Digital, analog und hybrid befähigen (E-Book) - Tobina Brinker - E-Book

Digital, analog und hybrid befähigen (E-Book) E-Book

Tobina Brinker

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Selbstständig und kreativ denken, individuelle Problemlösungen entwickeln und diese auch umsetzen – das sind wichtige Kompetenzen für das Lernen und Arbeiten in Zukunft. Das Buch bietet eine schrittweise Heranführung an die Hochschullehre – von einer Erläuterung der wichtigsten Begriffe bis zu einer diversitätssensibel gestalteten Lehre. Die Anleitung erleichtert neuen Dozierenden den Einstieg, sie bietet aber auch erfahrenen Lehrenden neue Ideen für die didaktische Gestaltung und methodische Varianz in digitalen, analogen und hybriden Lehrformaten. Die gut hundert Methoden sind online verfügbar.

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Seitenzahl: 336

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Tobina Brinker, Eva-Maria Schumacher

Digital, analog und hybrid befähigen

Neue Ideen für die Hochschullehre

ISBN Print: 978-3-0355-2043-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-2149-8

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Weitere Materialien

Methodenkarten: hep-verlag.com/digital-analog-und-hybrid-befaehigen

Vorwort

«Die Wissensgesellschaft von heute fordert individuelle Problemlösungen» (Wolf Lotter auf dem Digitalisierungskongress der FH Bielefeld am 18.11.2021). «Selbstständig und kreativ denken zu können, ist wichtiger geworden», so Christof Arn (2020, S. 95). Und weiter: «Es geht darum, denken zu lernen». Produktives Arbeiten fördert die Denkfähigkeit stärker als jede Inhaltsaneignung. Die eigenständige Bearbeitung von komplexen beziehungsweise mehrschichtigen Problemstellungen und der Mut, dieses zu tun, sind wichtige Voraussetzungen. Didaktische Settings – und vor allem das Verhalten der Lehrenden – können solchen Mut nachhaltig fördern oder im Keim ersticken.

Welche Kenntnisse und Fähigkeiten sind in der digitalen Welt bedeutsam? Ist Wissensvermittlung in der Hochschule überhaupt noch angebracht? Um den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen, werden die Studierenden Kreativität und Problemlösungskompetenzen benötigen. Sie werden viel mehr Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft übernehmen müssen und dazu «Future Skills», digitale Kompetenzen und weitere Schlüsselkompetenzen brauchen.

Studierende sollen auf lebenslanges Lernen vorbereitet werden, mit einer gut ausgebildeten Informationskompetenz verlässliche Quellen ihrer Fächer kennen und Informationen auf ihre Verlässlichkeit prüfen können. Vier zentrale Kompetenzen werden für die Zukunft immer wieder genannt (Hanke 2019): Kreativität (Neues denken, lernen und arbeiten zu können), kritisches Denken (Selbst denken, lernen und selbstständig arbeiten zu können), Kollaboration (mit anderen Menschen selbst denken, lernen und arbeiten zu können) und Kommunikation (eigenes Denken und Lernen mitteilen zu können).

Kreativität gilt als Schlüsselkompetenz in der Arbeitswelt der Industrie 4.0, in der es viel stärker darum gehen wird, Probleme zu lösen und neue soziotechnische Systeme zu gestalten. Kreativitätsfördernde Aufgaben sind komplex, facettenreich und uneinheitlich, unvertraut, zweideutig und auslegungsbedürftig, abstrakt, allgemein und selbstgesteuert sowie unspezifisch, unvorhersehbar und studierendenspezifisch (Haertel et al. 2019).

Über den Mut und die Motivation zum Lehren und Lernen haben wir schon in unserem Buch «Befähigen statt belehren» 2014 angeknüpft und Goethe mit den Worten zitiert: «Lehre tut viel, Aufmunterung tut alles!« (J. W. von Goethe am 9. November 1768 an A. F. Oeser in Frankfurt am Main). Mit der gänzlich überarbeiteten Neuauflage jenes Buches möchten wir auf die Veränderungen sowohl in der Arbeitswelt und Industrie 4.0 als auch auf das Lehren und Lernen in einer zunehmend digitalen Welt eingehen. Wie kann Hochschullehre so gestaltet werden, dass sie Kreativität und Problemlösungskompetenzen fördern und (weiter-)entwickeln kann? Die inzwischen um vieles erweiterten digitalen, hybriden und analogen Formate in der Lehre sowie bei der Entwicklung von Lernangeboten wie zum Beispiel Selbstlernkurse, asynchrone Angebote usw. bieten Möglichkeiten, Lehre und Lernen interessant und motivierend zu gestalten.

«Digital, analog und hybrid befähigen – Neue Ideen für die Hochschullehre» ist in erster Linie als Studien- und Arbeitsbuch geschrieben mit dem Ziel, Sie beim Einstieg in die Hochschullehre zu unterstützen und Ihnen Anregungen und Perspektiven zur Gestaltung Ihrer eigenen Lehre zu geben. Die zwölf Kapitel umfassen die wichtigsten Schritte für die eigene Hochschullehre rund um die Planung, Durchführung und Nachbereitung der Lehrveranstaltungen und Lernangebote. Die einzelnen Kapitelthemen orientieren sich größtenteils an dem Lern-ZIMMER-Modell, das Sie in diesem Buch (siehe unten) sowie unter www.lehridee.de zum Download finden.

Abbildung 1: Das Lern-ZIMMER (www.lehridee.de)

Jedes Kapitel ist als Selbststudienmaterial aufgebaut, das heißt, es beginnt mit einer Einführung in die Ziele und den Aufbau des jeweiligen Themas und schließt mit einer Zusammenfassung und den Abschlussaufgaben ab. Der laufende Text in den Kapiteln enthält zusätzliche Übungsaufgaben, die für Ihr eigenes Verständnis und Training gedacht sind.

Je nach Interesse kann dieses Buch entweder als Ganzes durchgearbeitet werden oder in einzelnen Kapiteln, die inhaltlich für sich allein stehen können. Da wir diesen Band für neuberufene Lehrende genauso wie für eine erfahrene, didaktisch interessierte Leserschaft konzipiert haben, möchten wir die Herangehensweise unseren Leserinnen und Lesern überlassen.

Wir danken allen Kolleg*innen, die uns bei der Umsetzung unserer Idee zu diesem Buch tatkräftig unterstützt haben, besonders Insa Kristin Menke für die Zusammenstellung und Sichtung des Methodenüberblicks im Anhang und die digital abrufbaren einzelnen Methodenkarten.

Wir wünschen Ihnen viel Freude und Erfolg in Ihrer Hochschullehre!

