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Libby Stone ist fasziniert von dem Fremden, der plötzlich bei ihrer einsamen Hütte in den Wäldern von Oregon auftaucht. Dort nimmt die eine Auszeit vom Stadtleben. Sie pflegt den leicht verletzten Mann. Die Anthropologin verliebt sich Hals über Kopf in den charmanten, sexy Caleb, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Und das ist er tatsächlich nicht: Er stammt aus einer anderen Zeitdimension, sein Raumschiff ist vom Kurs abgekommen. Sobald er es repariert hat, wird er die Erde verlassen. Der Tag des unvermeidlichen Abschieds rückt näher.
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Seitenzahl: 307
Nora Roberts
Diesseits der Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Rita Langner
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Die Originalausgabe Time Wasist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
1. AuflageWilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright © 1989 by Nora RobertsPublished by Arrangement with Eleanor WilderCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by MIRA Taschenbuch in der Cora Verlag GmbH & Co. KG, HamburgUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/Viorel SimaSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12113-6V002
www.randomhouse.de/nora-roberts
1. KAPITEL
Er stürzte ab. Die Instrumententafel war ein wildes Durcheinander aufleuchtender Zahlen und heftig blinkender Lampen, und das Cockpit drehte sich wie ein verrückt gewordenes Karussell. Cal wusste auch ohne gellende Alarmsirene, dass er sich in Schwierigkeiten befand. Er musste nicht erst auf das drohende Radarsignal auf dem Computerbildschirm schauen, um zu erkennen, dass diese Schwierigkeiten groß waren. Das hatte er schon bemerkt, als er die Leere gesehen hatte.
Er kämpfte mit aller Macht gegen seine aufsteigende Panik an. Laut fluchend versuchte er die Steuerung in den Griff zu bekommen und drückte den Schubhebel nach vorn auf volle Kraft. Sein Fahrzeug bockte und bebte und stemmte sich gegen den Sog der Anziehung. Die um ein Vielfaches erhöhte Schwerkraft traf ihn wie ein Zusammenprall mit einer Mauer. Um ihn herum kreischte Metall.
»Bleib heil, Baby«, stöhnte Cal. Die Wirkung der Schwerkraft verzerrte sein Gesicht. Der Boden gleich neben seinen Füßen knirschte, und ein gezackter, fingerlanger Riss wurde sichtbar. »Du sollst heil bleiben, verdammt noch mal!«
Er steuerte hart backbord und fluchte aufs Neue, als er merkte, dass sein Schiff nicht im Geringsten auf das Manöver reagierte, sondern unaufhaltsam in das Loch gezogen wurde.
Im Cockpit fiel das Licht aus. Nur die Farben auf der Instrumententafel wirbelten wie ein buntes Kaleidoskop. Das Schiff drehte sich in einer Spirale um seine Längsachse und bewegte sich wie ein von einem Katapult abgeschossener Stein voran.
Das Licht war jetzt weiß und grell. Unwillkürlich hob er den Arm, um seine Augen zu schützen. Der plötzliche Druck auf seiner Brust machte ihn hilflos. Cal konnte nur noch mühsam um Atem ringen. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, dachte er noch daran, dass seine Mutter gewollt hatte, er solle Rechtsanwalt werden. Er jedoch hatte unbedingt fliegen wollen.
Als er wieder zu sich kam, beschrieb das Schiff keine Spirale mehr, sondern raste in freiem Fall auf den Planeten zu. Ein Blick auf die Instrumente ergab nur, dass diese beschädigt waren, die Zahlen liefen rückwärts. Eine neue Kraft drückte Cal gegen die Rückenlehne, doch er konnte die Krümmung der Erde sehen.
Er fühlte, dass er gleich wieder ohnmächtig werden würde. Deshalb zog er den Schubhebel zurück und überließ dem Autopiloten die Führung. Der würde nach einem unbewohnten Gebiet suchen, und wenn das Glück ein Einsehen hatte, würde die Crash-Kontrolle noch funktionieren.
Vielleicht sehe ich ja doch noch einmal die Sonne aufgehen, dachte Cal. Und war der Beruf eines Rechtsanwalts denn wirklich so schlimm?
Er sah die Erde auf sich zurasen – blau, grün, wunderschön. Zum Teufel mit der Anwaltspraxis, dachte er. Ein Schreibtisch war kein Ersatz fürs Fliegen.
Libby stand auf der Veranda der Blockhütte und blickte zum brodelnden Nachthimmel hoch. Die jagenden Blitze und der vom Sturm getriebene Regenvorhang waren ein fantastisches Schauspiel. Obwohl sie unter dem Dachüberhang stand, waren ihr Haar und ihr Gesicht nass.
Hinter ihr leuchtete warmes gelbes Licht aus dem Hüttenfenster. Glücklicherweise hatte sie rechtzeitig daran gedacht, Petroleumlampen und Kerzen bereitzustellen und anzuzünden. Das Licht und die Wärme lockten sie jedoch nicht ins Haus zurück. Heute Abend zog sie die Kälte und das Gewitter vor, das über den Bergen tobte.
Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Wenn das Unwetter noch länger anhielt, würde es Wochen dauern, ehe man den Nordpass wieder befahren konnte. Und wenn schon, dachte Libby, ich habe wochenlang Zeit. Sie lächelte vor sich hin und legte die Arme um sich, weil sie fror. Ja, sie hatte so viel Zeit, wie sie wollte.
Der beste Einfall, den sie jemals gehabt hatte, war es gewesen, die Sachen zu packen und sich in der versteckten Berghütte ihrer Familie einzunisten. Libby hatte die Berge schon immer geliebt. Das Klamath-Gebirge im südwestlichen Oregon bot ihr alles, was sie begehrte: einen grandiosen Ausblick, hohe, zerklüftete Gipfel, saubere Luft und Einsamkeit. Falls es jetzt ein halbes Jahr dauern sollte, bis sie ihre Doktorarbeit über die Auswirkungen der Modernisierungseinflüsse auf die Kolbari-Insulaner fertig gestellt hatte – na und?
