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Dieser Sammelband bildet den Abschluss der Reihe "Kohlhammer HR Competence", die sich mit aktuellen Herausforderungen des Personalwesens beschäftigt. Dieser Band befasst sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Digitalisierung der Arbeitswelt. Die fortschreitende Digitalisierung verändert natürlich auch das Personalmanagement. Während klassisch-administrative Aufgaben vereinfacht werden, entsteht gleichzeitig Raum für neue strategische und wertschöpfende Prozesse. Damit dieser Raum aber wirklich sinnvoll und zielführend gestaltet werden kann, muss sorgfältig strategisch geplant werden, welche Auswirkungen Digitalisierung für Führung, Entwicklung, Personaldiagnostik und viele weitere Felder des Personalmanagements hat. Nur durch ein reflektiertes Umgehen mit der Digitalisierung lassen sich auch ihre Möglichkeiten erschließen. Anregungen zu dieser Reflektion liefert dieser Band.
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Seitenzahl: 354
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Kohlhammer Human Resource Competence
Herausgegeben von Alexander Haubrock
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1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037387-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037388-4
epub: ISBN 978-3-17-037389-1
mobi: ISBN 978-3-17-037390-7
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Geleitwort des Herausgebers
1 Industrie 4.0 – Arbeitswelt 4.0: Konsequenzen für Arbeitsprozesse und Qualifizierung in der industriellen Produktion
1.1 Industrie 4.0 – Digitalisierung – Automatisierung
1.2 Studien zu Beschäftigungseffekten von Industrie 4.0 und Digitalisierung
1.3 Unterschiedliche technologische Strategien unter Industrie 4.0
1.3.1 Cyber-physische Systeme – komplexe Vollautomatisierung
1.3.2 Digitale Vernetzung – dezentrale Steuerung
1.3.3 Montage-Assistenzsysteme und Cobots
1.4 Rückkehr von Produktion nach Deutschland aufgrund von Digitalisierung
1.5 Die besondere Situation in der Automobilindustrie
1.6 Weitere technologische Einflussfaktoren auf die Arbeitswelt 4.0
1.7 Veränderung der Qualifikationsstruktur in der Produktion
1.8 Qualifizierung im Produktionsbereich unter Industrie 4.0
Literaturverzeichnis
2 Digitalisierung im personalstrategischen Kontext
2.1 Digitalisierung und Human Resources Management
2.2 Die personalstrategische Positionierung der Digitalisierung
2.2.1 HR-Kernstrategien
2.2.2 Automation vs. Innovation
2.3 Die HR-Handlungsfelder in der Digitalisierung
2.3.1 Agierende Handlungsfelder in der HR-Digitalisierung
2.3.1.1 Transformation der HR-Systeme
2.3.1.2 Automation der HR-Prozesse
2.3.1.3 Technologisierung der HR-Wertschöpfungskette
2.3.2 Reagierende Handlungsfelder in der HR-Digitalisierung
2.3.2.1 Aufbau einer digitalen Kultur
2.3.2.2 Wegbereitung für ein digitales Führungsverständnis
2.3.2.3 Analyse alter und neuer Berufsfelder
2.3.2.4 Entdeckung geeigneter Talente
2.3.2.5 Umgang mit der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsinhalten
2.3.2.6 Zusammenstellung und Interpretation von Daten
2.3.2.7 Entwicklung von «digitalen» HR-Kompetenzen
2.3.2.8 Beratung in Sachen Digitalisierung
2.4 Abschluss
Literaturverzeichnis
3 Digitalisierung und Personalentwicklung
3.1 Digitalisierung – zentraler Trend der VUKA-Welt
3.2 Digitale Transformation in Unternehmen
3.2.1 Arbeitsdefinition Digitalisierung in Unternehmen
3.2.2 Reifegrade der Digitalisierung in Unternehmen
3.2.3 Erfolgsfaktoren der Digitalisierung
3.3 Digitalisierung und New Work
3.3.1 New Work – eine Eingrenzung
3.3.2 New Work und Arbeitsgestaltung
3.3.3 New Work und Organisation
3.3.4 New Work und Führung
3.4 Belegschaften in digitalisierten Unternehmen
3.4.1 Strukturelle und qualitative Veränderungen in Belegschaften
3.4.2 Digitale Bildung als übergeordnete Anforderung an Mitarbeiter/innen in digitalisierten Unternehmen
3.4.3 Kompetenzen für Mitarbeiter/innen in digitalisierten New Work-Kontexten
3.5 Personalentwicklung in New Work-Kontexten
3.5.1 Neues Arbeiten und neues Lernen
3.5.2 Personalentwicklung als Leistungspartner in digitalisierten Unternehmen
3.5.3 Neue Rollen in der Personalentwicklung
Literaturverzeichnis
4 Kompetenzen, Führung und Organisation im digitalen Zeitalter
4.1 Einleitung
4.1.1 Definitorische Grundlagen
4.1.2 Relevanz des Themas
4.1.3 Stand Deutschlands im internationalen Vergleich
4.2 Kompetenzen für das digitale Zeitalter
4.2.1 Übersicht digitaler Soll-Kompetenzen
4.2.2 Einordnung in das KODE®-Modell
4.2.3 Trainingsformate für digitale Kompetenz
4.3 Wirksame Führung im digitalen Zeitalter
4.3.1 Stand der empirischen Führungsforschung
4.3.2 Neue Führungsansätze
4.4 Neue Rolle von HR in der Organisation im digitalen Zeitalter
4.4.1 Unterschiedliche Soll-Kompetenzprofile der HR-Leitung strategisch und operativ
4.4.2 Neurobiologische Unterschiede HR-Leitung strategisch und operativ
4.4.3 Unterschiedliche Zielgrößen für die HR-Leitung strategisch und operativ
4.4.4 Unterschiedliche Bezugsgrößen für die HR-Leitung strategisch und operativ
4.4.5 Unterschiedlicher Impact der Digitalisierung für die HR-Leitung strategisch und operativ
4.5 Fazit
Literaturverzeichnis
5 Transformationskompetenz – Welche Fähigkeiten brauchen Menschen und Organisationen zur erfolgreichen Gestaltung der digitalen Transformation und wie können diese gefördert werden?