Tobina Brinker und Eva-Maria Schumacher

Inhalt

Vorwort

1 Lernen und Lehren

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

1.1 Lernen und Lehren

1.1.1 Lernen und Motivation

1.1.2 Der Lernprozess

1.1.3 Vernetzung und Lernen

1.1.4 Lernen und Persönlichkeit

1.1.5 Lerntheorien

1.1.6 Informelles Lernen

1.2 Didaktik und Methodik

1.3 Kompetenz und Performanz

1.4 Zusammenfassung

1.5 Abschlussaufgaben

2 Ziele einer Lehrveranstaltung

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

2.1 Konzipieren von Lehrveranstaltungen

2.2 Zielformulierung

2.2.1 Zielhierarchie

2.2.2 Zielarten und Zieltaxonomien

2.2.2.1 Der kognitive Bereich

2.2.2.2 Der affektive Bereich

2.2.2.3 Der psychomotorische Bereich

2.2.3 Lehr- und Lernziele

2.3 Zusammenfassung

2.4 Abschlussaufgabe

3 Auswahl und Aufbereitung der Inhalte für eine Lehrveranstaltung

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

3.1 Analyse der Ausgangsbedingungen

3.1.1 Rahmenbedingungen

3.1.2 Zielgruppenanalyse

3.1.3 Analyse der eigenen Kompetenzen

3.2 Auswahl und Begründung der Lehrinhalte

3.3 Strukturierung und Anordnung der Lehrinhalte

3.4 Didaktische Reduktion

3.5 Zusammenfassung

3.6 Abschlussaufgabe

4 Methoden in der Hochschullehre

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

4.1 Auswahl des Lehrveranstaltungstyps

4.1.1 Präsenzlehre (analoge Formate)

4.1.2 Onlinelehre (digitale Formate)

4.1.3 Kombination aus Präsenz- und Onlinelehre (hybride Formate)

4.2 Methodenauswahl

4.2.1 Darbietende Lehrformen

4.2.2 Gesprächsformen

4.2.3 Aktivierende Lehrformen

4.2.4 Selbstgesteuertes Lernen

4.3 Sozialformen

4.4 Systematisierung der Methoden nach dem AVIVA-Modell

4.5 Zusammenfassung

4.6 Abschlussaufgabe

5 Lernförderliche Gestaltung der Lehre

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

5.1 Einstieg und Einführung in eine Lehrveranstaltung zu Semesterbeginn

5.1.1 Funktionen einer angemessenen Einstiegssituation

5.1.2 Methoden für Einstiegssituationen

5.2 Orientierungs- und Lernhilfen in einer Lehrveranstaltung während des Semesters

5.2.1 Geben Sie einen Überblick

5.2.2 Machen Sie Ziele und Vorgehen transparent

5.2.3 Wecken Sie Neugierde

5.2.4 Wiederholen Sie Wichtiges

5.2.5 Lehren Sie mit allen Sinnen

5.2.6 Beachten Sie Gefühle

5.2.7 Geben Sie regelmäßig Rückmeldungen

5.2.8 Gehen Sie den Dingen auf den Grund

5.2.9 Machen Sie regelmäßig Pausen

5.2.10 Beachten Sie den roten Faden

5.2.11 Vernetzen Sie Inhalte

5.2.12 Schaffen Sie eine Struktur für Ihre Lernangebote und Lehrveranstaltungen, erläutern Sie sie und halten Sie sich selbst daran

5.3 Methoden und Medien didaktisch angemessen in Lehrsituationen einsetzen

5.3.1 Gestaltung der Eingangsphase

5.3.2 Gestaltung der Arbeitsphasen

5.3.3 Gestaltung der Übergangs- und Abschlussphasen

5.4 Zusammenfassung

5.5 Abschlussaufgabe

6 Medieneinsatz in der Lehre

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

6.1 Lehrformate, Lernformen und Lernumgebungen

6.1.1 Lehrformate in der Hochschule

6.1.2 Lernformen in der Hochschule

6.1.3 Lernumgebungen

6.2 Medien in der Präsenzlehre

6.2.1 Unterlagen, Skripte, Präsentationen

6.2.2 Fachbücher und Lehrbücher

6.2.3 Computer und Beamer

6.2.4 Kreidetafel, Whiteboard und Smartboard

6.2.5 Flipchart, Pinnwand und Metaplan

6.2.6 Versuchsvorführungen, Modelle, Objekte, Proben

6.3 Medien im Selbststudium

6.3.1 Arbeits- und Aufgabenblätter

6.3.2 E-Learning-Aufgaben und Tests

6.3.3 Versuchsdurchführungen im Praktikum/Labor

6.3.4 E-Learning-Einheiten, Selbstlernkurse und Lernbriefe

6.3.5 Videos und virtuelle Simulationen

6.4 Medien in der Onlinelehre zur Zusammenarbeit und Beratung

6.4.1 E-Learning-Module

6.4.2 Videokonferenzen

6.4.3 Podcasts

6.4.4 Virtuelle Gruppenarbeit

6.4.5 Foren, Chats, Wikis, Glossare, Blogs

6.4.6 Fallstudien, Projektarbeit, Rollen- und Planspiele

6.4.7 E-Tutoring, E-Beratung, E-Coaching

6.4.8 Lernplattformen und Lernmanagementsysteme

6.5 Zusammenfassung

6.6 Abschlussaufgabe

7 Selbstlernen und Selbststudium gestalten und fördern

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

7.1 Was ist ein Selbststudium?

7.1.1 Was bedeutet das Selbststudium für Studierende?

7.1.2 Was bedeutet das Selbststudium der Studierenden für Lehrende

7.2 Aufgaben der Lehrenden und Studierenden im Selbststudium

7.3 Verzahnung von Kontakt- und Selbststudium

7.4 Modelle für das begleitende Selbststudium

7.4.1 Integrierte Lernaufgabe

7.4.2 Skriptbasiertes Selbststudium

7.4.3 Social-Support-Modell

7.4.4 Leitprogramme

7.4.5 Problembasiertes Lernen (PBL/POL)

7.4.6 Individuelle Vorhaben

7.4.7 Lern- und Übungsprojekte

7.4.8 Echtzeitprojekte

7.4.9 Lernerfolgskontrollen

7.5 Zusammenfassung

7.6 Abschlussaufgabe

8 Beratung und Coaching im Studium

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

8.1 Beratung und Coaching in der Hochschule

8.1.1 Beratung

8.1.2 Supervision

8.1.3 Coaching

8.1.4 Mentoring

8.2 Sprechstunden

8.3 Lerncoaching im Studium

8.4 Betreuung von Abschlussarbeiten

8.5 Zusammenfassung

8.6 Abschlussaufgabe

9 Lernerfolge prüfen und bewerten

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

9.1 Aspekte des Prüfens und Bewertens

9.1.1 Funktionen von Prüfungen

9.1.2 Vorbereitung von Prüfungen

9.1.3 Formulierung von Prüfungsfragen

9.1.4 Bewertungskriterien

9.2 Rechtliche Grundlagen

9.3 Kompetenzen prüfen

9.4 Digitales Prüfen

9.5 Zusammenfassung

9.6 Abschlussaufgabe

10 Reflexion und Evaluation der Lehre

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

10.1 Begriffsklärung: Feedback, Evaluation, Bewertung und Beurteilung

10.2 Feedback in Lehrveranstaltungen

10.2.1 Feedbackregeln

10.2.2 Feedbackmethoden

10.2.3 Feed-Back, Feed-Up und Feed-Forward

10.3 Evaluation von Lehrveranstaltungen

10.3.1 Fragebogen zur Lehrevaluation

10.3.2 Teaching-Analysis-Poll (TAP)

10.4 Reflexion der eigenen Lehre

10.5 Zusammenfassung

10.6 Abschlussaufgabe

11 Diversität und Vielfalt in der Lehre

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

11.1 Diversität, Heterogenität und Vielfalt

11.2 Generation X, Y und Z

11.3 Gestaltungsempfehlungen für eine diversitätssensible Lehre

11.3.1 Haltung und Werte

11.3.2 Lehr- und Lernmethoden

11.3.3 Medieneinsatz

11.3.4 Prüfungen und Feedback

11.4 Zusammenfassung

11.5 Abschlussaufgabe

12 Methoden zur Reflexion des Lehralltags

Ziele dieses Kapitels

Aufbau dieses Kapitels

12.1 Reflexion des Lehralltags an der Hochschule

12.1.1 Aspekte für meine Lehrhaltung

12.1.2 Aspekte für mein didaktisches Handeln

12.1.3 Aspekte für meine Medienkompetenz

12.1.4 Aspekte für meine Feedback- und Prüfungsgestaltung

12.2 Achtsamkeit für die eigene Person

12.2.1 Meine Rolle als Lehrende*r

12.2.2 Meine Rolle als Forschende*r

12.2.3 Meine Rolle in der Selbstverwaltung

12.2.4 Meine Rollen im Privatleben

12.3 Zusammenfassung

12.4 Abschlussaufgabe

13 Literaturhinweise und Quellenangaben

13.1 Weiterführende Literatur

13.1.1 Einführung in die Hochschullehre

13.1.2 Lernen und Lehren

13.1.3 Didaktik und Methodik

13.1.4 Kompetenz und Performanz

13.1.5 Hochschullehre und Digitalisierung

13.2 Literatur- und Quellenangaben der zwölf Kapitel

14 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Übungsaufgabenverzeichnis

