Digitale Kollektivität? - Tim Othold - kostenlos E-Book

Digitale Kollektivität? E-Book

Tim Othold

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schaffen digitale Netzwerke eine neue Art von Kollektivität? Bringen intelligente Algorithmen bessere Formen von Kooperation, Sozialität oder politischer Teilhabe hervor? Derlei Erwartungen sind fest mit unserem Bild digitaler Medien verbunden - und das, obwohl heutzutage unverkennbar ist, wie oft sie stattdessen gesellschaftliche Spaltungen forcieren und neue Kontroll- und Kapitalisierungsmechanismen ermöglichen. Tim Othold geht der hartnäckigen Idee digitaler Kollektivität auf den Grund. Anhand von drei einflussreichen Denkfiguren - Netzwerke, Massen und Schwärme - analysiert er, wie wir digitale Medien als vermeintlich kollektive, kooperative Größen imaginieren und was wir dabei allzu oft nicht hinterfragen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 652

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Open Library Community Medienwissenschaft 2024 ist ein Netzwerk wissenschaftlicher Bib-liotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Vollsponsoren: Technische Universität Berlin / Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz | Universitätsbibliothek Bielefeld | Universitätsbibliothek Bochum | Universitäts- und Landesbibliothek Bonn | Technische Universität Braunschweig / Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek Chemnitz | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Sächsische Landesbibliothek, Staatsund Universitätsbibliothek Dresden (SLUB Dresden) | Universitätsbibliothek Duisburg-Essen | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Goethe-Universität Frankfurt am Main / Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek Freiberg | Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Universitätsbibliothek | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen | Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek | Technische Informationsbibliothek (TIB) Hannover | Universitätsbibliothek Kassel | Universität zu Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek | Universitätsbibliothek Leipzig | Universitätsbibliothek Mainz | Universitätsbibliothek Mannheim | Universitätsbibliothek Marburg | Ludwig-Maximilians-Universität München / Universitätsbibliothek | FH Münster | Universitäts- und Landesbibiliothek Münster | Bibliotheks- und Informationssystem (BIS) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg | Universitätsbibliothek Passau | Universitätsbibliothek Siegen | Universitätsbibliothek Vechta | Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar | Zentralbibliothek Zürich | Zürcher Hochschule der KünsteSponsoring Light: Universität der Künste Berlin, Universitätsbibliothek | Freie Universität Berlin |Bibliothek der Hochschule Bielefeld |Hochschule für Bildende Künste Braunschweig |Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden - Bibliothek | Hochschule Hannover - Bibliothek | Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig | Hochschule Mittweida, Hochschulbibliothek | Landesbibliothek Oldenburg | Akademie der bildenden Künste Wien, Universitätsbibliothek | Jade Hochschule Wilhelmshaven/Oldenburg/Elsfleth | ZHAW Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hochschulbibliothek | Westsächsische Hochschule Zwickau | Hochschule Zittau/Görlitz, HochschulbibliothekMikrosponsoring: Ostbayerische Technische Hochschule Amberg-Weiden | Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V. | Technische Universität Dortmund | Evangelische Hochschule Dresden | Hochschule für Bildende Künste Dresden | Hochschule für Musik Carl Maria Weber Dresden, Bibliothek | Palucca Hochschule für Tanz Dresden – Bibliothek | Filmmuseum Düsseldorf | Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt | Bibliothek der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Berufsakademie Sachsen | Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater Hamburg | Hochschule Hamm-Lippstadt | Hochschule Fresenius | ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe | Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig | Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Bibliothek | Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf - Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek Regensburg | Bibliothek der Hochschule Rhein-Waal | FHWS Hochschule Würzburg-Schweinfurt

Tim Othold

Digitale Kollektivität?

Von intelligenten Schwärmen und manipulierten Massen

Dieses Buch wurde als Dissertation an der Bauhaus-Universität Weimar eingereicht und am 15. August 2023 verteidigt.

Die Forschungsarbeit wurde gefördert von der Graduiertenförderung des Freistaats Thüringen und der Studienstiftung des deutschen Volkes.

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

 

Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Tim Othold

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Lars Osterloh Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839473795 Print-ISBN: 978-3-8376-7379-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-7379-5 EPUB-ISBN: 978-3-7328-7379-1 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Inhalt

 

1.Einleitung: Digitale Kollektivitäten

2.Netzwerke

2.1Networks are everywhere

2.2Vernetzter Dämon

2.3Netzwerke als Gesellschaft

2.4Exkurs: Netzwerke als Akteure

2.5Netzwerke als Bedingung

2.6Kollektivität der Netzwerke

3.Massen

3.1Die zwei Zeitalter der Massen

3.2Massen und Repräsentation

3.3Massen

3.4Crowds

3.5Intelligente Kollektive

3.6Exkurs: Die Multitude

3.7Kollektivität der Massen

4.Schwärme

4.1Von Überzahl und Überwältigung

4.2Vögel, Ameisen und Bienen

4.3Swarm Intelligence

4.4Exkurs: Clouds

4.5Politische Schwärme

4.6Kollektivität der Schwärme

5.Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

1. Einleitung: Digitale Kollektivitäten

Inmitten des vielbeschworenen ›digitalen Wandels‹ von Kultur und Gesellschaft sind zwei Dinge kaum mehr von der Hand zu weisen: Die digitalen Medien, allen voran das Internet und andere Formen von vernetzten Computern und Sensoren, erscheinen zunehmend ebenso selbstverständlich wie zwiespältig. Selbstverständlich muten sie insofern an, als zahlreiche soziale, ökonomische, körperliche und andere Zusammenhänge von computertechnischen Prozessen durchdrungen und mittlerweile nicht selten darauf angewiesen sind. Während die jeweiligen Protokolle, Plattformen etc. zweifelsohne variabel bleiben und der tatsächliche Umgang mit den entsprechenden Medien oftmals kaum als reibungslos oder störungsfrei gelten kann, ist es keine Besonderheit mehr, sondern Alltag, dass die eigenen Handlungen und Erfahrungen in der einen oder anderen Weise mit den Möglichkeiten und Logiken von Informationstechnologien in Verbindung stehen. Digital verbunden zu sein, erscheint in vielen Fällen als Normalzustand; längere Trennungen oder Unerreichbarkeit hingegen sind Ausnahmen, die nicht selten aktiv herbeigeführt werden müssen.1Bei vielen Schilderungen und Narrativen, die sich um digitale Medien ranken, stehen dementsprechend längst nicht mehr Prozesse der Digitalisierung als solche im Zentrum, das heißt die Erfassung und Umwandlung von kontinuierlichen, analogen Signalen in diskrete, digitale Daten. Statt auf dieser technischen Teilungsoperation liegt das Augenmerk häufig im Gegenteil auf jenen Verbindungen, die digitale Medien stiften (sollen), nämlich auf den Kommunikations- und Handlungszusammenhängen, die sie hervorrufen und transformieren.

Zwiespältig erscheint, wie diese digitalen Verbindungen gerahmt und ihre Selbstverständlichkeit beurteilt werden. Gerade der Wahrnehmung des Internets und seiner verschiedenen Ausläufer sind tendenziell positive Erwartungen fest eingeschrieben. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte imaginierten viele einflussreiche Stimmen neue egalitäre Öffentlichkeiten, globale Demokratisierungsschübe und ähnliche Formen neuer, emanzipierter Kollektivität, die aus der technischen Verknüpfung von Computern folgen würden. Auch wenn der Optimismus, der diese Erwartungen durchzog, seit Anfang der 2000er Jahre vielerorts gedämpft wurde, ist er mitnichten verschwunden. Unter Schlagworten wie ›Industrie 4.0‹, in neuen Spekulationen über die vermeintlichen Vorzüge des Internets der Dinge oder im Marketing von Social Media-Plattformen und sogenannten Collaboration Tools werden digitale Medien auch weiterhin als Katalysator einer Entwicklung adressiert, deren Horizont von Prognosen globaler Verbundenheit, Gemeinschaftlichkeit sowie kontinuierlicher Kommunikation und Partizipation bestimmt wird.2

Derartige idealistische Visionen von den Potenzialen neuer Kollektivitäten stehen jedoch in einem nur allzu evidenten Widerspruch mit der Realität und Praxis digitaler Mediennutzung. Konfrontiert mit einer Polarisierung öffentlicher Diskurse, einer Normalisierung präemptiver Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen und verschiedenen Spielarten des digital divide, ist gerade in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, dass Onlinekommunikation und eine Ausbreitung vernetzter Computer keineswegs per se zu mehr Demokratie oder individuellen Freiheiten führen. Ebenso können sie Gesellschaften fragmentieren und soziale Antagonismen verstärken. Vermeintlich unausweichliche Demokratisierungsprozesse haben sich nicht nur in vielen Fällen nicht eingestellt; gerade die optimistische Annahme ihres sicheren Eintretens hat in mancherlei Hinsicht einer Kapitalisierungsbewegung Vorschub geleistet, die medientechnische Infrastrukturen und Ideen der Partizipation oder Inklusivität gleichermaßen umfasst und in den Dienst maximaler Wertschöpfung stellt. Angesichts automatisierter Filter, Bewertungs- und Kontrollalgorithmen, der Kommunikationsstrategien im sogenannten digitalen Faschismus oder auch des zunehmenden militärischen Einsatzes von KI- und Drohnentechnologien kann in verschiedenen Kontexten beobachtet werden, wie digitale Medien nicht als Grundlage gemeinschaftlicher Kollektivität operieren, sondern im Gegenteil dazu beitragen, neue Trennungen und Asymmetrien zu begründen bzw. vorhandene zu verstärken.3