Fünf Jahre lang hatte Libby Kulturelle Anthropologie studiert, drei Jahre davon hatte sie mit ausgedehnten Feldstudien, wissenschaftlicher Arbeit vor Ort, verbracht. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie sich keine wirkliche Freizeit mehr gegönnt und schon gar keine Zeit mit sich ganz allein.
Die Dissertation war ihr wichtig, viel zu wichtig, wie sie sich manchmal eingestehen musste. Hierher zu kommen, wo sie allein sein, arbeiten und sich ein wenig Zeit lassen konnte, um sich mit sich selbst zu befassen, das war doch ein ausgezeichneter Kompromiss.
In der einstöckigen Hütte, vor der sie jetzt stand, war sie geboren worden, und die ersten fünf Jahre ihres Lebens hatte sie in dieser Umgebung verbracht. Sie war hier so frei wie die Tiere des Bergwaldes aufgewachsen.
Lächelnd erinnerte sie sich daran, wie sie und ihre jüngere Schwester barfuß herumgerannt waren und fest daran geglaubt hatten, dass die Welt mit ihnen und ihren Eltern begann und endete.
Ihre Eltern gehörten der damals so genannten Anti-Bewegung an, jenen jungen Leuten, deren Lebensweise im Gegensatz zum allgemein üblichen Kulturstil stand. Libby sah noch heute ihre Mutter am selbst gebauten Webstuhl vor sich und ihren Vater, der glücklich in seinem Garten werkelte. Abends wurde gemeinsam musiziert, und den Kindern wurden lange, spannende Geschichten erzählt. Die kleine Familie war glücklich und zufrieden gewesen, und anderen Menschen begegneten die vier nur auf ihren monatlichen Einkaufsfahrten nach Brookings.
Sie hätten für alle Zeiten so weiterleben können, aber aus den Sechzigerjahren wurden die Siebziger. Ein Kunsthändler hatte einen der selbst gewebten Wandbehänge von Libbys Mutter gesehen. Fast zur selben Zeit hatte ihr Vater festgestellt, dass eine ganz bestimmte Mischung seiner selbst gezogenen Gartenkräuter einen beruhigenden und köstlichen Tee ergab. Noch vor Libbys achtem Geburtstag waren ihre Mutter zu einer geachteten Künstlerin und ihr Vater zu einem erfolgreichen jungen Unternehmer geworden. Die Berghütte wurde zu einem Ferienversteck, nachdem die Familie sich in das Leben der Großstadt Portland eingefügt hatte.
Vielleicht hatte es an Libbys eigenem Kulturschock gelegen, dass sie sich später der Anthropologie verschrieben hatte. Diese Wissenschaft faszinierte sie, und ihr Interesse an Gesellschaftsstrukturen und äußeren Einflüssen hatte ihr Leben oft dominiert. Manchmal vergaß sie auf ihrer Suche nach Antworten alles andere. Wenn es wieder einmal soweit war, kehrte sie zu dieser Berghütte hier zurück oder verbrachte ein paar Tage zu Besuch bei ihren Eltern. Das brachte sie dann wieder auf den Boden der Gegenwart und der Tatsachen zurück.
Morgen wollte sie nun endlich anfangen. Dann war dieses Unwetter vorbei, sie würde ihren Computer einschalten und mit der Arbeit beginnen. Aber nur vier Stunden am Tag, nahm sie sich vor. In den vergangenen anderthalb Jahren hatte sie dreimal so lange gearbeitet.
Alles zu seiner Zeit, hatte ihre Mutter immer gesagt. Nun gut, diesmal wollte sich Libby die Zeit nehmen, sich ein wenig von der Freiheit zurückzuholen, die sie während ihrer ersten fünf Lebensjahre genossen hatte.
Wie friedlich es hier war! Sie ließ sich den Wind durchs Haar wehen und lauschte dem Prasseln des Regens auf Stein- und Sandboden. Trotz des Unwetters, trotz Blitz und Donner fühlte sie nichts als eine innere, heitere Gelassenheit. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie ein friedlicheres Fleckchen Erde kennen gelernt als dieses hier.
Libby sah das Licht über den Himmel rasen. Einen Augenblick lang dachte sie, es könnte sich um einen Kugelblitz oder auch um einen Meteoriten handeln. Dann folgte der nächste Blitz, und in seiner grellen Helligkeit erkannte sie den vagen Umriss und den Widerschein von Metall. Sie trat unter dem Dachüberhang hervor in den Regen hinaus. Das fliegende Objekt raste näher heran. Unwillkürlich griff sie sich an die Kehle.
Ein Flugzeug? Jetzt berührte es schon die Wipfel der Fichten westlich der Hütte, im nächsten Moment hörte sie das Krachen. Eine Sekunde lang stand sie erstarrt da. Dann lief sie ins Haus und holte sich ihren Regenmantel und ihren Erste-Hilfe-Koffer.
Ein paar Augenblicke später kletterte sie in ihren Geländewagen. Von der Veranda hatte sie gesehen, wo das Flugzeug abgestürzt war, und jetzt hoffte sie nur, dass ihr gewöhnlich ausgezeichneter Orientierungssinn sie nicht verließ.
Eine halbe Stunde kämpfte sie sich durch den Sturm, über vom Regen ausgewaschene Fahrwege und von abgerissenen Ästen fast blockierte Pfade voran. Sie biss die Zähne zusammen, als der Geländewagen durch einen jetzt reißenden Bach fuhr. Die Gefahren von Überflutungen im Gebirge waren ihr durchaus bekannt, trotzdem behielt sie ihre Richtung und ihre Geschwindigkeit bei.
Und dann hätte sie den Mann beinahe überfahren.
Libby stieg hart in die Bremsen, als die Scheinwerfer über eine zusammengekauerte Gestalt strichen, die am Rande des schmalen Weges lag. Der Geländewagen rutschte, brach auf dem schlammigen Untergrund aus und kam dann endlich zum Stehen.