Abschlussaufgabenverzeichnis

Zu den Autorinnen

15 Methodenüberblick

Ankommen

Vorwissen aktivieren

Informieren

Verarbeiten

Auswerten

1Lernen und Lehren

Ziele dieses Kapitels

In diesem ersten Kapitel lernen Sie die wichtigsten Begriffe der Hochschullehre kennen und anwenden. Dieses Kapitel versetzt Sie in die Lage,

das Geschehen zu beschreiben, was passiert, wenn ein Mensch lernt,

in der Rolle als Lehrende*r das Lernen zu unterstützen,

die Begriffe Didaktik und Methodik im Hinblick auf die Hochschullehre zu erläutern und

die Begriffe Kompetenz und Performanz zu erklären und auf die Hochschullehre anzuwenden.

Aufbau dieses Kapitels

Das erste Kapitel stellt die Begriffe Lernen, Lehren, Didaktik, Methodik, Kompetenz und Performanz nacheinander vor, erläutert sie an Beispielen und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen diesen Begriffen und ihrer Bedeutung für eine gute Hochschullehre. Anschließend finden Sie eine Zusammenfassung für dieses Kapitel und abschließend folgt – wie in jedem Kapitel – die Abschlussaufgabe.

1.1 Lernen und Lehren

Mit dem Begriff Lernen verbinden sich meistens Erinnerungen an die Schulzeit oder auch an das Studium, und diese Erinnerungen sind tendenziell eher negativ. Lernen geschieht aber zu mehr als 50 Prozent informell, das heißt, es wird viel mehr im Alltag gelernt als in gezielten Lernsituationen und ohne dass es als Lernen überhaupt wahrgenommen wird (z. B. Lernen für ein Hobby, Lernen durch ein persönliches Projekt, das Sie selbst voranbringen möchten usw.).

1.1.1 Lernen und Motivation

Entscheidend für das Lernen ist die Motivation, was Sie an sich selbst feststellen können: Wenn Sie für eine Prüfung gelernt haben, nur um eine Klausur zu bestehen, wird es Ihnen schwerer gefallen sein, als wenn Sie für etwas gelernt haben, was Sie begeistert hat und für das Sie sich engagiert haben. Besonders in der Erwachsenenbildung wird viel leichter gelernt, wenn Sie wissen, wofür Sie lernen, und noch leichter, wenn Sie sich für die Sache engagieren, begeistern und motiviert sind. Hüther (2001) empfiehlt für ein gelingendes Lehren und Lernen folgenden Dreischritt: einladen, ermutigen und begeistern. Oder wie Spitzer (2012, S. 214) es formuliert: «Lernen heißt, ein Feuer zu entfachen, und heißt nicht, Fässer zu befüllen.»

Eine weitere Erklärung für die Bedeutung der Motivation für das Lernen liefert der Neugier-Erfolgs-Loop (Dyckhoff & Grochowiak 2001): Zunächst wird mein Interesse an einer Sache geweckt (Neugier), dann beschäftige ich mich näher damit und erlebe meistens Ernüchterung (weil ich noch viel lernen und mich trauen muss), danach folgt die Phase der Ausdauer, der intensiven Beschäftigung mit der Sache und anschließend kann ich den Erfolg genießen. Mit dieser positiven Erfahrung kann ich an die nächste neue Situation gehen (Abbildung 2).

Abbildung 2: Der Neugier-Erfolgs-Loop

Übungsaufgabe 1:

Notieren Sie sich aus dem Abschnitt 1.1.1 Stichpunkte, die Sie für das Lernen wichtig finden.

1.1.2 Der Lernprozess

Lernen ist ein Prozess. Dieser umfasst, Wissen aufzunehmen, zu verstehen, zu speichern und wieder abzurufen. Ob ein Sachverhalt, eine Aufgabe usw. verstanden wurde, lässt sich relativ leicht überprüfen. Wenn ich Wissen aufgenommen habe und mit eigenen Worten wiedergeben kann, habe ich das neue Wissen mit meinen eigenen Wissens- und Denkstrukturen verknüpft (Nachhilfeeffekt) und kann es anderen Personen erklären. Das Gegenteil ist der Fall, wenn jemand alles wortwörtlich auswendig aufsagen kann, aber den Sinn dahinter nicht erkannt hat. Dann hat er das Gelernte nicht verstanden und nicht in seinem Gedächtnis verankert: Er hat nicht gelernt.

Ein Lernprozess (Kolb 1984) beginnt mit einer konkreten Erfahrung, die die lernende Person mit der Umwelt allgemein oder mit einem bestimmten Gegenstand macht. Ist das Interesse geweckt, betrachtet die lernende Person den Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven, das heißt, sie beobachtet reflektiert und versucht, diese Beobachtungen in einen Zusammenhang zu bringen (wenn …, dann …). Daraus entwickelt die lernende Person ein abstraktes Konzept, das sie anschließend mit aktivem Experimentieren überprüft. Neue Anregungen, Erfahrungen und Denkanstöße folgen aus dem Ergebnis der Überprüfung und der Lernzyklus wird erneut durchlaufen.

Während eines Lernprozesses erfolgt immer eine Verhaltensänderung, die stabil wird und bleibt, wenn das Lernen aktiv wiederholt wird (z. B. Aufgaben mehrfach rechnen, Texte zum gleichen Thema lesen und diskutieren, Laborversuche durchführen und dokumentieren). Wissenserwerb ist dann erfolgreich, wenn das Gelernte jederzeit wieder abgerufen, angewendet und auf neue Situationen übertragen werden kann. Je gründlicher die Verarbeitung des Gelernten ist, desto besser ist es im Gedächtnis verankert (Spitzer 2012, S. 65 f.).

Für ein erfolgreiches Lernen sind die Motivation und das Anknüpfen an bereits vorhandenes Wissen, die sogenannten Vorkenntnisse wichtig. Wenn ich meine Vorkenntnisse zu einem Thema aktivieren und daran anknüpfen kann, fällt es leichter, das neu Gelernte mit meinen vorhandenen Denkstrukturen zu vernetzen. Dieses Lernen wird als Anschlusslernen bezeichnet. Das Gegenteil davon ist das Vorratslernen, also das Lernen für etwas, was jetzt noch nicht gebraucht wird. Ein klassischer Fall von Vorratslernen ist, wenn ich einen Software-Kurs besuche, die Software aber frühestens in einem halben Jahr in meiner Einrichtung eingeführt wird. Ich kann das Gelernte nicht anwenden und es besteht die Gefahr, dass ich es bis zur ersten Trainingsmöglichkeit vergessen habe.

Übungsaufgabe 2:

Ergänzen Sie die Stichpunkte aus Übungsaufgabe 1, die wichtig für das Behalten des Gelernten sind.

