Verwandlungen - Jorge Comensal - E-Book

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Jorge Comensal

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Beschreibung

Ramón hat alles, was man sich wünschen kann - Erfolg im Job, eine fürsorgliche Ehefrau, zwei aufgeweckte Kinder. Doch als er nach einer Operation seine Stimme verliert, ändert sich sein Leben. Die Familienmitglieder nutzen seine fatale Lage aus. Ramón ist einsam und verzweifelt, keiner versteht ihn, bis die Haushälterin sein Leid nicht länger mitansehen kann und Abhilfe schafft. Sie kauft ihm einen Papagei. Benito ist auf dem Marktplatz groß geworden und hat dort drastische Schimpfwörter gelernt, die Ramón aus der Seele sprechen. In stummen Wutmonologen schüttet er seinerseits dem Papagei sein Herz über seine verlogenen Verwandten und Freunde aus. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Jorge Comensal rechnet auf höchst vergnügliche Weise mit einer Gesellschaft ab, in der nur Schönheit, Erfolg und Gesundheit zählen. Mit brillantem schwarzem Humor geschrieben, ein weiser, bitterböser und zugleich tröstlicher Roman über große Themen - Abschiednehmen, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, Verwandlungen und Gefühle, die bleiben.

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Jorge Comensal

Verwandlungen

Roman

Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern

Über dieses Buch

Ramón hat alles, was man sich wünschen kann - Erfolg im Job, eine fürsorgliche Ehefrau, zwei aufgeweckte Kinder. Doch als er nach einer Operation seine Stimme verliert, ändert sich sein Leben. Die Familienmitglieder nutzen seine fatale Lage aus.

Ramón ist einsam und verzweifelt, keiner versteht ihn, bis die Haushälterin sein Leid nicht länger mitansehen kann und Abhilfe schafft. Sie kauft ihm einen Papagei. Benito ist auf dem Marktplatz groß geworden und hat dort drastische Schimpfwörter gelernt, die Ramón aus der Seele sprechen. In stummen Wutmonologen schüttet er seinerseits dem Papagei sein Herz über seine verlogenen Verwandten und Freunde aus. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Jorge Comensal rechnet auf höchst vergnügliche Weise mit einer Gesellschaft ab, in der nur Schönheit, Erfolg und Gesundheit zählen. Mit brillantem schwarzem Humor geschrieben, ein weiser, bitterböser und zugleich tröstlicher Roman über große Themen - Abschiednehmen, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, Verwandlungen und Gefühle, die bleiben.

Vita

Jorge Comensal wurde 1987 in Mexiko Stadt geboren, wo er auch lebt. Er ist Doktorand an der philosophischen Fakultät der UNAM in Mexiko Stadt, veröffentlichte bislang Essays und Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. «Verwandlungen» ist sein erster Roman.

 

Friederike von Criegern wurde 1976 in Würzburg geboren, studierte Romanistik und Germanistik in Tübingen und Göttingen, wo sie auch lebt. Sie übersetzte u. a. Lyrik von Floridor Pérez, José Luis Goméz Toré und Victor Jara.

Erster Teil

Und dich quält das Gefühl

Ein Druckfehler habe sich ins Kreuzworträtsel geschlichen

Und mache es unlösbar.

Rosario Castellanos

1

Ramón stand vor dem Spiegel und riss den Mund auf wie ein wütender Pavian, wütend auf sich selbst. Er versuchte, sich in den Hals zu schauen, aber das schwache Licht auf der Toilette seines Lieblingslokals «La Montejo» reichte nicht aus, um die Stelle auszuleuchten, wo ein stechender, gleißender Schmerz saß, eine Gallenkolik war nichts dagegen. Er schloss den Mund und wusste, dass er mit diesem Schmerz unmöglich das Schweinefleisch-Sandwich essen konnte, das er sich bestellt hatte. Voller Groll richtete er sich die Krawatte, wandte seinem Spiegelbild den Rücken zu und verließ die Toilette. Am Tisch erwartete ihn sein Mandant, mit dem er das glückliche Ende eines Verfahrens am Verwaltungsgericht feiern wollte. Ramón rief den Kellner und bat ihn, ihm das Sandwich einzupacken und stattdessen eine Limettensuppe zu bringen. Zu sprechen verursachte ihm lästige Krämpfe in der Zunge. Er würde geizig mit den Worten und nachsichtig mit der traurigen Brühe sein müssen, die sie ihm servierten.