Bezeichnend für die Zwiespältigkeit digitaler Medien ist allerdings nicht das bloße Vorhandensein gegensätzlicher bzw. historisch oder politisch unterschiedlich situierter Interpretationen ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen. Bezeichnend ist vielmehr, wie grundlegend die Erwartungen von Verbundenheit und neuen Kollektivitäten die Sicht auf digitale Medien prägen. Diese Ideen sitzen tief, sodass selbst Auseinandersetzungen mit den Schattenseiten des digitalen Wandels bei näherem Hinsehen häufig im Kern die Ansicht beibehalten, digitale Medien würden insbesondere Verbindungen stiften oder charakteristische digital strukturierte Formen von Gemeinschaft hervorbringen. Nicht nur kommerzielle Darstellungen des Internets rufen häufig weiterhin Ideen von Verbundenheit und Gemeinschaft auf. Auch jene kritischen Ansätze, welche die fragmentierenden Effekte, inhärenten Vorurteile und Machtdynamiken digitaler Medien diskutieren, identifizieren diese Medien nicht selten im nächsten Schritt als mögliche Lösung der genannten Probleme. So plädieren kritische Analysen der Netzwerkgesellschaft trotz allem für alternative Formen der Vernetzung (s. Galloway und Thacker 2007; Apprich 2015) und Abhandlungen über postmoderne, globalisierte Machtstrukturen sehen digitale Medien zwar als Instrument kapitalistischer Herrschaft, aber ebenso, im Dienste der Massen, als Ausweg aus Herrschaftsverhältnissen an (s. etwa Hardt und Negri 2004; Nicholls 2011). Protestbewegungen wie Occupy oder die Regenschirmbewegung in Hongkong, die sich im vergangenen Jahrzehnt explizit gegen vorherrschende Ungleichheiten und Versuche staatlicher Kontrolle richteten, beanspruchten digitale Medien unbeirrt als Grundlage eines demokratischeren und pluraleren Gegenentwurfs. Selbst primär technische Ensembles aus Sensoren, Drohnen oder Algorithmen werden mittlerweile häufig im Zeichen von Kollektivität und Sozialität geschildert.4 Auch dem prinzipiellen Vokabular digitaler Medien bleiben Motive der Kollektivität und Verbundenheit hartnäckig eingeschrieben: Netzwerk, Webpage, Forum, Online-Community, soziale Medien, Crowdsourcing, Viralität usw. Inmitten des besagten ›digitalen Wandels‹ sind also nicht nur digitale Medien an sich alltäglich geworden, auch gewisse Erwartungen und Annahmen über sie, eine bestimmte Sicht auf ihre gesellschaftliche Funktion muten zunehmend selbstverständlich an. Das Verständnis digitaler Medien ist geprägt von einer fundamentalen Logik digitaler Kollektivität, die droht – trotz aller Zwiespältigkeit – übersehen zu werden.

Dieses Buch ist ein Versuch, jener Logik und bestimmten einschlägigen Visionen digitaler Kollektivität auf den Grund zu gehen. Es geht darum, die Annahmen und Hintergründe zu erkunden, die die Sicht auf computertechnisch konstituierte Verbindungen informieren, und kritisch zu hinterfragen, wie diese Annahmen im Verständnis digitaler Medien zum Tragen kommen. Da sich die Logik und Narrative digitaler Kollektivität im Rahmen komplexer technischer, sozialer und kultureller Prozesse entfalten, die sich nicht einfach linear nachzeichnen lassen, liegt das Augenmerk dabei auf drei Denkfiguren, die die Wahrnehmung, die Beschreibung und das Denken digitaler Medien in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig geprägt haben: Netzwerke, Massen und Schwärme. Ich werde freilegen, wie sich gewisse Erwartungen und Imaginationen in diesen Denkfiguren verdichten und sich im Zuge dessen Konzepte von Öffentlichkeit, Repräsentation und Kooperation sowie Verhältnisse zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Elementen verschieben. Was digitale Medien sind und wie sie genutzt werden (können), so eine grundlegende These dieser Arbeit, hängt immer auch davon ab, wie sie verstanden werden. Je nachdem, ob von Netzwerkgesellschaften, von digitalen Massen und Crowds oder von schwarmintelligenten Algorithmen und technischen Drohnen die Rede ist, geraten unterschiedliche, wenngleich zusammenhängende Facetten digitaler Kollektivität in den Blick. Dabei drohen wichtige Zuschreibungen an digitale Medien und grundlegende Widersprüche des digitalen Wandels naturalisiert zu werden und einer kritischen Befragung zu entgehen. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, die Prägungen im Denken über digitale Medien bewusst und ihre Konzepte und Praktiken damit kritikfähig zu halten.

Konnektivität und Kollektivität

Beschreibungen, Theorien oder auch schlicht Spekulationen darüber, wie digitale Medien neue Formen von Sozialität prägen oder neue politische, soziale und ökonomische Verbindungen hervorbringen, sind zahlreich – auch ohne die Begriffe des Netzwerks, der Masse oder des Schwarms explizit in den Mittelpunkt zu stellen. Im Jahr 1994 prognostizierte etwa Al Gore, damals Vize-Präsident der USA, in einer berühmten Rede ein glorreiches »new Athenian Age of democracy«, das aus den Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten hervorgehen würde, die Bürger:innen ebenso wie Unternehmen und Staaten auf den kommenden »information superhighways« erwarteten (Gore 1994). Die Mischung aus hoffnungsvollem Technikdeterminismus und einem neoliberalen Fokus auf freie Marktwirtschaft, Privatisierung und Wettbewerb, die Gores Rede durchzieht und die von vielen Zeitgenossen gespiegelt wurde (vgl. Schröter 2012), wurde in den Folgejahren von Barbrook und Cameron (1996) kritisch mit der Bezeichnung »kalifornische Ideologie« belegt.

Etwa zwei Jahrzehnte später schilderte eine Gruppe von Forscher:innen um Ulrike Cress, Johannes Moskaliuk und Heisawn Jeong (Cress et al. 2016a) erneut große Veränderungen, die in den Möglichkeiten digitaler Medien begründet sein sollen. Im Internet und dessen Plattformen und Werkzeugen sehen sie die Grundlage für neue, revolutionäre Praktiken des gemeinsamen Lernens und der Massenkollaboration. Ausgehend von kognitionspsychologischen, biologischen und systemtheoretischen Überlegungen sind digitale Medien ihrer Ansicht nach nicht lediglich in einem individualistischen Sinne von Bedeutung, sondern erlauben »masses of people [to, T. O.] come and work together to develop new knowledge and achieve things that were previously unimaginable.« (Cress et al. 2016b, 25) Durch eine intensive Verknüpfung der beteiligten Personen – erklärt unter anderem als stigmergischer Prozess, analog zu sozialen Insekten (Elliott 2016)5 – setze digitale Massenkollaboration gar einen »special spirit« (Cress et al. 2016b, 6) frei. Im Zeichen gemeinschaftlicher Kooperation und Partizipation scheint dieser »special spirit« kaum mehr vereinbar mit Ideen des Wettbewerbs oder der Privatisierung.

In beiden Fällen – in den kapitalistischen Hoffnungen der kalifornischen Ideologie und in den Überlegungen von Cress et al. – werden materielle Verbindungen und die technische Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Computern als Auslöser neuer Beziehungen nicht nur zwischen Menschen und Technologie, sondern zwischen Menschen untereinander und damit als Grundlage neuer Gesellschaftsformen gesehen. Digitale Medien sind hier nicht einfach als neue oder weitere Plattform für alte Praktiken von Bedeutung. Sie werden als Möglichkeitsraum verstanden, in dem eigene Formen von Alltag und Arbeit, von sozialem Kontakt und Verhalten aufscheinen, die damit per se von den Logiken und Dynamiken dieser Medien abhängig sind.

Um die konstitutive und letztlich epistemische Dimension nachzuvollziehen, die digitalen Medien in diesen und ähnlichen Perspektiven zugeschrieben wird, ist es hilfreich, kurz eine Unterscheidung aufzugreifen, die Eugene Thacker in einem ähnlichen Kontext vorgenommen hat. Mit Blick auf diverse, um die Jahrtausendwende auftretende Versuche, Fragen gesellschaftlicher und politischer Organisation mit neuen Konzepten zu begegnen, differenziert Thacker (2004a, o.S.) zwischen »connectivity« und »collectivity«, Konnektivität und Kollektivität. Letztere, die hier im Vordergrund steht, definiert er als eine »aggregation of individuated units in relation to each other, with the quality of the relations largely specified by the context.« Diese Kollektivität setze eine Organisation der involvierten Elemente voraus, allerdings keine, die zwangsläufig auf räumlicher Nähe oder einem gemeinsamen Zentrum basiere: »a collectivity can aggregate by dispersal as well« (ebd.). Der Begriff verweist somit auf eine gewisse Anhäufung mehrerer, miteinander in Beziehung stehender Elemente, aber ohne dabei auf eine spezifische Form oder Qualität festgelegt zu sein. Mit anderen Worten: Die Definition bleibt bewusst recht vage. Zudem stellt sich die Frage, was derartige Kollektivitäten zusammenhält. Hier ist Konnektivität von Bedeutung, womit Thacker die Formen der Verbundenheit meint, die eine Aggregation erst ermöglichen. Konnektivität sei »more a status than a state or a thing. Connectivity is a ›status‹ in both the technical and political sense of the term. Connectivity can be high or low, it can be wide or narrow, and it can be centralized or decentralized.« Es handelt sich demnach nicht um eine stabile oder intrinsische Eigenschaft der jeweils verbundenen Elemente, sondern betrifft ihre gemeinsame Lage, die technischen, politischen oder auch organisatorischen und infrastrukturellen Relationen, die sich zwischen ihnen aufspannen. Bezieht sich die Kollektivität auf eine Aggregation von Elementen, so umfasst die Konnektivität die Zusammenhänge dieser Elemente, die jener Aggregation vorausgehen – die Verbindungen, die einen potenziellen Verbund erst begründen.6

Wichtig ist festzustellen, dass die Kollektivität trotz allem keine automatische Konsequenz von technischen oder anderweitigen Verbindungen ist. Erst eine gemeinsame Bewegungsrichtung oder Organisation über die bloße Relationalität hinaus lasse Kollektivität hervortreten – Thacker warnt davor, bloßes ›Onlinesein‹ mit politischem Aktivismus gleichzusetzen.7 Beide Begriffe verweisen somit vor allem auf einen gemeinsamen Übergang: Konnektivität kann als Muster von Verbindungen begriffen werden, das von dem Umfeld, den Strukturen und den Operationen dieser Verbindungen informiert wird (vgl. auch Thacker 2004b). Kollektivität setzt diese Konnektivität voraus, geht aber über sie hinaus. Mehr als bloß potenziell zufällige Verbundenheit, formiert sie sich in einem Prozess der Aggregation, Organisation oder durch eine anderweitige gemeinsame Bewegung und verfolgt einen bestimmten Zweck.8

Prognostiziert Al Gore ein neues demokratisches Zeitalter und beobachten Cress et al. grundlegende Veränderungen von Praktiken der Zusammenarbeit, des Lernens usw., so sind digitale Medien in beiden Fällen als Form von Konnektivität relevant, die neue oder in bestimmter Hinsicht transformierte Kollektivitäten hervorbringt. Beide Perspektiven (sowie viele weitere Spekulationen und Theorien über die digitale Transformation der Gesellschaft) begreifen die Verbreitung von Computern, die Verbindung von computerisierten Dingen und die daraus resultierenden Informationsflüsse nicht notwendigerweise als alleinigen Grund, wohl aber als Grundlage neuer, folgenreicher Organisations- oder Aggregationsformen. Vor unterschiedlichen politischen und akademischen Hintergründen und mit widersprüchlichen Schwerpunkten entwerfen Gore und Cress et al. dabei interessanterweise jeweils ein eigenes Bild digitaler Konnektivität, das aber in beiden Fällen konstitutiv für spezifische gesellschaftliche Veränderungen und Phänomene sein soll. Sie machen eigene Annahmen darüber, welche digitalen Logiken, Praktiken, Materialitäten etc. im Übergang zur Kollektivität entscheidend sind.