5.1 Die Welt im Umbruch
5.1.1 Same procedure …?
5.1.2 VUCA
5.1.3 Industrie 4.0
5.1.4 Disruptive Innovationen
5.2 New Work oder No Work? Arbeit im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0
5.2.1 Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen
5.2.2 Herausforderungen für Menschen und Organisationen
5.3 Transformationskompetenz
5.3.1 Individuelle Transformationskompetenz
5.3.2 Manageriale Transformationskompetenz
5.3.3 Organisationale Transformationskompetenz
5.3.4 Transformationskompetenz fördern
5.4 Weitere förderliche Lern-Settings
5.5 Fazit
Literaturverzeichnis
6 Personaldiagnostik im digitalen Zeitalter
6.1 Kernkonzepte der künstlichen Intelligenz
6.1.1 Kurze Begriffsbestimmung
6.1.2 Künstliche Neuronale Netzwerke
6.1.3 Deep learning
6.1.4 Chancen beim Einsatz von deep learning
6.1.5 Risiken beim Einsatz von deep learning
6.2 Aktuelle Anwendungen
6.2.1 Scoring von Anschreiben
6.2.1.1 Allgemeine Methoden zur Persönlichkeitsbewertung aufgrund von Aufsätzen
6.2.1.2 Spezifische Systeme zur Bewertung von Bewerbungen
6.2.2 Social Media Monitoring
6.2.2.1 Manuelles Social Media Monitoring
6.2.2.2 Automatisches Social Media Monitoring
6.2.2.3 Rechtliche Aspekte des Social Media Monitorings
6.2.2.4 Reaktionen auf Social Media Monitoring
6.2.2.5 Fazit zum Social Media Monitoring
6.2.3 Automatisierte Bewerbungsinterviews
6.2.3.1 Bewertung von Bewerberantworten
6.2.3.2 Bewerberreaktionen auf digitale Interviews
6.2.3.3 Chatbots für Bewerbungen
6.2.4 Serious Games
6.3 Implementierung neuer diagnostischer Verfahren
6.4 Fazit
Literatur
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Sagen Sie: Wenn Sie dies jetzt lesen, halten Sie da ein Buch aus Papier in der Hand oder lesen Sie das Buch vielleicht auf Ihrem Tablett, PC oder gar Smartphone? Und falls Sie es zu Hause lesen, haben Sie da gerade noch Siri oder Alexa gesagt, dass Sie es gerne zwei Grad wärmer und das Licht etwas heller hätten, damit Sie sich in Ruhe diesem Buch widmen können?
Egal wie, Sie ahnen worauf ich hinaus will. Digitalisierung, die immer stärkere und deutlichere Interkation von Menschen und (teil-)intelligenten Maschinen und Werkzeugen, ist heute schon Alltag und wird natürlich auch die Zukunft bestimmen. Während wir aber privat entscheiden können, ob wir dieses Buch eben auf Papier oder digital lesen und ob oder ob nicht ein virtuelles Helferlein unser Licht, die Temperatur und die Rollos steuert, können wir dies in der Arbeitswelt längst nicht mehr so frei entscheiden. Aus vielfältigen Gründen können Unternehmen gar nicht anders, als sich immer stärker zu digitalisieren. Dies ist natürlich eine technische Herausforderung, aber auch eine der ganz großen Herausforderungen des Personalmanagements im 21. Jahrhundert. Digitalisierung eröffnet uns schier unendliche neue Möglichkeiten, auch im Personalmanagement. Eine große Auswahl an Möglichkeiten bedeuten aber in der Unternehmensrealität mindestens drei weitere Dinge: Wir müssen strategisch klug aus den Möglichkeiten wählen, die Menschen des Unternehmens mit den ausgewählten Möglichkeiten vertraut machen und sie mit und in diesen Möglichkeiten entwickeln.
Genau damit befasst sich der letzte Band der Reihe Human Resource Competence. In der Reihe haben wir uns mit den großen Trendthemen des Personalmanagements auseinandergesetzt: Führung, Personalentwicklung, demographischer Wandel, Organisationsentwicklung. Wir beschließen die Reihe nun mit einem Blick in die Zukunft des Personalmanagements – der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf die HR-Strategie, die Personalentwicklung, die Führung, die neuen Kompetenzen und die neuen Möglichkeiten.
Anders als in den vorhergehenden Bänden haben wir dieses Mal mehrere Autorinnen und Autoren beteiligt, um der Komplexität des Feldes gerecht werden zu können.
Da dieser Band dann auch die Reihe »Kohlhammer Human Resource Competence« beendet, möchte ich mich als Herausgeber noch einmal bei allen Autorinnen und Autoren aus der Reihe herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. Genauso gilt mein Dank dem Kohlhammer Verlag, der diese Reihe ermöglicht hat. Vor allem und insbesondere gilt mein Dank aber Ihnen, als Leserin und Leser des Bandes und der Reihe. Erst Ihr Interesse an diesem Themenfeld hat die Reihe ermöglicht. Genießen Sie also den letzten Band. Ich hoffe er verschafft Ihnen interessante Anregungen.