Bevor sie mit dem Essen anfingen, erhob sein Mandant das Tequila-Glas, um auf den Sieg vor Gericht anzustoßen. Ramón tat es ihm gleich, indem er «Wohlsein!» sagte, ohne zu ahnen, dass er am nächsten Morgen mit einer gelähmten Zunge erwachen würde, nicht mehr in der Lage, die Konsonanten zu artikulieren, die nötig waren, um dieses glückliche Wort noch einmal auszusprechen.

Carmela, seit zwanzig Jahren seine Ehefrau, war beunruhigt, als sie ihn «Meih Munh ih hiel himma» sagen hörte, und anstatt ihm einen Löffel Hustensaft zu verabreichen, wie sie es am Tag zuvor getan hatte, vereinbarte sie sofort einen Notfalltermin mit dem Hausarzt, zu dem sie sonst immer die halbwüchsigen Kinder Mateo und Paulina brachte, wenn sie eine schwere Grippe hatten oder eine Entschuldigung für die Schule brauchten.

«Nach dem, was Ihre Frau mir erzählt hat», sagte der Arzt, «könnten wir es hier mit einer kleinen Entzündung der Schilddrüse zu tun haben. Sie hatten kein Kribbeln in den Händen oder Füßen?»

Ramón schüttelte den Kopf.

«Okay. Dann schauen wir uns das mal an.» Der Arzt holte eine Stirnlampe hervor und befestigte sie mit ein paar elastischen Riemen. «Jetzt machen wir den Mund schön weit auf.» Der Arzt, an den Umgang mit erkälteten Kindern gewöhnt, redete mit einer Heiterkeit, die Ramón demütigend fand. «Genau so. Fein gemacht.»

Da war also der Pavian wieder, und in seinen offenen Rachen drang der Arzt mit einem Zungenspatel ein, der sich beim Kontakt mit dem gelähmten Organ in einen Elektroschocker zu verwandeln schien. Ramón hatte das Gefühl, seine Zunge würde mit Eispickeln erforscht. Er musste an die Verhörmethoden der Polizei denken, und er wusste jetzt, dass er unter solchen Umständen alles gestehen würde, um bloß die Folter zu beenden, sei es die Wahrheit – er begehrte schon immer seine Schwägerin Angélica – oder eine Lüge – er hatte Luis Donaldo Colosio umgebracht. Doch der Arzt suchte nach einem Geheimnis, das Ramón nicht gestehen konnte.

«Wir haben hier eine etwas merkwürdige Entzündung», schloss er, nachdem er den Zungenspatel herausgezogen hatte. «Wir werden einen Ultraschall machen, um genauer zu sehen, worum es sich handelt.»

Er ergänzte, dass es die Symptome einer Sialolithiasis sein könnten, einer Infektion, die durch einen Stein verursacht wird, der einen Speichelgang verstopft. Mit dem Versuch, diese Diagnose zu bestätigen, verloren sie drei Wochen. In dieser Zeit wuchs der vermeintliche Speichelstein, und die Entzündung der Zunge schritt in einer ungeheuerlichen Geschwindigkeit voran. Als der Hausarzt dies erkannte, überwies er seinen Patienten an Doktor Joaquín Aldama, «einen sehr erfahrenen Onkologen».

Die Vorstellung, einen Onkologen konsultieren zu müssen, quälte Ramón und Carmela mehr, als sie sich eingestehen mochten. Sie ertrugen ihre Anspannung schweigend. Zwar versuchten sie, dem Termin am 4. Dezember so wenig Bedeutung wie möglich beizumessen, entschieden sich aber, ihn vor den Kindern geheim zu halten, denn die befanden sich gerade in der Prüfungsphase. Mateo war im letzten Jahr der Oberstufe, Paulina im ersten. Er bemühte sich im Rahmen der Möglichkeiten seiner ihm angeborenen Trägheit, in Mathematik, Chemie, Physik und Geschichte zu bestehen, in den vier Fächern, in denen er üblicherweise in die Wiederholungsprüfungen musste; sie hingegen strebte Spitzenleistungen an, um ihren letzten Rivalen zu besiegen, den kleinen und arroganten Jesús Galindo. Beide waren darauf bedacht, ihre schulischen Ziele zu erreichen, ohne dabei Masturbation und Karaoke zu vernachlässigen, ihre jeweiligen Freizeitbeschäftigungen. Vom Kummer ihrer Eltern bemerkten sie nichts.

