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Eine raffiniert erzählte Dystopie über die Folgen des Klimawandels, ein Krimi um ein dunkles Familiengeheimnis und die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche nach ihrer wahren Identität ist. Mexiko-Stadt, Sommer 2029. Karina, Doktorandin der Quantenphysik, lebt bei ihrer alkoholkranken Großmutter, um die sie sich kümmert. Im nahe gelegenen Park Chapultepec, in dem sich ein Friedhof und ein riesiger Zoo befinden, bricht während einer Hitzewelle ein Feuer aus, die Tiere sterben oder fliehen, der Park wird völlig zerstört. Karinas Eltern kamen vor 18 Jahren bei einem Autounfall ums Leben, mehr weiß sie nicht. Die Großmutter schweigt oder redet wirr, Karinas Zweifel an der Geschichte nehmen zu. Im Chaos nach dem Brand bittet Karina den Friedhofswärter Silverio, der in sie verliebt ist, heimlich für sie das Grab zu öffnen – was Silverio tut, als plötzlich ein schwarzer Panther vor ihm steht, hungrig und gefährlich. Danach nehmen die Klimaproteste rund um den Park zu, ein Femizid kommt ans Licht, und in Karina wächst die Sehnsucht nach einem Leben ohne diese brennende Leere der Vergangenheit.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jorge Comensal
Roman
Mexiko Stadt, Sommer 2029. Karina, Doktorandin der Quantenphysik, lebt seit dem Tod ihrer Eltern bei ihrer Großmutter, nahe des Parks Chapultepec, in dem sich ein Friedhof und ein riesiger Zoo befinden. Während einer Hitzewelle bricht dort ein Feuer aus, und die Tiere fliehen über den Friedhof, der völlig zerstört wird. Schnell denkt man an Brandstiftung, der Park wäre teures Bauland.
Karina bittet den jungen Friedhofswärter Silverio, der in sie verliebt ist, heimlich das Grab ihrer Eltern zu öffnen. Angeblich sind sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen, doch ihre Großmutter schweigt, und es gibt immer mehr Hinweise, dass die Geschichte vielleicht nicht stimmt.
An dem geöffneten Grab steht plötzlich ein schwarzer Jaguar vor Silverio und blickt ihn aus gelben Augen an. Silverio kann sich retten, doch danach überschlagen sich die Ereignisse. Weitere Nachforschungen rund um den Tod von Karinas Eltern bringen einen Femizid ans Licht und geben Karina weitere Rätsel auf.
Diese brennende Leere ist eine moderne Liebesgeschichte, ein Krimi und ein hochaktueller politischer Roman.
Jorge Comensal wurde 1987 in Mexiko Stadt geboren, wo er auch lebt. Er ist Doktorand an der philosophischen Fakultät der UNAM in Mexiko Stadt, veröffentlichte bislang Essays und Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. Nach «Verwandlungen» ist «Diese brennende Leere» sein zweiter Roman.
Friederike von Criegern wurde 1976 in Würzburg geboren, studierte Romanistik und Germanistik in Tübingen und Göttingen, wo sie auch lebt. Sie übersetzte u. a. Lyrik von Floridor Pérez, José Luis Goméz Toré und Victor Jara.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Este vacío que hierve» bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. de C. V., Mexiko.
Die Zitate aus Tina Modotti ist totstammen aus: Pablo Neruda, Aufenthalt auf Erden. Gedichte. Deutsch von Erich Arendt. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1984, S. 153 ff.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Este vacío que hierve» Copyright © 2022 by Jorge Comensal
Lektorat Michael Ebmeyer und Claudia Jürgens, Berlin
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Roland Bánrévi
ISBN 978-3-644-01540-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Wenig Tode sind vollkommen.
Die Friedhöfe sind voller Betrug.
Die Straßen sind voller Gespenster.
Roberto Juarroz
There is a panther stalks me down:
one day I’ll have my death of him;
his greed has set the woods aflame,
he prowls more lordly than the sun.
Sylvia Plath
Seit sie auf der Suche nach ihren Eltern auf dem abgebrannten Friedhof zwischen den Gräbern herumgeirrt ist, hat Karina das Gefühl, der Staub einer kosmischen Tragödie lasse ihren Verstand schwinden. Sie hat Angst, wie ihre Großmutter das Gedächtnis zu verlieren, als wäre Rebecas Alter eine ansteckende Krankheit. Seit zwei Monaten verlegt sie ihre Schlüssel, vergisst, Rechnungen zu bezahlen – der Strom wurde in ihrer Wohnung abgestellt, als sie an einem Samstag im Juli gerade die Waschmaschine angestellt hatte –, sie geht ohne Schirm aus dem Haus. An ihrem Geburtstag stand die Espressokanne auf dem Feuer, bis schwarzes Plastik vom Griff auf den Herd tropfte. Vor zwei Tagen hat sie vor dem versammelten Quantenphysik-Seminar das Universum kollabieren lassen – es dauerte eine ganze Weile, bis sie bemerkte, dass sie sich bei der Planck-Länge vertan hatte. Heute kann sie sich nicht erinnern, ob sie ihrer Großmutter Bescheid gesagt hat, dass es spät wird, weil ihre Kindheitsfreundin Mila sie zu einem mexikanischen Fest zum Unabhängigkeitsschrei eingeladen hat.
«Ohne Scheiß», sagt Mila. «Wie gut ist bitte dieses Sushi?»
Karina ist fünfundzwanzig, und Rebeca ist gerade neunzig geworden. Die eine hat das Gefühl, ihr Leben brauche sehr lange, um anzufangen, die andere ist verzweifelt, weil der Tod nicht kommen will.
«Ja, oder? So wie hier kriegst du es sonst nirgends.»
Karina hat der Verlockung widerstanden, Chutoro zu bestellen, das Köstlichste vom Thunfisch, denn sie hatte gelesen, dass die wenigen im Pazifik überlebenden Thunfische voller Mikroplastik und Schwermetall sind.
«Ich war seit Jahren nicht hier.»
Ihr Ex-Freund Mario hatte sie bei ihrem dritten Date hierher ausgeführt.
«Ich war überhaupt noch nie in der Zona Rosa», sagt Mila. «Ganz ehrlich? Ich dachte, hier gibt es nur zwielichtige Spelunken.»
«Dieses Restaurant gibt es seit Jahrhunderten.»
Das Tokio ist ein lebendes Fossil, ein Überbleibsel aus der Zeit, als sich die Boheme von Mexico City in diesem Viertel tummelte; von Jahrhunderten zu sprechen, ist eine der üblichen rhetorischen Übertreibungen, in Japan hätte diese Formulierung aber zutreffen können: Karina hat gelesen, dass die ältesten Hotels, Läden und Restaurants der Welt in diesem Inselstaat liegen, für den sie sich seit ihrer Jugend leidenschaftlich interessiert.
«Wirklich fantastisch. Habe ich ewig nicht gegessen, weil Rosi kein Sushi mag.» Rosi ist Milas Freundin, die Karina noch nicht kennt.
Während Mila ein Stück Sushi in die Sojasauce tunkt – die Schwerkraft ist so gering, dass der Kapillareffekt ausreicht, damit die Sauce durch die Hohlräume im Klebreis aufsteigt –, schaut Karina auf die Uhr. Es ist Viertel nach neun an diesem Freitagabend des 15. September 2030. Zwar ist die christliche Zeitrechnung nützlich, um Eroberungen, Unabhängigkeiten, Epidemien, Biografien und Abschlüsse zu datieren, doch verschleiert ihre kurze Skala das wahre Alter der Erde, die bereits mehr als viertausendfünfhundert Millionen Mal um die Sonne gekreist ist.
«Du, ich rufe kurz meine Großmutter an. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihr gesagt habe, dass ich mit dir ausgehe.»
Mila hat sie vor zehn Tagen angerufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Weil sie beide so viel um die Ohren haben, haben sie sich für heute zum Nachfeiern verabredet, und Karina war einverstanden, hinterher noch mit zu der Party zu gehen, denn sie kann Ablenkung gebrauchen. Von ihrer Doktorarbeit und von dem kollektiven Albtraum, der mit dem Brand von Chapultepec begonnen hat.
«Doña Rebe», ruft Mila gerührt, «ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Glaubst du, sie erinnert sich an mich?»
Die Hitzewelle, die das Land im Frühling verwüstete, wälzte sich in einer Nacht im Mai über die Hauptstadt. Monatelang hatte es nicht geregnet. Es war die schlimmste Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.