1.1.3 Vernetzung und Lernen

Lernen geschieht durch Vernetzung im Gehirn. Das Gehirn nimmt Reize (kodierte elektro-chemische Signale im zentralen Nervensystem, dessen wichtigste Schaltstelle das Gehirn ist) von den Rezeptoren (z. B. den Sinnesorganen) auf, bearbeitet die Signale nach bestimmten Mustern und sendet, falls erforderlich, entsprechende Reaktionsreize an die Effektoren (Muskeln, Drüsen, Organe usw.). Die wesentliche Informationsverarbeitung erfolgt in der Hirnrinde (Neokortex), wo wichtige zusammengehörende Fähigkeiten zusammenhängend gespeichert sind. Die elementaren Verarbeitungseinheiten sind die Neuronen, die bei der Geburt (mit einer Anzahl von 1010) bereits vollständig vorhanden, jedoch noch nicht vernetzt sind (Spitzer 2002).

Die Vernetzung erfolgt erst mit dem Lernen. Neurone besitzen neben dem Zellkörper Dendriten und Axone. Dendriten nehmen elektrische Impulse von anderen Neuronen auf. Über das Axon leiten sie Impulse weiter. Es entstehen Verbindungsmuster durch die Vernetzung, das heißt, die Weiterleitung läuft über das Axon des sendenden Neurons zum Dendriten des empfangenen Axons. Die Verbindung zwischen den Neuronen, also Axon auf Dendrit wird «Synapse» genannt. Jedes Training (Wiederholung) festigt. Ohne Training zerfallen diese Verbindungsmuster; der Mensch vergisst, was er gelernt hat.

Die primäre Vernetzung ist mit ungefähr 18 Lebensmonaten zu circa 90  Prozent abgeschlossen, immer abhängig von der erlebten Umgebung, für die diese Vernetzung ein Überlebenskonzept zur Selbsterhaltung bedeutet. Es entsteht eine lebensnotwendige Wahrnehmungspräferenz. Wächst ein Kind beispielsweise mit musikalischen Eltern auf und hört tagsüber viel Musik, wird es wahrscheinlich sehr sensibel auf auditive Reize reagieren, also viel über das Gehör aufnehmen. Wächst ein Kind als drittes oder viertes Geschwisterkind heran und wird ständig durch die älteren Geschwister unterhalten, wird es eher visuell-haptisch lernen.

Die Informationsspeicherung erfolgt über die oben beschriebene Vernetzung, der Mensch hat gelernt. Zum Abrufen dieser Informationen (sich erinnern) müssen bestimmte Randbedingungen eingestellt werden, die der Lernsituation ähnlich sind. Beispielsweise kann sich ein Prüfling in der Prüfung viel besser an das Gelernte erinnern, wenn er sich in der gleichen Umgebung befindet wie beim Lernen für diese Prüfung. Deshalb lassen manche Hochschulen ihre Seminarräume für ihre Studierenden offen, damit am gleichen Ort gelernt und geprüft werden kann.

In der Zeit der Pubertät werden einige Vernetzungen wieder gelöst und neu hergestellt. Das ist der Grund, warum Lehrinhalte, die in dieser Zeit in der Schule gelehrt werden, oft nicht gelernt werden (Beispiel: «Pubertätsmathematik»).

Auf unser Gehirn strömen täglich unzählige Reize ein. Ohne mehrere Filter könnten wir die Reize gar nicht sortieren. Alles, was gewohnt ist, wird nicht mehr als neu wahrgenommen (Beispiel: Autofahren), alles, was neu und ungewohnt ist, wird genauer betrachtet, denn das Gehirn ist eine Neugiermaschine! Wenn die Lernenden – wie gewohnt – im Hörsaal sitzen und (aktiv) zuhören und es trifft beim Sitznachbarn eine interessante Nachricht ein, was reizt dann mehr? Abbildung 3 zeigt die Informationsflut und die Filter im menschlichen Gehirn.

Abbildung 3: Wie lernt das Gehirn?

Übungsaufgabe 3:

Was geschieht beim Lernen im Gehirn?

1.1.4 Lernen und Persönlichkeit

Lehren und Lernen findet immer im Rahmen der Persönlichkeit der Lernenden und Lehrenden statt, also der höchst individuellen Art des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns sowie der Bindungs- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen. Die Art, wie jemand lehrt und lernt, wird bestimmt durch seine Persönlichkeit (Roth 2019, S. 41). Wir können uns zum Beispiel den Mund fusselig reden, wenn wir einen Freund, der riskante Dinge tun will, mit rationalen Argumenten überzeugen wollen. So lange, wie diese Argumente nicht mit emotional bewegenden Hinweisen verbunden sind, wird er sie nicht wahrnehmen.

Lernen ist eine universell verbreitete Fähigkeit zur mittel- und langfristigen Anpassung eines Organismus an seine Umwelt (assoziativem und nicht-assoziativem Lernen). Assoziatives Lernen umfasst klassische, operante und instrumentelle Konditionierung (Bewertung der Konsequenzen nach Ereignissen), nicht-assoziatives Lernen Habituation und Sensitivierung (Neubewertung von Wahrnehmungsinhalten) sowie Imitation (Lernen durch Zuschauen) und Einsichtslernen (Einsicht in das Prinzip) (Roth 2019, S. 102).

Lernen und Gedächtnisbildung werden oft miteinander gleichgesetzt. Das ist meist auch richtig, denn es gibt kein wirkliches Lernen ohne Gedächtnis, aber es gibt ein Gedächtnis ohne längerfristigen Lernerfolg (wenn etwas für wenige Sekunden behalten wird, aber dann sofort wieder verschwindet). Das passiert, wenn wir ohne besonderes Interesse einer Person zuhören oder einem Ereignis zuschauen.

Es gibt unterschiedliche Arten des Lernens und unterschiedliche Arten des Gedächtnisses. Roth (2019, S. 115 ff.) unterscheidet ein deklaratives explizites Gedächtnis, ein emotionales Gedächtnis und ein prozedurales, implizites Gedächtnis.

Das deklarative Gedächtnis umfasst Gedächtnisinhalte, die bewusst begleitet und sprachlich berichtet werden können. Sie werden weiter unterteilt in episodisches Gedächtnis und Wissens- beziehungsweise Faktengedächtnis. Das episodische Gedächtnis umfasst das Erinnern. Es beinhaltet das autobiografische Gedächtnis (inhaltlich, zeitlich und räumlich konkrete Erlebnisse in Bezug auf die eigene Person und Schicksale von Personen, die mit dem eigenen Schicksal verbunden sind, es wird auch Kontextgedächtnis genannt). Das Quellengedächtnis umfasst das Wissen darüber, wo, wie und von wem man das Wissen erfahren beziehungsweise gelernt hat. Das spielt bei der Wissensvermittlung in Zusammenhang mit der Vertrauenswürdigkeit der Lehrenden eine wichtige Rolle.

Das Faktengedächtnis umfasst Wissen und betrifft personen-, orts-, zeit-, und kontextunabhängige Tatsachen (wir wissen nicht mehr, wo, wie und wann wir das gelernt haben).

Das Bekanntheits- oder Vertrauensgedächtnis arbeitet weitgehend mühelos und automatisiert: Es sorgt dafür, dass wir beurteilen können, ob uns ein bestimmtes Geschehen oder Objekt bekannt oder vertraut ist. Alle drei Gedächtnisse können ineinander übergehen. Reines Faktenwissen ohne Anschaulichkeit ist schwer zu behalten, für Lehrende heißt das, das Wissen in anschauliche Episoden und detailreiche Geschichten zu verpacken und mehrfach zu variieren.

