vielleicht ein Plundergebäck oder eine Quarktasche zum Kaffee?«

Ich lächelte. »Ja, sehr gern.«

Außer einer vertrockneten Scheibe Brot mit Butter zum Frühstück hatte ich nichts gegessen. Ich griff mit einer Hand eine Serviette und mit der anderen einen Plunder mit Aprikose. Beim Hineinbeißen in das krosse, mit Marmelade glasierte Stück bröselte man zwangsläufig. Aber das war es wert.

Ich seufzte genüsslich und griff zur Tasse. Mit jedem Schluck Koffein spürte ich, wie mein Körper auftaute und entspannte. Ich atmete tief durch und betrachtete die Gaststube genauer.

Es waren die üblichen hellbraunen Holzstühle und Tische, wie es sie in den meisten Kneipen gab. Einfache, konusförmige Lampenschirme aus Plastik hingen über den Tischen und wirkten genauso angestaubt wie die grob gewebten beigen Stoffvorhänge an den Fenstern. Über der Biertheke prangte das Werbeschild der Vertragsbrauerei Graf Törring. Lange Wimpel und mit Jägermotiven verzierte Holzscheiben zeugten von einem ansässigen Schützenverein, der hier neben den Schrebergartenbesitzern offensichtlich seinen Stammtisch hatte. Wahre bayrische Gemütlichkeit, dachte ich schmunzelnd.

Die drei Herren am Tisch neben dem Eingang hatten ihr Gespräch wieder aufgenommen und unterhielten sich angeregt über die momentane Nacktschneckenplage. Ich stellte mir vor, wie die Männer mit Schürze und gelben Gummihandschuhen bekleidet, bewaffnet mit einem Salzstreuer, durch ihre kleinen, gepflegten Gärten schlichen, um ihrer braunen, glitschigen Feinde habhaft zu werden.

Als sich die Tür öffnete, verstummten die Versammelten und beäugten den Neuankömmling. Es war ein groß gewachsener Mann. Im Gegensatz zu den Gartenliebhabern war er höchstens Mitte dreißig, gutaussehend, trug modische dunkelblaue Jeans und ein tailliert geschnittenes schwarzes Hemd. Seine Haare fielen ihm in schwarzen Strähnen bis auf die Schultern. Gar nicht mal übel, war mein erster Gedanke. Doch als er in meine Richtung sah, wich ich seinem Blick aus und sammelte mit meinen Fingerkuppen konzentriert die übrig gebliebenen Brösel des Plunders von der Serviette.

»Ist hier noch frei?«, fragte einen Augenblick später eine angenehm männliche Stimme. Ich sah auf und bevor ich »Nein« erwidern konnte, fügte er hinzu: »Eddies Gebäck ist wirklich vorzüglich, daher würde ich mich gern an Ihrem Kaffeekränzchen beteiligen.«

In seinen Mundwinkeln zeigten sich kleine, verschmitzte Fältchen. Oder wollen Sie das alles allein essen?, schienen seine dunklen Augen schelmisch zu fragen.

»Natürlich«, brachte ich endlich heraus und zeigte einladend auf den Sitz schräg gegenüber. Doch er nahm ungeniert an meiner Seite Platz.

»Einen Kaffee, Eddie«, rief er dem Wirt zu und suchte erneut den Blickkontakt mit mir.

Probleme hast du genug, mahnte meine innere Stimme, da braucht es nicht auch noch einen Flirt. Auch wenn er zugegebenermaßen dein Beuteschema wäre. Ich zog meine Tasse näher zu mir heran und blickte aus dem Fenster.

»Haben Sie eine Laube hier?«, fragte der Fremde, ohne meine abweisenden Signale zu beachten.

»Nein.«

»Dann sind Sie vielleicht neu zugezogen? Wie eine Touristin sehen Sie jedenfalls nicht aus.«

»Ich bin beruflich in der Gegend und versuche ein wenig auszuspannen.«

»Was machen Sie denn beruflich, wenn ich fragen darf?«

Das geht dich überhaupt nichts an, wollte ich zurückblaffen, doch sein Lächeln hielt mich davon ab. »Kommissarin, ich bin Kriminalkommissarin.«

Er hob die Brauen. »Dann ist wohl einer umgekommen?«

Wie unverfroren konnte man eigentlich sein? »Ja. Vorne an der Kirche.«

Er nickte. »Das war abzusehen.«

»Wie?« Jetzt war es an mir, die Brauen zu heben.