Nichts anderes, wenngleich mit wiederum eigenen technischen und politischen Schwerpunkten, tun viele der erwähnten kritischen Perspektiven, die sich mit den Schattenseiten und problematischen Konsequenzen digitaler Medien befassen. Gesellschaftliche Polarisierung, Diskriminierung und eine Normalisierung tiefgreifender Kontrollstrategien werden ebenfalls als Effekte oder gar als maßgebliches Ziel der Funktionsweisen von Internet, algorithmischer Datenverarbeitung usw. diskutiert (vgl. etwa Zittrain 2009; Chun 2021) – als entschieden unerwünschte Kollektivitäten, die auf spezifische Weise in digitaler Konnektivität wurzeln. Zahlreiche Auseinandersetzungen mit vergleichsweise neuen medientechnischen Entwicklungen, etwa Cloud Computing, Quantencomputer oder neue Virtual-Reality-Plattformen, binden diese Phänomene ebenfalls an vermeintliche Besonderheiten digitaler Medien, womit sie weitere Schwerpunktsetzungen und Visionen digitaler Kollektivitäten eröffnen.9 Zwar stimmen die verschiedenen Ansätze nicht immer darin überein, wie oder welche Kollektivitäten von digitalen Verbindungen bedingt werden, wohl aber darin, dass diese eigene Organisations- und Aggregationsprozesse sowie neue gesellschaftliche Bewegungen begründen und in spezifischer Weise prägen.10 Mit der tragenden Rolle, die digitalen Medien in diesen Beschreibungen zukommt, erhalten sie nicht nur eine immense praktische, ökonomische oder politische Bedeutung. Es wandelt sich darüber hinaus ihr epistemischer Status. Als Grundlage sozialer, politischer und vieler weiterer Transformationen sind digitale Medien in vielen Ansätzen und Beschreibungen nicht länger selbst von Interesse. Sie treten vielmehr in den Hintergrund dessen, was sie (vermeintlich) möglich machen, zusammen mit jenen Annahmen darüber, welche Aspekte digitaler Medien letztlich entscheidend sind.11

Netzwerke, Massen, Schwärme

Von den zahlreichen Schauplätzen, an denen Ideen digitaler Konnektivität und Kollektivität operieren, zum Tragen kommen oder verhandelt werden, widmet sich dieses Buch drei besonders einschlägigen: Netzwerken, Massen – oder zeitgemäß: Crowds – und Schwärmen. Von Netzwerken ist im Kontext digitaler Medien häufig in zweierlei Hinsicht die Rede. Erstens in Bezug auf die technischen, infrastrukturellen Verbindungen, die zwischen Computern und computerisierten Apparaten bestehen, mit dem Internet als paradigmatischem Beispiel (s. Abb. 1). Zweitens werden soziale, politische oder wirtschaftliche Beziehungsgefüge, die sich zwischen Personen, Institutionen oder Staaten aufspannen, als Netzwerke bezeichnet und analysiert. Ausgehend von der Beobachtung, dass eine zunehmende Ausdehnung der Netzwerke im ersten Sinne die Netzwerke im zweiten Sinne unter grundlegend neue Bedingungen stellt, werden dann Ideen der Netzwerkgesellschaft ebenso wie netzkritische Reflexionen der Macht- und Kontrolldynamiken umfassender technischer Vernetzung artikuliert.

Abb. 1: Visualisierung der Routing-Pfade des Internets im Jahr 2003, erstellt von Barrett Lyon und dem langjährigen Opte Project. Wie viele andere versteht auch er das Internet als »network of networks« (Lyon 2023).Quelle: Barret Lyon (2023).

Dieser technischen Tendenz von Netzwerken stellen Massen eine stärker soziologische und psychologische Prägung entgegen und verweisen, zumindest auf den ersten Blick, auf menschliche Interaktionen. Der Begriff ruft Bilder von Massendemonstrationen, von Protestmärschen und historischen Arbeiter:innenbewegungen auf: versammelte Körper, die sich aneinanderdrängen und in dieser gemeinsamen Bewegung als demographische und politische Entität hervortreten (s. Abb. 2). Wurden diese Massen in den vergangenen Jahrhunderten oftmals äußerst voreingenommen als impulsiv, dumm und als Gefahr für die Gesellschaft bzw. deren Elite charakterisiert, schlägt diese Einschätzung im Kontext digitaler Medien in ihr Gegenteil um. Sowohl begeisterte Beschreibungen von Crowdsourcing-Modellen und ähnlichen Formen von Online-Kooperation als auch theoretische Auseinandersetzungen mit neuen Massenphänomenen rehabilitieren Massen und ihre körperlichen, affektiven Energien als Quelle bemerkenswerter Kreativität und Produktivität. Eine Voraussetzung ist dabei, dass die Interaktionen und Kommunikationen der versammelten Individuen von neuen Medienprozessen aggregiert und ausgerichtet werden.

Schwärme, schließlich, irritieren im Kontext digitaler Medien die gängigen Versuche, Natur und Technik oder Biologie und Soziologie voneinander abzugrenzen. War die Bezeichnung einstmals Tieren, vor allem Vögeln, Fischen und Insekten, vorbehalten, so werden mittlerweile auch Flugroboter, Algorithmen und Verfahren künstlicher Intelligenz sowie gewisse unkonventionelle Formen politischer Koordination als Schwärme verhandelt. Jeweils geht es dabei darum, wie aus einer Vielzahl lose verbundener Einzelelemente ein größeres und ungleich leistungsfähigeres Ganzes emergieren kann (s. Abb. 3). In militärischen, zivilen, computertechnischen und politischen Kontexten werden Agenten nach Schwarmmodellen organisiert und sollen sich, ihren tierischen Vorbildern gleich, ›schwarmintelligent‹ koordinieren. Sie sollen ihr Verhalten optimieren und dadurch allerlei sprunghafte Verbesserungen hervorbringen.

Grundlegend für die folgende Auseinandersetzung mit diesen drei Themenkomplexen ist die Beobachtung, dass es sich hierbei – ebenso wie bei ähnlichen Begriffen und Metaphern12 – um alles andere als neutrale Bezeichnungen handelt. Netzwerke, Massen und Schwärme sind vielmehr wirkmächtige Denkfiguren, in denen sich, über eine Reihe von Ansätzen und Ansichten hinweg, kulturelle Rahmungen und Imaginationen über digitale Konnektivität und Kollektivität verdichten. Sie beeinflussen, wie digitale Medien wahrgenommen, verstanden und letztlich gedacht werden. Diese Beobachtung wird in ähnlicher Form auch von anderen Ansätzen artikuliert, die sich mit der gesellschaftlichen Rolle von Computer- und Medientechnologien befassen. So betonen manche Analysen etwa die Tatsache, dass das Internet und neue Medientechnologien einerseits kulturelle Effekte zeitigen und andererseits selbst kulturell geformt werden (vgl. etwa Apprich 2017b, 2; Rieger 2018, 147). Bereits 2004 weist Jens Schröter auf diese zirkuläre Prägung von Technologie und Gesellschaft hin und schreibt mit Blick auf die vielschichtigen Konstellationen, in denen Computer technisch, historisch, ökonomisch etc. Form erhalten, dass diese zugleich »immer Maschinen und Metaphern sind« (Schröter 2004, 13).13 Speziell in Bezug auf Netzwerke und das damit verwandte Konzept der Cloud schreibt auch Tung-Hui Hu (2015, 10), dass beide nicht lediglich auf eine technologische Infrastruktur verweisen, sondern als zugleich materielle und kulturelle Phänomene, gar als »system[s] of belief« untersucht werden müssen.14

Abb. 2: Versammlung der Chartisten – einer der ersten Arbeiter-Massenbewegungen der Welt – am 10. April 1848 auf dem Kennington Common in London. Daguerreotypie von William Edward Kilburn, restaurierte Version.

Abb. 3: Konzept-Illustration eines zukünftigen Waffensystems der United States Air Force, das Schwärme von autonomen (Mikro)Drohnen abwerfen soll, um feindliche Abwehrsysteme zu überwältigen.Quelle: USAF 2019.

Mehr als auf die direkten Effekte digitaler Technologien oder einzelne Infrastrukturen und Gruppenphänomene, die entsprechend bezeichnet werden, richtet sich mein Interesse im Folgenden darauf, wie sich Netzwerke, Massen und Schwärme als Denkfiguren zwischen verschiedenen Beschreibungen und Theorien entfalten, welche Annahmen und Erwartungen sie dabei begleiten und wie sie langfristig am Verständnis und an der Konstruktion eines Übergangs von Konnektivität zu Kollektivität mitwirken. Die Tatsache, dass die Verknüpfungen von Computern ebenso wie die zwischen ihren Nutzer:innen als Netzwerke bezeichnet werden, oder dass Ansammlungen von Flugrobotern und hacktivistische Protestbewegungen gleichermaßen zu Schwärmen deklariert werden – und eben nicht zum Rudel, Rhizom, Gewebe oder schlicht zur Gruppe – geht weder am Verständnis dieser Phänomene noch an der Wahrnehmung digitaler Medien spurlos vorüber. Im Wechselspiel verschiedener Materialitäten, Narrative und Repräsentationen beginnen diese Konzepte, einstmals differente Themenfelder zu verbinden und die Übertragung von Argumenten und Motiven zu ermöglichen. Wie sich zeigen wird, vermögen sie darüber hinaus, eigene Zusammenhänge und Schlussfolgerungen in das einzuschreiben, was sie bezeichnen.

Im Falle von Netzwerken etwa geschieht dies auf Basis einer Reihe verschiedener, sich überlagernder und durchaus widersprüchlicher historischer Hintergründe und Semantiken: Infrastrukturelle Großprojekte zu Beginn und städteplanerische Diskussionen zum Ende des 20. Jahrhunderts, mikrosoziologische Analysen sowie insbesondere kybernetische und graphentheoretische Ansätze prägen allesamt das gegenwärtige Verständnis von Netzwerken. Im Zwischenraum dieser Kontexte hat sich die Denkfigur des Netzwerks als tendenziell abstraktes Analyse- und Erklärungswerkzeug etabliert, das, weit über spezifische technische oder soziale Relationen hinaus, nahezu beliebige Sachverhalte als Gefüge aus Knoten und Kanten zu denken vermag. »All circuits, all intelligence, all interdependence, all things economic and social and ecological, all communications, all democracy, all groups, all large systems« (Kelly 1994, 25) lassen sich offenbar als und damit zum Netzwerk erklären.