Das emotionale Gedächtnis nimmt einen Reiz in einer Situation auf und verbindet das mit einem positiven oder negativen Gefühl. Bei einem positiven Gefühl wird eine Wiederholung angestrebt, während ein negatives Gefühl auf Vermeidung ähnlicher Situationen hinzielt. Darauf baut unsere Motivation auf.

Das prozedurale Gedächtnis ist viel heterogener als das deklarative Gedächtnis und umfasst alle Fertigkeiten, Gewohnheiten, Konditionierung und Priming (Reproduzieren von Wissen aufgrund von Lernhilfen). Über Fertigkeiten verfügen wir, können aber nur nach gründlichem Nachdenken erklären, wie es geht (z. B. Autofahren oder Fahrrad fahren, weil es fast automatisch abläuft).

Bei jedem Lernvorgang werden Inhalte eines frühen, kurzzeitigen Gedächtnisses in Inhalte eines späteren, langzeitigen Gedächtnisses überführt und konsolidiert. Diese Konsolidierungsphase kann mit einer bewussten Wiederholung des Lerninhalts gestärkt werden.

Die Vertrauenswürdigkeit der Lehrenden ist ein wichtiger lernfördernder Faktor. Es ist absolut notwendig, dass Lehrende ein Vertrauensverhältnis zu den Lernenden aufbauen, das von Sympathie, Kompetenz, Verlässlichkeit und Autorität gekennzeichnet ist. Das Gehirn der Lernenden fragt nämlich automatisch: «Kann ich dem trauen, was der da sagt? Ist er kompetent, verlässlich? Weiß er, was er will?» Diese Fragen werden vom Gehirn erst einmal unbewusst und vorbewusst-intuitiv anhand der emotional-kommunikativen Merkmale überprüft. Eine zynische Haltung des Lehrenden gegenüber dem eigenen Tun und gegenüber den Lernenden wirkt ebenso zerstörerisch wie ein sich anbiederndes Auftreten (Roth 2019, S. 225).

Übungsaufgabe 4:

Wie können Sie den Faktor Persönlichkeit in Ihrer Lehre berücksichtigen?

Aus den vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass Lernen nicht von außen festgelegt und geplant werden kann. Es hängt viel von den Lernenden selbst ab, von ihrer Motivation, von ihrer Selbstverantwortung, von ihrer Selbststeuerung usw. Deshalb ist es für das Lehren wichtig, diese Aspekte zu berücksichtigen und keine fertigen Antworten zu geben oder feste Wege aufzuzeigen, sondern einen Lernraum zu schaffen, in dem Lernende eigene Wege beschreiten können und Antworten selbst finden und verstehen. Das bedeutet, Lernen und Veränderung erfahrbar zu machen. Wie das Lehren gestaltet werden muss, damit Lernen stattfinden kann, wird in den folgenden Kapiteln aufgezeigt. Zunächst sollen die Lerntheorien Anregungen für das Lehren geben, ehe es um die konkrete Umsetzung, um die Didaktik und Methodik in der Lehre geht.

1.1.5 Lerntheorien

In den Anfängen der Forschung über das Lernen und Lehren wurde von der Vorstellung ausgegangen, dass das Gehirn ein passiver Behälter ist, der mit Wissen angefüllt werden muss. Nach diesem Konzept besteht die Rolle der Lehrenden darin, die passiven Wissensempfänger*innen, also die Lernenden, mit möglichst viel Lernstoff zu versorgen und den Lernerfolg durch Abfragen zu überprüfen. Dieses Reiz-Reaktions-Lernen wird als Behaviorismus bezeichnet. Durch angenehme Reize wird die Reaktion verstärkt (Belohnung), durch unangenehme Reize (Bestrafung) gemindert. Das Gehirn selbst wird als Blackbox gesehen.

Der Behaviorismus wurde durch eine neuere Lerntheorie abgelöst, den Kognitivismus. Ihm zufolge ist das Gehirn ein informationsverarbeitendes Gerät; es geht nicht mehr nur darum, möglichst viel Wissen zu vermitteln, sondern das Wissen in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden zu verarbeiten. Die Rolle der Lehrenden besteht nunmehr nicht nur in der Vermittlung des Wissens, sondern auch in der Beobachtung und Unterstützung der Lernenden. Der Lernerfolg zeigt sich in der Wahl der geeigneten Methode, auf eine Frage die richtige Antwort zu finden, und nicht mehr nur in der Richtigkeit der Antwort selbst.

Auf den Kognitivismus folgten die konstruktivistischen Lerntheorien. Diese Ansätze gehen davon aus, dass Lernen ein konstruktiver Prozess ist und dass jede*r Lernende auf der Grundlage seiner*ihrer Erfahrungen lernt und dabei eigene Werte, Überzeugungen, Muster und Vorerfahrungen einsetzt. Das menschliche Gehirn wird dabei als ein relativ geschlossenes System angesehen, das Informationen selbstorganisierend verarbeitet (Stangl 2013). Das bedeutet, dass Nervenzellen sich durch elektrische Schaltungen gegenseitig aktivieren oder deaktivieren und so Muster und Strukturen speichern. Außenwahrnehmungen initiieren Lernprozesse, die für eine ständige Veränderung und/oder Anpassung an das vorhandene Wissensnetz sorgen. Grundlage hierfür ist die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich netzwerkartig zu organisieren und sich ständig den Erfordernissen seines Gebrauchs anzupassen (Neuroplastizität). Die wesentliche Leistung des Gehirns besteht also darin, die von den Sinnesorganen übertragenen Impulse aus der Außenwelt permanent zu interpretieren. Dabei schafft es sich seine Konstruktion davon, wie Wirklichkeit sei, ohne zu wissen, wie sie wirklich ist. Was ein Mensch wahrnimmt, sind demnach seine Erfahrungen mit den Dingen, nicht aber die Dinge selbst. Verstehen bedeutet also Aufbau von funktionierender und schlüssiger Interpretation. Diese strukturierende Arbeit des Gehirns sichert das Überleben des Menschen in seiner Umgebung. Wissen ist demnach immer eine Interpretation und Bedeutungszuschreibung auf der Grundlage bestehender Wissenselemente und Lernintentionen.

Der Konstruktivismus vertritt, vereinfacht dargestellt, die grundlegende Auffassung, dass Aussagen über Wirklichkeit Aussagen über Erfahrungen sind. Zu seinen Vorläufern zählen die Arbeiten der Philosophen Vico und Kant. Weitere Prägungen entstanden unter anderem durch Montessori und Piaget. Jean Piaget (1937–1980) entwickelte die Theorie des Denkens und der Intelligenz, wonach die Entwicklung der Intelligenz eine zentrale Rolle in der kognitiven Entwicklung spielt. Voraussetzung sind kognitive Stützleistungen wie Wahrnehmung, Erinnerung und Sprachbeherrschung. Piaget unterstellte, dass das Denken sich (nach der Geburt) zunehmend von der sinnlichen Wahrnehmung löst und differenziertere Lösungsformen auf abstrakt-begrifflicher Basis entwickelt. Das bedeutet, dass logische Strukturen konstruiert und vom Kind selbst entwickelt werden. Für die Ausformung werden in der Regel zwölf Jahre benötigt.

Der kognitive Konstruktivismus ist die lernpsychologische Ausprägung des Konstruktivismus und die theoretische Grundlage zur Gestaltung des Lehrens und Lernens aus heutiger Sicht. Was der kognitive Konstruktivismus für das Lernen und Lehren bedeutet, bringen die folgenden Thesen auf den Punkt (Thissen 1997 und 1998 in seinem Vortrag am 6. März 1998 in Stuttgart):

1.

Es gibt eine objektive

Realität

.

2.

Diese Realität nehmen wir als

Wirklichkeit

wahr.