»Na, bei den waghalsigen Klettereien musste ja mal einer der Handwerker abstürzen. Oder ist jemand von dem Gerümpel auf dem Dach erschlagen worden? Ich gehe zur Sicherheit schon seit Wochen nur noch in die Klosterkapelle nebenan.«

»Nein, nein, mit Kirche meinte ich nicht St. Michael, sondern St. Loreto. Ist dieser rote Backsteinbau die zur Barockkirche gehörige Kapelle?«

»Der Name St. Loreto sagt mir nichts. Das katholische Kloster liegt hinter St. Michael gleich neben dem Seniorenheim.«

Noch ein Gotteshaus. Ich stöhnte auf.

»Ist es nicht hart, immer mit Tod und Gewalt zu tun zu haben?«

Warum stellten Fremde immer die gleichen Fragen, wenn sie es mit einer Kommissarin zu tun bekamen? Ich wollte ihm in die Augen sehen und schreien, dass nicht ich den Tod, sondern er mich zuerst gesucht hatte. Stattdessen schnaubte ich genervt und stierte in meine halb leere Tasse.

»Warum haben Sie sich ausgerechnet für diesen Beruf entschieden?«

War heute Beichttag? Merkte dieser Typ nicht, dass ich nicht in Plauderstimmung war? Aber ohne Antwort würde er wohl nicht aufgeben. Ich leckte einen letzten Krümel von meiner Hand, blickte auf und antwortete: »Um meinem Vater nachzueifern und den Wahnsinn zur Strecke zu bringen, der die Welt täglich in tausendfaches Leid taucht.«

Die Worte klangen, wie von einer Puppe gesprochen. Sachlich, nüchtern, und doch war es die Essenz meiner innersten Gefühle und der eigentliche Antrieb meines Lebens.

»Verstehe, Sie sind also bei Papa in die Lehre gegangen?« Seine Fragen waren so naheliegend und doch erstaunlich unangenehm in ihrer Wirkung.

Nein, ich hatte mir meine Karriere selbst erkämpft. Allein. Mein Vater war längst tot gewesen, als ich meine Berufswahl getroffen hatte. Er und meine Mutter hatten mich ohne Anleitung für das Leben zurückgelassen.

»Meine Eltern sind früh gestorben«, sagte ich nach einer Pause. »Ich bin bei meinem Großvater aufgewachsen. Ein hochrangiger Militärführer bei den Feldjägern. Er wollte, dass ich zur Bundeswehr gehe.«

Und hätte seine Demenz ihn nicht irgendwann schwach werden lassen, ich hätte mich seinem diktatorischen Willen wahrscheinlich gebeugt, setzte ich stumm hinzu.

Unwillkürlich biss ich die Zähne zusammen und straffte mich. Gerade sitzen, Rückgrat zeigen, war die Devise von Clemenz Martius, dem Vater meines Vaters, gewesen. Kontrolle und Disziplin standen bei ihm über allem anderen, auch über Fürsorge und Liebe.

»Dann waren Sie also schon damals ein Widerborst?« Der

Fremde lachte so herzlich, dass er mich gegen meinen Willen ansteckte.

Obwohl seine Fragen aufdringlich waren und seine Schlussfolgerungen frech, tat es gut, mit jemandem zu reden, der kein Kollege, Verdächtiger oder Zeuge war. Als die Unterhaltung weg von mir und zu anderen Themen schwenkte, genoss ich sie tatsächlich bei einem zweiten Kaffee und bat den Wirt dann um die Rechnung.

»Jetzt kenne ich zwar schon Ihre schlimmsten Seiten, aber immer noch nicht Ihren Namen«, versuchte mein Tischpartner mich zu ködern, als ich aufstand.

Doch ich winkte ab. »Ein anderes Mal vielleicht«, sagte ich und verließ das Lokal.

 

Draußen näherte sich die Sonne dem Horizont. Es wurde kühler, zu kühl für T-Shirt und ungefütterte Jeansjacke. Aber nicht nur die Kälte trieb mich den Weg zurück zu meinem Auto. Auch wenn ein Abgleich der Fingerabdrücke Stunden und eine eventuelle DNS-Analyse Tage dauern würde, so erwartete ich zumindest ein paar erste Ergebnisse bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen.

Ich griff in die Innentasche, nahm mein Handy und sagte laut und deutlich: »Kommi« – meine Sprachkurzwahl für das Kommissariat.

VoiceDial war eine der wenigen technologischen Erfindungen, die ich an einem Telefon mochte. Auch die Diktierfunktion und die integrierte Fotokamera nutzte ich hin und wieder. Alles andere war störendes Beiwerk.