«Aber klar.» Karina hält sich das Telefon ans Ohr. «Sie hat dich immer sehr gemocht.»
Der Park von Chapultepec wurde zur Geburtstagstorte einer Zivilisation, die mit Hitzewallungen ihren Eintritt ins höhere Lebensalter feierte. Die Feuerwehrleute und Soldaten brauchten vier Tage, um die Flammen zu löschen. Der Rauch hing noch wochenlang über dem Tal.
«Weil sie nicht wusste, dass du mein Crush warst», sagt Mila, «andernfalls, stell dir nur vor.»
Es schmeichelt Karina, dass ihre Freundin sich in sie verliebt hatte, als sie in der Oberschule waren.
Das Feuer brach am Panteón Civil de Dolores aus, dem Friedhof, auf dem Karinas Eltern seit achtzehn Jahren begraben sind. Ein grausiger Scheiterhaufen – auf dem ein noch nicht identifizierter Priester sein Ende fand – war der Auslöser der Katastrophe, die sechshundertfünfzig Hektar vertrockneter und kranker Vegetation, neunhunderttausend vernachlässigte Gräber, die Mauern von sieben Museen sowie fast die komplette im Zoo weggesperrte Fauna vernichtete.
«Das wusste sie nicht», sagt Karina, während sie dem Freizeichen lauscht, «aber ich habe ihr gesagt, sie soll aufhören zu fragen, ob du einen Freund hast, weil du nicht auf Männer stehst.»
Am Morgen des 26. Mai sah Karina entsetzt die Videos, die von den Wolkenkratzern im Paseo de la Reforma aus aufgenommen worden waren. Wie der Schaum eines vom Durst der ausgedörrten Stadt geschüttelten Bieres schwappte das Feuer über die Friedhofsmauern und breitete sich rasant im Park aus. Erst dachte man, es könnte die sechzehn asphaltierten Fahrspuren der Umgehungsstraße nicht überspringen, aber der Brand erschuf sein eigenes Gewitter, und die Blitze trugen die Flammen auf die andere Straßenseite.
«Echt? Und was hat sie gesagt?», fragt Mila überrascht. «Das hast du mir nie erzählt.»
Karina ist es nicht gewohnt, Ohrringe zu tragen, darum lenkt sie das Geräusch der gegen den Handybildschirm klimpernden Silberanhänger ab.
Ihre Großmutter geht nicht dran. Als sie auflegt, vergewissert Karina sich, «Vera R.» angerufen zu haben. Um Betrugsanrufe zu verhindern, hat sie die Nummer von zu Hause unter dem Namen der Astronomin gespeichert, die die Inkongruenz zwischen der sichtbaren Masse der Galaxien und ihrer Rotationsgeschwindigkeit entdeckt hat. Vera Rubin wird die Entdeckung der Dunklen Materie zugeschrieben; Karina ist allerdings davon überzeugt, dass dieses Zeug ein Mythos ist und sich das merkwürdige Verhalten der Galaxien, das die Astronomin, die sie soeben angerufen hat, beschrieb, besser mit einer neuen allgemeinen Gravitationstheorie erklären ließe, so wie jener, an der sie gerade arbeitet.
«Wie bitte? Entschuldige.»
Sie wählt erneut, hofft, dass ihre Großmutter nun nah genug am Telefon ist, um dranzugehen. Schon vor einer ganzen Weile hat sie ihr ein schnurloses Gerät gekauft, doch der Akku ist ständig leer, und ihre Arthritis macht es der alten Dame unmöglich, die Knöpfe zu drücken, um Anrufe anzunehmen oder Nummern zu wählen. Nach dem Fiasko schloss Karina wieder das Telefon mit der Wählscheibe an, mit dem ihre Großmutter vierzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte; eine Reliquie aus gelbem Bakelit, der Hörer so schwer, dass man ihn als Hantel benutzen könnte, um den Bizeps zu trainieren. So ist zumindest sichergestellt, dass er nicht schief auf der Gabel liegt.
«Was hat deine Abu gesagt, als du ihr erzählt hast, dass ich nicht auf Kerle stehe?»
Ein, zwei, drei, vier Mal klingelt es, dann springt die Mailbox an, die Karina nie eingerichtet hat.
«Weiß ich nicht mehr», sagt Karina fahrig, sie denkt daran, dass ihre Großmutter manchmal die 030 anruft, um nach der Uhrzeit zu fragen, und dann mit der schmerzlichen Realität konfrontiert wird, dass die Telefongesellschaft diesen Service nicht mehr anbietet.
Als sie erfuhr, dass der Friedhof abgebrannt ist, auf dem ihr Sohn und ihre Schwiegertochter begraben sind, wollte Rebeca unbedingt ihren Neffen Francisco anrufen, damit er nach dem Grab schaute. Karina musste etliche Male wiederholen, dass die Polizei die an den Park grenzenden Stadtviertel geräumt hatte und sich niemand ohne Sondergenehmigung der Zone nähern durfte.
«So eine Süße», sagt Mila, «ich erinnere mich, wie gern sie mit uns in die Eisdiele gegangen ist.»
Sie nahmen Zitronen- oder Himbeereis, ihre Großmutter Rompope. Dieses Eis aus Schnaps, Sahne und Zimt war die einzig akzeptable Form, Alkohol zu sich zu nehmen, wenn sie die zehnjährigen Mädchen hütete.
«Ja, das mag sie immer noch gern.» Karina wählt zum dritten Mal die Nummer von Vera R.
«Geht sie nicht dran?»
«Nee», sagt Karina und zieht dabei beunruhigt den Vokal in die Länge.
«Bestimmt redet sie gerade mit jemandem. Sie hat doch immer gern ein Pläuschchen gehalten.»
Schon seit vielen Jahren ruft niemand mehr an, außer den Televerkäufern und Karina selbst, die ihre Großmutter daran erinnert, dass sie ihr einen Tamal in die Mikrowelle gestellt hat oder dass sie ihre Tabletten nehmen soll, die auf einem Tellerchen neben dem Wasserglas auf dem Sims liegen. Niemand sonst ruft Rebeca an: Ihre Schwestern und Freundinnen sind gestorben. Francisco, der einzige Verwandte, der ihr in der Stadt noch bleibt, meldet sich nur im Dezember, um sie und Karina zum Weihnachtsessen einzuladen. Außer mit ihrem Neffen hat Rebeca nur noch mit ihrer Nachbarin Maru Kontakt, die hat aber den Brückentag vor dem 16. September genutzt, um ihre Familie in Celaya zu besuchen.
«Es ist ja nicht besetzt, sie geht bloß nicht dran.»
Sie hat jetzt genug Zeit gehabt, um vom Bett aufzustehen oder aus dem Bad zu kommen; es ist noch früh am Abend, und ihre Großmutter geht nie vor elf schlafen.
«Mir gefällt das nicht.»
Ihre Großmutter hat sich seit Jahren nicht mehr betrunken, weder hat sie die Kraft, um rauszugehen, noch das Geld, um jemanden zu beauftragen, ihr den geliebten Whisky zu kaufen.
«Ich mache mir Sorgen.»
Rebeca ruft gern ihre Nachbarin an, um sie zu Tlacoyos oder zu heißer Schokolade einzuladen. Karina lässt sie dann die in riesigen Ziffern notierte Nummer vorlesen und die zehn Zahlen wählen, als psychomotorische Übung. Ihre Großmutter verwählt sich oft. Manchmal landet sie bei fremden Leuten, manchmal antwortet eine so freundliche wie künstliche Stimme: «Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.» Obwohl sie weiß, dass es sich um eine automatische Ansage handelt, entschuldigt sich die alte Dame bei ihr und beginnt ihren anachronistischen Kreuzweg von vorn, dreht zehnmal die Wählscheibe. Karina befürchtet, ihre Großmutter könne eines Tages so vergesslich werden, dass sie eine halbe Stunde an der Wählscheibe herumdreht und am Ende auf einem anderen Kontinent anruft, einem anderen Planeten, in einer anderen Galaxie oder in einer anderen Dimension. Welche Art von Zahlen braucht man wohl, fragte sie sich einmal zusammen mit ihrem Ex-Freund, um die Götter anzurufen? Die Quadratwurzel von minus eins, alle Dezimalstellen von Pi, vielleicht Cantors transfinite Zahlen?
«Mach dir keinen Kopf», sagt Mila. «Sie ist bestimmt einfach nur eingeschlafen oder so.»