Sie griff sich ihre Taschenlampe und eine Decke, sprang vom Sitz, kniete sich neben den Mann und drückte die Finger an seine Halsschlagader. Er lebte! Erleichtert atmete sie auf.
Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und inzwischen nass bis auf die Haut. Sofort breitete sie die Decke über ihn und tastete dann darunter nach möglicherweise gebrochenen Gliedmaßen.
Er war jung, schlank und muskulös. Libby hoffte nur, dass diese Tatsache sich zu seinen Gunsten auswirkte. Sie richtete den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf sein Gesicht.
Die klaffende Wunde an seiner Stirn machte ihr Sorgen, denn trotz des strömenden Regens war zu erkennen, dass die Verletzung stark blutete. Die Möglichkeit, dass er sich Hals- oder Rückenwirbel gebrochen hatte, hielt Libby davon ab, ihn irgendwie zu bewegen. Sie eilte zum Wagen zurück und holte den Erste-Hilfe-Koffer. Gerade als sie dabei war, die Wunde zu verbinden, öffnete der Mann die Augen.
Gott sei Dank, dachte Libby. Sie nahm seine Hand und streichelte sie beruhigend. »Ihnen wird es bald wieder besser gehen. Sorgen Sie sich nicht. Sind Sie allein?«
Verständnislos blickte er sie an. »Wie bitte?«
»War jemand bei Ihnen? Ist noch jemand verletzt?«
»Nein.« Er versuchte sich aufzusetzen. In seinem Kopf drehte sich alles, und er wollte sich an Libby festhalten. Seine Hände rutschten jedoch an ihrem nassen Regenmantel ab. »Ich bin allein«, brachte er gerade noch heraus, bevor er wieder das Bewusstsein verlor.
Er hatte keine Ahnung, wie allein er wirklich war.
Wieder zur Hütte zurückgekehrt, gelang es Libby, den Mann ins Haus und zur Couch zu schleppen. Dort entkleidete sie ihn, trocknete ihn ab und versorgte seine weiteren Verletzungen. Danach sank sie in den großen Sessel vor dem Kamin und fiel in einen unruhigen Halbschlaf. Immer wieder erwachte sie und stand auf, um den Puls des Verletzten zu fühlen und seine Pupillen zu prüfen.
Der Mann befand sich im Schockzustand und hatte zweifellos eine Gehirnerschütterung erlitten, doch die übrigen Verletzungen waren verhältnismäßig geringfügig, ein paar geprellte Rippen und einige üble Kratzer. Er hat Glück gehabt, dachte Libby, während sie eine Tasse Tee trank und ihn im Feuerschein betrachtete. Narren hatten ja meistens Glück. Und nur ein Narr konnte auf die Idee kommen, bei so einem Unwetter durch die Berge zu fliegen.
Draußen tobte das Gewitter noch immer. Sie stellte die Teetasse aus der Hand und legte noch ein Holzscheit in den Kamin. Der Feuerschein wurde heller, die Schatten im Raum wurden höher und dunkler.
Ein sehr attraktiver Narr, fügte Libby lächelnd ihrem Gedankengang hinzu. Sie bog den schmerzenden Rücken durch. Der Mann war mindestens einsfünfundachtzig groß und kräftig gebaut. Es war ein Glück für sie beide, dass sie ziemlich stark und daran gewöhnt war, schwere Ausrüstungsgegenstände durchs Gelände zu schleppen. Sie lehnte sich gegen die Kamineinfassung und betrachtete ihn.
Ja wirklich, er war sehr attraktiv, und er würde noch attraktiver sein, wenn er erst einmal seine gesunde Farbe wiederhätte. Sein Gesicht war sehr gut geschnitten. Mit den hohen Wangenknochen und den klar gezeichneten vollen Lippen wirkte er irgendwie keltisch. Der Zweitagebart und der Verband auf der Stirn gaben ihm einen verwegenen, beinahe gefährlichen Ausdruck. Libby hatte bemerkt, dass die Augen in diesem Gesicht von einem ganz besonders intensiven Blau waren.
Ganz zweifellos keltischer Abstammung, bestätigte sie ihren Befund. Sein Haar war kohlrabenschwarz, leicht wellig und für einen Militärschnitt zu lang. Sie dachte an die Kleidung, die sie ihm ausgezogen hatte. Der schwarze Overall sah allerdings sehr militärisch aus und wies eine Art Emblem auf der Brusttasche auf. Möglicherweise gehörte der Mann zu irgendeiner Eliteeinheit der Luftwaffe.
Libby zuckte die Schultern und setzte sich wieder in ihren Sessel. Andererseits hat er abgetragene Joggingstiefel, überlegte sie weiter. Und dann diese teuer aussehende Armbanduhr mit einem halben Dutzend winziger Zifferblätter darauf. Das Einzige, was Libby auf dem Ding hatte erkennen können, war, dass keines dieser Zifferblätter die richtige Zeit anzeigte. Wahrscheinlich hatten sowohl die Uhr als auch ihr Besitzer den Absturz nicht so ganz schadlos überstanden.
»Was mit der Uhr ist, weiß ich nicht«, sagte sie gähnend zu dem Bewusstlosen, »aber ich glaube, dass es Ihnen bald wieder gut gehen wird.« Und dann schlief sie ein.
Cal erwachte mit entsetzlichen Kopfschmerzen und getrübtem Blick. Das da war entweder ein echtes Kaminfeuer oder eine erstklassige Imitation. Er konnte den Geruch brennenden Holzes wahrnehmen … und des Regens. Schwach erinnerte er sich daran, durch den Regen gestolpert zu sein. Im Augenblick konnte er sich jedoch nur auf die Tatsache konzentrieren, dass er noch lebte. Und dass ihm warm war.