Mit der Logik von Knoten und Kanten geht dabei allerdings eine Tendenz zur Verräumlichung von Zusammenhängen einher, eine topologische Verfassung der beschriebenen Relationen. Ein Denken in Netzwerken lässt nach der Nähe und Distanz von Elementen fragen, nach ihrer Anzahl, nach Anhäufungen und deren Abgrenzungen. Die spezifischen Qualitäten dieser Elemente oder der zeitliche Wandel ihrer Verhältnisse werden derweil nur allzu leicht überblendet. Im Falle technischer Netzwerke und speziell dem Internet manifestiert sich diese topologische Verfassung unter anderem in räumlichen Konzeptionen von Websites und Foren – oder früher Chatrooms –, in der Abwicklung von Zugangsberechtigungen oder in binären Differenzierungen von online und offline bzw. den Versuchen, diese Differenz gerade zu kaschieren. Werden Netzwerke auf menschliche Akteure projiziert, so werden auch deren Relationen entlang den Unterscheidungen von Inklusion und Exklusion, Ähnlichkeit und Zugang geordnet. Vor dem Hintergrund einer ebenso technischen wie konzeptionellen Selbstverständlichkeit von Netzwerken nehmen diese Unterscheidungen existentielle Züge an. Individuelle Akteure oder Orte sind kaum noch allein, sondern nur in Relation zu anderen denkbar und unvernetzte Elemente oder ein Außen des Netzwerks geraten in eine prekäre Lage.

In ähnlicher Form sind auch Massen in komplexe Wechselwirkungen zwischen tatsächlichen Phänomenen und multiplen Semantiken, Repräsentationen und Theorien eingebunden. Während Versammlungen von Menschen sowohl in vergangenen Jahrhunderten als auch im Kontext digitaler Medien zweifelsohne auftreten, ist ihre Rolle als Masse weniger gewiss. Diese ist maßgeblich an jene Repräsentationen und Theorien gebunden, an »ways of seeing people as masses« (Williams 2002, 98), die Zuschreibungen leisten, Massen sichtbar machen und ihr Objekt im Zuge dessen erst konstruieren. Massen erweisen sich bei näherem Hinsehen als fiktionalisierte Größen, die mit einem doppelten Bezug auf konkrete Versammlungen einerseits und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen andererseits Hoffnungen und Ängste über kulturelle Umbrüche verdichten. Werden Massen im Kontext digitaler Medien nicht länger als zerstörerisch und gefährlich, sondern als produktiv und intelligent imaginiert – gerahmt von wiederauflebenden Debatten über Gemeinschaftlichkeit und der Wiederentdeckung massenpsychologisch geprägter Sozialtheorien (vgl. Bippus et al. 2010; Tönnies 2005 [1887]; Toews 1999) –, so verkörpern sie auch hier Hoffnungen und Ängste. Bezeichnenderweise bleibt die positive Sicht auf intelligente digitale Massen im Zuge dessen meist an Narrative der Wertschöpfung und (Selbst)Bekundungen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gebunden. In diesem Sinne sollen die kreativen digitalen Massen des 21. Jahrhunderts zwar von Internet- und Computertechnologie konstituiert, aber ebenso darüber kontrolliert werden. Wie sich noch genauer zeigen wird, haben sie sich somit in wichtiger Hinsicht nur wenig von ihren Inkarnationen im 19. und 20. Jahrhundert entfernt.

Auch die Rede von Schwärmen und von Schwarmintelligenz neigt dazu, wichtige Spannungen im Denken digitaler Medien zu verdecken. Ausschlaggebend für die gegenwärtige Wahrnehmung und Konzeption von Schwärmen waren unter anderem computerwissenschaftliche Bemühungen: Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre wurden künstliche Schwärme zum Objekt technischer Berechnungen und Simulationen, womit die Idee zunehmend von konkreten tierischen Schwärmen abstrahiert wurde. Rekonzipiert als »Prinzip agentenbasierter Simulationsmodelle« (Vehlken 2009, 128), wurden Schwärme als Möglichkeit relevant, um kollektive Entscheidungs- und Handlungsprozesse zu modellieren und darüber hinaus zu optimieren. Bereits vor dieser technischen Operationalisierung waren Schwärme allerdings ein wichtiges Sinnbild sozialer und politischer Emergenz, eng verknüpft mit Reflexionen menschlicher Gesellschaftsstrukturen. Werden Schwärme gegenwärtig zur Modellierung algorithmischer Entscheidungsfindung herangezogen oder sollen menschliche Kollektive schwarmintelligent koordiniert werden, trägt die Denkfigur daher nicht bloß zu einer generellen Übertragung von biologischem Vokabular in technologische Kontexte bei. Sie naturalisiert technische Optimierungslogiken, während sie zugleich eine weit zurückreichende Faszination mit bewegter, schwer fassbarer Kollektivität fortschreibt. Verstanden als Schwärme, werden tierische, technische und menschliche Interaktionsformen sodann im Zeichen von Emergenz und Eskalation, von Einheit und Vielheit erklärt. Der fundamentale Widerspruch zwischen einer affektiven, widerständigen Eigendynamik von Schwärmen und Fantasien ihrer Kontrolle bleibt dabei ungelöst.

Netzwerke, digitale Massen und Schwärme, wie sie im Folgenden verstanden werden, stehen somit zwischen mehreren, miteinander verschränkten Kontexten. Sie spannen sich zwischen materiellen, praktischen, auch außerbegrifflichen Dimensionen und einer Vielzahl historischer und semantischer Rahmungen, Fiktionalisierungen und Zugänge auf. Ihre Wahrnehmungen und ihr Imaginäres stehen mit Medien- und Repräsentationstechniken in Wechselwirkung, die sie in bestimmter Weise sichtbar machen und so an ihrer Hervorbringung mitwirken. Im Dialog dieser unterschiedlichen Perspektiven verweisen Netzwerke, Massen und Schwärme nicht nur begrifflich auf Formen von Kollektivität, sondern legen eigene Logiken dieser Kollektivität nahe. Sie bezeichnen nicht nur bestimmte medientechnische Phänomene, sondern nehmen eigene mediale Züge an. Netzwerke, Massen und Schwärme dienen in den folgenden Kapiteln in diesem Sinne als Linsen, die bestimmte Sichtweisen auf digitale Kollektivität forcieren und als solche untersucht werden können. Gerade weil sie zwischen tatsächlichen Materialitäten und deren Beschreibung und Theoretisierung stehen, können sie jene metaphorischen Zuschreibungen15, impliziten Annahmen oder (Macht)Verhältnisse menschlicher und technischer Akteure verdeutlichen, die ansonsten drohen, als Teil einer unhinterfragten Erwartung von digitaler Kollektivität der Aufmerksamkeit zu entgehen.

Eine derartige kritische Reflexion von Netzwerken, Massen und Schwärmen erfordert eine besondere Perspektive und Aufmerksamkeit. Sollen ihre Logiken und Implikationen in den folgenden Kapiteln freigelegt und befragt werden, so ist dieses Vorhaben zwangsläufig in mehrfacher Hinsicht mit seinen Gegenständen verstrickt. Wie alle Versuche etwa seit der Jahrtausendwende, Phänomene bzw. Diskurse digitaler Medien zu analysieren, ist es immer schon von seinen eigenen Untersuchungsobjekten durchdrungen, da es zu seiner Durchführung auf Computer, das Internet und damit auch auf deren gängigen Praktiken und Konzeptionen zurückgreift. Zusätzlich erweist sich eine solche Untersuchung von Netzwerken, Massen und Schwärmen unweigerlich selbst als Teil der vielen Perspektiven, die jene sichtbar machen und im Zuge dessen mit-hervorbringen: Sie wird Teil des Diskurses von Stimmen und Sichtweisen, die um diese Denkfiguren kreisen. Abzuwarten, bis eine wachsende historische Distanz eine entsprechende analytische Distanz erleichtert, erscheint angesichts der pervasiven und nachdrücklichen Effekte digitaler Medien dennoch weder sinnvoll noch möglich. Eine Untersuchung der vielschichtigen Medialität von Netzwerken, Massen und Schwärmen, der Ideen und Visionen digitaler Kollektivität, die sich in ihnen verdichten, erfordert vielmehr einen Ansatz, der dieser konstitutiven Verstrickung Rechnung zu tragen vermag. Will sie jene Logiken hervortreiben, die Gefahr laufen, in der Rede von digitalen Medien unkritisch in den Hintergrund zu treten, so muss sie einen Weg finden, in dem von Netzwerken, Massen und Schwärmen aufgespannten Zwischenraum kritisch Position zu beziehen.

Medienphilosophische Perspektive

Das vorliegende Buch betrachtet Netzwerke, Massen und Schwärme aus einer medienphilosophischen Perspektive. Es begreift und erkundet sie als Denkfiguren digitaler Kollektivität, die sich zwischen Medientechnologien, praktiken und deren Diskursivierungen entfalten und fragt danach, wie sie sich im Zuge dessen in ihre Referenten und Theorien einschreiben. Mit ihrem Interesse an der kontingenten Herausbildung und Entwicklung dieser Denkfiguren sind die folgenden Ausführungen eng mit vergleichbaren, medienhistorisch oder auch diskursanalytisch orientierten Studien verwandt.16 Mehrere solcher Studien dienen dem vorliegenden Buch als wichtige Quellen. Eine medienphilosophisch informierte Perspektive, wie sie die folgenden Kapitel durchzieht, setzt gleichwohl eigene Schwerpunkte. Da es sich bei medienphilosophischen Untersuchungen um ein vergleichsweise heterogenes Feld handelt, das nicht nur ein breitgefächertes Interesse an Zwischenräumen und Verschränkungen aufweist – von Akteuren, Materialitäten, Konzepten usw. –, sondern dazu neigt, auch selbst gewisse, etwa disziplinäre Zwischenräume zu eröffnen, erscheinen einige kurze Anmerkungen zu zentralen medienphilosophischen Gedanken angemessen.