Oder so: Blind und mit all ihren Zipperlein, dem Überdruss und einer beträchtlichen Sammlung Schmerzen ruft ihre Großmutter immer häufiger den Tod an. Karina vermutet, dieses Mal ist er drangegangen.
Rotes Abendlicht flutete um Mitternacht das Wachhäuschen, als die Fanfaren der Nationalhymne Silverio weckten. Er hatte am 25. Mai 2030 Nachtschicht am Haupteingang zum Panteón Civil de Dolores. Normalerweise waren sie zu zweit: Einer blieb im Wachhäuschen, während der andere die regelmäßigen Rundgänge machte. Da sich sein Kollege jedoch mit einer Lebensmittelvergiftung nach einem Meeresfrüchtesalat krankgemeldet hatte, blieb Silverio in der Wache und schlief ein, während Fast and Furious 12 lief und der Friedhof in Flammen aufging. In den Schlaf gewiegt von den Schreien, Schüssen und Explosionen im Film, begriff er zunächst nicht, was draußen los war.
Mas si osare un extraño enemigo – er suchte erst mal die Fernbedienung, um den Fernseher auszuschalten und weiterzuschlafen –, profanar con su planta tu suelo … Und wagt es ein fremder Feind, mit seinem Fuß deinen Boden zu entweihen …
Silverio wusste, dass nur zweihundert Meter von ihm entfernt und unter einer gemeinsamen Grabplatte die sterblichen Überreste des katalanischen Musikers und des inzestuösen Poeten ruhten, die die mexikanische Nationalhymne komponiert hatten: Jaime Nunó und Francisco González Bocanegra. Auch wenn einige Tote in der Rotunde der Illustren Persönlichkeiten, die 1876 zu Ehren der erlauchtesten Leichen eingeweiht worden war, einander näherstanden als diese beiden – Julián und Nabor Carrillo waren Vater und Sohn, Alfonso und Antonio Caso Brüder, Melchor Ocampo war der Schwager von José María Mata –, so waren Nunó und González Bocanegra doch die Einzigen, die sich ein Grab teilten. González Bocanegras Freundin – die laut Wikipedia auch seine Cousine war – hatte ihn eingesperrt, um ihn zu zwingen, die Verse zu schreiben, die nun im Wachhäuschen widerhallten, während Silverio den tiefen Schlaf abzuschütteln versuchte, in den ihn das vor dem Abendessen gerauchte Marihuana befördert hatte.
Er wusste auch, dass Nunó auf Einladung des Diktators Antonio López de Santa Anna – dessen amputiertes Bein ein Ehrenbegräbnis auf dem Friedhof von Tepeyac erhalten hatte – nach Mexiko gekommen war. Da er all diese und viele weitere Fakten über die Bewohner der Rotunde im Kopf hatte, nannten ihn seine Kollegen Chiquinerd, ein Beiname, der ihn etwas nervte, spielte doch chiquito auf seine geringe Körpergröße an. Seine Gelehrsamkeit beschränkte sich nicht auf die Biografien der einhundert Persönlichkeiten, die in der Rotunde ruhten; er konnte sich auch darüber ausbreiten, dass die sterblichen Überreste von José Guadalupe Posada, dem für seine Zeichnungen des Skeletts Catrina berühmten Karikaturisten, in einem Gemeinschaftsgrab lagen, und dass die Fotografin Tina Modotti – die einzige auf dem Panteón Civil bestattete Person, die Silverio dank einiger Aufnahmen eines US-Amerikaners nackt gesehen hatte – eine Freundin der weltberühmten Malerin Frida Kahlo gewesen war.
Bevor er den Fernseher ausschaltete, fiel Silverio ein rötliches Schattentheater auf, das auf der Übersichtskarte des Friedhofs tanzte, durch das Spinnennetz von Wegen, dessen Mittelpunkt die Rotunde war und an dessen ausfransenden Rändern die Gräber lagen, in denen die namenlosen Toten der Hauptstadt verwesten. Der «größte Friedhof Lateinamerikas», wie ein Schild neben dem Eingang verkündete, bestand aus zweihundertfünfzig Hektar Mausoleen, Krypten und Grabsteinen; im Süden grenzte er an die Avenida Constituyentes, im Osten an den zweiten Bezirk des Bosque de Chapultepec, und im Nordwesten trennte eine tiefe Schlucht die Nekropole von den Lomas de Chapultepec, dem wohlhabendsten Viertel der Stadt.
Denke, o geliebtes Vaterland, daran, dass … Der Himmel leuchtete marsrot.
Woher kamen diese wabernden Lichter? Silverio wandte sich zum Fenster, und anstelle der üblichen Finsternis vor dem Friedhofsbüro blickte er in eine Wand aus Glut und Rauch.
«Fuck», sagte er, und die toten Soldaten, die der Himmel dem Vaterland mit jedem seiner Söhne geschenkt hatte, verwandelten sich in Flammen und marschierten im Takt der Hymne:
Für dich die Olivenkränze,
eine Erinnerung für sie im Ruhm,
ein Lorbeerzweig für dich im Sieg,
ein Grab für sie in Ehren!
Silverio schloss geblendet die Augen, und als er im Geist die Straßen des Friedhofs überflog – haufenweise verdorrtes Gras, zerfallene Särge, geschmolzene Kerzen, mit trockenen Flechten bedeckte Bäume, Mülleimer voller Plastikflaschen und verwelkter Blumen, Zigarettenstummel, Feuerzeuge, weggeworfene Spitzen der Junkies, die Tag für Tag zwischen den Gräbern ein wenig Privatsphäre suchten –, da wurde ihm klar, alles war bereit für eine Feuerorgie.
Karina rennt die Stufen hinauf, erreicht keuchend ihre Wohnungstür im ersten Stock des Gebäudes Nummer 26 im Wohnkomplex El Altillo, steckt den Schlüssel ins Schloss, und anstatt ihn zu drehen, hält sie einen Moment inne, um das Pendeln des Schlüsselanhängers zu stoppen – die metallene Miniatur des Steuerrads vom Hauptschiff der Strohhut-Piraten aus dem Manga One Piece; dieser Schlüsselanhänger ist der einzige Gegenstand, der Karinas Otaku-Identität verrät. Das Steuerrad hängt nun bewegungslos, und Karina weiß nicht, wie sie das Eintreten weiter verzögern soll. Sie fürchtet, in der Wohnung ihre Großmutter in einem irreversiblen Zustand des thermischen Gleichgewichts mit ihrer Umgebung vorzufinden. Die Milchsäure brennt in ihren Oberschenkeln. Vor sieben Jahren, als sie in diese Wohnung in der Nähe der Universität zogen, waren die paar Treppenstufen weder für Karina noch für ihre Großmutter ein Hindernis. Rebeca war dreiundachtzig Jahre alt und daran gewöhnt, in ihrem Haus in Clavería treppauf und treppab zu laufen. Sie hatten nicht vorhergesehen, dass die Stufen bald zu einer Qual für die Knie der alten Dame und für die Ungeduld der jungen würden.
Schließlich dreht sie den Schlüssel im Schloss und stößt die Tür auf. Unheilvolle Dunkelheit empfängt sie. Rebeca ist allergisch gegen Stille, deshalb läuft bei ihr immer das Radio oder der Fernseher. Karina tritt ein, ohne das Licht anzuschalten, und legt die Schlüssel auf den Esstisch – das Möbelstück aus Caoba-Holz versperrt den Eingang, es war nicht für ein so kleines Zuhause gemacht.
Zuerst sucht ihr Blick den Schaukelstuhl. Er ist leer, was ihre Furcht verstärkt, ihre Großmutter in einer misslichen Lage vorzufinden. Karinas Pupillen weiten sich, und sie erkennt ein Bündel auf dem Teppich zwischen Küche und Wohnzimmer. Wie immer greift ihr Verstand ihren Gefühlen vor. Sie denkt schon an den Umzug: Unmöglich kann sie jeden Tag auf die Stelle treten, an der ihre Großmutter starb. Sie wird ein Apartment in einer anderen Wohnanlage mieten. Vielleicht in der Villa Olímpica, am anderen Ende der Ciudad Universitaria. Dann hätte sie endlich Ruhe von den Schaukeln, die ständig unter ihrem Fenster quietschen. Und sie könnte den Nachbarschaftsklüngel und die dauernde Schnüffelei der Nachbarin Maru hinter sich lassen.