Bielefeld, Januar 2020
Alexander Haubrock
Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit den Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die industrielle Produktion, nicht mit dem Internet of Things. Um Konsequenzen für die Arbeitswelt 4.0 ableiten zu können, wird eine Systematisierung unterschiedlicher technologischer Strategien in der Umsetzung von Industrie 4.0 vorgeschlagen. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen unterscheiden sich fundamental. Unter anderem wird begründet, dass keineswegs alles digitalisiert wird, was digitalisiert werden kann. Systemgeleitete manuelle Montageprozesse sind ebenso eine Tendenz unter Industrie 4.0 wie Vollautomatisierung. Die Ausführungen werden durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht, damit die unterschiedlichen Konsequenzen für Arbeitsprozesse nachvollziehbar werden. Hinsichtlich der Qualifizierung wird gezeigt, dass aus künftigen Arbeitsprozessen keineswegs das Postulat einer unbestimmten Qualifizierung im Bereich Digitalisierung für alle folgt. Es wird gezeigt, dass das Thema Qualifizierung hochspezifisch anzugehen ist. Aus Sicht der betrieblichen Personalentwicklung in produzierenden Unternehmen wird für zielgruppenspezifische Maßnahmen argumentiert, die zur Vorbereitung auf und zur Umsetzung von Industrie 4.0-Verfahrensweisen notwendig sind. Im Fokus sind ausschließlich Mitarbeiter in der unmittelbaren Produktion, es geht nicht um die Mitarbeiter in Projektgruppen o. Ä., die die neuen Produktionsprozesse konzipieren; ebenso geht es nicht um Führungskräfte. Die hier zusammen getragenen Informationen sind z. T. hochaktuell, d. h. dass sich Schlussfolgerungen in einem volatilen Umfeld schnell ändern können. Außerdem werden hier keine Annahmen zu Veränderungen in der konjunkturellen Entwicklung getroffen.
Von Industrie 4.0 (Smart Factory) spricht man aufgrund der weithin geteilten Einschätzung, dass es sich bei den gegenwärtig beginnenden Veränderungen in den industriellen Produktionsprozessen um eine 4. Industrielle Revolution handelt (vgl. Bauernhansl, 2017; Plattform Industrie 4.0, 2019; Andelfinger/Hänisch, 2017). Das bedeutet, dass von disruptiven Entwicklungen auszugehen ist, die sich wesentlich von den schrittweisen und kontinuierlichen Veränderungsprozessen der jüngeren Vergangenheit in den letzten 20 Jahren unterscheiden. Der »Kontinuierliche Veränderungsprozess« (KVP) und ähnliche Verfahrensweisen in Produktion und Qualitätsmanagement stehen für diese nicht-disruptiven Entwicklungen in den vorangegangenen Jahren. Disruptiv bedeutet, dass sich großflächig Arbeitsprozesse in der industriellen Produktion fundamental verändern ( Kap. 1.5). Dies hat massive Konsequenzen für die Beschäftigungs- und Qualifikationsstruktur in den Betrieben.
Disruptiv bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sich gleichzeitig nahezu alle Arbeitsprozesse in der Produktion verändern. Es sind unter Industrie 4.0 auch Produktionssegmente zu fassen, die in sich vernetzt und hochautomatisiert ablaufen. Dies ist insbesondere in der mittelständischen Industrie zu beobachten, bei der häufig nur einzelne Produktionssegmente vollständig automatisiert werden (vgl. Bauernhansl, 2016). Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bedeutet eine disruptive Entwicklung nicht, dass nahezu gleichzeitig in allen Unternehmen und Branchen fundamentale Veränderungen stattfinden. Dieser Prozess wird sich – soweit dies heute absehbar ist – auf die nächsten 10 bis 15 Jahre erstrecken, in Summe wird er jedoch zu erheblichen negativen Beschäftigungseffekten und zu Umschichtungen in der Beschäftigungsstruktur führen. Außerdem ist seit Jahren zu beobachten, dass die Innovationsgeschwindigkeit kontinuierlich zunimmt. Das offensichtlichste Beispiel ist der Siegeszug des Smartphones, welches in nur sieben Jahren viele neue Geschäftsmodelle ermöglicht hat.
Von IIoT (Industrial Internet of Things) spricht man, wenn die digitale Vernetzung den industriellen Wertschöpfungsprozess umfasst, also die Steuerung und Überwachung von Produktionsprozessen vor allem mittels einer umfassenden und intelligenten Sensorik und der entsprechenden Verarbeitung aller Daten über Betriebszustände und Werkzeuge. Idealer Weise umfasst IIoT den gesamten Wertschöpfungsprozess vom Kunden über die Produktion bis zur Auslieferung und mehr. Dies ist heute noch Zukunftsmusik, denn es unterstellt einen umfassend vernetzten Produktionsprozess, über den die meisten Unternehmen in naher Zukunft nicht verfügen werden.