Bezeichnenderweise wies der Philosoph Martin Seel einst der Medienphilosophie insgesamt eine prinzipielle Zwischenstellung zu, indem er sie in einer Publikation von 2003 – etwas voreingenommen – als philosophisches »Renovierungsunternehmen« (Seel 2003, 10) charakterisierte: eine zwar wichtige Theoriearbeit, die der Philosophie vor dem Hintergrund neuerer medientheoretischer Überlegungen einen differenzierten Medienbegriff zur Verfügung stellen könne, damit jedoch ihre zentrale Aufgabe erfüllt habe. Für Seel handelte es sich bei Medienphilosophie in diesem Sinne um eine »vorübergehende Sache« (ebd.). Dafür, dass Medienphilosophie weitaus mehr als nur begriffliche Renovierungsarbeit leisten könne, argumentiert ein Text von Lorenz Engell in derselben Publikation. Für ihn kann eine medienphilosophische Perspektive dazu beitragen, »das Denken der Welt selbst zu betrachten, dessen Möglichkeit sich nicht in Texten allein, sondern in Artefakten, in künstlerischen Objekten und technischen Apparaturen, in sozialen Konfigurationen und Verkehrsverhältnissen verdichtet, ausformt und realisiert.« (2003, 77) Es geht also, mit anderen Worten, nicht allein darum, in Form schriftlicher Texte (philosophisch) über Medien und Medialität nachzudenken, sondern darum, dass sich dieses und jegliches andere Denken immer schon in und mit Medien vollzieht. Diese Medienbedingtheit des Denkens und damit auch Handelns müsse ernst genommen werden, so Engell, und es gilt, die Denkvermögen, die Fragen und Argumente, die in medialen Arrangements – auch abseits von Begriffen – produziert werden, freizulegen.

Diese Stoßrichtung verfolgte Engell, zusammen mit Bernhard Siegert, einige Jahre später weiter, indem er Seels Formulierung explizit zum Positiven wendete und Medienphilosophie statt als »vorübergehende Angelegenheit« als »eine ausdrückliche und affirmative Philosophie des Vorübergehenden« (Engell und Siegert 2010, 5) positionierte. Vorübergehend sind nach dieser Auffassung die untersuchten Phänomene, Praktiken und Konstellationen ebenso wie ihre Reflexionen und Theorien: Medienphilosophie richtet sich für Engell und Siegert auf Materialien und Apparate, Körper und Konzepte, menschliche und nicht-menschliche Subjekte und auf die Operationen und Interaktionen, die sich zwischen ihnen ereignen. Statt sie mit vermeintlich abschließenden Erklärungen oder Ordnungen zu konfrontieren, soll medienphilosophisches Denken ihrer Beweglichkeit Rechnung tragen, wofür es selbst beweglich bleiben muss. Es soll das Auftauchen und den Verlauf seiner Objekte – und damit auch seiner selbst – erforschen und ihre zwar wandelbare, aber nicht minder wirksame Eigenaktivität ernst nehmen.

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Gedanken und Argumentationen haben sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten diverse medienphilosophische Studien auf vielfältige Weise mit Konzepten der Medialität oder der Störung, mit spezifischen Medienformen, -prozessen usw. befasst.17 Sie knüpfen dabei an heterogene Diskurse, Theorien und Fragestellungen an, zielen jedoch oftmals auf eine »Reflexion der epistemischen und ontologischen Funktionen sowie Wirkungen von Medien, Techniken, kulturellen Praktiken und Diskursen [und auf, T. O.] ihre Einflüsse auf Lebens- und Denkformen«, wie es Christiane Voss (2017a, 252) auf den Punkt bringt. Gerade Voss führt ebenfalls den für die vorliegende Arbeit grundlegenden Punkt aus, dass jenes Spektrum medienphilosophischen Denkens, das sich zwischen Philosophie, Medien/Kulturtheorie und anderen Wissensfeldern aufspannt, letztlich nicht nur bestimmte inhaltliche Neigungen umfasst, sondern darüber hinaus eine tiefergehende programmatische Umstellung mit sich bringt. Analog zu und zweifelsohne beeinflusst von den Arbeiten Bruno Latours, betont Voss zunächst, dass medienphilosophisches Denken nicht lediglich den Blick auf die Einflüsse richtet, die Medien, Techniken, Diskurse – auch in vorübergehenden Ensembles – auf Lebens- und Denkformen ausüben, sondern zudem »von der epistemischen wie ontologischen Gleichrangigkeit nichtmenschlicher und menschlicher Faktoren ausgeht« (ebd., 261). Entgegen einer Generalisierung entweder einer anthropozentrischen Perspektive oder der Wirkmacht von Medien – oder auch Strukturen – richtet sich Medienphilosophie für Voss folglich auf das plurale Wechselspiel von Akteuren, Ereignissen und Operationen, das die jeweiligen Analyseobjekte und Phänomene erst hervorbringt. Entscheidenderweise schließt dieses Wechselspiel sowohl wissenschaftliche Beschreibungsversuche als auch Rückwirkungen der jeweiligen Gegenstände auf ihre Theoretisierung mit ein. Medien- und Kulturtechniken, mediale und ästhetische Zusammenhänge sollen demnach nicht lediglich ausgehend von Theorien erklärt oder in Abstraktionen überführt werden, sondern sind als bereits in sich theorieproduktive Formationen interessant (vgl. auch Oxen 2021, 24). In einem späteren Text machen Voss und Engell (2021a, X-XI) gemeinsam explizit, dass »Medien- und Kulturtechniken in ihrer Materialität und Operativität in sich selbst ein theoretisch-argumentatives Potenzial bergen,« das freigelegt, diskutiert und in einen »Dialog mit theoretischen Begriffen« gebracht werden soll.18

Sollen sich Theorie und Analyseobjekt in diesem Sinne »auf Augenhöhe« (ebd.) befinden, bleibt ein medienphilosophisches Vorgehen folglich in besonderem Maße an seine jeweiligen Gegenstände und deren möglichen Verschiebungen gebunden. Es muss anerkennen, dass die eigene – selbst stets medien- und letztlich meist schriftbedingte – Theoriearbeit ein gegebenes Phänomen kaum erschöpfend verhandeln und daher in einem strengen Sinne nie zum Abschluss gelangen kann. Ausgehend von der Wandelbarkeit und pluralen Bedingtheit ihrer Objekte und mit einem Bewusstsein um die Wechselwirkungen materieller, medialer ebenso wie semantischer oder ästhetischer Faktoren, entwickelt Medienphilosophie hier eine Skepsis gegenüber der Universalisierung von Perspektiven oder Zuschreibungen. Diese Skepsis artikuliert auch Dieter Mersch, wenn er vor einem explizit medientheoretischen Hintergrund prägnant für eine ähnliche Blickverschiebung wie Voss und Engell argumentiert. Auch er sieht im medienphilosophischen Denken das Bestreben, neben Sprache und Schrift auch andere Medien und mediale Prozesse als Denkformen zu verhandeln (Mersch 2015, 29–30). Mersch weist darauf hin, dass jegliche Objektivierungen oder epistemische Differenzierungen, die im Zuge wissenschaftlicher und philosophischer Analysen medialer Zusammenhänge bemüht werden, angesichts der »irreduzible[n] Pluralität des Medialen« (Mersch und Mayer 2015, 8) stets unvollständig bleiben müssen und – zumal angesichts ihrer eigenen Medienbedingtheit – mit Resten und Widersprüchlichkeiten einhergehen (Mersch 2015, 38–46). Eine Aufgabe der Medienphilosophie als in diesem Sinne »ausdrückliche Wendung hin zu einem Begriff des Mediums, der im Medium des Begriffs nicht erschöpfend zu verhandeln ist« (Mersch und Mayer 2015, 8), liegt für Mersch folglich darin, anerkannte epistemische Unterscheidungen zu hinterfragen – insbesondere Unterscheidungen von Medien und Medialität – und die Auslassungen, Objektivierungsversuche und Negationen aufzuzeigen, die ihnen zu Grunde liegen. Die Modelle und impliziten Annahmen, die in Theorien eingehen, ohne eigens kritisch reflektiert zu werden, sollen expliziert werden (Mersch 2015, 19).

Als wissenschaftlicher Ansatz ist Medienphilosophie, trotz und gerade wegen ihrer heterogenen Hintergründe und Fragestellungen, demnach kritisch gegenüber Vorgehensweisen, die ihre Forschungsgegenstände voreilig eingrenzen oder ihnen mit gegenstandsunabhängigen Theorien und Begrifflichkeiten begegnen. Stattdessen ist sie daran interessiert, vermeintlich stabile Differenzierungen – etwa von Subjekten und Objekten, aktiven und passiven Größen, zwischen Materialität und Semiotik, Begriff und Metapher usw. – im Dialog mit den jeweiligen Medienphänomenen zu hinterfragen. Die Reste, Spannungen und Latenzen, die bei Versuchen der Differenzierung und Begrenzung stets verbleiben, sollen ins Licht gerückt und, wenn möglich, produktiv gemacht werden (vgl. Othold et al. 2016). Wie Voss festhält, richtet sich medienphilosophisches Denken somit nicht einfach auf Vorübergehendes oder Abseitiges, sondern operiert dabei selbst in produktiven Zwischenräumen. Medienphilosophische Ansätze seien

zum einen darum bemüht, die spezifischen Vermittlungs- und Mittelstellungen sowie Operationslogiken unterschiedlicher Medien und Medien-Settings in ihrer Differenziertheit zu reflektieren. Zum anderen schlagen sie sich sozusagen selbst auf die Seite der Mitte und Mittler und übernehmen dergestalt eine Perspektive des Dazwischen, die zwischen Einzelwissenschaften, Philosophie und Empirie neue Verknüpfungen herstellt. (Voss 2017b, 165–166)

Zusammen mit seinen Gegenständen entfaltet sich medienphilosophisches Denken also zwischen multiplen Logiken und Phänomenen, in einem Spannungsverhältnis aus Konkretion und Abstraktion. Kurzgefasst, lässt sich Medienphilosophie folglich als Praxis philosophischen Denkens verstehen, die eine »Positionierung im und eine Perspektive des Dazwischen« (Voss 2017a, 256; Herv. i.O.) vornimmt.