Mit jedem Schritt legt sie einige Monate zurück, bis sie ins Ausland zieht, um dort einen Postdoc zu machen.
«Wer bist du?», unterbricht sie eine schiefe und wegrutschende Stimme, die sie sofort erkennt. Nicht der Tod hat ihre Großmutter niedergerungen, sondern ihr alter Freund, der Suff.
Karina antwortet nicht. Ihr Schweigen ist die Strafe dafür, sie derart gequält zu haben. Sie tritt näher, ohne das Licht anzuschalten. Das Telefon spiegelt das bernsteingelbe Licht der Straßenlaternen vor dem Fenster. Der Hörer ist korrekt aufgelegt. Wo hat sie den Alkohol her? Wer kann sie am Abend eines 15. September besucht haben? Ihr Onkel und ihre Tante würden niemals an einem Freitag quer durch die Stadt fahren – oder vielleicht waren sie auf dem Weg und haben beschlossen, vorbeizukommen und Hallo zu sagen.
«Wer bist du?», wiederholt ihre Großmutter und hebt den Kopf, um die dunkle Silhouette besser zu erkennen, die immer näher kommt. Das Geräusch der Schritte ist ihr nicht vertraut, denn um sich bei der Party, zu der sie nun nicht mehr gehen kann, in Szene zu setzen, trägt Karina unbequeme Stöckelschuhe.
Wer sie ist? Sie weiß, dass ihr vollständiger Name Karina Miranda López lautet. Ihre Matrikelnummer ist MLK07051660C. Die japanische Kultur fasziniert sie. Sie ist davon überzeugt, dass die Allgemeine Relativitätstheorie für das Verständnis der wahren Natur der Schwerkraft nicht hinreichend ist.
«Wie kannst du es wagen, dieses Haus zu betreten?» Ihre Großmutter, von Telenovelas geschult, neigt zur Theatralik. «Dass du dich nicht schämst.»
Mit wem glaubt sie in ihrem Ethanoldelirium zu sprechen? Karina könnte sie aufklären, aber Groll und Neugier verschließen ihr die Lippen.
«Wenn du kommst, um sie abzuholen – das Mädchen weiß nichts.»
Wahrscheinlich ist sie selbst «das Mädchen», ihre Großmutter sieht in ihr immer noch das Enkelkind, das sie mit sieben Jahren bei sich aufnehmen musste.
«Hau ab!» Der Schrei trifft sie unvorbereitet; Karina macht einen Schritt zurück und verliert fast das Gleichgewicht. «Nach all dem, was du getan hast, wie kannst du es wagen …?»
Langsam wird ihr das Gerede ihrer Großmutter unheimlich. Wovon spricht sie?
«Alles in dieser Welt hat seinen Preis, darum gehst du nicht … was du meinem Sohn angetan hast, ist unverzeihlich.»
Wer mag diese Frau sein, die sie so hasst, und was kann sie ihrem Papá angetan haben, vor vielen Jahren, ehe er zusammen mit ihrer Mamá bei dem Unfall starb?
«Hast du mich gehört? Alles, was du ihm angetan hast, du Schickse» – die Beleidigung hat etwas verstörend Vertrauliches. «Aber das Mädchen soll nicht … sie weiß von nichts.»
Karina vermutet nun, dass ihre Großmutter mit dem Geist ihrer Schwiegertochter spricht und dass sie selbst, eine schwarze Silhouette auf Absätzen, das Gespenst ihrer eigenen Mutter ist.
«Hau ab, verschwinde aus meinem Haus!»
Dass sie glaubt, in ihrem eigenen Haus zu sein, ist ein übliches Zeichen ihrer Trunkenheit.
«Du Miststück. Hau doch ab …»
Das ist kein Befehl mehr, sondern ein Flehen.
Erschöpft lässt sie den Kopf wieder zu Boden sinken. Sie versucht nicht mehr, den Eindringling zu stellen, noch versucht sie aufzustehen. Sie stammelt das Schutzengelgebet, das sie jeden Abend mit Karina aufgesagt hat, als sie klein war. Heiliger Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein, an diesem Tag, in dieser Nacht, ich bitte dich, beschütze mich.
«Das Mädchen weiß nichts», «was du meinem Sohn angetan hast» – wovon redet ihre Großmutter? Sie kann nicht glauben, dass Rebeca Sánchez Culebro, die geschwätzigste Frau der Welt, all die Jahre ein Geheimnis vor ihr bewahrt hätte. Was kann ihre Mutter verbrochen haben, dass ihre Großmutter sie derart hasst? Dieser Groll würde erklären, warum sie ihr hartnäckig jedes Andenken verweigert. Mit keinem Wort erwähnt ihre Großmutter die verstorbene Schwiegertochter. Als hätte sie nie existiert. Karina schreibt das ihrem tiefsitzenden Klassismus zu, ihrer Verachtung für die bescheidene Herkunft des jungen Mädchens aus Tijuana, das nicht mit dem Rest der Familie in die USA emigriert ist, sondern in die Hauptstadt ging, um an der Fachhochschule Ingenieurswesen zu studieren, und dann das Studium abbrach, um Carlos Miranda Sánchez zu heiraten, einen fast zwanzig Jahre älteren Mann.
«Das Mädchen weiß nichts», aber sie will alles wissen: den Ursprung und die Zukunft des Universums, das Atomgewicht von Gold und schwerem Wasserstoff, die Zahl der Sterne in dem Galaxienhaufen, in dem sich unsere Sonne befindet. Was hat ihre Mutter ihrem Papá angetan? Warum deckt ihre Großmutter sie, wenn sie sie so sehr hasst? Karina hat nicht viele Erinnerungen an ihre Eltern. Er war ein Säufer, sie eine fröhliche junge Frau. Und warum redet Rebeca mit einer solchen Gewissheit mit dem Schatten ihrer Schwiegertochter, als wären Karinas Eltern nicht vor achtzehn Jahren mit ihrem gelben Auto tödlich verunglückt?
Karina geht zur Wand und schaltet das Licht an. Die Veränderung des Raumes ist so gewaltig wie die des Universums, als es dreihunderttausend Jahre alt war. Die Photonen entwischten aus dem Gefängnis des ursprünglichen Plasmas, kosmisches Eiweiß, das immer noch in der Pfanne brät.
«Ay!», schreit Rebeca, vom Licht verletzt. Sie schirmt sich die Augen mit dem Unterarm ab.
Auf dem Tisch steht eine fast leere Whiskyflasche. Glenfiddich, achtzehn Jahre alt, Single Malt. Karina hat ihre Großmutter so oft in die Weinhandlung begleitet, dass sie weiß, was für ein edler Tropfen das ist. Wer hat ihr den geschenkt?
«Tut dir was weh?», fragt Karina sie von Weitem, besorgt wegen möglicher Verletzungen, die sich die alte Dame beim Fallen zugezogen haben könnte. Wenig fürchtet sie so sehr wie eine gebrochene Hüfte; dass sie dann behindert ist und ihre Pflege zum Vollzeitjob wird.
«Mein Mädchen», sagt die Alte liebevoll, «da bist du ja. Wie gut. Wie war es in der Schule?»
Es ist halb zwölf in der Nacht. Auf dem Flur zwischen Küche und Wohnzimmer liegen Porzellanscherben. Seit die Arthritis es ihr nicht mehr erlaubt, ein Glas fest zu umfassen, trinkt ihre Großmutter nur noch aus Tassen. Karina sammelt die Scherben auf und wirft sie in den Müll. Sie schaut sich den Inhalt des schwarzen Sacks genauer an: nichts Außergewöhnliches. Auf der Spüle steht ein Glas. Karina nimmt es und riecht daran: Auch in dem Glas war Whisky. Irgendjemand hat mit ihrer Großmutter gesoffen. Sie sucht nach Spuren von Lippenstift, findet aber keine.
Rebeca jammert und versucht aufzustehen. Hätte sie sich etwas gebrochen, würde es wehtun.
«Mein Blutdruck ist im Keller. Wahrscheinlich habe ich was Falsches gegessen.»
Niedriger Blutdruck oder Blutzucker sind schon immer ihre Lieblingsausreden für rauschbedingte Aussetzer; sie werde sich gleich hinlegen, auch wenn es erst vier Uhr nachmittags sei, das Schmerzmittel für die Gelenke mache sehr müde.
«Wer hat dich besucht?»
Ein Piepton meldet Karina eine neue WhatsApp.
«Niemand. Wer erinnert sich denn noch an diese arme Alte.»