Kernstück des Begriffs Industrie 4.0 ist die umfassende und echtzeitnahe digitale Vernetzung der Strukturen und Prozesse mit der physischen Welt der Werkzeuge und Produkte, also ein cyber-physisches System (CPS) (vgl. Fraunhofer IPA, 2014). Daher ist der allgemein gebräuchliche Begriff der »Digitalisierung« streng genommen unzutreffend. Denn Digitalisierung kennzeichnete bereits die 3. Industrielle Revolution, als über Speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) teilautomatisierte Montageprozesse in der Linienfertigung (CIM) implementiert wurden (vgl. Schallow/Hengstebeck/Deuse, 2018). Interessant ist, dass diese 3. Industrielle Revolution in den 1980er Jahren ohne wesentliche öffentliche Resonanz ablief. Es kam seiner Zeit kaum zu Beschäftigungsverlusten, da der Produktivitätsgewinn von einer Ausweitung des Produktionsumfangs begleitet war. »Digitalisierung« in großflächigem Einsatz in der Produktion kennen wir also bereits seit den 1980er Jahren. Digitalisierung, wie wir sie heute kennen, bedeutet Konnektivität der Produktionssysteme, und digitale Steuerung bedeutet Datenaustausch. Plakativ formuliert: Digitalisierung benötigt keine Roboter, sondern Daten!
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Automatisierung. Auch dies ist kein neues Phänomen, z. B. sind programmierbare Schweißroboter in der Automobilindustrie seit mehr als 25 Jahren im Einsatz. Vor allem sollte man sich von der Vorstellung trennen, dass Automatisierung unter Industrie 4.0 gleichbedeutend mit dem Bild der »menschenleeren Fabrik« wäre (vgl. Gerdenitsch/Korunka, 2019). Gleichwohl gibt es die Fabrik ohne menschliche Arbeitskraft – annähernd – bereits heute. Auch Systeme der manuellen Montage in Montageinseln sind über Montage-Assistenzsysteme umfassend vernetzt (mit oder ohne Roboter, Kap. 1.3.3) und damit eine Anwendung von Industrie 4.0.
Es ist nicht die Frage, ob »wir« die Entwicklung hin zu einer Industrie 4.0 wollen oder nicht. Industrie 4.0 ist längst in der Realität der produzierenden Unternehmen angekommen, auch wenn die Auswirkungen in der Breite der Produktion (noch) kaum wahrnehmbar sind. Daher müssen sich alle betrieblichen Funktionen wie auch das Human Resources Management auf die Linien der Veränderung einstellen. Dies ist keine Frage von Prognosen, denn die technischen Möglichkeiten sind einsatzreif und auf Automatisierungsmessen und entsprechenden Tagungen in Augenschein zu nehmen. Die Entwicklung ist unumkehrbar – es kommt darauf an, die Chancen zu nutzen (vgl. Bauernhansl, 2017; Kagermann, 2017).
Gleichwohl sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der 4. Industriellen Revolution kritisch zu hinterfragen. Ein Wegfall von Arbeitstätigkeiten ist per se keineswegs negativ. Dies könnte neue Freiheiten für die Menschen ermöglichen (vgl. z. B. Precht, 2018). Negativ ist der Verlust von Arbeitstätigkeiten allerdings unter der Prämisse, dass dies gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit der Betroffenen sei. So wirft Industrie 4.0 grundlegende gesellschaftspolitische Fragestellungen auf. In diesem Beitrag werden jedoch ausschließlich die betrieblichen Perspektiven analysiert.
»Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert« (Carly Fiorina, bis 2005 CEO von Hewlett-Packard). Diese plakative und häufig zitierte Aussage bildet eine Basisannahme für zahlreiche Studien zu negativen Beschäftigungseffekten von Industrie 4.0. Trotzdem ist diese Aussage nur teilweise zutreffend und ist zu ergänzen um den Aspekt, »was betriebswirtschaftlich sinnvoll digitalisiert werden kann.« Die Investitionskosten und vor allem ihre Rentabilität sind für großflächige Industrie 4.0 Anwendungen oft nur schwer zu berechnen. Andererseits sind z. B. stationäre, programmierbare Industrieroboter in den letzten Jahren immer preiswerter geworden, sodass das erforderliche Investitionsvolumen in bestimmten Segmenten in den kommenden Jahren rückläufig sein dürfte. Daher ist die plakative Aussage von Fiorina in der Tendenz durchaus nicht falsch.
In den meisten Studien wird untersucht, welche Arbeitstätigkeiten in einzelnen Berufsgruppen überwiegend in einfachen, repetitiven Prozessen bestehen. Diese können aus manuellen Routinetätigkeiten oder auch geistigen Tätigkeiten bestehen (z. B. können einfache Programmieraufgaben von Maschinen übernommen werden). Diese Tätigkeiten werden als durch Digitalisierung substituierbar angesehen.
Starke öffentliche Reaktionen löste die erste Studie zu Beschäftigungseffekten in Folge von Digitalisierung aus, die Studie von Frey & Osborne (2013) für die USA und die Übertragung der Ergebnisse auf Deutschland durch ING Diba Economic Research (Brzeski et al., 2015; vgl. Bonin et al., 2015). Das kurz gefasstes Resultat: 18,3 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland seien in den nächsten zehn bis 20 Jahren durch »Robotisierung« gefährdet. Ähnlich skeptisch hinsichtlich einer negativen Beschäftigungsentwicklung in der nahen Zukunft fällt die Studie des World Economic Forum (WEF, Davos, 2016) aus. Im Unterschied hierzu geht Müller (KfW Research, 2019) mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung der Vergangenheit nicht von einer disruptiven Entwicklung durch Digitalisierung aus: »Der Strukturwandel hat sich verlangsamt« (Müller, 2019, S. 4). Nur, der Strukturwandel durch Digitalisierung hat heute in der Fläche der Unternehmen in Deutschland noch gar nicht stattgefunden, wie sollte man ihn anhand makroökonomischer Daten messen können?