Werden Netzwerke, Massen und Schwärme im Folgenden als Denkfiguren digitaler Kollektivität in den Blick genommen, so erfolgt auch dies im und aus einem solchen Dazwischen. Ich begreife digitale Medien als technisch und historisch uneinheitliche Größe, die an materielle ebenso wie kulturelle, an praktische ebenso wie hermeneutische Prozesse gebunden ist. Ihre Entwicklungen und Einflüsse entfalten sich im Wechselspiel pluraler Phänomene, Körper, Apparate, Semantiken und Ästhetiken. Eine Logik digitaler Kollektivität, wie sie anhand von Netzwerken, Massen und Schwärmen diskutiert werden kann, umfasst sodann gewisse Annahmen und Narrative, die die Wahrnehmung und Zusammenhänge digitaler Medien prägen: Es werden bestimmte Relationen zwischen menschlichen und technischen Elementen in Aussicht gestellt und Formen von Kollektivität konstatiert, die von früheren, anders konstituierten Kollektivitäten abgegrenzt werden. Im Weiteren geht es vor diesem Hintergrund nicht darum, abschließend oder übergreifend zu klären, was Netzwerke, Massen und Schwärme sind. Die folgenden Kapitel legen Wert darauf, ihre Untersuchungsobjekte nicht voreiligen Eingrenzungen oder unabhängigen Begriffslogiken zu unterwerfen – und dabei eine (vermeintlich) externe Perspektive auf sie einzunehmen –, sondern vielmehr jene Verständnisse, Unterscheidungen oder Auslassungen freizulegen, die bereits im Material vorliegen. Im Mittelpunkt stehen daher Auseinandersetzungen, die nicht nur verschiedene Formen von Netzwerken, Massen und Schwärmen thematisieren, sondern die – wie auch Thackers Unterscheidung von Konnektivität und Kollektivität – selbst Knotenpunkte in ihrem Diskurs markieren und die aufeinander bezogen (oder gegeneinander verschoben) werden können, um so das Denken von Netzwerken, Massen und Schwärmen zu problematisieren. Eine Vertiefung der historischen und technischen Prägungen dieser Denkfiguren ist dabei ebenso wichtig wie ein Bewusstsein für ihre fortgesetzte Unabgeschlossenheit und Eigendynamik. Netzwerke, Massen und Schwärme sollen in diesem Sinne weder auf bestimmte technische Phänomene enggeführt werden, deren Aufkommen oder auch Umwege es dann technik- oder wissensgeschichtlich nachzuzeichnen gilt. Noch sollen sie rein als Begriffe abgesteckt werden, die dann vornehmlich hinsichtlich ihrer Interpretationen oder (Deutungs)Macht befragt werden können. Vielmehr geht es in den folgenden Kapiteln darum, auf welche Weise sie zwischen diesen Polen als Denkfiguren operativ werden, wie sie imaginiert und plausibilisiert werden, welche Übertragungen sie leisten und welche Erwartungen dabei unhinterfragt zu bleiben drohen. Kurz gesagt: Diese Arbeit will freigelegen, wie im Diskurs zwischen verschiedenen Theorien, Beschreibungen und Phänomenen ein bestimmtes Denken digitaler Medien und digitaler Kollektivität figuriert wird.19

Aufbau

Während die Fiktionen und Semantiken die Netzwerke, Massen und Schwärme begleiten, sich unter anderem dadurch auszeichnen, nicht immer explizit zu werden und oftmals zusammen mit technischen Aspekten in den Hintergrund zu treten, lassen sich in den vergangenen Jahrzehnten dennoch gewisse Hochphasen ausmachen, in denen die Begriffe und ihre Phänomene jeweils besonders intensiv im Kontext digitaler Medien diskutiert wurden. Grob zusammengefasst: Netzwerke hatten vor allem in den 1990er und frühen 2000er Jahren Konjunktur, digitale Massen und Crowds waren von Mitte der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre ein beliebtes Thema – insbesondere für ökonomische Perspektiven – und Schwärme, nachdem ihnen in den 1990ern langsam wachsende Aufmerksamkeit in computer- und informationswissenschaftlichen Feldern zuteil wurde, traten vor allem in den 2010er Jahren als (erneut) gesellschaftliches und politisches Motiv auf. Diese Zeitspannen sollen keine feste historische Abgrenzung begründen; in allen drei Fällen wurzeln sowohl die materiellen, technischen Aspekte als auch die relevanten Begriffe und Semantiken in früheren Entwicklungen, deren tiefergehende Betrachtung für das Verständnis dieser Denkfiguren unerlässlich ist. Ebenfalls werden Netzwerke, Massen und Schwärme zweifelsohne auch seither diskutiert und beansprucht. Innerhalb der genannten Zeitspannen lassen sich jedoch besonders viele Ansätze und Stimmen finden, die Netzwerke, Massen und Schwärme in den Mittelpunkt stellen und als paradigmatische Formen digitaler Konnektivität oder Kollektivität konzipieren.

Die Tatsache, dass diese Phasen eine zeitliche Abfolge markieren, wenngleich eine mit vielfachen Überschneidungen, begründet die Reihenfolge, in der die drei Denkfiguren im Folgenden näher untersucht werden: zunächst Netzwerke, dann Massen bzw. Crowds und abschließend Schwärme. Jeder der drei Hauptabschnitte konzentriert sich auf die Hintergründe und Schwerpunkte der entsprechenden Denkfigur und entspricht dem Anspruch, eigenständig gelesen werden zu können. Die Linearität der Darstellung, die nicht zuletzt dem Medium Schrift geschuldet ist, soll jedoch nicht mit einer Linearität digitaler Medien oder ihrer Denkfiguren verwechselt werden: Netzwerke, Massen und Schwärme markieren keine einander klar ablösenden Narrative digitaler Kollektivität, sodass etwa neue Theorien über schwärmende Kollektive die veralteten Visionen einer Netzwerkgesellschaft ablösen würden. Historisch, technisch und konzeptionell sind die drei Denkfiguren eng miteinander verwoben, wobei sie manche Grundlagen und Annahmen teilen, sich in anderen hingegen widersprechen bzw. unterscheiden. Die folgenden Abschnitte nehmen Netzwerke, Massen und Schwärme in diesem Sinne zunächst als jeweils für sich einschlägige Denkfiguren digitaler Kollektivität in den Blick, deren Operativität es je freizulegen gilt, in deren Dialog und Verschiebungen – das heißt in deren Zwischenraum – sich jedoch übergreifende Fragestellungen und Spannungsverhältnisse digitaler Kollektivität ins Licht rücken und kritisch befragen lassen. Um den reichhaltigen Querverbindungen und diskursiven Hintergründen Rechnung zu tragen, die im Zuge dessen auftreten, aber unmöglich alle im Detail vertieft werden können, beinhaltet jeder Hauptabschnitt zusätzlich einen Exkurs, der einen spezifischen Ansatz bzw. ein verwandtes Motiv im Kontext von Netzwerken, Massen und Schwärmen aufgreift, die nicht zentral für die vorliegende Analyse sind, aber dennoch wichtige Aspekte der jeweiligen Denkfigur genauer hervortreten lassen. Zusammen sollen die folgenden Kapitel grundlegende Schwerpunkte und Tendenzen freilegen, die das Verständnis von digitalen Medien und ihren Formen der Kollektivität auch abseits der Begrifflichkeiten von Netzwerken, Massen und Schwärmen durchziehen.

Im Fall der Netzwerke wird das Augenmerk darauf liegen, zunächst ihre semantische Bandbreite bzw. ihren Abstraktionsgrad und ihre damit verbundene, maßgeblich von Graphentheorie und Diagrammen geprägte, raumlogische Konzeption freizulegen. Diese Aspekte werden sodann in technische ebenso wie gesellschaftliche Kontexte – speziell Ubiquitous Computing und RFID-Technologien sowie Theorien der Netzwerkgesellschaft – und bis in netzkritische Ansätze und die epistemischen und ontologischen Implikationen einer Rede von Netzwerken nachverfolgt. Neben einer problematischen Selbstverständlichkeit, der selbst kritische Positionen schwer entkommen, beweisen Netzwerke als Denkfigur hier vor allem eine binäre Verbindungslogik, die klar zwischen verbunden und unverbunden, zwischen Innen und Außen differenziert und die Ausweitung von Konnektivität zum Selbstzweck avancieren lässt.

Bei Massen steht zunächst der vermeintliche Bruch im Vordergrund, den viele jüngere Theorien zwischen früheren vordigitalen und gegenwärtigen digitalen Massen eintragen, wobei sie erstere als deutlich weniger und letztere als entschieden mehr als die Summe ihrer Teile begreifen. Im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit der konstitutiven Medialität und speziell mit Formen der Sichtbarmachung von Massen werden einflussreiche Schilderungen alter wie auch neuer Massen diskutiert – frühe massenpsychologische Ansätze und Theorien über Crowdsourcing und ›weise‹ Massen –, um daraufhin die vermeintlich intelligente und produktive Kollektivität digitaler Massen zu hinterfragen. Hier werden nicht nur eine Vermengung menschlicher und technischer Handlungsmacht und eine Verschiebung in Konzepten von kollektiver Intelligenz deutlich, sondern zudem eine Logik digitaler Kollektivität, nach der digitale Medien einerseits eine affektive und emanzipative Ko-Präsenz neuer Massenphänomene begründen, diese aber andererseits kanalisieren und kontrollieren sollen.

Spannungsverhältnisse und Widersprüche, die anhand von Netzwerken und Massen sichtbar wurden, werden dann auch im Fall von Schwärmen untersucht. Einleitend wird die emergente, rauschende Prozesshaftigkeit von Schwärmen beleuchtet, ihre Oszillation zwischen Vielheit und Einheit, die entscheidend ist für den visuellen Eindruck tierischer wie auch für die erhofften Leistungen technischer Schwärme – und letztlich auch für die Entdifferenzierung des Begriffs an sich. Mit einem Augenmerk auf die Übertragungen, die Schwärme als Denkfigur zwischen biologischen, technischen und gesellschaftlichen Kontexten leisten, werden die (Dis)Kontinuitäten zwischen historischen Schilderungen tierischer und neuen Theorien technischer Schwärme diskutiert. Anschließend werden mehrere einflussreiche computerwissenschaftliche Konzepte der Schwarmintelligenz verhandelt ebenso wie aktuelle Ansätze, die das Schwarmmotiv unter den Bedingungen neuer Medien politisch beanspruchen – insbesondere im Fall von Anonymous und der schwedischen Piratenpartei. Schwärme erweisen sich hier als eine Denkfigur, die mit ihrer Betonung von Zeitlichkeit und Beweglichkeit eine Alternative etwa zu Netzwerken markiert, zugleich aber einer ambivalenten Spannung zwischen internen Affekten und externer Kontrolle, zwischen Organisation und Eskalation verhaftet bleibt.