3.

Unsere

Wahrnehmung

der Wirklichkeit ist kein Erkennen der Realität, sondern unsere individuelle Interpretation von Reizen, die wir über unsere Sinnesorgane aus der Realität empfangen.

4.

Unsere

Sinnesorgane

geben uns keine qualitativen Informationen über die Realität, sondern lediglich quantitative Reize.

5.

Das menschliche

Gehirn

baut aufgrund dieser Reize und aufgrund seiner eigenen Beschaffenheit eine dynamische Konstruktion der Wirklichkeit.

6.

Individuelle Konstruktionen der Wirklichkeit haben kulturelle und soziale Ähnlichkeiten.

7.

Wissen

ist nicht das Anhäufen von Informationen, sondern ein netzwerkartiges dynamisches Verknüpfen von Informationen zu Konstrukten der Wirklichkeit.

8.

Lernen

, das Wissen erzeugt, ist eine Veränderung des netzwerkartigen Konstruktes im menschlichen Gehirn.

9.

Es gibt so viele Lernwege, wie es Konstrukte von Wirklichkeit gibt.

Lerntheorie:

Behaviorismus

Kognitivismus

Konstruktivismus

Grundlage

Reiz – Reaktion

Problemlösung

Konstruktion

Das Gehirn wird verstanden als

ein passiver Behälter

ein informationsverarbeitendes Gerät

ein informationell geschlossenes System

Wissen wird im Gehirn

abgelagert

verarbeitet

konstruiert

Wissen wird verstanden als

eine Input-Output-Relation

ein adäquater interner Verarbeitungsprozess

die Fähigkeit, situativ handeln zu können

Ziel des Lernens ist

die Aneignung abrufbaren Wissens

die Anwendung geeigneter Methoden bei der Antwortfindung

die Bewältigung komplexer Situationen

Die Lernenden

sind passive Wissensbehälter

interagieren (entdeckend und handlungsorientiert) mit den Lehrenden

sind unabhängig und selbstgesteuert

Die Lehrenden

vermitteln reines Wissen und belehren die Lernenden

beobachten und unterstützen die Lernenden

coachen und trainieren die Lernenden, sie kooperieren mit ihnen

Tabelle 1: Überblick über die Lerntheorien (Baumgartner & Payr 1994, S. 110)

Übungsaufgabe 5:

Was bedeutet der kognitive Konstruktivismus für die Hochschullehre?

1.1.6 Informelles Lernen

In der Berufswelt von heute, auf die die Hochschulen unter anderem im Studium schon vorbereiten sollen, ist das informelle Lernen vorherrschend. Im Gegensatz zum Lernen an der Hochschule wird nicht erst ein Semester auf ein Projekt oder eine Aufgabe vorbereitet und mit einer Prüfung abgeschlossen, sondern Lernen und Arbeiten läuft parallel und ich bin selbst für die Entwicklung meiner Kompetenzen verantwortlich. Wenn ich eine Frage habe, spreche ich Kolleg*innen an und/oder recherchiere im Netz. Falls dieses Vorgehen alles nichts bringt, suche ich selbstständig weiter nach einer Antwort auf meine Frage durch Fachgruppen, andere Teams usw. Die Begriffe VUCA, BANI und Industrie 4.0 bezeichnen die Komplexität in der Arbeitswelt von morgen, die die Hochschulen schon jetzt berücksichtigen sollen.

VUCA (Grabmeier 2021) beschreibt die Situation der Mehrdeutigkeit und Komplexität und bedeutet:

V (olatile) – unbeständig

U (ncertain) – unsicher

C (omplex) – komplex

A (mbiguous) – mehrdeutig

BANI beschreibt den Rahmen der «Next Generation of Business» (Grabmeier 2021) als Reaktionen und Entscheidungen in der heutigen Welt:

B (rittle) – brüchig: Brüchiges erfordert Belastbarkeit und Resilienz.

A (nxious) – ängstlich: Angst braucht Empathie und Achtsamkeit.

N (on-linear) – nicht-linear: Nichtlineares bedarf Kontexts und Adaptivität.

I (ncomprehensible) – unbegreiflich: Unverständliches verlangt nach Transparenz und Intuition.

In der Arbeitswelt der Industrie 4.0, in der es viel stärker als zu früheren Zeiten darum gehen wird, Probleme zu lösen und neue soziotechnische Systeme zu gestalten, gilt Kreativität als Schlüsselkompetenz. Für die Hochschullehre bedeutet dies:

Die Einbindung von Kreativität in die Konzeption von Lehrveranstaltungen und Lernangeboten.

Die möglichst frühe Nutzung von Lehr-/Lernszenarien mit den Merkmalen der Maker Education, das heißt, das selbstständige und kritische Denken sowie die Auseinandersetzung mit der Umwelt durch Experimentieren zu fördern.

Die gemeinsame Wahrnehmung der Verantwortung für die (Selbst-)Motivation in Lernprozessen von Lernenden und Lehrenden (Haertel et al. 2019, S. 13).

«Selbstständig und kreativ denken zu können, ist wichtiger geworden», stellt Arn fest (2020, S. 95). «Es geht darum, denken zu lernen!» – Wie kann ich meine Studierenden auf diese Arbeitswelt im Studium vorbereiten? Was bedeutet natürliches, nachhaltiges und informelles Lernen? Natürliches Lernen erfolgt nach Böhler (2020) über sieben Lernmuster:

1.

Wir behalten, was für uns relevant ist. Als Lernende*r muss ich den Zweck des Lernens fest im Auge behalten oder den wahren Zweck erst einmal finden. (Bedeutungsvolles Lernen)

2.

Wir lernen am besten mit Kick. In jeder Ecke schlummern kleine Überraschungen, deshalb muss es nicht dauernd Aha-Erlebnisse geben, sondern die Lernenden wirken selbst daraufhin, das Lernen einen Kick gibt. Dazu gehören das Experimentieren und das Scheitern. (Erfahrungslernen)

3.

Lernen dient dem Effizienz- und Effektivitätsgewinn. Lernende sind in der Pflicht, nach dem Effekt des Gelernten zu fragen. Lernerfolg misst sich nicht an bestandenen Prüfungen, sondern an den Auswirkungen auf die Praxis. (Handlungsfähigkeit erwerben)

4.

Die Umgebung lernt mit. Lernen ist nicht isoliert zu sehen, sondern eingebettet in eine inhaltliche und eine psychologische Umgebung. Lernende stellen den Kontext für neues Wissen selbst her und verknüpfen das Wissen mit dem bereits vorhandenen. (Anschlusslernen)

5.

Es ist einfacher, vorgeschrieben zu bekommen, was gelernt werden soll. Aber niemand anders ist verantwortlich für uns als wir selbst. Es ist zwar anstrengend, aber wenn die Relevanz fehlt, wird schlecht und falsch gelernt. (Bulimie-Lernen)

6.

Wir lernen Dinge am besten mit 360-Grad-Erfahrung. Dafür kann ich selbst sorgen, in dem ich zur Anwendung schreite, experimentiere, Fehler und Erfahrungen damit mache. Für Lernende heißt das, möglichst in echten Szenarien zu lernen. (Learning by Doing)

7.

Lernen heißt vergessen. Routinen und Gewohnheiten sind gut, wir benutzen sie unbewusst. Sie helfen Energie zu sparen und beruhigen und stabilisieren den Denkapparat. Es genügt nicht, eine neue Fähigkeit zu erwerben, ich muss das Neue auch verankern. Nur so verhindere ich, in den alten Trott zu fallen und den Transfer nicht stattfinden zu lassen. (Umlernen)

Die Lernmuster kommen Ihnen sicher teilweise bekannt vor. Sie lassen sich auch in der Beschreibung des nachhaltigen Lernens nach Kiefer (2020) wiedererkennen:

Lernerfolg durch Zweck: Ich lerne leichter, wenn ich weiß, wofür ich das tue.