Der Prognose einer negativen Beschäftigungsentwicklung entgegengesetzte Resultate berichtet die ZEW-Studie 2018 (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim; Arntz et al., 2018). Nach dieser Studie sind Beschäftigungsverluste vor allem bei Berufen mit Routinetätigkeiten zu erwarten, jedoch deutliche Zuwächse bei analytischen und interaktiven Berufen (u. a. im Gesundheitsbereich). Methodisch-kritisch ist anzumerken, dass die zugrundeliegenden Interviewdaten aus dem Jahr 2016 stammen. Außerdem wurde die Beschäftigungsentwicklung aufgrund von Technologieinvestitionen von 2011-2016 mit einem Plus von 0,2 % p.a. berechnet und auf einen Zuwachs von 0,4 % p.a. für 2016-2021 hochgerechnet. So resümiert die Studie, dass der digitale Wandel mehr Arbeitsplätze schaffe als er zerstört, jedoch die Beschäftigungsstruktur stark verändert. Nota: Diese Prognose bezieht sich auf die Zeit bis 2021. In dieser Zeit benötigen viele Unternehmen zusätzliches Personal, um neue Angebote und Prozesse in der digitalen Welt aufzubauen.
Ein interessantes Nebenergebnis besteht darin, dass Investitionen in digitale Technologien eine soziale Ungleichheit mitverursachen. In erster Linie profitierten Hochlohn-Berufe in Form höherer Beschäftigungs- und Lohnzugewinne von neuen Technologien, während durchschnittlich und niedrig entlohnte Berufe und Sektoren zurückfielen (Arntz et al., 2018). Dies stützt die Polarisierungshypothese ( Kap. 1.7).
Die methodisch anspruchsvollsten Studien zur Beschäftigungsentwicklung unter »Wirtschaft 4.0« stammen vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BBIB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (BBIB-IAB-Studien, Wolter et al., 2015, 2016, 2019). Bemerkenswert ist die differenzierte Betrachtung der Effekte in 50 Berufsfeldern und in 63 Wirtschaftszweigen. Zutreffender Weise sprechen diese Studien von »Substituierbarkeit« von Arbeitstätigkeiten und nicht vom Wegfallen von Jobs (vgl. Dengler et al., 2015, 2018). Ob eine Tätigkeit (ein Arbeitsplatz) tatsächlich durch digitale Technologien ersetzt wird, ist eine betriebswirtschaftliche Entscheidung der Unternehmen und eine Entscheidung, die sich auf unterschiedliche technologische Strategien unter Industrie 4.0 bezieht ( Kap. 1.3). Die folgende Grafik beruht auf einer Basisprojektion unter Berücksichtigung zahlreicher Annahmen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ( Abb. 1).
Im Fazit prognostizieren die Studien moderate Beschäftigungsverluste von nur 60.000 Arbeitstätigkeiten bis 2030. In einer neuen Studie von 2019 (Wolter et al., 2019) gehen die Autoren jedoch von einem Plus von 200.000 Arbeitsplätzen bis 2030 aus. Die Autoren veränderten die Projektion unter der Annahme, dass die Umsetzung von Wirtschaft 4.0 deutlich längere Zeit in Anspruch nehmen wird, als bisher zugrunde gelegt. Erst bis zum Jahr 2035 sehen sie einen negativen Saldo, einen Verlust von rund 600.000 Arbeitsplätzen. Eine durchaus erhebliche und gesellschaftlich relevante Größenordnung! Weiterhin wurden die Beschäftigungseffekte im Jahr 2018 mit dem Jahr 2030 verglichen. »In der digitalisierten Welt wird es im Jahr 2030 einerseits 2.542.000 Arbeitsplätze, die 2018 noch vorhanden sind, nicht mehr geben. Andererseits werden im Wirtschaft-4.0-Szenario ebenfalls 2.768.000 Arbeitsplätze entstanden sein, die 2018 noch nicht existieren.« (Wolter et al., 2019, S. 8).
Abb. 1: BIBB/IAB-Studie zu Wirtschaft 4.0: Moderate Beschäftigungsverluste im Saldo. Erwerbstätige im Durchschnitt pro Jahr in 1000, Prognose der Beschäftigungseffekte im Vergleich zur Basisprojektion (Quelle: Wolter et al., 2016, S. 61)
Gesamtgesellschaftlich gesehen bleibt das große Fragezeichen, wie die 2,5 Millionen Jobs, die bis 2030 entfallen könnten, in ebensolchem Ausmaß in Tätigkeiten konvertiert werden können, in denen ein entsprechend hoher Bedarf besteht. Können wir realistischer Weise davon ausgehen, dass Produktionsmitarbeiter oder administrative Sachbearbeiter in dieser Quantität zu Kranken- und Altenpflegern, zu Ärzten oder zu IT-Spezialisten umgeschult werden können? Bezogen auf die industrielle Produktion geht die IAB-Studie (2016) von einem Substituierbarkeitspotenzial von 73 % der Arbeitsplätze in der Fertigung aus.