Hatte er nicht eben noch gefroren? War er nicht durchnässt und orientierungslos gewesen? Hatte er nicht sogar zuerst gefürchtet, er wäre in einen Ozean gestürzt?
Da war jemand gewesen … eine Frau. Eine leise, ruhige Stimme … sanfte, weiche Hände … Er versuchte zu denken, doch das Hämmern in seinem Kopf machte die Anstrengungen zunichte.
Dann sah er die Frau mit einer bunten Decke über den Knien in einem alten Sessel sitzen. Oder war das nur eine Halluzination? Vielleicht, aber dann gewiss eine höchst erfreuliche. Das dunkle Haar der Frau schimmerte im Feuerschein. Es schien halblang und sehr voll zu sein, und jetzt schmiegte es sich leicht zerzaust um ihr Gesicht.
Sie schlief. Er konnte sehen, dass sich ihre Brüste hoben und senkten. Bei der sanften Beleuchtung schien ihre Haut wie Gold zu glühen. Die Gesichtszüge waren klar und beinahe exotisch. Die vollen, weichen Lippen waren im Schlaf entspannt.
Eine hübschere Halluzination ließ sich kaum denken. Cal schloss die Augen wieder und schlief bis zum Morgengrauen.
Als er erwachte, war die Frau – oder die Halluzination – fort. Das Feuer im Kamin brannte noch, und das schwache Licht, das durchs Fenster hereinfiel, war fahl. Die Kopfschmerzen hatten inzwischen nicht abgenommen, ließen sich aber ertragen. Vorsichtig betastete er die Bandage auf seiner Stirn.
Möglicherweise bin ich stunden- oder sogar tagelang bewusstlos gewesen, überlegte er. Als er versuchte, sich aufzusetzen, merkte er, dass sich sein Körper schwach und wie aus Gummi anfühlte.
Mein Verstand befindet sich offenbar in demselben Zustand, befand er, als er nur mit größter Mühe seine unmittelbare Umgebung zu erfassen vermochte. Der kleine, schwach beleuchtete Raum schien aus Stein und Holz gemacht zu sein. Cal hatte einmal einige sorgfältig restaurierte Relikte aus der Vergangenheit gesehen, die auch aus so primitiven Materialien gebaut waren. Seine Eltern hatten ihn damals zu einer Ferienreise in den Westen mitgenommen, die Besichtigungen von Kulturparks und Geschichtsdenkmälern einschloss.
Er wandte den Kopf, so dass er die brennenden Holzscheite im Kamin betrachten konnte. Die Wärme war trocken, und was er roch, war einwandfrei Rauch. Andererseits war es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass man ihn in ein Museum oder einen historischen Park gebracht hatte.
Das Unangenehmste an der ganzen Sache war, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand.
»Oh, Sie sind wach.« Mit einer Teetasse in der Hand blieb Libby im Türrahmen stehen. Nachdem ihr Patient sie nur schweigend anstarrte, lächelte sie ihm aufmunternd zu. Er wirkte so hilflos, dass sie ihre Hemmungen, mit denen sie ihr Leben lang gekämpft hatte, jetzt sehr schnell überwand.
»Ich habe mir große Sorgen um Sie gemacht.« Sie setzte sich auf die Couchkante und fühlte seinen Puls.
Cal konnte sie jetzt genauer sehen. Ihr dunkelbraunes Haar war nicht mehr zerzaust, sondern ordentlich seitlich gescheitelt und glatt gekämmt. Ja, dachte er, »exotisch« ist genau das richtige Wort für ihr Aussehen. Ihre Augen, ihre schmale Nase und ihre vollen Lippen erinnerten ihn an ein Bild der altägyptischen Königin Kleopatra, das er einmal gesehen hatte. Ihre Finger, die jetzt leicht an seinem Handgelenk lagen, waren angenehm kühl.
»Wer sind Sie?«
Regelmäßig, stellte sie mit einem zufriedenen Nicken fest, fuhr aber fort, den Puls zu zählen. Und kräftiger auch.
»Jedenfalls keine ausgebildete Krankenschwester«, antwortete sie dann, »aber etwas Besseres als mich kann ich Ihnen hier nicht bieten.« Sie lächelte, schob erst sein eines, dann das andere Augenlid hoch und begutachtete seine Pupillen. »Wie oft sehen Sie mich?«
»Wie oft sollte ich Sie denn sehen?«
Sie lachte leise und schob ihm ein Kissen hinter den Rücken. »Nur einmal, aber da Sie eine Gehirnerschütterung haben, wäre es möglich, dass Sie Doppelbilder sehen.«
»Ich sehe Sie nur einmal.« Lächelnd hob er den Arm und berührte ihr weiches Kinn. »Und es ist ein sehr schönes Bild.«
Libby errötete und zog sofort den Kopf zurück. Sie war nicht daran gewöhnt, dass man sie »schön« nannte – nur »tüchtig«.
»Versuchen Sie einen Schluck hiervon zu trinken. Das ist die Geheimmischung meines Vaters. Sie ist bisher noch nicht auf dem Markt.«
Bevor er ablehnen konnte, hielt sie ihm die Teetasse an die Lippen. »Danke.« Seltsamerweise erinnerte der Geschmack ihn verschwommen an seine Kindheit. »Sagen Sie, was mache ich hier eigentlich?«
»Sie erholen sich. Ein paar Kilometer von hier entfernt sind Sie mit Ihrem Flugzeug in den Bergen abgestürzt.«
»Mit meinem Flugzeug?«
»Erinnern Sie sich nicht?« Sie blickte ihn einen Moment besorgt an, und Cal stellte fest, dass sie goldene Augen hatte, große goldbraune Augen. »Nun, Ihre Erinnerung wird zurückkehren«, versicherte sie ihm zuversichtlich. »Sie haben einen ziemlichen Schlag an den Kopf abgekriegt.«
Sie drängte ihm noch mehr Tee auf und widerstand dem törichten Wunsch, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen. »Wenn ich nicht gerade auf der Veranda dem Gewitter zugeschaut hätte, hätte ich Sie möglicherweise gar nicht abstürzen sehen. Ein Glück, dass Sie keine größeren Verletzungen erlitten haben. Hier in der Hütte gibt es nämlich kein Telefon, und weil unser CB gerade in Reparatur ist, kann ich Ihnen keinen Arzt herbeirufen.«
»CB?«
»Das Funkgerät«, erläuterte sie geduldig. »Meinen Sie, dass Sie etwas essen können?«
»Vielleicht. Wie heißen Sie?«
»Liberty Stone.« Sie stellte die Teetasse ab und legte ihm eine Hand an die Stirn, um festzustellen, ob er Fieber hatte. Dass er sich nicht erkältet hatte, betrachtete sie als mittleres Wunder.