Im Durchgang durch Netzwerke, Massen und Schwärme, ihre vielschichtigen Schilderungen und Medialitäten, rücken die Implikationen und latenten Annahmen in den Vordergrund, die in deren Theorien und Wahrnehmungen wirken. Die vorliegende Arbeit will damit erstens dazu beitragen, die Logiken von Kollektivität zu hinterfragen, die unter Rückgriff auf diese Denkfiguren artikuliert, plausibilisiert und oftmals unzureichend kritisiert werden. Auf dieser Basis versteht sich die Arbeit zweitens als Beitrag zu der Frage, wie soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge unter den Bedingungen digitaler Medien verstanden und gedacht werden. Mit diesem Interesse schließt sie an diverse Ansätze an, die ebenfalls die oftmals hintergründigen Logiken und Erwartungen im Denken der Computer- und Informationstechnologie freilegen und versuchen, neue Perspektiven auf die komplexen Medialitäten der Gegenwart einzunehmen (etwa Voss 2017a; Schröter 2004; Apprich 2017b; Chun 2017; Hayles 2020; Parikka 2010). Sie legt dabei ein besonderes Augenmerk darauf, digitale Medien und medientechnisch konstituierte Relationen weder auf ihre materiellen Zusammenhänge zu reduzieren noch als vermeintlich immaterielle, abstrakte Prozesse zu begreifen, sondern sie als vielschichtige Konstellationen ernst zu nehmen, die sich zwischen und zusammen mit technischen, theoretischen, sozialen, spekulativen und weiteren Faktoren entfalten. Diese Relationen ebenso wie ihre Analysen und Beschreibungen sind, im besten Falle, beweglich. Am Ende dieser Arbeit steht dementsprechend keine abschließende Antwort oder überraschende Enthüllung über die tatsächlichen Mechanismen digitaler Kollektivität. Stattdessen will sie den Blick schärfen für die Wahrnehmung und das Verständnis digitaler Medien als Grundlage neuer Kollektivitäten. Die Hoffnung ist, die Rolle dieser Medien gerade angesichts neuer Kontroll- und Kapitalisierungsbestrebungen nicht erstarren zu lassen, sondern wandelbar zu halten.

1Die Umkehrung, in der eine Einbettung menschlicher Erfahrung und Wahrnehmung in computertechnische Kommunikationszusammenhänge zum Normalfall und deren Unterbrechung zur Besonderheit geworden sind, kommentieren Beyes et al. (2017, 5) folgendermaßen: »›Draußen‹ zu sein, also entnetzt, offline und nicht erreichbar, ist heute der Ausnahmefall und verlangt nun umgekehrt eine aktive Leistung: das Ausschalten, die Installation von Netzwerk-Blockern, das Rausfahren an die wenigen Orte ohne Netzempfang oder gar das Einchecken in die ›Digital Detox‹-Klinik – eine Heilanstalt digitaler Kulturen, deren Existenz vor Kurzem noch sinnlos erschienen wäre.«

2Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Facebooks Unternehmensleitbild lautet seit 2017 explizit »give people the power to build community and bring the world closer together.« Zuvor war es »to make the world more open and connected.« (Zuckerberg 2017; s. auch Constine 2017) Die Kollaborationssoftware ›Microsoft Teams‹, deren Nutzung gerade im Kontext der Corona-Pandemie immens angewachsen ist (Bishop 2022), trägt die Idee einer kooperativen, sozialen Gruppe bereits im Namen. Bezogen auf das Internet der Dinge propagieren exemplarisch Intel und Cisco die Idee von technologischer Verbundenheit als Weg zu einer neuen und besseren Welt (s. hierzu Kapitel 2.1).

3Vgl. in diesem Kontext etwa O’Neil (2017), Eubanks (2019), Chun (2021) sowie Houben und Prietl (2018), die sich in verschiedener Hinsicht mit den problematischen Effekten von algorithmischen Kontrollformen, Big Data und umfassender Quantifizierung auseinandersetzen; Raffetseder et al. (2017) und Dean (2016), die speziell dessen kybernetischen und kapitalistischen Aspekte ins Zentrum stellen; Marcks und Fielitz (2020) sowie Fielitz und Thurston (2019), die die Kultur und Taktiken des ›digitalen Faschismus‹ in Augenschein nehmen; Benjamin (2013) und Sauer (2016), die autonome Waffensysteme kritisieren.

4Dies ist etwa der Fall, wenn Nano-Roboter als Schwärme tituliert werden (s. Kapitel 4.2). Ein weiteres Beispiel liefert Jennifer Gabrys (2016), wenn sie die Ausbreitung von vernetzten Kameras, Mikrofonen und weiteren Sensoren als kollektiven Individuationsprozess konzipiert, der sich über diese Geräte, menschliche Akteure, Umwelten und letztlich den gesamten Planeten erstreckt.

5›Stigmergie‹ bezeichnet eine Form der indirekten Kommunikation bzw. Koordination durch Veränderung der Umgebung, beispielsweise durch Duftspuren (s. hierzu Kapitel 4.3).

6Sowohl in Bezug auf Konnektivität als auch Kollektivität markiert Thacker speziell Dimensionen der Räumlichkeit, Formen von (De)Zentralisierung etc. Dies hängt damit zusammen, dass sich sein Interesse an dieser Stelle primär auf die Beschreibung und Idee von Netzwerken richtet. Kapitel 2.5 befasst sich näher mit Thackers und Alexander Galloways Analyse von Netzwerken.

7Es kann ergänzt werden, dass Kollektivität ebenfalls nicht intendiert sein muss, sondern im Gegenteil als zufälliger Nebeneffekt anderer Zusammenhänge auftreten kann. Wie Urs Stäheli (2012, 115) in einem ähnlichen Kontext anmerkt, verfügen »Kollektivitätsphänomene […] über ein parasitäres Verhältnis zu ihren Infrastrukturen. In der Fähre versammeln sich die Passagiere nicht, um sich selbst als Kollektiv zu erfahren […] sondern, um von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen. Dass die Passage selbst zum kollektiven Erlebnis wird, wird durch die Infrastruktur ermöglicht, nicht aber vorgegeben.« Prozesse der Kollektivierung werden demnach von Infrastrukturen bzw. einer dadurch gegebenen Konnektivität bedingt – ohne Fähre kein Fährerlebnis – nicht aber gänzlich davon determiniert. Kollektivitäten emergieren vielmehr aus »Ermöglichungsumwelten« (ebd.: 112), in Wechselwirkung mit allerlei Praktiken, Operationen, Techniken usw., die ihre Aggregation und auch folgende Aktivität informieren.

8Im Unterschied zum Kollektiv wie es etwa Bruno Latour thematisiert – als tendenziell strategischer Begriff, der den Fokus auf »Assoziierungen von Menschen und nichtmenschlichen Wesen« (Latour 2002, 376) und deren von vornherein gegebene Verbundenheit und Verflochtenheit lenken soll (Latour 2002, 211–264; 2013 [1991], 11) – legt Thackers Kollektivität das Augenmerk somit auf Prozesse, in denen eine Vielzahl von Elementen einen einfachen Zustand der Relationierung in bestimmter Weise übersteigt und sich organisiert, formiert oder auf einen gemeinsamen Zweck hin bewegt. Ob diese Elemente menschlich oder nicht-menschlich sind, ihre politische Dimension und insbesondere die Notwendigkeit oder alternativ (Un)Möglichkeit ihrer Repräsentation bleiben dabei vorerst ungeklärt.

9Das Motiv der Cloud wird genauer in Kapitel 4.5 verhandelt. Für die anderen genannten Entwicklungen vgl. Grimes (2020); Fürnkranz (2019); Ravenscraft (2022). In Bezug auf Virtual Reality ist hier interessant, dass neue Schilderungen in vielerlei Hinsicht ältere Ansätze beerben, die mit den hoffnungsvollen Beschreibungen des frühen Internets eng verknüpft sind (vgl. hierzu Schröter 2004).

10Der Fokus auf Verbindungen, Vernetzungen und deren Rolle in der Verfertigung von Kollektivität, der viele wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit digitalen Medien durchzieht, steht nicht zuletzt im Kontext eines generell erhöhten (geistes- und kultur)wissenschaftlichen Interesses an Relationierungen und dadurch begründeten Ensembles und Assemblagen, das nicht immer explizit auf digitale Medien bezogen ist (vgl., keinesfalls abschließend, Deleuze und Guattari 1992 [1980]; DeLanda 2006; Hayles 1999; Bennett 2010; Selg 2016; Voss 2010).

11Ähnliches stellen auch Yuk Hui und Andreas Broeckmann (2015, 16) fest: »Digital technology, which was once the figure instead of the ground, slowly becomes the ground of governance, communication, and scientific research methods.«

12Ein Begriff, dessen Analyse hier nicht weiterverfolgt wird, ist beispielsweise ›Streaming‹ (s. Thibault 2015). Ebenfalls erwähnenswert sind in diesem Kontext Ansätze, die zwar dem Diskurs über Netzwerke, Massen und Schwärme verbunden sind, aber spezifische Schwerpunkte im Verständnis digitaler Medien setzen und deren technischen Prozesse oder gesellschaftlichen Effekte beispielsweise als Formen von »Ansteckung« (Parikka 2007; Parisi 2013) oder unter Leitbegriffen der »Umwelt« und »Umgebung« (Hörl und Burton 2017; Sprenger 2019a) verhandeln.

13Mit Blick auf das Imaginäre der sog. neuen Medien s. auch Ernst und Schröter (2020; 2021).

14Ein Wechselspiel medientechnischer Entwicklungen und deren diskursiven Interpretationen wird keineswegs erst im Fall von Computertechnologie relevant. Für frühere Technologien, speziell das Telefon, vgl. etwa Marvin (2007 [1990]).

15Darauf, wie leicht die ursprünglich metaphorischen Dimensionen vieler Bezeichnungen vergessen werden können, die im Kontext digitaler Medien mittlerweile alltäglich geworden sind (beispielsweise Desktop, Ordner, Fenster, Menü), weist auch Marianne van den Boomen (2009) hin. Im Kontext der Rückwirkung von Begriffen auf das damit Beschriebene erscheint ebenfalls ein Argument von Nigel Thrift (2004a, 583) erwähnenswert: »[W]hatever an idea’s exact content might be, it is also important to be able to understand the way in which an idea is framed because that framing has consequences.«

16Eine besondere Affinität besteht etwa zu medienarchäologischen und mediengenealogischen Ansätzen, die jeweils in unterschiedlichem Maße und mit variablen Schwerpunkten an die Arbeiten von Michel Foucault und Friedrich Kittler anknüpfen (s. exemplarisch Parikka 2012; Apprich und Bachmann 2017; Foucault 1981; 2009; Kittler 1986).

17Eine Auswahl: Hartmann (2000); Sandbothe (2001); Münker et al. (2003); Krämer (2005, 2008); Mersch (2010, 2015); Voss (2010, 2017a, 2017b); Engell et al. (2013); Deuber-Mankowsky (2013); Deuber-Mankowsky und Holzhey (2013); Engell (2021); nicht zuletzt Voss und Engell (2021b). Einen Überblick über unterschiedliche medienphilosophische Ansätze und Schwerpunkte gibt auch Nicolas Oxen (2021, 25–39). An dieser Stelle sei ebenfalls die zwölfjährige Forschungsarbeit des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM 2019), unter der Leitung von Engell und Siegert, erwähnt, die ein Interesse an medienphilosophischen und kulturtechnischen Fragestellungen gerade auch im internationalen Diskurs gefördert hat, wie exemplarisch bei Peters (2015) deutlich wird.