Mila hat ihr geschrieben und fragt, wie es ihrer Großmutter geht.
Sie hat sich den Magen verdorben. Ich muss bei ihr bleiben :(
«Und wo kommt die Flasche her?»
Karina hält ihr die Whiskyflasche hin. Ihre Großmutter liegt immer noch auf dem Boden. In diesem Zustand kann Karina ihr nicht aufhelfen. Sie kann sie höchstens ins Schlafzimmer schleifen und dort irgendwie aufs Bett wuchten.
«Ich weiß nicht.» Sie wird vom Schluckauf unterbrochen, der in ihrem vom Alkohol gereizten Magen detoniert.
«Was soll das heißen, du weißt es nicht? Ihr habt fast die ganze Flasche plattgemacht. Sag schon.»
«Die Pfütze da gießt du aber nicht weg», sagt die Alte und versucht vergeblich, den Whisky zu retten, der sie in diese Lage gebracht hat. «Der ist noch gut, vielleicht mal für Gäste.»
«Wenn du mir nicht verrätst, wer ihn mitgebracht hat, muss ich ihn wegschütten.»
Das hat sie schon oft gemacht: den stinkenden Inhalt der Flaschen ins Spülbecken in der Küche oder ins Klo gekippt.
«Ich glaube, das war ein Geschenk, das ich noch irgendwo hatte. Aber ich kann mich nicht erinnern, von wem. Ich bin zu nichts mehr nütze, und Gott hat mich auch vergessen.»
Vielleicht leidet auch er unter Altersdemenz oder hat zu viel getrunken. Vielleicht ist die Schwerkraft eine Folge seiner kosmischen Trunkenheit. Während ihre Großmutter weiter klagt und lallt, macht sich Karina bereit, das alte Bündel Frau ins Schlafzimmer zu schleifen.
Sobald er sich von der hypnotischen Anziehungskraft des Feuers lösen konnte, wollte Silverio die Feuerwehr rufen. Die Notfallnummern waren an die Wand gepinnt, aber er konnte sie nicht lesen, weil der Abdruck der Flammen noch grün auf seiner Retina loderte. Er blinzelte heftig und versuchte, seine Augen von der visuellen Spur des Brandes zu reinigen, doch er blieb blind in diesem Glanz. Also würde er versuchen, über Funk den diensthabenden Kollegen im Wachhäuschen im Nordwesten anzurufen, wo sich der Haustierfriedhof befand. Silverio befürchtete allerdings, dass der diesem entlegenen Posten am äußeren Tor zugeteilte Wächter wie üblich nach Hause gegangen war, nachdem er die Anwesenheitsliste unterschrieben hatte.
«Hier Zwo Zweiundzwanzig, Notfall an Tor eins, over.» Das Funkgerät knisterte; der Kamerad schlief sicher gemütlich in seinem Bett, den Wecker auf fünf Uhr gestellt, um sich dann die Uniform anzuziehen und zum Schichtwechsel wieder am Friedhof zu sein.
«Bitte kommen», schrie er ins Funkgerät, «ich wiederhole, Feuer am Haupteingang, over.»
Wer hatte denn auf dem Posten Dienst? Die Agenda des Chefs sah vor, grundsätzlich keine Nachtschichten an das weibliche Wachpersonal zu vergeben, also blieben nur Tinder, Yanimodo, Lord Petacas oder Don Jacinto, einer von ihnen musste der Faulpelz sein.
Nichts. Er kam auf die Idee, die 911 anzurufen anstelle der Feuerwehr. Die mexikanische Regierung hatte die US-amerikanische Notrufnummer kopiert; dank der Filme kannte die jeder. Er wählte die drei Ziffern, und ihm antwortete eine automatische Ansage: «Um die Polizei zu verständigen, wählen Sie die 1; um einen Krankenwagen zu rufen, wählen Sie die 2; um Unterstützung des Zivilschutzes anzufordern, wählen Sie die 3.» Silverio wählte die letzte Option, und die Nachwehen des Marihuanas ließen ihm die Wartezeit so lang erscheinen, dass er auflegte, bevor der Zivilschutz antwortete. Das wütende Nahen der Flammen machte ihm Angst, sie schlossen schon das Grabmal des Präsidenten Plutarco Elías Calles aus Sonora ein, dessen dürre Überreste im fernen Jahr 1969 zum Revolutionsdenkmal überführt worden waren.
In diesem Moment fiel ihm sein Freund Tepo ein, heimlicher Bewohner des Friedhofs, seit 1985 die Liebe seines Lebens bei einem Erdbeben der Stärke 8 auf der Richterskala umgekommen war.
Zu dieser nächtlichen Stunde dürfte Tepo bereits vom Alkohol ausgeknockt in seinem Heim, der luxuriösen Krypta Limantour, liegen. Da der wohlhabende Patriarch der Familie Limantour mit Porfirio Díaz ins Exil gegangen war und seine Nachkommen Mexiko vergaßen, als sie in den französischen, spanischen und österreichisch-ungarischen Adel einheirateten, beherbergte der gigantische gotische Bau schließlich nur den winzigen Sarg seines im Wiegenalter verstorbenen Kindes. Der pomadige Limantour war nicht nur die meiste Zeit der Diktatur Porfirios Finanzminister gewesen, er hatte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auch für die Aufforstung des Bosque de Chapultepec eingesetzt – und dessen Ausdehnung verdreifacht, indem er die Grundstücke rund um den Panteón Civil de Dolores kaufte –, weshalb es nur natürlich war, dass er sich als Grabstätte seiner Familie ein Rondell am höchstgelegenen Punkt des Friedhofs wünschte, von wo aus er in alle Ewigkeit den besten Blick auf das Schloss und den Wald genießen konnte.
Tepo hatte keine finanziellen Sorgen in seinem Palast: Spenden aus dem informellen Wirtschaftssektor des Friedhofs hielten ihn über Wasser, ihn versorgten die Blumen- und Snackverkäufer, die fliegenden Getränke- und Zigarettenhändler sowie die Kleindealer, mit deren Tributzahlungen auch die Wächter ihren Lohn aufstockten.
Als Tepo in den 1980er-Jahren auf den Friedhof kam, verkaufte er zunächst Eisen aus verlassenen Grabstellen, Flechten und Moos für Weihnachtskrippen und Kerzenreste für die Lokale, in denen Mezcal ausgeschenkt wurde; seine merkwürdigste Handelsware waren die Schnecken, die er im Morgengrauen sammelte und an spanische Restaurants verkaufte, wo sie gekocht wurden.
«Irgendwann gibt es noch ein Erdbeben», warnte Tepo Silverio oft, wenn sie zwischen den Gräbern herumstreiften. «Und dann ist diese ganze Stadt aber so was von am Arsch.»
Vor lauter Erdbeben-Prophezeiungen hatte Tepo das Feuer sicher nicht kommen sehen, das von den höchsten Baumwipfeln des Friedhofs aus den sternenklaren Himmel über der Stadt kitzelte.
Silverio zog seine Stiefel an und band sie hastig zu. Vor dem Wachhäuschen empfing ihn das beängstigende Brausen des Feuers, dazu das Knistern von Holz und der spitze Schrei in der Hitze berstender Steine.
Da der Weg zur Krypta Limantour schon von den Flammen versperrt war, musste er einen großen Umweg machen. Nach achtzig Metern löste sich ein Schnürsenkel, und er stützte sich auf dem Grab von María del Carmen Lobotán Segovia – 1915 zwölfjährig verstorben – ab, um ihn wieder zuzubinden.
Ein paar Felder weiter stoppte ihn die Angst: Vor ihm spannte sich ein Feuerbogen zwischen einer von Flechten bedeckten Zeder und einem kahlen Jacaranda – die Dürre hatte die Blüte verzögert, der Baum trieb gerade erst grüne Blattknospen aus.
Um dieses Hindernis zu umgehen, musste er über etliche Grabsteine springen, bevor er dann, von den Flammen verfolgt, auf dem Weg weiterrannte, der zur Krypta seines Freundes führte.
Die Metalltür war angelehnt, das Vorhängeschloss fehlte, das Tepo anbrachte, wenn er in der Stadt herumstreifte. Silverio stieß die Tür auf und schaute in das finstere Loch, wo es sauer nach altem Schmutz roch. Das Feuer hatte dieses Feld noch nicht erreicht, aber durch den Lärm der brennenden Bäume konnte er nicht hören, ob Tepo in der Krypta atmete. Er hatte auch nichts, um die Grabstätte zu beleuchten. Wieso hatte er nur sein Handy nicht mitgenommen, als er das Wachhäuschen verließ?