»Liberty? Freiheit?«
»Ja. Meine Eltern gehörten zu der ersten Welle der Anti-Bewegung der Sechzigerjahre. Deshalb heiße ich Liberty, womit ich noch besser bedient bin als meine Schwester. Sie heißt nämlich Sunbeam – Sonnenstrahl.« Sie lachte, als sie die Verwirrung ihres Patienten sah. »Nennen Sie mich einfach Libby. Und wie heißen Sie?«
»Ich …« Die Hand an seiner Stirn war kühl und real. Also musste auch die Frau wirklich vorhanden und nicht etwa nur eine Halluzination sein. Aber wovon redete sie?
»Wie heißen Sie?« wiederholte sie. »Gewöhnlich möchte ich wenigstens gern den Namen desjenigen kennen, den ich gerade aus Flugzeugtrümmern gerettet habe.«
Er öffnete den Mund zum Antworten – sein Gehirn war leer. Panik beschlich ihn. Sein Gesicht wurde blass, sein Blick glasig. Hart umfasste er ihr Handgelenk. »Ich kann … ich kann mich nicht erinnern.«
»Immer mit der Ruhe.« Innerlich war sie ärgerlich auf ihren Einfall, das Funkgerät gerade jetzt zur Reparatur zu bringen. »Sie sind noch ein wenig verstört. Ich möchte, dass Sie sich wieder hinlegen und sich entspannen. Inzwischen mache ich Ihnen etwas zu essen.«
Nachdem ihr Patient gehorsam die Augen geschlossen hatte, stand Libby auf und ging in die Küche. Während sie ein Omelett zubereitete, dachte sie über ihn nach.
Er hatte nichts bei sich gehabt, was ihn identifizieren könnte, keine Brieftasche, keine Papiere, keinerlei Ausweise. Er konnte wer weiß wer sein. Ein Verbrecher vielleicht oder ein Geisteskranker …
Nicht doch! Sie lachte sich selbst aus. Ihre Fantasie war schon immer recht blühend gewesen. Die Angehörigen primitiver vorgeschichtlicher Kulturen hatte sie sich beispielsweise immer als wirkliche Menschen – Familien, Liebespaare, Kinder – vorstellen können. Wahrscheinlich hatte sie sich deshalb auch der Anthropologie zugewandt.
Allerdings hatte sie daneben auch immer die Fähigkeit besessen, Charaktere gut beurteilen zu können. Das hing wahrscheinlich auch mit der Tatsache zusammen, dass sie einfach von Menschen und deren Gewohnheiten fasziniert war … und mit der Tatsache, dass ihr immer mehr daran gelegen hatte, Menschen zu beobachten, als mit ihnen Umgang zu pflegen.
Der Mann, der in ihrem Wohnzimmer mit seinem eigenen Schicksal haderte, stellte keine Bedrohung für sie dar. Wer immer er sein mochte, er war harmlos.
Mit fachmännischem Schwung wendete Libby das Omelett in der Pfanne und drehte sich dann um, um nach dem bereitstehenden Teller zu greifen. Mit einem Aufschrei ließ sie die Pfanne samt Omelett fallen. Ihr harmloser Patient stand in all seiner nackten Pracht auf der Küchentürschwelle.
»Hornblower«, brachte er noch heraus, ehe er langsam am Türrahmen hinabglitt. »Caleb Hornblower.«
Verschwommen bekam er mit, dass sie auf ihn schimpfte. Er versuchte seine Ohnmacht abzuschütteln, kam wieder zu sich und stellte fest, dass das Gesicht seiner Retterin seinem ganz nahe war, dass sie die Arme um ihn geschlungen hatte und sich nun abmühte, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Um ihr dabei zu helfen, griff er nach ihr, und erreichte damit nur, dass sie beide zu Boden gingen.
Außer Atem geraten, lag Libby flach auf dem Rücken und war unter dem nackten männlichen Körper gefangen. »Ich will hoffen, das ist nur ein weiteres Zeichen Ihrer Benommenheit«, bemerkte sie ein wenig gereizt.
»Entschuldigung.« Er hatte Gelegenheit festzustellen, dass sie groß und mit sehr festen Körperformen ausgestattet war. »Habe ich Sie umgerissen?«
»Ja.« Ihre Arme waren noch immer um ihn geschlungen, ihre Hände lagen auf einem kräftigen Muskelstrang an seinem Rücken. Sie zog sie fort und befand, dass die Atemnot von dem Sturz herrühren musste. »Entschuldigen Sie, aber Sie sind ein wenig schwer.«
Cal stützte eine Hand auf dem Boden ab und schaffte es, sich eine Handbreit hochzustemmen. Benommen war er zugegebenermaßen, aber keineswegs tot. Und die Frau unter ihm fühlte sich himmlisch an. »Möglicherweise bin ich ja zu schwach, um mich fortzubewegen.«
Amüsierte sich der Kerl etwa? Jawohl, was da in seinen Augen funkelte, war zweifellos Belustigung, diese zeitlose und ganz besonders aufreizende männliche Belustigung.
»Hornblower, wenn Sie sich nicht fortbewegen, werden Sie gleich noch viel, viel schwächer sein.« Bevor sie sich unter ihm hervorwand, sah sie noch sein kurzes, aber höchst erheitertes Grinsen.