Wiederabrufen von Wissen: Ich kann das Wissen abrufen und mehrfach anwenden.

Anstrengung und Aufwand: Ich muss selbst etwas tun, nicht nur konsumieren.

Fehler machen und Feedback erhalten: Ich erhalte Rückmeldung über mein Tun.

Lernen durch Ablenkung: Ich mache bewusst Pausen und gestalte meine Lernphasen.

Angepasstes Lernmaterial: Ich rufe das Wissen selbst ab und bin dafür verantwortlich.

Reflexion nach der Anwendung: Ich denke über meine Anwendung nach (Gelingen und Scheitern).

Wenn Lernen so gelingt, was bedeutet das für die Gestaltung meiner Lehre?

Lernkultur 4.0 heißt, dass Lernen ein selbstverständlicher Teil der Arbeit ist, in der Mitarbeitende voneinander und miteinander lernen, weitgehend selbstgesteuert, am akuten Bedarf ausgerichtet und im Einklang mit persönlichen Entwicklungszielen. Dazu werden unterschiedliche Formate entwickelt und ausprobiert wie zum Beispiel «LearningOutLoud», bei dem sich fünf bis sieben Lernende in einem bestimmten Zyklus treffen und eine professionelle Lernbegleitung erfahren (De Bock et al. 2021; Hanke 2019).

Wenn ich in meiner Lehre das informelle Lernen fördern möchte, sollte ich verschiedene Lernsituationen konstruieren und anbieten, damit meine Studierenden Erfahrungen mit dieser Art des Lernens erleben können. Kompetenzen, die als relevant für die Beschäftigungsfähigkeit beschrieben werden, können im Rahmen von kompetenzorientierter Lehre bereits angebahnt werden (Nauerth et al. 2012).

Übungsaufgabe 6:

Mit welchen Lernsituationen kann ich das informelle Lernen fördern?

1.2 Didaktik und Methodik

Didaktik wird als die Wissenschaft des Lernens und Lehrens oder auch die Theorie und Praxis des Lernens und Lehrens bezeichnet. Sie ist eine Teildisziplin der Pädagogik beziehungsweise der Erziehungswissenschaft. Johann Amos Comenius (1592–1670) beschrieb 1638 Didaktik (Cum grano salis: Didactica Magna. Titelblatt) als «Lehrkunst» so:

GROSSE DIDAKTIK

DIE VOLLSTÄNDIGE KUNST, ALLE MENSCHEN ALLES ZU LEHREN

oder

Sichere und vorzügliche Art und Weise,

in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christlichen Landes

Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts

ohne jede Ausnahme

RASCH, ANGENEHM UND GRÜNDLICH

in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt

und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allem, was für dieses

und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann;

worin von allem, wozu wir raten

die GRUNDLAGE in der Natur der Sache selbst gezeigt,

die WAHRHEIT durch Vergleichsbeispiele aus den

mechanischen Künsten dargetan,

die REIHENFOLGE nach Jahren, Monaten, Tagen und Stunden

festgelegt und schließlich

der WEG gewiesen wird, auf dem sich alles leicht

und mit Sicherheit erreichen lässt.

ERSTES UND LETZTES ZIEL UNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN,

die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger

zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger

Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrsche, in der Christenheit weniger

Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe

Didaktik beschäftigt sich im weitesten Sinne mit der optimalen Gestaltung des Lernraums – von den Zielen und Kompetenzen, die erreicht beziehungsweise entwickelt werden sollen, über die Auswahl, Aufbereitung und Anordnung des Lehrinhalts bis zur Auswahl der Lernformen und Methoden. Die Kernfrage der Didaktik ist jene nach dem Warum, das heißt dem Ziel und Zweck des Lernens: Warum respektive wozu soll etwas gelernt werden?

Für die Schule beziehungsweise den Unterricht sind viele verschiedene didaktische Modelle entwickelt, eingesetzt und evaluiert worden (Jank & Meyer 2002). Die bekanntesten Modelle stammen von Wolfgang Klafki – die «didaktische Analyse» – und Paul Heimann – das «Berliner Modell». Klafki ging es besonders um den Lehrinhalt (bildungstheoretische Didaktik), Heimann mit dem Berliner Modell zur Planung und Analyse des Unterrichts richtet sich an den Fragen aus, die im Lern-ZIMMER (Abbildung 1 im Vorwort) enthalten sind (lerntheoretische Didaktik).

Für die Erwachsenen- und die Weiterbildung sind die Studien und Modelle von Horst Siebert und Rolf Arnold bedeutend, etwa Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung (2009) oder Konstruktivistische Erwachsenenbildung (2003). Sie bilden die Grundlage für die vorliegenden Kapitel und werden an den entsprechenden Stellen genauer beschrieben (Kapitel 2, 3 und 6).

Im Unterschied zur allgemeinen Didaktik, die Aussagen und Ansätze für das Lehren und Lernen für alle Fächer bietet, ist die Fachdidaktik speziell auf einzelne Disziplinen ausgerichtet: Fachdidaktik Physik, Fachdidaktik Mathematik, Ingenieurpädagogik usw. Eine Didaktik für spezielle Stufen wird spezifiziert (Erwachsenendidaktik für den Bereich der Erwachsenenbildung oder auch Hochschuldidaktik für die Hochschullehre).

Methodik ist ein Teilbereich der Didaktik. Mit der geeigneten Auswahl und dem Einsatz der Methoden kann das Lehren und Lernen beeinflusst und gestaltet werden (Meyer 2009). Die Entscheidung, entweder mit einem Vortrag möglichst viel Inhalt in möglichst kurzer Zeit an möglichst viele Zuhörer*innen zu bringen oder mehr Zeit für aktives Lernen mit aktivierenden Methoden einzuplanen, hat erhebliche Auswirkungen auf das Lehren und damit auch auf das Lernen der Studierenden. Darum geht es in den Kapiteln 4, 5 und 7.

Übungsaufgabe 7:

Welcher zentralen Frage geht die Didaktik nach und welcher die Methodik?

1.3 Kompetenz und Performanz

Spätestens seit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge stehen nicht mehr die Lehrinhalte im Vordergrund der Planung von Lehrveranstaltungen, sondern das, was die Studierenden später können sollen, die sogenannten Learning Outcomes. Es geht darum, dass nicht nur Wissen und Fähigkeiten erworben werden sollen, sondern Kompetenzen. Was sind Kompetenzen und wie werden Kompetenzen definiert? Eine allgemeingültige Definition gibt es nicht, vielmehr existieren viele unterschiedliche Definitionen. Stellvertretend werden hier Kompetenzdefinitionen aus verschiedenen Perspektiven vorgestellt.

Der Kompetenzbegriff wird von Herold und Landherr (2003, S. 21) für den Bereich Schule folgendermaßen beschrieben: «Der erweiterte Lernbegriff zielt auf den Erwerb von Handlungskompetenzen, nicht nur auf die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen.» Kompetenz unterscheidet sich dabei von Performanz: Performanz beschreibt das aktuelle und beobachtbare Tun. Neue Formen der Leistungsbeurteilung berücksichtigen teilnehmerorientiertes und selbstständiges Lernen, sie gehen über den fachlich-inhaltlichen Lernbereich hinaus.