Bei Martínez & Partner, Ramóns Kanzlei, stapelten sich indessen die unerledigten Aufgaben. Es gab Fälle, die nur der Anwalt selbst erledigen konnte, vor allem solche, die nach einer alkoholhaltigen Lösung verlangten. Mario Enrique López, Inhaber des Maklerbüros Sagitario, traf niemals Entscheidungen, bevor er nicht wenigstens eine halbe Flasche Rum getrunken hatte. Die ganze Öffentlichkeitsarbeit der Kanzlei hing am Charisma und an der Eloquenz des Rechtsanwalts Martínez, doch die Atrophie seiner Zunge sabotierte diese Fähigkeiten. Wenn er seine eigene Stimme hörte, kam es Ramón vor, als hätte ein taubstummer Dieb ihm seinen Körper gestohlen, und wenn er sich im Spiegel sah, schaute er in ein Gesicht, das viel dicker war als üblich, mürrisch und verbittert, und den Mund vollgestopft mit Kuchen.

Da er nicht mehr laut werden konnte, reagierte Ramón sich am Steuer ab; sein Auto musste nun für ihn schreien. Er schlug auf die Hupe ein, um an den Ampeln unaufmerksame Fahrer anzutreiben, rheumatische Fußgänger aufzuscheuchen oder einfach nur, um in der Hauptverkehrszeit seine Anspannung herauszubrüllen. Der kleinlaute, näselnde Klang der Hupe erinnerte ihn unerbittlich daran, dass er nicht an Bord eines mächtigen deutschen Fahrzeugs saß, wie er es sich immer gewünscht hatte, sondern in einer japanischen Kopie mit vier Zylindern und Kunstledersitzen.

Die schlimmste Phase der Wartezeit endete am Freitag, den 15. Dezember, nachdem er sich einer schmerzhaften Biopsie unterzogen hatte, bei der ihm mit einer großen Zange ein paar Millimeter der Zunge entfernt wurden. Im Keller des Krankenhauses hatte ein Team von Pathologen die Zellen mit Hilfe diverser Antigene und Färbungen untersucht, um unter dem Licht des Mikroskops ihre wahre Natur zum Vorschein zu bringen. Der Bericht war schon an die onkologische Praxis geschickt geworden und wartete dort in einem verschlossenen Umschlag darauf, dass der Arzt in Anwesenheit des Patienten die Ergebnisse interpretierte. Bis dahin waren es noch einige Stunden.

Sie kamen früh zum Termin. Im Wartezimmer nahmen sie neben dem riesigen Aquarium Platz, das den Raum schmückte. Carmela begann, in einer Zeitschrift zu blättern. Ramón heftete den Blick auf das Aquarium und dachte über die negativen Folgen seiner Abwesenheit bei der Arbeit nach. Er würde wohl seinen Mandanten Geschenkkörbe zu Weihnachten schicken müssen, um ihnen für ihre Geduld und ihre Treue zur Kanzlei zu danken. Sein guter Umgang mit den Mandanten zeichnete Ramón aus, er eroberte sie mit einer ausgewogenen Mischung aus Schmeichelei und Respektlosigkeit. Er war weder heuchlerisch noch korrupt oder auf seinen Vorteil bedacht; stets handelte er in gewissenhaftem Einklang mit den Gesetzen, die eingehalten werden konnten – denn die lokalen Gesetzbücher und die des Bundes waren so voller strittiger Lücken und Widersprüchlichkeiten, nicht einmal der heiligste aller Juristen hätte ihnen ausweichen können. Und dank seines einwandfreien Werdegangs würde diese gesundheitliche Pechsträhne seiner beruflichen Reputation nicht schaden, dessen war sich Ramón sicher.

Das Aquarium lenkte ihn von seinen Sorgen ab. Ein Dutzend bunter Fische schwamm in Kreisen über den Felsen und Korallen. Es war ein hypnotischer Tanz. Wie war es möglich, dass es in den Meeren eine solche dekorative Vielfalt gab? Die Biologen schrieben sie der natürlichen Selektion zu, jener langsamen und zufälligen Kraft, die nach und nach die Gestalt aller Tiere umformte und in der Lage war, monströse Dinosaurier in wehrlose Hühner zu verwandeln. Jedes Brathähnchen war eine traurige Erinnerung an die Wendungen des Lebens.

Carmela unterbrach seine Gedanken mit einem freundschaftlichen Rempler.

«Sieh mal», sagte sie und zeigte ihm in der aufgeschlagenen Zeitschrift das Bild eines jungen Paares, das vor einer Burg posierte. «Erinnerst du dich?»