Mit dem festen Vorsatz, ihm ausschließlich ins Gesicht – und nur ins Gesicht! – zu schauen, half sie ihm beim Aufstehen. »Wenn Sie herumlaufen wollen, dann sollten Sie damit warten, bis Sie es ohne fremde Hilfe schaffen.« Sie schlang ihm zwecks Stützung den Arm um die Taille und fühlte sofort eine starke und höchst unbehagliche Reaktion. »Und bis ich ein paar Kleidungsstücke von meinem Vater herausgesucht habe«, fügte sie hinzu.
»Jawohl.« Dankbar sank er auf die Couch zurück.
»Bleiben Sie diesmal liegen, bis ich zurückkomme.«
Er protestierte nicht. Das konnte er auch gar nicht, denn der Gang zur Küchentür hatte ihm geraubt, was er noch an Kräften besessen hatte. Die Schwäche war ein seltsames und unangenehmes Gefühl. Cal konnte sich nicht erinnern, jemals krank gewesen zu sein, seit er erwachsen war. Na schön, bei diesem Flugradunfall hatte er sich ziemlich demoliert, aber damals war er – wie alt? – achtzehn gewesen.
Verdammt noch mal, wenn er sich daran erinnern konnte, weshalb wusste er dann nicht mehr, wie er hierher gekommen war? Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und versuchte gegen das Hämmern in seinem Kopf anzudenken.
Er war mit seinem Flugzeug abgestürzt. Das jedenfalls hatte sie … hatte Libby gesagt. Ziemlich abgestürzt fühlte er sich auch. Die Erinnerung würde schon zurückkehren. Schließlich war ihm ja nach der ersten erschreckenden Leere auch sein Name wieder eingefallen.
Libby kehrte mit einem Teller zurück. »Sie haben Glück, dass ich gerade meine Vorräte aufgefüllt hatte.« Als ihr Patient die Augen aufschlug, stockte sie und hätte das neue Omelett beinahe auch wieder fallen lassen. Kein Wunder – so wie der Mann aussah, halb nackt, nur mit der Decke über dem Schoß und mit dem warmen Feuerschein auf seiner Haut, musste er ja jede Frau aus dem Gleichgewicht bringen.
Er lächelte. »Das duftet gut.«
»Meine Spezialität.« Sie merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete endlich aus. »Können Sie allein essen?«
»Ja. Mir wird nur schwindlig, wenn ich aufstehe.« Er nahm den Teller entgegen und machte sich hungrig über das Omelett her. Schon nach dem ersten Bissen blickte er Libby erstaunt an. »Sind die echt?«
»Die Eier? Natürlich sind die echt.«
Er lachte leise und nahm noch eine Gabel voll. »Echte Eier habe ich nicht mehr gegessen, seit … ich erinnere mich nicht daran.«
Libby meinte einmal irgendwo gelesen zu haben, dass beim Militär irgendein synthetisches Eipulver als Ersatz verwendet wurde. »Dies sind echte Eier von echten Hühnern. Sie können einen Nachschlag bekommen«, fügte sie lächelnd hinzu, als sie sah, mit welchem Appetit ihr Patient aß.
»Das hier sollte erst einmal genügen.« Er schaute zu ihr auf und sah, dass sie ihn über ihre unvermeidliche Teetasse hinweg betrachtete. »Ich glaube, ich habe Ihnen noch nicht für Ihre Hilfsaktion gedankt.«
»Ach, ich war einfach nur zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.«
»Weshalb sind Sie hier?« Er schaute sich noch einmal im Zimmer um. »Hier, an diesem Ort?«
»Man könnte sagen, ich habe mein Ferienjahr genommen. Ich bin Anthropologin und habe gerade einige Monate Feldstudien hinter mir. Jetzt arbeite ich an meiner Dissertation.«
»Hier?«
Es freute sie, dass er nicht die übliche Bemerkung darüber gemacht hatte, dass sie zu jung war, um Wissenschaftlerin zu sein. »Ja, warum nicht?« Sie nahm ihm den leeren Teller ab und stellte ihn aus der Hand. »Hier ist es ruhig, wenn man einmal von den gelegentlichen Flugzeugabstürzen absieht. Wie geht es Ihren Rippen? Tun sie weh?«
Er blickte an sich hinunter und bemerkte zum ersten Mal die diversen Blutergüsse. »Nicht sehr. Ein bisschen.«
»Wissen Sie, Sie hatten wirklich Glück. Von der Kopfwunde abgesehen, sind Sie mit ein paar Schnitten und blauen Flecken davongekommen. Ich hatte nicht angenommen, dass ich nach all dem noch Überlebende vorfinden würde.«
»Die Crash-Kontrolle …« In seinem Kopf formte sich ein verschwommenes Bild: Er drückte auf Schaltknöpfe, Lampen blitzten auf, Warnsirenen schrillten … Das Bild löste sich auf, als er sich darauf zu konzentrieren versuchte.
»Sind Sie Testpilot?«
»Was? Nein … Nein, ich glaube nicht.«
Beruhigend legte sie ihre Hand über seine. Erschrocken über ihre Reaktion, zog sie sie vorsichtshalber gleich wieder zurück.
»Ich kann Rätsel nicht leiden«, stellte er leise, aber ärgerlich fest.
»Und ich bin ganz versessen darauf. Lassen Sie uns doch dieses hier gemeinsam lösen.«
Er blickte ihr in die Augen. »Vielleicht gefällt Ihnen die Lösung nicht.«
Sie spürte ein gewisses Unbehagen. Der Mann war stark. Jedenfalls würde er körperlich kräftig sein, wenn seine Verletzungen geheilt waren. Und seine Geisteskraft bezweifelte sie ebenfalls nicht. Und sie waren allein, so allein, wie zwei Menschen nur sein konnten …
Libby schüttelte das Gefühl ab und beschäftigte sich lieber wieder mit dem Teetrinken. Was sollte sie tun? Den Mann samt seiner Gehirnerschütterung in den Regen hinauswerfen?