In der Öffentlichkeit werden die BBIB-IAB-Studien häufig als Entwarnung gesehen, so schlimm werde es nicht kommen. Nach diesen Daten besteht jedoch keinerlei Grund für eine Entwarnung. Mehr noch: Den Studien liegen Annahmen zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zugrunde, die von einem weiter wachsenden Exportanteil der deutschen Wirtschaft ausgehen. »Deutschland hat bei der Umstellung auf eine Wirtschaft 4.0 weltweit eine Vorreiterrolle inne. Das Ausland reagiert mit einer Verzögerung von fünf Jahren (temporäre Monopolgewinne). Auch wenn Deutschland aktuell zwar schwach digitalisiert ist, wird hier aber Wirtschaft-4.0-Technologie wie z. B. Sensortechnik hergestellt.« (Wolter et al., 2019, S. 19). Dies sind Annahmen, die Mitte des Jahres 2019 unter der beginnenden Exportkrise fragwürdig sind und vor allem den Einfluss der Wirtschaftsentwicklung in China nicht berücksichtigen. Idealerweise (oder idealistisch gesehen) ist die Konversion der Tätigkeiten das zentrale Zukunftsproblem. Bestätigt wir dies auch durch die weltweite OECD-Studie 2018: Future of Work, nach der in Deutschland 18 % der Tätigkeiten durch Automatisierung massiv betroffen sind (vermutlich entfallen) und 54 % der Tätigkeiten erheblich betroffen sind ( Abb. 2).
Abb. 2: OECD-Studie 2018: Future of Work. Anteil der Stellen, die von Automatisierung betroffen sind, weil die Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden können (Quelle: OECD-Studie, 2018, S. 2)
Ein interessantes Nebenergebnis im internationalen Vergleich besteht darin, dass Geringqualifizierte in den meisten Ländern wenig Weiterbildung erhalten. Positive Ausnahmen sind Norwegen, Finnland und Dänemark mit ca. 30 Stunden Weiterbildung pro Jahr. Deutschland liegt am unteren Ende der Tabelle mit ca. 10 Stunden Weiterbildung jährlich und wird nur noch unterboten von der Slowakei, der Türkei, von Griechenland und Polen.
Im Fazit zu den Studien zur Beschäftigungsentwicklung unter Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung: Die genannten Studien widersprechen sich im Kern nur in ihrer optimistischen oder pessimistischen Ergebnisinterpretation. In der Substanz zeigen sie eine ernstzunehmende Entwicklung, die im Wegfall vieler Arbeitstätigkeiten in der industriellen Produktion (und auch in der Administration) gekennzeichnet sein wird. Die prognostizierten Zuwächse an Beschäftigung in heute schon bekannten Mangelberufen (IT-Spezialisten, Gesundheitswesen, Altenpflege) können nicht zur Beruhigung dienen. Eher stellt sich das gesellschaftliche Problem, wie den Engpässe in diesen Berufsfeldern nachhaltig entgegengewirkt werden kann. Kurzfristig, etwa bis 2021 oder länger, wird zusätzliches Personal benötigt, um neue Geschäftsfelder in einer digitalisierten Wirtschaft aufzubauen (z. B. Mobilitätsdienstleistungen). Daher ist das Ergebnis der ZEW-Studie, die Zunahme von Beschäftigung bis 2021 im Saldo, nicht überraschend.
Andererseits: Es wird nicht alles digitalisiert, was digitalisiert werden kann – zumindest nicht in den nächsten 20 Jahren. Das bedeutet, dass in der industriellen Produktion weiterhin manuelle Montageprozesse anfallen werden – gerade auch unter Industrie 4.0-Anwendugen ( Kap. 1.3.3). Natürlich unterliegen diese Anwendungen einer starken Rationalisierungsintention, die von einer substanziellen Einsparung an Personal um 20 % bis 30 % begleitet ist, soweit das Produktionsvolumen nicht ausgeweitet werden kann.
Der wesentliche Faktor einer nachlassenden konjunkturellen Entwicklung wird bei den zitierten Studien nicht berücksichtigt – und konnte natürlich zum Zeitpunkt der Durchführung der Studien nicht berücksichtigt werden. Derzeit, im September 2019, steht die produzierende Industrie vor einem konjunkturellen Einbruch. Eine Ausweitung des Produktionsvolumens, insbesondere im Export, ist nicht in Sicht. Die Kernbereiche der Industrie in Deutschland, sowohl der Maschinenbau als auch die Automobilindustrie, stehen vor deutlichen Umsatzeinbrüchen erstmals seit zehn Jahren. Diese werden befördert durch die Unsicherheit im internationalen Handelsverkehr, der Konflikte zwischen den USA und China, der sich abschwächenden Binnenkonjunktur in China sowie dem drohenden Brexit. Dies sind jedoch nur äußere Faktoren. Der Maschinenbau ist seit jeher ein Frühindikator für konjunkturelle Einbrüche. Bereits 2018 verzeichnete der stark exportorientierte Maschinenbau deutliche Einbrüche, auch verursacht durch eine unzureichende Produktivität im internationalen Vergleich. Im 2. Quartal 2019 war sogar ein Auftragsrückgang um 9 % im Vergleich zum Vorjahreswert zu verzeichnen (vgl. Welt, 29.07.2019).
Wie sich die aktuellen konjunkturellen Bedingungen auswirken werden, ist teilweise spekulativ. Vermutlich werden die notwendigen Investitionen für Industrie 4.0 Anwendungen zunächst zurückgefahren. Im Stadium der Krisenbewältigung werden die Investitionen der überlebenden Unternehmen unter Rationalisierungsgesichtspunkten wieder hochgefahren – so sind jedenfalls die Erfahrungen aus vorangegangenen konjunkturellen Krisen. Ob dies insgesamt zu einer Beschleunigung von Industrie 4.0-Prozessen führt oder zu einer Verlangsamung, das wird man verlässlich erst in einigen Jahren beurteilen können. Vermutlich aber führt eine konjunkturelle Krise eher zu einer Beschleunigung der Transformationsprozesse in der Industrie. Der Grund für diese Annahme ist naheliegend: Sind Unternehmen erfolgreich, fehlt es oft an der Bereitschaft für Veränderungen – und einschneidende Veränderungen setzen einen starken Handlungsdruck voraus.