18Ein solches Bewusstsein um die ontologische Gleichrangigkeit und die Verschränkungen medialer und menschlicher Elemente informiert auch den medienphilosophisch geprägten Ansatz der Medienanthropologie, der die Relationalität menschlicher und medialer Existenzvollzüge in den Vordergrund rückt und deren Entfaltung in ästhetischen, praktischen und theoretischen Milieus untersucht (vgl. Voss 2010; 2019; Voss und Engell 2015).

19Beim Begriff ›Denkfigur‹ geht es in diesem Sinne nicht um einen Kontrast zwischen Figur und Form, wie bei narratologischen Figurenkonzepten (vgl. Leschke 2010; Leschke und Heidbrink 2010; s. auch Ricoeur 1991), oder gar um die ›figura‹ als vorausdeutende Gestalt (vgl. Auerbach 2018; Balke 2018). Ähnlich wie bei Philipp Stoellger (2019), der ›Denkfigur‹ synonym zu ›Deutungsmuster‹ verwendet – und daraufhin ›Figur‹ rekursiv zu verstehen sucht als »eine Wahrnehmungsform, Denkform und Sprachform (wobei ›-form‹ hier eigentlich -figur heißen muss)« (ebd., 265) –, überwiegt ein Interesse an diskursiven und wechselseitigen Deutungsprozessen, die sich im Spannungsverhältnis von konkreten Phänomenen und ihrer Verhandlung beobachten lassen und deren Übertragungen und Implikationen sich letzten Endes nicht auf rein begriffliche bzw. metaphorische Verhältnisse (Blumenberg 2015 [1960]) reduzieren lassen.

2. Netzwerke

2.1 Networks are everywhere

Das Internet der Dinge umfasst – neben viel diskutierten technischen Entwicklungen und den daran gekoppelten ökonomischen, sozialen und philosophischen Fragen – allerhand Kuriositäten. Eine solche Kuriosität ist eine automatisierte Saftpresse, die 2016 in Kalifornien auf den Markt kam. Die »Juicero« sollte 700 US-Dollar kosten und wurde begleitet von einer Marketing-Kampagne, die vor Superlativen nicht zurückschreckte. Sie versprach die bestmögliche Saftgewinnung aus den bestmöglichen Zutaten: »Perfected by Earth. Pressed by Us. […] Drink 4.5 Billion Years of Perfection« (Juicero 2017c; Abb. 4). Handelsübliches Obst und Gemüse konnte das Gerät nicht verarbeiten, es war stattdessen auf spezielle Zutatenpakete angewiesen, gefüllt mit präparierten Orangen, Gurken, roter Beete und sonstiger Reformkost, die Kunden abonnieren mussten, bei weiteren Kosten von ca. sieben Dollar pro Glas. Hergestellt wurden das Gerät und auch die Zutatenpakete auf dem etwa 10km² großen Fabrikgelände, das das Unternehmen mit seinen mehr als 120 Millionen US-Dollar Investmentkapital, größtenteils aus dem Silicon Valley, finanzierte (Johnson 2016). Die naheliegende Frage lautet, was genau den erstaunlichen Preis des Geräts rechtfertigen sollte. Welches Attribut der Saftpresse sollte Kunden überzeugen und bewegte die Kapitalgeber zu ihrem beträchtlichen Vertrauen? Die Antwort ist täuschend einfach: Juicero besaß eine Internetverbindung.

Wie die damalige Website beteuerte, sei diese »Connectivity […] a key component of the Juicero system.« (Juicero 2017b) Der Anschluss an das Internet erlaubte dem Gerät, per QR-Code auf den Zutatenpaketen die enthaltenen Zutaten und Nährwerte zu erkennen, einem gekoppelten Smartphone mitzuteilen und außerdem das »optimale Pressprofil« zu wählen. Auch garantierte die Internetverbindung die stetige Aktualisierung der Firmware des Geräts. Hierzu gehörten ferner Informationen über mögliche mangelhaft verarbeitete Zutatenpakete, bei denen die Saftpresse sodann die Arbeit verweigerte. Zur Sicherung des optimalen Saftgenusses – und wie als Beleg für die viel thematisierte Agency von Dingen – verweigerte das Gerät ebenfalls die Pressung von Paketen, die als nicht mehr frisch eingestuft wurden; dies war bereits nach etwa sechs Tagen der Fall.

Gegen diese angeblichen Vorzüge konnten nun leicht Einwände angeführt werden: Erstens kommen herkömmliche Saftpressen auch ohne Firmware-Updates aus und zweitens hindert nichts daran, die Informationen über die Zutaten schlicht auf das entsprechende Paket zu drucken. Auch die potenzielle Dienstverweigerung des Geräts erwies sich als unbedeutend. Es stellte sich heraus, dass die Zutatenpakete auch per Hand ausgepresst werden konnten, ganz ohne Gerät, bei etwa gleichem Ergebnis (Huet und Zaleski 2017). Vom angeblichen Mehrwert und den Alleinstellungsmerkmalen des Geräts blieben damit letzten Endes lediglich zwei Dinge: eine unnötig komplizierte und kostspielige technische Konstruktion (Einstein 2017) und die schlichte Tatsache einer Internetverbindung, das heißt der zum Selbstzweck gewordene Status des Geräts als ›vernetzt‹.

Abb. 4: Die Juicero-Saftpresse. Screenshot der Website im Jahr 2017.Quelle: Juicero (2017c).

Es überrascht wenig, dass Juicero entgegen der Hoffnungen des Unternehmens und der Investoren vor allem Spott erntete. Statt auf Kaufbereitschaft, stieß die Saftpresse größtenteils auf amüsierte Skepsis und Häme (Gelles 2016; Johnson 2016). Das Unternehmen senkte markant die Preise, wechselte den Geschäftsführer und schloss Ende 2017, weniger als zwei Jahre nach Markteinführung, die Tore. Besonders rückblickend ist es einfach, sich dem Spott über die absurde Saftpresse anzuschließen. Gerade angesichts der unverhältnismäßigen Kapitalmengen des Unternehmens lässt sich Juicero leicht kritisieren als Verkörperung kommerzialisierter Lifestyle-Narrative, ideologischer Exzentriken aus dem Silicon Valley oder dem Voranschreiten von Geschäftsmodellen, die danach trachten, Produkte in Dienstleistungen zu verwandeln. Die Saftpresse ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel für das, was Ian Bogost die »Kolonisierung bisher uncomputerisierter Dinge« (Bogost 2015, 97) nennt, die Integration von allerlei Objekten in den Bereich des Computings, ohne nennenswerte Verbesserungen auf Seiten der Kunden, aber mit deutlichem ökonomischen Nutzen und Machtgewinn für die Unternehmen.

Abseits von dieser direkten Kritik ist Juicero allerdings ebenfalls ein Paradebeispiel für ein bestimmtes Bild und bestimmte Annahmen über den Wert und die Rolle digitaler Medien und speziell Strukturen der Vernetzung. Wenn Juicero »Connectivity« zur Kernkomponente des Arrangements aus Apparat, Unternehmen und Kunden erklärt, dann ist damit offenkundig nicht irgendeine beliebige Form von Anbindung an ein größeres System gemeint. Wenn die Möglichkeit der Saftpresse, Daten an ein Smartphone zu senden, mit dem Slogan »Connect to Something Greater« (Juicero 2017a) glorifiziert wird, dann sind nicht die Anbindung des Geräts an das Stromnetz oder in umfassende logistische Kreisläufe entscheidend. Es geht stattdessen um die technische Verbindung zu anderen Computern, deren Mehrwert als geradezu selbsterklärend und selbstverständlich in Anspruch genommen wird.

Juicero ist in diesem Vorgehen kein Einzelfall. Vorschusslorbeeren für konnektive, smarte, synchronisierte oder in anderweitiger Form verknüpfte Apparate sind im Internet der Dinge keine Seltenheit (vgl. Manyika et al. 2015). Exemplarisch artikulierte die Firma Intel, im Zuge der Bewerbung ihrer IT-Dienstleistungen, eine vergleichbare Sicht auf digitale Medien und deren Vernetzung. 2018 formulierte das Unternehmen eine Vision des zukünftigen Internets der Dinge und der eigenen Rolle darin. Im Zentrum dieser Vision standen drei Schritte, von denen bereits der erste beträchtliche Ausmaße annahm: »first, we must connect the unconnected.« (Intel 2018). Immer mehr bisher unverbundene Apparate und Dinge sollten mit Sensoren ausgestattet, computerisiert und auf diese Weise technisch eingegliedert werden. Als zweiter Schritt folgte die Herstellung neuer, noch intensiver verbundener Apparate, mit von vornherein integrierter »Intelligenz« und »Konnektivität« als Wesensmerkmal. Auf dieser Grundlage wartete für Intel dann bereits Schritt drei, die Schaffung einer neuen Welt auf Basis eigenständiger, lernfähiger Technologien:

The IoT [Internet of things, T. O.] reaches its full potential with the creation of a software-defined autonomous world. […] Complex systems will have the power to operate freely, making decisions right where the data is collected. At this stage, the possibilities are endless. (Intel 2018)

Der Kurzschluss von technischer Konnektivität zu Hoffnungen auf eine neue Welt ist bezeichnend. Das Ziel einer stetigen Ausweitung technischer Konnektivität – in mancher Hinsicht eine digitale Neuauflage eines Projekts der »Restlosigkeit« (Krajewski 2006) – wirft die Frage nach dem Verbleib derjenigen Elemente auf, die nicht verbunden sind oder nicht verbunden werden können. Zumindest bei Intel jedoch verschwindet diese Frage hinter einer durchweg positiv besetzten Erwartung endloser Möglichkeiten. Diese bekommen die Position einer Gewissheit zugewiesen, die sicher erreicht werden kann, solange die Vernetzung computerisierter Dinge nur ausreichende Ausmaße annimmt. Geknüpft an die Vorstellung eines immer umfassenderen technischen Kollektivs, kommt hier eine äußerst optimistische Haltung gegenüber den zukünftigen Folgen von Informationstechnologien zum Vorschein. Noch prägnanter ausgedrückt wurde sie nur wenige Jahre zuvor, in einer vergleichbaren Zukunftsvision vom IT-Unternehmen Cisco: »As cows, water pipes, people, and even shoes, trees, and animals become connected to IoT, the world has the potential to become a better place.« (Evans 2011, 4)

Immer schon vernetzt