Nachdem mich die Zentrale zum Büro der Gerichtsmedizin durchgestellt hatte, dauerte es sieben lange Ruftöne, bis jemand abhob. »Gimpel am Apparat.«

»Hallo David, hier ist Martius. Wie sieht’s aus?«

»Noch nichts Weltbewegendes. In einer Stunde kann ich dir mehr sagen.«

»Alles klar.« Ich legte auf.

Eine leise Stimme in mir flüsterte, die Zeit zu nutzen, zurückzugehen und dem schönen Unbekannten meine Telefonnummer zuzustecken. Doch die Erinnerung an die Folgen meiner letzten Beziehung reichte aus, um diese schmachtende Stimme abzuwürgen. Mit strammen Schritten marschierte ich stattdessen die Straße entlang Richtung Tatort.

Nach einer scharfen Rechtskurve erreichte ich die Josephsburgstraße, sah in der Ferne die kleine Backsteinkirche und davor meinen alten, dunkelgrünen Volvo.

Dabei fiel mir eine Horde Kinder auf, die fröhlich gackernd aus dem Haus rannte, das sich an die Kirche anschloss. Dutzende Fenster reihten sich drei Stockwerke hoch die lange Wand entlang und wurden einzig durch die nach hinten versetzte Eingangstür unterbrochen. Auf dem Messingschild daneben stand: »Maria-Ward-Realschule der Englischen Fräulein«.

Ich stutzte und blieb stehen. Eine Schule, direkt neben dem Tatort? Warum war mir das nicht vorher aufgefallen? Ob das tote Mädchen hier unterrichtet worden war?

Durch die Fenster im Erdgeschoss erkannte ich Wandbilder im Pop-Art-Stil. Schwarze Linien erweckten spielende Kinder zum Leben und zeichneten eine ausgelassene Szene in grellen Farben. So glücklich wie diese Bilderkinder hatte ich mich nie in einer Schule gefühlt. Für andere bedeutete so ein Ort zumindest in den Pausen Spaß, für mich nur Einsamkeit und Kampf.

Ich prüfte die Uhrzeit auf meinem Handy. Konnte ich mir einen weiteren Abstecher vor der Rückfahrt ins Kommissariat leisten?

Kurz entschlossen ging ich die vier Stufen hinauf zum Eingang und öffnete die Tür. Ein bekannter Geruch, bestehend aus altem Mauerwerk, miefigen Turnbeuteln und Pausenbroten, stieg mir in die Nase.

Die Empfangshalle war leer. Ich blickte mich um. Was nun? Die letzten Schüler waren offenbar gegangen. Ich entdeckte ein kleines, pfeilförmiges Messingschild, das den Weg zum Sekretariat wies, und folgte ihm.

Meine Schuhe quietschten auf dem polierten Linoleumboden. Links und rechts reihten sich Schaukästen aneinander und erzählten von Projektarbeiten der siebten Klassen, von der Variation des Themas Apfel im Kunstunterricht und dem letzten Wandertag.

Es war Anfang September, die Sommerferien mussten gerade zu Ende gegangen sein. Vielleicht gehörte die Tote zu den neu Eingeschulten?

Vor einer weiß lackierten Doppeltür blieb ich stehen. Ein weiteres Schild informierte mich, dass hier Sabine Schnäbele und Gerlinde Bernauer zusammen das Sekretariat führten. Ich klopfte kurz, dann trat ich ein.

Das Zimmer wirkte so steril wie die meisten öffentlichen Büros. Einfache, übereck gestellte Tische bildeten zwei Arbeitsplätze. Je ein Computerbildschirm, stapelweise Akten und Papierkram, ein bisschen private Dekoration in Form eines Tischbilderrahmens, einer Marienfigur aus Porzellan und mehrerer Heiligenbildchen. Gott war in dieser Gegend offenbar allgegenwärtig.

Nur eine der zwei genannten Damen saß an ihrem Platz und schaute mir mit einer Mischung aus Überraschung und Skepsis entgegen.

»Ist Ihnen klar, wie spät es ist?«, fragte sie und rückte ihre farblich auf die Haare abgestimmte, dunkelbraune Brille zurecht.

»Marie Martius, Kriminalpolizei. Ich bin mit dem Mordfall vor der Kirche St. Loreto betraut und recherchiere die Identität und Herkunft der Beteiligten, der Toten sowie der Zeugen.«

Die Mimik der Frau wandelte sich von Unmut zu Erstaunen. »Wer ist gestorben?«

»Es geht mir um ein kleines Mädchen und einen Jungen, der möglicherweise Zeuge der Geschehnisse war«, erklärte ich sachlich.