«Tepo!»
Der Rauchgestank erinnerte ihn daran, wie einmal ein Bienenschwarm aus einem Pirú entfernt werden musste; der Baum stand in der Nähe der Kapelle für die Abtreibungsopfer, die von einer ultrakatholischen Sekte auf der privaten Parzelle der Familie des Präsidenten Pascual Ortiz Rubio errichtet worden war. Die Imker hatten Smoker benutzt, um die Bienen zu betäuben und den Schwarm aus dem Loch im Baum zu holen. Silverio hatte aus sicherer Distanz zugeschaut, niemandem ohne weißen Overall, Hut mit Schleier und dicke Handschuhe war es erlaubt, sich zu nähern. Als sie die Königin gefunden hatten, genügte es, sie in einen winzigen Käfig zu sperren und in eine Kiste zu setzen, und der ganze Schwarm stürzte sich auf sie. Nachdem sich der größte Teil des Bienenvolks dort versammelt hatte, schlossen die Imker den Deckel und klebten ihn mit Klebeband zu. Sie brachten die Bienen nach Xochimilco, und das den Ungeborenen gewidmete Denkmal stank seitdem nach Rauch, als hätte es gebrannt.
«Tepo!» Silverio schlug, so fest er konnte, gegen die Metalltür der Krypta. «Wach auf. Alles brennt.»
Silverio konnte sein Pech nicht fassen. Wäre sie noch am Leben, hätte seine Hündin Pancha ihn rechtzeitig gewarnt, bevor der pyrologisch heterogene Brandherd – den Fachbegriff hatte er beim Kurs für Zivilschutz der Stadtverwaltung gelernt – außer Kontrolle geriet. Hätte sie nicht das vergiftete Blut getrunken, das die Santería-Priester als Opfergabe für einen Toten hingestellt hatten, den sie anrufen wollten, wäre Pancha bei ihm im Wachhäuschen gewesen und hätte gebellt, bis sie seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Sie war eine schlaue und hellwache Hündin gewesen, perfekt für Wachdienste, grauhaarig, mager und klein wie er. Sie hatte so scharfe Sinne gehabt, dass sie, ganz gleich, in welchem Bereich des Friedhofs sie gerade unterwegs war, immer herbeigerannt kam, sobald Silverio zur Arbeit erschien.
Eines Tages war ihre Schnauze voller Blut. «Was hast du gefressen?», fragte er die Hündin, die energisch mit dem Schwanz wedelte. Er folgte der roten Spur bis zur Opfergabe, die auf dem Grab von Wilfredo Rosas Pérez stand, gestorben erst 2026. Da lagen Federn einer Guinea-Gans und Tabakblätter, und vermutlich mit Kohle aus Menschenknochen war auf den Grabstein eine Reihe von Symbolen gemalt worden. Silverio hatte sich einmal von ein paar Händlern vom Markt von Sonora schmieren lassen, die auf den Friedhof gekommen waren, um Knochen auszugraben. Schon bald begann Pancha zu krampfen. Er nahm sie auf den Arm und eilte zu einer Tierklinik, die er mal in Tacubaya gesehen hatte. Auf dem Weg übergab sie sich, und als sie die Praxis erreichten, war die Hündin bereits tot. Ihre sterblichen Überreste ruhten zu Füßen jenes Grabes, an dem er sie gefunden hatte, zusammen mit den Knochen von Ana Francisca Villamil Hernández, nach der sie Pancha hieß.
«Tepo!» Er schlug gegen die Tür der Krypta und schrie in das dunkle Maul des unterirdischen Palastes.
Das Hundebegräbnis hatte an einem Montag stattgefunden, denn an diesem Tag war der Friedhof für den Publikumsverkehr gesperrt. Silverio öffnete das Grab mit einem Spaten, den ihm Pablo «der Totengräber» Munguía geliehen hatte, lateinamerikanischer Boxmeister im Weltergewicht und Veteran unter den Friedhofsarbeitern. Tepo begleitete ihn zur Beisetzung, und weil keiner der beiden ein Grabgebet kannte, stimmte der Alte Lieder von José José an, während der Jüngere Erde auf Pancha warf.
Qué triste fue decirnos adiós … Wie traurig war es, uns Lebewohl zu sagen, als wir uns am meisten liebten, sogar die Schwalbe flog davon, da sie das Ende ahnte.
Tepo schüttete mit Äthylalkohol gemischte Orangenlimonade über den Grabhügel und stieß mit einem Schluck auf Pancha Chiquinerd an – die Idee, seinen Spitznamen als Nachnamen seines Haustiers zu verwenden, rührte Silverio; er hatte zwar eine dreizehnjährige menschliche Tochter, sich aber nie wirklich als Vater gefühlt.
Schließlich legte Silverio einen Strauß Nelken, den er von einem anderen Grab gestohlen hatte, auf die frische Erde.
«Tepo!»
Die Flammen kamen immer näher. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Er betrat die Krypta, entschlossen, seinen übel riechenden Freund wie einen Sack herauszuschleifen. Silverio war nicht bereit zu sterben. Er versorgte seine Mutter, die wegen des Todes ihres Mannes immer noch depressiv war, und seinen älteren Bruder, der im Gefängnis von Almoloya de Juárez saß, weil er mit dem Motorrad gegen einen Pfeiler gekracht war, als er vom Tatort eines Massakers auf feindlichem Gebiet floh. Abgesehen von diesen Verantwortlichkeiten wollte er nicht, dass sein Tod seiner Ex-Frau recht gab, die es für unschicklich hielt, auf einem Friedhof zu arbeiten. Das war eine der Keimzellen ihrer Trennung gewesen. Zunächst hatte Yadira verlangt, dass er seine Arbeit bei der Müllabfuhr aufgab, obwohl Silverios Vater sein Leben lang Müllfahrer gewesen war, denn sie fand das zu unhygienisch für ihre neugeborene Tochter. Er hörte auf sie, und dank einer Empfehlung seines Paten, der als Straßenkehrer bei der Stadt arbeitete, bekam er den Wachposten auf dem Panteón Dolores. Yadira fand den neuen Job ihres Partners noch beschämender und ungesünder als den vorigen.
Die ständig wechselnden Schichten waren zwar ermüdend, im Wesentlichen bestand sein Dienst aber darin, fernzusehen und in einem Park voller Grabkunst und nationaler Geschichte spazieren zu gehen, und dafür interessierte sich Silverio sehr. Abgesehen von der Rotunde der Illustren Persönlichkeiten, über die er sich stundenlang auf Wikipedia informierte, gab es dort die Sektoren der Militärakademie, der verfassungsgebenden Abgeordneten von 1917, der Piloten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, der italienischen und deutschen Immigranten. Zusätzlich zum Lohn und zu den Sozialleistungen kassierte er Schmiergelder und genoss Spenden der Substanzen, mit denen auf dem Friedhof gehandelt wurde. Ein Traumjob, den aufzugeben er nicht bereit war. Noch vor dem dritten Geburtstag seiner Tochter Daenerys hatten Silverio und Yadira ihre Lebensgemeinschaft aufgekündigt.
«Tepo?»
Als er die kühlen Decken in der Schlafnische seines Freundes betastete, erinnerte sich Silverio daran, dass der sich zuletzt beschwert hatte, wegen der Hitzewelle nicht in seinem Bett schlafen zu können. «Ein Scheißofen ist das», hatte er geklagt. «Als hätten sie das Höllenfeuer hochgedreht, du gehst kaputt.»
Sicher hatte er in dieser Nacht draußen geschlafen, vielleicht am Grab der Opfer des Erdbebens, wo seine Frau lag und von wo aus man über die Schlucht sehr leicht vom Friedhof fliehen konnte. Silverio dagegen hatte sich in Todesverachtung in den sengenden Bauch des Drachen begeben.
Was nützt es Karina, die Schwerkraft so gut zu verstehen, wenn sie sie im Ernstfall nicht beherrschen kann? Sie ist völlig geschafft von der Kraftanstrengung, ihre Großmutter über den Flur zu ziehen. Vor dem Versuch, sie aufs Bett zu hieven, schnauft sie einmal durch, während die alte Dame unzusammenhängende Beschwerden brabbelt, den Kopf gegen die Matratze gelehnt.