Erpenbeck (2010) berichtet aus der Sicht der Weiterbildungsforschung über die Entwicklung des Kompetenzbegriffs. Zunächst forschte White (1959) über die intrinsisch motivierte Interaktion mit der Umwelt. Daraufhin beschrieb Chomsky (1962) Kompetenz als die Fähigkeit, eine unendliche Zahl neuer Kommunikationsprozesse und -inhalte selbstorganisiert zu generieren. Das konkrete Umsetzen bezeichnet er als Performanz. Zehn Jahre später entwickelte McClelland (1973) den «competency approach» der Motivationspsychologie in den USA. Ein Jahr später, 1974, prägte Mertens den Begriff der Schlüsselqualifikationen, der fachübergreifenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Vor dem Hintergrund von Erfahrungen aus der Erwachsenenbildung («Erwachsene sind lernfähig, aber unbelehrbar») entwickelten Arnold und Siebert ab 1985 den pädagogischen Konstruktivismus und die Ermöglichungsdidaktik (2003, siehe den Abschnitt 1.2, «Didaktik und Methodik» in diesem Kapitel). Den Unterschied zwischen Qualifikation (nachgewiesene geprüfte Fähigkeit) und Kompetenz (nicht geprüft, aber trotzdem handlungsfähig) beleuchteten Grootings (1994) und Lichtenberger (1999). Zur Kompetenzentwicklung trug in Deutschland das vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ausgeschriebene Forschungsprogramm «Lernkultur Kompetenzentwicklung» (BMBF 2004) bei. Mit dem Eingang in die Werbung hat der Begriff der Kompetenz den Charakter eines Modewortes erhalten. Davon zeugen Slogans wie «Vertrauen, Kompetenz, Dynamik» (z. B. Steuerberatung Klaiber 2013 oder ATM-Events in Firmenreport Wirtschaft 2011 Neckar-Alb), «Kompetenz schafft Vertrauen» (z. B. Siemens Healthcare für Krankenhäuser 2011 oder Otto-Ganter GmbH mechanische Werkstätten 2013) oder Neuschöpfungen wie «Frischekompetenz» (z. B. Robert Bosch Hausgeräte 2013 oder http://frischfisch.com 2013) (Erpenbeck & Sauter 2007, S. 5).

Erpenbeck definiert aus Sicht der Weiterbildungsforschung:

Kompetenzen sind Fähigkeiten, selbstorganisiert und kreativ zu handeln, sie sind in diesem Sinne Selbstorganisierungsdispositionen. Selbstorganisiert wird das geistige und physische Handeln in offenen Problem- und Entscheidungssituationen, in komplexen, oft chaotischen Systemen. Kompetenzen sind unerlässlich für das Handeln in der Risikogesellschaft. (Erpenbeck 2010, Folie 42)

Auf der Grundlage des Tuningprojektes für den Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (EQR 2008) wird Kompetenz definiert als Übernahme von Verantwortung und Selbstständigkeit. Im EQR werden acht verschiedene Niveaustufen mit den erforderlichen Lernergebnissen beschrieben (Tabelle 2).

Kenntnisse

Fertigkeiten

Kompetenzen

Theorie- und/oder Faktenwissen

Kognitive Fertigkeiten (Einsatz logischen, intuitiven Denkens)

Übernahme von Verantwortung und Selbstständigkeit, Lernkompetenz

 

Praktische Fertigkeiten (Geschicklichkeit und Verwendung von Methoden, Materialien, Werkzeugen und Instrumenten)

Kommunikationskompetenz, soziale Kompetenz, berufliche/fachliche Kompetenz

Tabelle 2: Überblick über den Europäischen Qualifikationsrahmen 2008

Der Deutsche Qualifikationsrahmen orientiert sich am Europäischen Qualifikationsrahmen und bezeichnet Kompetenz als «die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen, Kenntnisse und Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten zu nutzen und sich durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten». (Brendel et al. 2019, S.  29) Unter Fachkompetenz fallen dort Wissen und Fertigkeiten, unter personaler Kompetenz soziale Kompetenz und Selbstkompetenz.

In der Berufsbildungsforschung ist das bekannteste Modell nach Roth (1971) sowie Heyse und Erpenbeck (2009) das Kompetenzmodell mit den vier parallelen Kompetenzdimensionen: Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz. Der Deutsche Hochschulqualifikationsrahmen orientiert sich an dieser Einteilung (Brendel et al. 2019, S. 35 ff.):

Fachkompetenz: Wissen und Verstehen

Methodenkompetenz: Einsatz, Anwendung und Erzeugung von Wissen

Sozialkompetenz: Kommunikation und Kooperation

Selbstkompetenz: wissenschaftliches Selbstverständnis, Professionalität

In diesem Zusammenhang definiert Schaper (2012, S. 29) den Begriff der akademischen Kompetenz als die Befähigung, «in Anforderungsbereichen, die durch hohe Komplexität, Neuartigkeit beziehungsweise Unbestimmtheit und hohe Ansprüche an die Lösungsqualität gekennzeichnet sind, angemessen, verantwortlich und erfolgreich zu handeln.»

Als letzte Sichtweise soll an dieser Stelle die Definition nach Klieme und Leutner (2006, S. 879 f.) aus der empirischen Bildungsforschung erwähnt werden: «Kompetenzen sind kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen.»

So unterschiedlich die ausgewählten Definitionen von Kompetenzen auch sind, sie zeigen in jedem Fall auf, dass das situationsangemessene Handeln aufgrund erworbener Kompetenzen im Mittelpunkt steht, wenn kompetenzorientierte Lehre und Prüfung umgesetzt werden sollen. Die Stufen des Kompetenzerwerbs (Wildt 2010) verdeutlichen den Unterschied zwischen Wissen, Können und Kompetenz bis zur Professionalität (Abbildung 4).

Abbildung 4: Stufen des Kompetenzerwerbs (Wildt 2010, S. 68)

Kompetenzen sind notwendig für das Erarbeiten und Erhalten der Berufsfähigkeit sowie für die Entwicklung der Persönlichkeit, das heißt, man muss das Lernen lernen, um lebenslanges Lernen selbst organisieren zu können. Dabei wird zwischen der Fachkompetenz und den Schlüsselkompetenzen unterschieden: der Fachkompetenz jeder einzelnen Disziplin (Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten) sowie den Schlüsselkompetenzen, zu denen die Methodenkompetenz (die Methoden im Fach, die Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens, die Methoden, sich selbst auf dem aktuellen Stand der Forschung zu halten usw.), die soziale oder auch sozialkommunikative Kompetenz (zum Beispiel Gesprächsführung, Teamarbeit) und die personale oder auch Selbstkompetenz (Ziel-, Zeit- und Selbstmanagement) gehören (Brinker & Müller 2003).

Die Diskussion darüber, was der Begriff «Schlüsselkompetenzen» umfasst und was nicht, soll an dieser Stelle nicht weitergeführt werden. Es gibt nicht die allgemeingültigen überfachlichen Kompetenzen, die für jede Disziplin gelten: Beispielsweise ist Kommunikation im Sozialwesen eine fachliche Kompetenz, in anderen Fächern eher eine Schlüsselkompetenz. Hier sei auf die Diskussionen und Tagungen der Gesellschaft für Schlüsselkompetenzen in Lehre, Forschung und Praxis hingewiesen (www.gfsk.org).

Wichtig für kompetenzorientierte Lehre und Prüfungen ist in jedem Fall, dass die Fachkompetenz allein nicht ausreicht, sondern dass es die Handlungskompetenz aus Fach- und Schlüsselkompetenzen ist, die in kompetenzorientierter Lehre gefördert und in kompetenzorientierten Prüfungen geprüft werden muss. Handlungskompetenz wird nur in Situationen erworben, in denen die Studierenden selbst handeln und erfahren können.