Ramón nickte. Er erinnerte sich an ihre Hochzeitsreise durch Frankreich. Carmela blätterte um. Auf der nächsten Seite erschienen dieselben Leute vom vorigen Foto, aber nun waren sie halbnackt und sonnten sich an Deck einer Yacht. Die Bildunterschrift besagte, dass es sich hier um zwei spanische Adlige in ihren Flitterwochen handelte. Der Adel war für Ramón ein widerwärtiger Atavismus.

Ramón und Carmela hatten sich zwanzig Jahre zuvor an einem Tisch voller Sandwichs kennengelernt. Er hatte sie seit Beginn der Geburtstagsfeier von Luis, seinem Freund von der Juristischen Fakultät, nicht aus den Augen gelassen. Mit einem Cuba Libre in der Hand lauerte er auf den richtigen Moment zum Entern. Als er sah, wie sie sich von ihren Freunden löste und in Richtung des Tisches ging, griff Ramón an.

«Hast du schon die Sopes de chorizo probiert?», fragte er in freundschaftlichem Ton, überzeugt, dass man das Eis am besten über den Appetit brechen konnte.

Es gab genau zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte die kleinen Tortillas mit Wurst schon probiert, oder sie hatte es noch nicht getan; Vegetarismus war zu jener Zeit noch so selten, dass man ihn nicht berücksichtigen musste. Die beiden Optionen gabelten sich in vier mögliche Antworten: Wenn sie antwortete, dass sie die Sopes schon probiert hatte und sie lecker waren, konnte die Verführung aggressiv fortgesetzt werden; wenn sie antwortete, dass sie schon probiert hatte, ohne das weiter zu kommentieren, müsste Ramón behutsam vorgehen; wenn sie die Sopes noch nicht probiert hätte und es auch nicht vorhatte, würde er die Mission abbrechen müssen; aber wenn sie sie noch nicht probiert hätte und sich dann eine der Tortillas nehmen würde, dann stünde er kurz vor dem Triumph. Ramón meinte, alle möglichen Welten unter Kontrolle zu haben, doch er hatte nicht vorhergesehen, dass sie auf eine analytische Art antworten würde:

«Ja. Die Chorizo ist gut, aber die Tortillas nicht.»

«Echt nicht?», sagte Ramón erstaunt.

«Wie Kaugummi», erklärte sie.

«Also wirklich», sagte er, am Stolz gepackt, «ich werde noch eine essen und genau darauf achten.»

«Achte darauf», sagte sie, drehte sich um und verschwand im Getümmel der Party.

Ramón blieb allein mit seinem Plastikteller voller mexikanischer Vorspeisen zurück. Er begab sich an einen strategisch günstig gelegenen Punkt, von dem aus er Carmela sehen konnte, die sich zu ein paar Freundinnen gesetzt hatte. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, steckte sich Ramón eine kleine Tortilla in den Mund und kaute aufmerksam. Er stellte seinen Teller auf einer Kommode ab und ging zu Carmela.

«Entschuldige», unterbrach er sie, «ich wollte dir nur sagen, dass du vollkommen recht hast. Das Problem ist, dass sie kalt geworden sind und jetzt anders schmecken. Ich habe sie nämlich mitgebracht.»

«Oh, entschuldige bitte, das wusste ich nicht», antwortete sie, überrascht von diesem jungen Mann, der nicht einfach mit einer Flasche Wodka und Eis zur Party gekommen war, sondern sich die Mühe gemacht hatte, eine große Schale Sopes mitzubringen.

«Nein, im Gegenteil, wie gut, dass du es mir gesagt hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut sie schmecken, wenn sie frisch sind. Das habe ich Luis gesagt, der übrigens mein allerbester Freund ist, mach dir keine Sorgen, habe ich gesagt, ich bring die besten Sopes mit, die du in der ganzen Stadt auftreiben kannst.»

«So gut?»

«Das lass ich dir notariell beglaubigen», sagte er, «aber ganz frisch müssen sie sein.»

Sie war auch Rechtsanwältin und ihr Chef war ein düsterer Notar, und so brach sie angesichts des tiefen Ernstes, mit dem Ramón seine Sopes verteidigte, in lautes Gelächter aus. Das herzhafte Lachen Carmelas machte seine Strategien zunichte. Er war in den Bann gezogen von dem doppelten Wellenschlag dieser Lippen, dem glänzenden Zaun ihrer Zähne, dem Schatten um die ägyptischen Augen; er spürte, wie seine Fassung in der Glut dahinschmolz, er verstummte und verbarg seinen Blick zwischen den Schnörkeln des Teppichs. Und jetzt, was soll ich jetzt sagen? Doch sie: «Wo hast du sie gekauft?»