»Wir sind eine christliche Mädchenschule! Da gibt es keine Jungen.« Der Mund der Frau verzog sich zu einem missbilligenden Strich.

Ich seufzte innerlich. »Vielleicht ist ja das Mädchen hier zur Schule gegangen.«

»Wie alt?«, hakte die Sekretärin nach.

»Ich würde sie auf ungefähr sechs Jahre schätzen. Hat heute im Unterricht jemand gefehlt oder ist früher gegangen?«

Die Miene der Frau wandelte sich von Missbilligung zu Abscheu. »Schülerinnen einer Realschule sind mindestens zwölf Jahre alt, wenn sie zu uns in die siebte Klasse kommen. Wunderkinder haben wir hier nicht, da müssen Sie schon ins Kloster gehen.«

Was für eine Giftziege. Aber sie hatte recht, hätte ich besser nachgedacht, hätte ich mir diesen Auftritt sparen können. Mit Mühe rang ich mir eine höfliche Abschiedsfloskel ab und verließ die Schule auf dem schnellsten Weg. Ein fleischgewordener Höllenhund hätte mich nicht schneller in die Flucht schlagen können.

Als ich in meinen Volvo stieg und den Motor startete, liefen die Sechs-Uhr-Nachrichten – höchste Zeit für eine Lagebesprechung und hoffentlich ein paar erfreulichere Ergebnisse.

Kapitel 3

 

»Da ist ja unsere Null-Quoten-Frau«, begrüßte mich Uwe Kornzwiller höhnisch, als wir uns auf der Treppe zum ersten Stock des Kriminalkommissariats in der Tegernseer Landstraße erneut über den Weg liefen.

Wie gerne hätte ich ihm sein verächtliches Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Aber so etwas tat man nicht als strebsame Kriminalistin, besonders nicht, wenn man sich einen festen Platz als leitende Kommissarin verdienen wollte. Gewalt war nie die Lösung, egal wie verlockend es sein mochte, die Wut herauszulassen.

Mit künstlich hochgezogenen Mundwinkeln grüßte ich und lief einfach an ihm vorbei. Diesmal würde ich den Fall nicht in letzter Sekunde an diesen Schnorrer verlieren, egal wie sehr Hauptkommissar Haller mich unter Druck setzte.

Es ist ein simpler Fall. Den kann man gar nicht versauen, redete ich mir in Gedanken gut zu. Schließlich hatte ich Opfer, Täter und Tatort mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vor der Nase. Selbst die Tatwaffe war vorhanden. Es fehlte nur noch die Identifizierung der Leichen und das Tatmotiv. Ein Fall für die Akten, ohne zu erwartende Komplikationen, oder?

Es musste einen triftigen Grund für diesen Mord geben. Ein großer, dunkler Schatten lauerte hinter den vorhandenen Fakten. Ein Geheimnis, das diesen Wahnsinn erklärbar machen würde. Oder war das nur mein ganz eigener Wunschtraum?

Noch vor ein paar Monaten hatte es für mich so etwas wie Intuition nicht gegeben. Es war überhaupt nicht vorstellbar gewesen, anders als aus logischer Konsequenz heraus zu handeln. Mein Leben war geordnet und planbar gewesen. Ich hatte funktioniert, bis mein Chef mich zu einem Polizeipsychologen geschickt hatte.

Nicht etwa, weil ich ausgerastet war, jemanden erschossen hatte oder als Geisel genommen worden war. Der Grund war viel banaler. Ich hatte meine letzten beiden Fälle partout nicht aufklären können. Alle Puzzleteile waren da gewesen, hatten auf meinem Schreibtisch gelegen und an den Pinnwänden gehangen, doch die Verbindung zwischen den Fakten war mir verborgen geblieben.

Ein Gefühl der totalen Hilflosigkeit hatte von mir Besitz ergriffen. Handlungsunfähig, eingeschüchtert wie eine Maus in der Falle, hatte ich tagelang hinter meinem Schreibtisch gekauert und über den Unterlagen gebrütet, bis Haller der Kragen geplatzt war.

»Sollen wir die Leiche der alten Frau bis in alle Ewigkeit in der Gerichtsmedizin aufbahren, wie die sieben Zwerge das Schneewittchen im gläsernen Sarg?«, hatte er gepoltert. Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt, so blind und gelähmt war ich gewesen.