»Ob mir die Lösung gefällt, wissen wir erst, wenn wir sie gefunden haben«, sagte sie schließlich. »Wenn sich das Unwetter gelegt hat, werde ich Ihnen bestimmt in ein, zwei Tagen einen Doktor beschaffen können. In der Zwischenzeit werden Sie mir vertrauen müssen.«
Das tat er auch. Warum, hätte er nicht sagen können, aber von dem Moment an, in dem er sie in diesem Sessel hatte schlafen sehen, hatte er gewusst, dass sie ein Mensch war, auf den man sich verlassen konnte. Das Problem bestand nur darin, dass er nicht genau wusste, ob er sich selbst vertrauen konnte – oder ob sie das tun durfte.
»Libby …«
Sie schaute ihn an, und schon wusste Cal nicht mehr, was er hatte sagen wollen. »Sie haben ein schönes Gesicht«, murmelte er und sah, dass ihr Blick sofort argwöhnisch wurde. Gern hätte er sie berührt, aber als er die Hand hob, war es schon zu spät. Libby war bereits aufgestanden und befand sich außerhalb seiner Reichweite.
»Ich glaube, Sie müssen jetzt wieder schlafen. Oben gibt es ein Gästezimmer.« Sie sprach jetzt sehr schnell und ein wenig scharf. »Gestern Nacht konnte ich Sie nicht die Treppe hinaufbekommen, aber da oben haben Sie es bequemer.«
Cal betrachtete sie einen Moment. Dass Frauen sich vor ihm zurückzogen, war er nicht gewöhnt, und bei dieser Libby war es offensichtlich nicht einmal eine nur gespielte Haltung. Wenn zwischen einem Mann und einer Frau gegenseitige Anziehung bestand, dann war der Rest doch einfach. Vielleicht arbeiteten noch nicht alle seine Systeme richtig, aber dass diese Anziehung hier auf Gegenseitigkeit beruhte, wusste er genau.
»Sind Sie zugeordnet?«
Fragend zog Libby die Augenbrauen bis unter ihre Ponyfransen hoch. »Bin ich – was?«
»Zugeordnet. Ich meine, haben Sie vielleicht einen Gefährten?«
Sie lachte. »Dieser Ausdruck ist mir schon vertrauter. Nein, im Moment nicht. Kommen Sie, ich helfe Ihnen die Treppe hinauf.« Sie hob die Hand, bevor er aufstehen konnte. »Mir wäre es lieber, wenn Sie die Decke umbehielten.«
»Es ist doch nicht kalt«, stellte er fest, steckte den Stoff dann aber doch um seine Hüften fest.
»Und nun stützen Sie sich auf mich.« Sie hängte sich seinen Arm um die Schultern und schlang ihren um seine Taille. »Geht es so?«
»Einigermaßen.« Cal stellte fest, dass ihm tatsächlich nur ein klein wenig schwindlig war. Wahrscheinlich hätte er sogar allein laufen können, aber mit Libby umschlungen die Treppe hinaufzusteigen fand er wesentlich schöner. »In einem solchen Haus bin ich noch nie gewesen«, bemerkte er.
Libbys Herz schlug ein wenig zu schnell. An Überanstrengung konnte es nicht liegen, denn ihr Patient stützte sich so gut wie überhaupt nicht auf sie. Allerdings war er ihr entschieden zu nahe.
»Ich nehme an, nach den gängigen Maßstäben ist es reichlich rustikal, aber ich habe dieses Haus schon immer geliebt.«
Die Bezeichnung »rustikal« war Cals Meinung nach recht untertrieben, aber er wollte seine Gastgeberin nicht kränken. »Schon immer?« fragte er.
»Ja. Ich bin hier geboren.«
Darauf wollte er etwas erwidern, aber als er den Kopf zu ihr wandte, nahm er einen Hauch des Dufts ihres Haars wahr, und als sich daraufhin sein ganzer Körper anspannte, taten ihm die vielen Prellungen mit plötzlicher Heftigkeit weh.
»Genau in diesem Raum«, fuhr Libby fort. »Setzen Sie sich ans Fußende. Ich schlage inzwischen das Bett auf.«
Cal gehorchte. Erstaunt strich er mit der Hand über einen der Bettpfosten. Dieser war zweifellos aus echtem Holz und trotzdem allem Anschein nach nicht älter als zwanzig oder dreißig Jahre. Das war ja widersinnig!
»Dieses Bett …«
»Es ist ganz bequem, wirklich. Dad hat es gebaut. Deshalb ist es ein bisschen wackelig, aber die Matratze ist gut.«
Cal musste sich am Pfosten festhalten. »Ihr Vater hat dieses Bett gebaut? Und es ist aus Holz?«
»Solides Eichenholz und tonnenschwer. Ich bin darin zur Welt gekommen, ob Sie es glauben oder nicht. Damals hielten meine Eltern nämlich nichts davon, einen Arzt für so etwas Natürliches und Privates wie eine Niederkunft einzuspannen. Mir fällt es allerdings auch schwer, mir meinen Vater mit Pferdeschwanz und Perlenketten um den Hals vorzustellen.« Sie richtete sich auf und sah, dass Caleb Hornblower sie entgeistert anstarrte. »Stimmt irgendetwas nicht?«
Er schüttelte nur den Kopf. Wahrscheinlich brauchte er tatsächlich Schlaf, viel Schlaf. »War das alles …« Er machte eine Handbewegung, die sich auf das ganze Haus bezog. »War das eine Art Experiment?«
Libbys Blick wurde sanfter und spiegelte eine Mischung aus Erheiterung und Zuneigung wider. »So könnte man es auch nennen.«
Sie ging zu der windschiefen Kommode, die ihr Vater ebenfalls gebaut hatte. Nachdem sie eine Weile in den Fächern herumgesucht hatte, zog sie eine Jogginghose heraus. »Die können Sie anziehen. Dad bewahrt hier immer ein paar Kleidungsstücke auf, und er hat ungefähr die gleiche Größe wie Sie.«
»Gut.« Er fasste Libby bei der Hand, als sie das Zimmer verlassen wollte. »Wo, sagten Sie, befinden wir uns hier?«
Er sah so beunruhigt aus, dass sie unwillkürlich seine Hand streichelte. »In Oregon. Genauer gesagt, im Südwesten des Staates, dicht bei der kalifornischen Grenze, und zwar im Klamath-Gebirge.«
»Oregon …« Sein Griff lockerte sich ein wenig. »USA?«
»Falls es sich inzwischen nicht geändert hat – ja.« Besorgt berührte sie seine Stirn, um festzustellen, ob er vielleicht Fieber hätte.