«Das ist ein Geheimnis», antwortete er mit jäher Klarheit.

«Ach ja?»

«Ich weiß ja noch nicht einmal, wie du heißt.»

«Carmela, und du?»

Von diesem Moment an hatte Ramón keinen Stolperer mehr. Er war fesselnd und einfallsreich. Er verband komische Anekdoten mit schmeichelnden Fragen. Es gelang ihm, den für ihn typischen Wortschwall im Zaum zu halten. Carmela erzählte ihm von ihren Plänen als künftige Anwältin für Zivilrecht. Sie war phantastisch. Er war so hingerissen, dass er sich nicht traute, zum Buffet zurückzukehren, um sie bloß nicht zu verlieren. Obwohl er nüchtern und hungrig blieb, verließ er das Fest in Hochstimmung.

Am folgenden Montag bekam Carmela im Notariat einen Strauß Rosen mit einem Kärtchen, auf dem in eleganten Lettern Lic. Ramón Martínez/Anwalt eingeprägt war, und darunter, handschriftlich, ein Plagiat von Armando Manzanero: Cuando miro que las rosas son más rojas y más bellas, es que estoy pensando en ti – Schaue ich die Rosen an und sie sind röter und schöner, dann weil ich an dich denke. Sie erkannte das Zitat nicht. Es störte sie aber auch nicht, obwohl sie ihre Herzensbildung eher Popbands wie Mecano und Presuntos Implicados verdankte, quasi den Gegenentwürfen zum Bolerosänger aus Yucatán. Als Ramón sie am nächsten Tag anrief, um zu fragen, ob sie die Rosen erhalten hatte, errötete Carmelas Stimme beim Bedanken. Es folgte eine Einladung zum Essen am Freitagabend. Sie nahm an.

Ramón kam pünktlich, um sie zu Hause abzuholen. Carmelas Mutter Antonia öffnete die Tür, und ihr stand kein junger, eleganter Herr gegenüber, sondern ein Mestize. Die Dame gehörte zur prätentiösesten Untergruppe der Mittelschicht, und da Ramóns dunkle Haut ihren rassistischen Ambitionen widersprach, bat sie ihn nicht herein. «Einen Augenblick», sagte seine zukünftige Schwiegermutter und zog die Tür vor ihm zu. Er stand auf dem Bürgersteig und wartete darauf, dass Carmela aus dem Haus ihrer Eltern käme, als ein altes Paar mit missmutiger Langsamkeit das Wartezimmer des Arztes betrat.

Die Alten grüßten die Sekretärin von Doktor Aldama mit großer Vertrautheit und nahmen gegenüber von Carmela und Ramón Platz. Daraus, wie langsam und vorsichtig sich der Herr hinsetzte, schloss Ramón, dass er an Prostatakrebs litt. Der arme Kerl, dachte er voller Mitgefühl, er muss sich zum Pinkeln sicher hinsetzen. Ich sollte mal zum Urologen gehen, meine Prostata wächst bestimmt auch. Das ist normal. Aber dass sie einem da den Finger reinstecken … Ich hoffe nur, dass mir das nicht gefällt.

Wie weit war er in diesem Moment, als er zusammen mit Carmela auf den Onkologen wartete, von jenem Ramón entfernt, der in Verzückung geriet, wenn er sie in ihrem Schneiderkostüm aus dem Notariat kommen sah. Nach zwei Monaten sittsamer Treffen war sie es, die «lass uns woanders hingehen» sagte. Ramón brachte sie in ein Motel in der Colonia Roma. Beiläufig entkleideten sie sich zwischen den sauberen Decken einer dunklen Suite, und während er sie mit all dem Verlangen seiner achtundzwanzig Jahre küsste, hörte er die spitze Stimme der Sekretärin, die zwanzig Jahre später seinen Namen rief, verkündend, dass in der Sprechstunde Doktor Aldamas nun endlich er an der Reihe war.