«Das ist das erste Mal in meinem ganzen Leben, und wofür habe ich dich eigentlich großgezogen, dass du mich so rüttelst, für wen hältst du dich eigentlich, Mädchen?»
Karina ist überzeugt, dass sich die Raumzeit nicht wegen der Massenwirkung krümmt, sondern sich ausbreitet und verwirbelt wie eine enorme Flut aus Leere.
«Hör mal», sagt sie beiläufig zu ihrer Großmutter und hofft, dass sie sich entspannt und ihr gesteht, wer zu Besuch war, «erzähl mir doch mal, wie es war, worüber habt ihr euch denn unterhalten?»
Die Leere ist nicht fügsam. Sie widersetzt sich den Körpern, die sie durchdringen. Darum verdichten und verflüchtigen sich die Galaxien, darum weigert sich die der Gravitation unterworfene Masse ihrer Großmutter, den Boden zu verlassen.
«Ich habe gesagt, besser belassen wir es dabei, als wäre nichts geschehen und gut. Vielen Dank und gute Nacht.»
«Zu wem hast du das gesagt?»
«Zu wem wohl? Dummerchen.»
Trotz der Selbstsicherheit, die sie mit den Jahren gewonnen hat, machen die kindlichen Beleidigungen ihrer Großmutter sie immer noch wütend und verletzen sie ganz unverhältnismäßig.
«Keine Ahnung, sag’s mir.» Vielleicht verleiht ihr der Zorn die nötige Kraft, um sie anzuheben.
«Ich werde es dir erzählen, damit du mich verstehst. Ich habe nur ein einziges Mal im Leben geliebt. Ich wusste nichts, gar nichts wusste ich, aber als Ramiro auftauchte und fragte, wem die Finca gehörte, da wusste ich, wem schon da mein Herz gehörte.»
Ihr Großvater Ramiro war als Geologe nach Tabasco gekommen, um nach Ölfeldern zu suchen.
«Da war es um mich geschehen. Señorita, geht es Ihnen gut?»
Karina fehlt die Geduld, sich zum tausendsten Mal die Geschichte anzuhören, wie sich ihre Großeltern verliebt haben, also beendet sie ihre Pause und macht sich bereit für das olympische Gewichtheben.
«Lass mich los!», schreit Rebeca, als Karina die Arme unter ihren Achseln durchschiebt.
Das Photon ist der Erzfeind des Gravitons. Darum weichen sie einander so beharrlich aus. Während das eine in irrwitzigem Tempo durch den Raum flieht, ohne dass die Zeit es einholen kann, bleibt das andere ganz ruhig, ist gar nicht wahrnehmbar, und um sich zu verändern, vervielfältigt es sich bloß.
«Ich hebe dich aufs Bett, okay?»
Karina hält die Luft an und kneift die Pobacken zusammen, drückt mit den Beinen, zerrt mit dem Rücken, das gesamte Universum wehrt sich gegen die Trennung ihrer Großmutter vom Planeten. Karina presst, spannt an, ihr schießt das Blut ins Gesicht. Sie bekommt ihre Großmutter nur wenige Zentimeter hoch und lässt sie wieder runter.
«Ay!», beschwert sich Rebeca über den schmerzhaften Plumps.
«Schrei nicht so», befiehlt Karina ihr, wütend über die beschämende Situation; wenn nun die Nachbarn das Gezanke hören und womöglich glauben, jemand tue der wehrlosen Omi in Apartment 103 weh.
«So dankst du mir alles, was ich für dich getan habe? Du hast es im Blut.»
«Ich versuche, dich hinzulegen, weil du dich hast volllaufen lassen.»
«Ich? Ich doch nicht! Sag das noch einmal, und du fängst dir eine.»
Besoffene sind wie kleine Kinder, der gleiche Zynismus, die mangelnde motorische Koordination, die Hemmungslosigkeit und Reizbarkeit. Aber sooft sich Rebeca auch schon die Kante gegeben hat, so schwatzhaft wie heute Nacht war sie noch nie. Karina sollte sich bei wem auch immer, der sie mit diesem edlen Tropfen besucht hat, bedanken. Auf eine ihr noch nicht erklärliche Art hängen die Worte, die ihre Großmutter an den Schatten gerichtet hat, mit dem Tod ihrer Eltern zusammen und mit dem Erwachen ihrer Erinnerung durch den Friedhofsbrand.
«Ich hebe dich jetzt noch mal hoch, und wenn du mir nicht hilfst, bleibst du die ganze Nacht auf dem Boden. Willst du das?»
«Ich will, dass ihr mich zu meinem Mann legt, und dann nie wieder aufstehen.»
Der depressive Effekt des Alkohols auf das Nervensystem lässt die Alte schwer atmen: Wie immer, wenn sie trinkt, wird sie auch in dieser Nacht unfassbar schnarchen, und ihre Enkelin wird sich etwas in die Ohren stecken müssen, um überhaupt an Schlaf denken zu können.
«Bist du bereit? Ich schiebe dich aufs Bett.»
Karina könnte zum Portiershäuschen gehen und dort nicht nur fragen, ob sie jemanden gesehen haben, der mit einer Flasche in der Hand das Gebäude betreten hat, sondern auch darum bitten, ihr mit ihrer Großmutter zu helfen. Die Scham, die Wachleute erneut um einen Gefallen zu bitten und dass sie ihre Großmutter in diesem erbärmlichen Zustand zu sehen bekämen, bringt sie von diesem Gedanken ab.
Die Alte schreit auf, als sie den erneuten Angriff ihrer Enkelin spürt, die den Dingen mit einem gewissen horror vacui begegnet – genau umgekehrt zur Theorie von Aristoteles, der diesen ja den Dingen selbst zuschreibt.
«Nein, zieh mich nicht aus! Bitte, ich will mich jetzt nicht mehr waschen.»
Um sich auszudehnen, musste das Universum diesen ersten Widerstand überwinden und auf Kosten seiner eigenen Ewigkeit das Nichts zerreißen. Das Vergehen der Zeit ist die Spur, die dieses Opfer hinterlässt.
«Ich versuche, dich ins Bett zu bringen. Es ist fast Mitternacht.»
Karina hat gesehen, dass in Japan immer mehr Roboter in der Altenpflege eingesetzt werden; eine ihrer Fähigkeiten besteht darin, die Pflegebedürftigen aus dem Bett zu heben und ins Bad oder zum Rollstuhl zu bringen. Dummerweise sind diese anthropomorphen Roboter so teuer, dass es in Mexiko billiger ist, für diese Arbeit Menschen zu beschäftigen.
«Lass mich, ich kann das alleine.»
Wäre es nicht schon so spät, sie würde umgehend Onkel Paco anrufen und ihn fragen, ob er zu Besuch war.
«Na dann, steh mal auf.»
Darauf zu beharren, dass das Universum mit dem Big Bang begonnen hat, ist grob und ungenau. Damit etwas explodiert, muss es eine bestehende Ordnung plötzlich und gewaltsam zerstören. Die Wissenschaft kann dazu keine gesicherten Angaben machen, was vor der Planck-Ära war, entzieht sich unserer Kenntnis; es braucht 43 Nullen nach dem Komma, um die Kürze dieses Intervalls als Sekundenbruchteil auszudrücken. Auf jeden Fall wird der Beginn des Universums – dessen Anomalien in einer Phase der Ausdehnung von keiner einzelnen physikalischen Theorie gefasst werden können – mehr dem unbeholfenen Abmühen ihrer Großmutter auf dem Boden geähnelt haben als einer explosionshaften Verteilung von Materie im Raum.
«Mir ist schwindelig.»
Ihre Großmutter hat es geschafft, sich hinzuknien, und stützt sich mit der Stirn am Bettgestell ab. Karina muss diese Haltung nutzen, bevor sich Rebeca wieder auf den Boden legt. Zuerst hebt sie den Oberkörper ihrer Großmutter an und platziert ihren Kopf und ihre Arme auf dem Bett. Die Alte murrt, aber Karina lässt sich nicht beirren. Sie umarmt sie von hinten, und in einem enormen Kraftakt schiebt sie, bis es ihr gelingt, Rebecas ganzen Oberkörper aufs Bett zu wuchten, wo sie auf dem Gesicht liegen bleibt, die Beine stehen über. Im letzten Arbeitsschritt muss Karina ihre Beine anheben und als Hebel benutzen, so den Körper ihrer Großmutter drehen und den Kopf in der Nähe des Kissens betten.