Cal hielt auch dieses Handgelenk fest, bemühte sich aber darum, nicht zu hart zuzufassen. »Welcher Planet?«
Erschrocken blickte sie ihn an. Der Mann konnte diese Frage doch nicht ernst meinen! Es sah aber ganz so aus. »Erde. Der der Sonne drittnächste Planet, Sie wissen schon«, antwortete sie, um ihn nicht zu verärgern. »So, und nun legen Sie sich schlafen, Hornblower. Sie sind noch völlig durcheinander, glaube ich.«
Er atmete einmal tief ein und aus. »Ja, ich denke, Sie haben Recht.«
»Rufen Sie, wenn Sie etwas benötigen.«
Nachdem Libby hinausgegangen war, beschlich ihn ein sehr ungutes Gefühl. Aber vielleicht war er wirklich nur »völlig durcheinander«. Wenn er sich tatsächlich in Oregon befand, also in der nördlichen Hemisphäre seines eigenen Planeten, dann konnte er nicht sehr weit vom Kurs abgekommen sein. Vom Kurs … Auf welchem Kurs hatte er sich befunden?
Er schaute auf seine Armbanduhr und betrachtete finster die diversen Zeitanzeigen. Aus reiner Gewohnheit drückte er auf den kleinen Knopf am Gehäuse. Die Anzeigen verschwanden, und eine Reihe roter Zahlen blinkte auf dem schwarzen Uhrenblatt.
Los Angeles. Mit Erleichterung erkannte er die Koordinaten. Er war also auf dem Rückweg zu der Basis in Los Angeles gewesen, nachdem er … Nachdem er – was?
Langsam ließ er sich auf die Matratze sinken und stellte fest, dass Libby Recht hatte. Das Bett war tatsächlich überraschend bequem. Wenn er jetzt ein paar Stunden schlief, würde er sich vielleicht auch wieder an den Rest erinnern.
Und weil Libby anscheinend sehr viel daran lag, zog er auch brav die Jogginghose an.
Was habe ich mir da nur eingebrockt? fragte sich Libby. Sie saß vor ihrem Computer und starrte auf den leeren Bildschirm. Sie hatte sich einen kranken Mann aufgehalst – einen unwahrscheinlich gut aussehenden kranken Mann. Einen mit einer Gehirnerschütterung, teilweisem Gedächtnisverlust und Augen, für die man so ziemlich alles geben würde.
Sie seufzte und stützte das Kinn in die Hände. Mit der Gehirnerschütterung wusste sie umzugehen. Sie hatte eine gründliche Ausbildung in erster Hilfe für ebenso wichtig gehalten wie das Studium der Stammesgewohnheiten des frühzeitlichen Menschen. Feldstudien führten Wissenschaftler oft an Orte, an denen es weder Ärzte noch Krankenhäuser gab.
Über den Umgang mit Gedächtnisverlust hatte sie in den Kursen allerdings nichts gelernt, und ebenfalls nichts darüber, was man gegen solche Augen tat, wie Caleb Hornblower sie besaß. Was Libby über Männer wusste, stammte aus klugen Büchern und bezog sich auf kulturelle und soziopolitische Verhaltensweisen. Jeder direkte Kontakt war rein wissenschaftlicher Natur gewesen.
Sie konnte durchaus kühn auftreten, wenn es nötig wurde. Ihr Kampf gegen ihre Hemmungen war schwer gewesen und hatte sehr lange gedauert. Der Ehrgeiz hatte sie vorangetrieben und sie dazu gebracht, Fragen zu stellen, wo sie doch am liebsten im Erdboden versunken wäre. Er hatte ihr die Kraft verliehen, weite Reisen zu unternehmen, mit Fremden zusammenzuarbeiten und auch einige wenige, aber zuverlässige Partner zu finden.
Wenn es sich jedoch um die persönliche Beziehung zwischen Mann und Frau handelte …
Die Männer, die sie auf gesellschaftlicher Ebene kennen gelernt hatte, wandten sich meistens sehr schnell wieder ab, weil Libbys wacher und kluger, aber zugegebenermaßen etwas einseitiger Geist sie einschüchterte. Und dann war da ihre Familie. Libby musste lächeln, wenn sie an sie dachte.
Ihre Mutter war noch immer die verträumte Künstlerin, die einst auf einem selbst gebauten Webstuhl bunte Decken hergestellt hatte. Und ihr Vater …
Libby schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an ihn. William Stone hätte ein Vermögen mit seinem Tee namens »Kräuterhimmel« machen können, aber er lehnte es ab, ein Geschäftsmann mit Schlips und Kragen zu werden. Musik von Bob Dylan und Gesellschafterversammlungen, verlorene Kämpfe um die gute Sache und Gewinnspannen – das passte nicht zusammen.
Der einzige Mann, den Libby einmal zum Abendessen mit nach Hause gebracht hatte, war verwirrt, entnervt und noch dazu hungrig wieder gegangen, wie sie sich lachend erinnerte. Er hatte mit dem Zucchini-Sojabohnen-Soufflee ihrer Mutter nichts anfangen können, außer es anzustarren.