2

Teresa de la Vega, Psychoanalytikerin, empfing die Patienten in einer Praxis, die direkt an das alte Haus angebaut war, das ihre Eltern ihr vererbt hatten. Mit vierundvierzig Jahren war ihr das Brustgewebe entfernt worden, vierzehn Lymphknoten und die Brustwarzen samt Vorhöfen. Ihr eindringlicher und tiefer Blick war der einer Frau, die mit Schönheit und Intelligenz gesegnet war, nicht aber mit Glück. Ihre einzige, vor fünfzehn Jahren geschlossene Ehe war wegen des paranoiden Charakters ihres Ehemannes, eines arzneimittelabhängigen Psychiaters, und wegen einer voreiligen Affäre Teresas mit einem begabteren und attraktiveren Psychiater bereits nach achtzehn Monaten zu Ende gewesen. Sie hatten keine Kinder.

Nach ihrer Scheidung traf Teresa ihren Geliebten weiterhin heimlich, denn auch er war verheiratet. Bei einer solchen Gelegenheit, er knetete ihr gerade hingebungsvoll die Brüste, bemerkte sie, dass eine seiner Hände zurückzuckte, erschrocken, als hätte er ein Insekt angefasst. Ihr Geliebter bedrängte sie weiter, ohne diese Brustspitze noch einmal zu liebkosen. Sie täuschte einen Orgasmus vor, um es schneller zu beenden. Im Bad stellte sie sich vor den Spiegel und tastete sich ab. Als sie eine kleine, feste Wölbung fühlte, wusste sie, dass die Geschichte sich wiederholte, denn schon ihre Mutter und ihre Schwester hatten an Brustkrebs gelitten. Ihre Furcht vor dem Krebs war so groß, dass sie stets jeglichen intimen Kontakt mit ihren Brüsten vermieden hatte, anstatt der Krankheit mit regelmäßigen Untersuchungen und Mammographien aufzulauern. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es ein Mann mit den Händen eines vietnamesischen Bäckers sein würde, der sie unfreiwillig mit diesem Unglück konfrontieren würde, das viel weiter zurückreichte als nur bis zu den Erinnerungen an ihre Mutter im Krankenhaus; viel weiter zurück, bis hin zu den hebräischen Stämmen Israels.

Dreitausend Jahre vor Teresa lebte an den Ufern des Jordan jener Urahn, in welchem sich die ursprüngliche Mutation ereignete, ein Hirte oder eine Weberin, ein Krieger oder eine Nutte. Es geschah wohl noch zu biblischen Zeiten, während der Königsherrschaft von Amazja oder Jerobeam.

Vielleicht.

Es passierte eines Morgens, in einem Moment wie jedem anderen, auf dem Weg zum oder zurück vom Wasserloch, beim Beten, beim Kochen oder Weben, dass eine der Keimzellen begann, sich punktuell zu teilen. Den ganzen Tag kopierte sie ihre Anweisungen, ihre Gesetzbücher, ihre Gen-Thora, und irgendwo schlich sich ein Druckfehler ein, so verheerend, als hätte der Kopist des 2. Buches Mose in Kapitel 20, Vers 13 das entscheidende Wörtchen «nicht» vergessen, und das heilige Gebot besagte somit: «Du sollst töten.»

Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fehler weitergegeben würde, war minimal, denn eukaryotische Zellen verfügen über Kniffe, mit denen sie ihre Gene reparieren, und wenn sie irreparabel kaputt sind, so sind sie in der Lage, sich durch Apoptose selbst umzubringen, in einem programmierten und altruistischen Suizid. Doch jener biblische Druckfehler unterlief just in einer Passage, die eigentlich verhindern sollte, dass sich fehlerhafte Zellen vermehrten und im Herzen des Staatskörpers anarchistische Kommunen gründeten. Dem involvierten Gen gelang es 1990, sich in die Wissenschaftssprache zu transkribieren, und es nannte sich, ohne jedes Taktgefühl oder Originalität, Breast Cancer  1. Bei der ersten Mutation wurden zwei einfache Buchstaben vergessen, Guanin und Adenin, die sich normalerweise ziemlich am Anfang des überladenen Gens befinden. Der falsche Text wurde beibehalten, und da sein Träger eine große und weitverbreitete Nachkommenschaft hatte, gelangte er bis in den Körper einer jungen Psychoanalytikerin in Mexiko.

Als Nebukadnezar der Große das Königreich Juda eroberte, gab es bereits jede Menge Nachfahren des Mutanten, und viele von ihnen wurden gefangen genommen und ins babylonische Exil gebracht. So begann die Diaspora des irrtümlichen Gens, Iran, Ägypten, Spanien, Holland und Bulgarien, und sucht man unter den Sepharden der Ägäis oder den Aschkenasim in New York, so wird man den Druckfehler in wenigstens einem von hundert Passanten finden, die den Sabbat achten.