Unter Industrie 4.0 werden in der Praxis und in der Literatur höchst unterschiedliche technologische Strategien zusammengefasst. Dies ist auch der Grund dafür, warum die Rolle menschlicher Arbeit unter Industrie 4.0 so unterschiedlich diskutiert wird, z. B.: »Roboter erleichtern dem Menschen die Arbeit (Ergonomie)«; »Roboter nehmen dem Menschen die Arbeit weg«, »der Mensch hat in der Produktion nichts mehr zu tun – er ist auf Prozesse der Erst-Einrichtung, der Überwachung und Wartung begrenzt«, »Kollege Roboter arbeitet mit dem Menschen zusammen«. All dies ist richtig oder falsch – jeweils abhängig von der von einem Unternehmen gewählten technologischen Strategie. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Beschäftigungseffekte in ihrem Ausmaß erheblich, ebenso die Qualifizierungsnotwendigkeiten. Die HR-Funktion muss sich mit den Produktionstechnologien in einem Unternehmen tiefgehend auseinandersetzen, um Veränderungsprozesse qualifiziert und zielführend begleiten zu können.
Im Folgenden wird eine Systematisierung der unterschiedlichen technologischen Strategien unter Industrie 4.0 vorgeschlagen (vgl. Bergmann, 2016):
1. Cyber-physische Systeme / komplexe Vollautomatisierung: Cyber-physische Systeme ermöglichen eine komplexe Vollautomatisierung durch umfassende Vernetzung entlang der Wertschöpfungskette mit intelligenter, digitaler dezentraler Steuerung. Maschinen und Produkte kommunizieren drahtlos miteinander, z. B. via RFID-Chip oder per WLAN nach dem 5G-Standard.
→ Maschine-Maschine-Interaktion
2. Digitale Vernetzung / dezentrale Steuerung: Digitale Vernetzung und Vollautomatisierung betreffen nur einzelne Produktionssegmente. Die dezentrale Produktionssteuerung sowie Prozessoptimierung erfolgt durch Operator (z. B. Prozesssteuerung via Tablet).
→ Mensch-Maschine-Interaktion
3. Montage-Assistenzsysteme und Cobots (kollaborierende Roboter) unterstützen menschliche Arbeit mit dem Ziel fehlerfreier Montageprozesse und ergonomischer Verbesserung. Diese Assistenzsysteme sind systemgeleitet und umfassend vernetzt. Damit handelt es sich um Industrie 4.0 Anwendungen in einer modularen Produktionsstruktur.
→ Mensch-Maschine-Kollaboration
Diese technologischen Strategien werden nachfolgend durch Beispiele unterlegt, damit die daraus resultierenden unterschiedlichen Arbeitsprozesse in der Produktion nachvollziehbar sind.
Verbreitung in der Produktionspraxis haben solche cyber-physischen Systeme bisher in der Verfahrenstechnik gefunden, also der Verarbeitung von Flüssigkeiten und Gasen. Entsprechende Anlagen ermöglichen eine Losgröße 1 und damit eine flexible oder auch individualisierte Produktion. Außerdem spricht die Verarbeitung von Gefahrstoffen für ein geschlossenes System, in dem menschliche Arbeitskraft nicht in einen laufenden Prozess eingreifen muss.
Ein Beispiel einer vollautomatisierten Produktions- und Abfüllanlage liefert Festo: »Heute tausende von Parfümflacons abfüllen und verpacken, morgen nur einige wenige Cremetuben und übermorgen Losgröße 1 – alles auf ein- und derselben Anlage. Wie das geht, zeigt das Multi-Carrier-System MCS®, ein Gemeinschaftsprojekt von Festo und Siemens, realisiert in einer Abfüll- und Verpackungsmaschine von Optima.« (Festo, 2015, S. 24). Auch in größerem Produktionsmaßstab sind Industrie 4.0 Anwendungen in der Spezialchemie stark im Kommen (vgl. Efker, 2019).
Ein allseits bekanntes und seit Jahren erprobtes Beispiel stammt aus der Druckindustrie, die Produktion von Fotobüchern, Fotokalendern u.Ä. Hier handelt es sich um eine Web-to-Print Anwendung, denn der Kunde stellt selbst sein Fotobuch zusammen, dies läuft in eine vollautomatisierte Produktion einschließlich Verpackung, Versand und Rechnungsstellung. Nur noch wenige Operatoren initialisieren und überwachen diesen Prozess am Produktionsort. Ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist »Time-to-Market«, also die Schnelligkeit, mit der die individualisierten Produkte den Kunden erreichen. Cyber-physische Systeme der Vollautomatisierung kennt also bereits jeder aus dem Alltag – und nutzt gerne die günstigen Preise.