Die Möglichkeit, dass der zehn Jahre alte Enkel seine Oma die Treppe hinuntergestoßen hatte, nur weil sie ihm keine zwanzig Euro geben wollte, war einfach keine Option in meiner Logikkette gewesen – bei Kornzwiller und Persbach dagegen schon.

»Sie sind geistig zu steif, Marie«, hatte der Hauptkommissar gesagt. »Irgendetwas hemmt Sie, sich mit allen Sinnen auf Ihre Arbeit einzulassen.«

Und damit hatte er recht. Eine tote Mutter und ein toter Vater hemmten mich. Auch, wenn ich das nicht wahrhaben wollte.

»Gehen Sie zu dem Termin mit unserem Polizeipsychologen oder ich mustere Sie aus«, hatte das Ultimatum gelautet, also war ich folgsam der Empfehlung nachgekommen und war zur Therapie gegangen. Doch das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

In den Sitzungen sollte ich mich an die Gesichter meiner Eltern erinnern, an Erlebnisse, die mir bewiesen, dass es so etwas wie Geborgenheit in meinem Leben gegeben hatte. Weil es laut der Psychotherapeutin Dr. Stefanie Binding meinem geistigen Gleichgewicht helfen würde. An sie hatte mich der Polizeipsychologe nach einem zweistündigen Gespräch weitervermittelt, weil seiner Ansicht nach eine männliche Betreuerperson die Aufarbeitung behindern würde. Doch das stückweise Eintauchen in meine Vergangenheit hatte ungeahnte Nebenwirkungen verursacht.

Nicht nur, dass mich nachts immer häufiger Alpträume quälten, die Erinnerungsfetzen überfielen mich mittlerweile auch am Tag. Und mit ihnen kam dieses Zweifeln und Hadern, das ich vorher nicht gekannt hatte.

»Was ist los?« Eine belustigte Stimme riss mich an der Schwelle zu meinem Büro unversehens aus meinen Gedanken.

»Gibt’s heute Pluspunkte fürs Löcher in die Luft Starren?« Erwin Konrad stand neben mir und boxte freundschaftlich gegen meinen Oberarm. »Komm schon Marie, David will uns unten seine Ergebnisse präsentieren.«

Mit »unten« meinte Erwin die gerichtsmedizinische Abteilung, die im Untergeschoss eingerichtet war. Der Leichenkeller und die dazugehörigen Labore, in denen Körperteile, Darminhalte und andere unaussprechliche Dinge untersucht wurden, machten sich nun mal nicht besonders gut neben der Cafeteria.

Für gewöhnlich hatte ich kein Problem mit diesem Gebäudebereich, der spaßeshalber auch »Hallers Horrorladen« genannt wurde. Doch die Aussicht darauf, das tote Mädchen wiederzusehen, fühlte sich wie eine unsichtbare Faust in meiner Magengrube an und verlangsamte meinen Gang.

Zum ersten Mal überhaupt fiel mir auf, wie laut Erwins und meine Schritte im Treppenhaus widerhallten. Die Ledersohlen seiner Slipper tippten hart auf die Steinstufen, meine Sneaker dagegen klangen, als würde der Gummibelag winseln. Lass uns umdrehen, schienen sie zu flehen. Quäl dich nicht mit den Erinnerungsbildern, die ihr Anblick wecken wird.

Zusammenreißen! Noch bevor Erwin nach der Klinke der schweren Feuertür greifen konnte, die in den Forensik-Trakt führte, drängte ich mich an ihm vorbei, öffnete sie selbst und trat in das Dunkel.

Über uns erklang ein Surren und einen Moment später strahlte grellweißes Neonlicht auf uns herab. Vor uns lag der kurze, in schlichtem Betongrau gehaltene Gang, von dem jeweils sechs Türen rechts und links abgingen. Die Ersten auf beiden Seiten besaßen Einsätze aus Milchglas. Auf der Linken klebten auf Augenhöhe die Buchstaben D. G. – David Gimpels Büro.

Nach einer kurzen Begrüßung schaltete er den kleinen Tischbeamer an und projizierte die schematische Zeichnung eines Kindes an die Rückwand des Zimmers.

Er drückte ein paar Knöpfe auf seiner Computertastatur und eine zweite Bildschicht legte sich über die Figur. Alle Wundmale samt Einstich-Richtungsvektor waren akribisch aufgemalt.

»Die Blutspuren an Waffe und Hand des Mörders zeigen, dass er die Tatwaffe in dieser abgewinkelten Stellung in der rechten Hand gehalten hat«, erklärte David und deutete mit einem Laserpointer auf die Schemazeichnung.

---ENDE DER LESEPROBE---