Doch Teresa de la Vega war keine Jüdin. Ihre Eltern waren Katholiken durch und durch, Anhänger der Jungfrau von Guadalupe, Nationalisten und tendenziell sogar Antisemiten. Nie hätte sie gedacht, dass sich in ihrem Stammbaum die ersten Juden Kastiliens fanden, Immigranten aus römischer Zeit, unauffällige Einwohner der Städte, denen Fehden fremd waren, Vasallen der Goten und Kalifen gleichermaßen. Von den anderen hielten sie sich fern und arbeiteten. Sie lernten lesen und schreiben. Sie heirateten untereinander. Sie vererbten Reichtum, Bräuche und Mutationen. Der Neid reifte heran und das 15. Jahrhundert sah ihn Frucht bringen. Man befand sie für schuldig am Tod Jesu und auch am Wohlstand, schuldig, die Kinder von Toledo zu essen, die Jungfrauen von Sevilla zu verhexen, Kruzifixe zu verbrennen, große Nasen zu haben, Sodomiten zu sein, keinen Schinken zu essen und sich für Wuchergeschäfte mit dem gefallenen Luzifer zu verbünden.

Im Jahr 5252 des hebräischen Kalenders entschieden die Könige von Kastilien und Aragón, die Ungläubigen zu vertreiben. Sie gaben ihnen vier Monate, um zu gehen oder dem Judentum abzuschwören. Unter den armseligen Konvertiten befand sich möglicherweise eine langlebige Frau, Lorenza, Nachbarin von Soria, Mutter von elf Kindern, Witwe von Manuel. Kurz vor ihrem siebzigsten Geburtstag spürte sie erstmals brennende Schmerzen in der hängenden Spitze einer ihrer Brüste. Wochen vergingen. Das Feuer breitete sich bis zu ihren Achseln aus. Lorenza suchte Herminia Tavares auf, Neuchristin und Kräuterhexe, um von ihr ein Heilmittel gegen die Schmerzen und die Schwellung zu bekommen. Zum Preis von drei Maravedis pro Dosis bereitete ihr Herminia einen Zaubertrank gegen die schlechten Säfte zu.

Als sie begann, den Krebs mit dieser Salbe aus Knoblauch und Belladonna zu behandeln, hatte Lorenza bereits Metastasen im Gehirn. Sie litt unter Krämpfen, die von Halluzinationen begleitet wurden. Im Stroh ihres Bettes suchte sie nach einem Messer, um sich die Kehle zu durchschneiden. Dann erschien der Engel des Herrn, um sie wegen des Verrats an ihrem Volk zu geißeln. Laut schreiend schwor sie dem falschen Messias ab, «Gott, sei mir gnädig und tilge meine Sünden».

Die Nachbarn wandten sich an die Heilige Inquisition. Vom Dämon besessene Schlampe, alte Sünderin, der Herr unser Gott hat sie mit üblen Geschwüren bestraft. Ihre Kinder brachten sie in einen Gemüsegarten außerhalb der Stadt. Sie knebelten sie. Herminia bereitete einen Trunk aus Schlafmohn zu, der sie beruhigen sollte. Zu Beginn des Winters starb sie.

Sie begruben sie unter einer Linde und sprachen flüsternd das Kaddisch.

Lorenzas Familie blieb vom Verdacht gezeichnet. Die Leute spuckten aus, wenn sie an ihr vorübergingen. Antonio, ihr Jüngster, ging als Erster. Im Februar kam er in Cádiz an. Noch nie war er an der Küste gewesen. Das Meer schien ihm ein verbranntes Kornfeld zu sein.

Anfang März schiffte er sich auf einer der ärmsten Galeonen der Indien-Flotte ein. Sie fuhr Richtung Neu-Spanien, wo Gold und Silber, so sagten sie in den Wirtshäusern, hervorquollen wie Rüben aus trockener Erde. Er verbrachte vierzig Tage auf hoher See, mit etwas Fieber und viel Hunger. Er vertrieb sich die Zeit mit Kartenspiel und indem er die größten Galeonen der Flotte betrachtete, die furchtlos die Vorhut bildeten, die Segel im Westwind gebläht und mit aufgewühlter Gischt im Gefolge. Und so segelte auch seine Phantasie, eine mit Ehrgeiz beladene Galeone, dem Vergessen seines Blutes entgegen. Doch an Bord des Schiffes reiste sein Samen mit, Saft der Erinnerung und der Mutation.