Karina schnaubt erleichtert, erschöpft und schweißgebadet. Sie zieht sie aus und legt ihr eine Windel an. Sie fragt noch einmal, wer sie besucht hat, und Rebeca wiederholt lediglich, dass Gott sie vergessen habe. Karina ist zu müde, um weiter nachzuhaken. Sie baut aus den Esszimmerstühlen ein Geländer ums Bett, damit ihre Großmutter wie in einem Gitterbettchen liegt und nicht im Morgengrauen herausfällt.
«Schlaf jetzt», sagt sie und löscht das Licht.
Während sie sich vor dem Spiegel die Zähne putzt, betrachtet sie die runde Nase ihrer Großmutter mitten in ihrem eigenen Gesicht. Die Fähigkeit des Gensatzes, Generationen zu überspringen und mit einer solchen Detailtreue die Form von knorpeligen Organen wie diesem zu reproduzieren, fasziniert sie immer wieder aufs Neue.
So spät in der Nacht ist Mila auf der Büroparty bestimmt schon betrunken. Mila wollte ihr Patricio vorstellen, einen Mathematiker, der als Risikoanalyst mit ihr dort arbeitet. Sie war überzeugt gewesen, dass die beiden sich gut verstehen würden und, wenn sie erst einmal ihre jeweilige Schüchternheit überwunden hätten, Telefonnummern austauschen und vielleicht sogar das Fest gemeinsam verlassen könnten. Anstatt sich damit zu verausgaben, ihren Körper gegen den ihrer Großmutter zu pressen, hätte Karina das Gleiche mit dem Körper von Patricio tun können, um zu einem vollkommen anderen Ergebnis zu gelangen. Weil unverbindlicher Sex sie nicht interessiert, findet sie das Spekulieren darüber eher vergnüglich als frustrierend. Sie hätte aber Lust gehabt, ihn kennenzulernen und die Party mit dem Verlangen danach zu verlassen, sich wieder einmal mit ihm zu unterhalten.
Als sie das Bad verlässt, schreckt das Quietschen der Tür ihre Großmutter auf.
«Wer ist da?», fragt sie ängstlich.
«Ich bin’s, Karina.»
«Ah», sagt Rebeca erleichtert, «du bist das.»
Als die Gastanks des Krematoriums explodierten, war Silverio gerade auf dem Weg zurück zum Eingang, er hatte den Weg parallel zur Friedhofsmauer genommen. In dieser Zone mit wenig Bäumen war er zwar in Sicherheit vor dem Feuer, doch der Rauch zwang ihn, gebückt zu gehen, um ungefähr zu erkennen, wohin er trat. Plötzlich war der Asphalt hell erleuchtet, er hörte ein vulkanisches Donnern und sah noch den Feuerpilz hinter der Rotunde aufsteigen, als ein heißer Luftstoß seine Augen reizte und ihn erblinden ließ. Aus Angst, zu stolpern und zu stürzen, ging er in die Hocke, und als er den kühlen Boden spürte, ging er auf alle viere und krabbelte weiter, als wäre er ein Hund. Seine einzige Orientierung war die Neigung des Wegs, der zum Hauptplatz hin abfiel. Die extreme Hitze und der Sauerstoffmangel verursachten eine bleierne Müdigkeit. Die Arme konnten ihn nicht mehr tragen, und er ließ sich fallen. Er wusste nicht, wie weit es noch bis zu den Büros war. Er erklärte sich für tot und nutzte die Verzweiflung, um das fade Leben zu bereuen, das er geführt hatte.
Da hörte er ein Bellen. Er erkannte Pancha, und ohne zu wissen, ob sie zu seiner Rettung wiedergekehrt war oder um ihn ins Jenseits zu geleiten, folgte er ihr. Mühsam zog er sich hoch und krabbelte vorwärts. Er wollte schreien, konnte aber nur husten. Er kroch weiter und stieß schon bald gegen gebogenes Plastik. Das musste der Eimer sein, den sie vor dem Bad stehen hatten und benutzten, wenn die Wassertanks wegen der Dürre in der Stadt mal wieder leer waren. Er hatte die Friedhofsbüros erreicht und war in Sicherheit.
Den Rest der Nacht wartete Silverio auf die Feuerwehr. Die Einzigen, die sich am Eingang des Friedhofs blicken ließen, während die Gräber brannten, waren neugierige Anwohner der Siedlungen América, 16 de Septiembre und Daniel Garza.
«Papá?»
Als das Telefon klingelte, saß Silverio auf dem Schemel und trank gegen seine Dehydrierung und die unerträglichen Kopfschmerzen eine Cola.
«Hier ist Daenerys, deine Tochter.»
Ihm tat weh, dass es Daenerys für nötig erachtete, ihre Verwandtschaftsbeziehung zu erklären. Seit Jahren hatte er sie nicht gesehen. Weil er sich mit den Unterhaltszahlungen schwertat, war er mit Yadira, seiner Ex-Partnerin, völlig zerstritten. Das finanzielle Elend Silverios war einer regelrechten Pechsträhne kostspieliger Zwischenfälle geschuldet. Sein Vater war gestorben, sein großer Bruder war im Gefängnis gelandet, und seine Mutter konnte wegen der Depression, die sie bekommen hatte, weil sie verwitwet war und ihr Sohn als Auftragskiller im Gefängnis von Almoloya saß, nicht mehr arbeiten. Außer der Miete für das winzige Haus, in dem er mit seiner Mutter wohnte, musste Silverio auch die inoffiziellen Gebühren zahlen, die das Gefängnis dafür erhob, dass die Insassen morgens nicht tot in ihren Zellen aufwachten. Yadira hätte ihn vor ein Familiengericht bringen können, hielt ihn aber lieber auf Abstand.
«Tochter, Tochter.» Er wiederholte das Wort, beseelt von seiner hoffnungsvollen Bedeutung. «Wie cool, dass du mich anrufst. Ich habe die Nummer nicht erkannt.»
Silverio wusste nicht einmal, dass seine Tochter schon ein Telefon hatte, und auch nicht, dass Yadiras Freund es ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
«Mamá hat gesagt, dass du in Chapultepec arbeitest.» Yadira verheimlichte ihrer Tochter, dass ihr Vater auf einem Friedhof arbeitete. «Ich habe gerade gesehen, dass der Zoo brennt. Weißt du, ob sie die Tiere rausgeholt haben?»
«Ich wäre fast gestorben, mein Kind.»
«Ohne Scheiß? Wo warst du denn?»
«Auf dem Friedhof.»
Er schämte sich nicht dafür, Wärter auf dem ersten öffentlichen Friedhof von Mexico City zu sein.
«Hier ging das los mit dem Tohuwabohu. Du machst dir keine Vorstellung.»
«Ist der Zoo da in der Nähe?»
«Nein», antwortete er, enttäuscht, dass seiner Tochter die Tiere wichtiger waren als ihr eigener Vater. «Der ist ein Stück weiter weg.»
«Ich habe schon so viel gegoogelt», Daenerys klang sehr verängstigt, «und nirgendwo steht, ob es den Tieren gut geht.»
«Die gesamte Feuerwehr ist in die Richtung gefahren, also bestimmt, ja. Warst du vor Kurzem mal im Zoo?»
Silverio hatte sich die ganze Nacht darum bemüht, die Feuerwehr zum Friedhof zu rufen, aber alle Einheiten waren mit dem bisschen Wasser, das sie in ihren Tanks lagerten, in den ersten Bezirk des Bosque de Chapultepec geschickt worden. Im Panteón ließen die Behörden das Feuer wüten, bis es von alleine erlöschen würde.
«Ja. Vor zwei Wochen waren wir da.»
«Wer?»
Silverio spürte zwischen den Stichen der Migräne einen Pikser Eifersucht.
«Die ganze Schule. Wir sind ins Schloss und in den Zoo gegangen. Wir haben eine Giraffe gesehen, die gerade erst geboren war. Die ist noch so mini, die hat jetzt bestimmt schreckliche Angst.»
Silverio trank einen Schluck Cola. Ein wenig Marihuana hätte geholfen, den Schmerz zu lindern, der in seinem Kopf hämmerte. Sobald er die Augen schloss, sah er wieder die Flammen vor sich, den grellroten Funkenregen, der um ihn herum niederging, als er sich zum Ausgang durchschlug, vor der blendenden Explosion.
«Ich mache mir solche Sorgen um die Giraffen, die Flamingos, die Kalifornischen Kondore, sie stehen auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten.»