In Villa Rica ging Antonio von Bord der Vera Cruz. Im Inneren eines Karrens, der in die Hauptstadt fuhr, floh er vor dem krankmachenden Klima der Küste. Nach drei arbeitsreichen Jahren ging er eine wilde Ehe mit einer Mestizin ein, Bankert eines Asturianers und einer Mexikanerin. Die halbe Welt verlor sich in diesem Zusammentreffen von Genen aus Judäa, Asturien und Texcoco. Dreizehn Generationen später erinnerte sich Teresas Körper daran.

 

Sie hielt sich nicht mit der oberflächlichen Kontrolle beim Gynäkologen auf, sondern suchte die Nummer des Onkologen heraus, der ihre Mutter behandelt hatte, und rief an, um einen Termin zu vereinbaren. Die Mammographie war eindeutig: Drei Adenokarzinome in den Milchgängen, denen keine Stillzeit vergönnt gewesen war.

Nach einer Operation und zehn Bestrahlungen nahm Teresa ihre Sprechstunden wieder auf. Während der Behandlung hatte sie verschiedene Frauen kennengelernt, die darum kämpften, der Krankheit seelisch nicht zu erliegen. Sie bot ihnen kostenlose psychologische Unterstützung an, und so begann sie, sich auf Psychotherapie für krebskranke Frauen zu spezialisieren. Von Krankenhaus zu Krankenhaus verbreitete sich die Nachricht, dass Teresa Frauen half, die um den krebsbedingten Verlust von Weiblichkeit trauerten. Nach und nach kamen auch einige Männer zu ihr. Der erste, ein Überlebender eines Speiseröhrenkrebses, brauchte Hilfe, um mit dem Rauchen aufzuhören. Der zweite hatte versucht, sich umzubringen, als bei ihm Krebs im Penis diagnostiziert worden war. Der dritte hatte seinen Zwillingsbruder an ein Osteosarkom verloren. So erweiterte sich ihr Spektrum an Patienten, bis zu so unterschiedlichen Fällen wie kindliche Leukämie oder durch die Serie Dr. House verursachte Hypochondrie. In dem Versuch, die Größe ihres unermesslichen Unglücks anzunehmen, fragten die meisten ihrer Patienten «Warum ich?», doch Teresa, die diese narzisstische Frage schon vor vielen Jahren in den Müll geworfen hatte, versuchte, sie in eine andere Richtung zu leiten, bis hinab in den tiefsten Keller der unerfüllten Wünsche, die die Furcht zu sterben nähren.

3

Carmela fragte sich, wie sie es den Kindern sagen sollten, auch wenn Mateo schon achtzehn und Paulina fünfzehn Jahre alt war. Zu Beginn des Jahrtausends war die Adoleszenz eine geistlose Verlängerung der Kindheit. Die Verzogenen waren Legion, und Mateo und Paulina zählten dazu, und doch hatte jeder auf seine Art bereits die Unschuld gegen Beklemmungen getauscht und die Sanftheit gegen Akne.

«Was Papa hat, ist etwas komplizierter, als wir dachten … Er hat einen Tumor in der Zunge, und die einzige Möglichkeit, ihn wegzubekommen, ist leider eine Operation, die …»

Es entstand eine unangenehme Pause.

«Was?», fragte Paulina.

«Sie müssen ihm die ganze Zunge entfernen», fuhr Carmela unter Tränen fort. «Wir waren schon bei drei Ärzten, und alle meinen, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Der Tumor sitzt an einer Stelle, an der er sehr stört, und man kann nicht riskieren, dass etwas zurückbleibt. Sie könnten ihn zwar mit Bestrahlungen verkleinern … aber dafür bleibt keine Zeit, versteht ihr?»

Ramón starrte abwesend auf den Teppich. Er nickte.

«Ohne Scheiß?», sagte Mateo. «Rafa haben sie die Gallenblase durch zwei winzige Löcher rausgeholt, überhaupt kein Ding. Was heißt das, sie können nicht?»

«Genau das haben wir die Ärzte auch gefragt. Aber nein …»

«Und wie wirst du dann reden?», fragte Paulina ihren Vater.

Ramón sah sie mit der Müdigkeit dessen an, der sich diese Frage pausenlos stellte.

«Es gibt Sprachtherapien, die helfen können», sagte Carmela.

«Wie?», sagte Paulina.

Carmela hatte keine Antwort. Mateo fragte: «Können sie ihm nicht was Cooles einsetzen, aus einem Spezialkunststoff oder so?»