Auch die »menschenleere Fabrik« in Sinne des Wortes existiert bereits – und zwar in China. Das chinesische Unternehmen Foxconn montiert in Guiyang im Südwesten Chinas Smartphones vieler Hersteller (u. a. iPhone, Samsung) in einer »Dark Factory«. In dieser Fabrik gibt es keine Beleuchtung, da hier kein Mensch tätig ist. Ein Produktionsprozess, in dem zuvor ca. 1.500 Mitarbeiter tätig waren, wird von nur einer Person überwacht. »Foxconn replaced 60,000 factory workers with robots in one factory.« (BBC News online, 25.05.2016). Am Rande sei erwähnt, dass es sich bei Foxconn um jenes Unternehmen handelt, welches in den Jahren 2015 und 2016 aufgrund der hohen Selbstmordrate von Mitarbeitern in öffentliche Kritik geriet. Die Auflösung menschenunwürdiger Montage-Arbeitsplätze sollte man nicht unbedingt negativ bewerten. Auch in anderen Staaten der Neo-Industrialisierung setzt man auf eine (tendenzielle) Vollautomatisierung wie z. B. bei Tata Motors, Indien, wo u. a. Mercedes Sprinter in Lizenz gebaut werden. Treiber hierfür ist nicht eine Einsparung an Arbeitskosten, sondern die Qualität.
Blicken wir nach Deutschland. Siemens ist das deutsche Unternehmen, welches vollautomatisierte Produktionsprozesse als Geschäftsfeld vorantreibt (Siemens Steuerungssoftware Mindsphere). Nicht erstaunlich also, dass Siemens in der eigenen Fabrikation von Elektronik-Bauteilen, im Werk Amberg, diese Strategie konsequent umsetzt – Produkte kommunizieren mit Maschinen, sämtliche Prozesse sind IT-optimiert und gesteuert, einschließlich der Qualitäts-und Funktionskontrolle. »Bei der Produktion von Simatic-Produkten in Amberg hat die Einbindung von Edge Computing, Artificial Intelligence und Mindsphere bei der Qualitätsprüfung von Leiterplatten durch Röntgengeräte ihre Vorteile gezeigt: Dadurch konnte die Anzahl erforderlicher Endkontrollen deutlich gesenkt werden« (Siemens Pressemitteilung zur Hannover Messe 2019). Natürlich ist die Fertigung nicht »menschenleer«, vergleichsweise wenige Operatoren werden nach wie vor eingesetzt.
Einen weiteren Treiber für Vollautomatisierung unter Industrie 4.0 stellt die Mikrosystemtechnik dar. Bauteile, vor allem elektronische Bauteile, werden immer kleiner. Die Herstellung von kleinen Bauteilen ist eine Herausforderung für eine präzise Positionierung der Teile, die sich immer mehr in den μm-Bereich verlagern. Die Mikromontage ist daher der teuerste Fertigungsschritt. Für solche Mikromontageprozesse ist eine rein manuelle Montage zunehmend weniger geeignet.
Infineon konnte im Werk Dresden 2018 einen vierjährigen Transformationsprozess zu einer vollautomatisierten Chip-Fertigung abschließen. Es handelt sich um eine Hochvolumen-Fertigung von Halbleitern (300 mm Wafer), eine weitgehend vollautomatisierte Produktion, in der alle Prozesse IT-gesteuert sind, inklusive des Einsatzes von Robotern und eines schienengeführten Transportsystems. Hinsichtlich der vollautomatisierten Produktion von 200 mm Wafern spricht Infineon von einer Personalkosteneinsparung um 75 %. Weiterhin sind Operatoren bei der Initialisierung und Überwachung der Anlagen tätig (Heinrich, 2018). Ein entscheidender Treiber für Vollautomatisierung ist bei Infineon nicht die Personalkosteneinsparung, sondern die Stabilität der Produktionsprozesse. Denn bei einer Reinraumfertigung stellt der Mensch das größte »Verschmutzungsrisiko« dar, welches ganze Chargen vernichten kann.
Das Beispiel Infineon zeigt auch, dass diese Transformation nicht zwangsläufig von einem Verlust an Arbeitsplätzen begleitet ist. Infineon Dresden gewann 2017 den Preis der Zeitschrift »Produktion« und der Unternehmensberatung A.T. Kearney »Fabrik des Jahres 2017« in der Kategorie »Standortsicherung durch Digitalisierung« (ca. 2000 Mitarbeiter am Standort Dresden). Nach der gleichen Produktionsarchitektur errichtete Infineon ein weiteres Werk im österreichischen Villach für die 300 mm Wafer-Chip-Produktion. Im Endausbau Anfang 2021 sollen hier ca. 400 Mitarbeiter, davon rund 200 in der Produktion, tätig sein – dies bei 60.000 m2 Produktionsfläche und einem Umsatzpotenzial von jährlich 1,8 Milliarden €. Die Strategie von Infineon besteht darin, weitere Werke weltweit nach den gleichen Produktionsstandards aufzubauen. Ein weiterer Treiber für Vollautomatisierung ist demzufolge eine global einheitliche Produktionsstruktur, mit der Fabrikauslastungen weltweit »auf Knopfdruck« gesteuert werden können. Das Infineon Werk Dresden ermöglicht auch einen Blick auf die Veränderung der Arbeitstätigkeiten und der notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen bei einem solchen Transformationsprozess. Eine Tätigkeitsanalyse erbrachte folgende Veränderungen für die Funktion »Operator«:
• der Anteil körperlicher Arbeit sinkt durch den Wegfall einfacher Tätigkeiten,
• Erhöhung der Anteile von Analyse und Entscheidung,
• mehr Verantwortung und Spezialisierung,
• höhere Qualifizierung der Operatoren notwendig.
Zu berücksichtigen ist, dass dieses Profil für 25 % der bisher tätigen Mitarbeiter gilt. Das Beispiel beschreibt jedoch sehr gut die Tendenz hinsichtlich der Veränderung der Arbeitstätigkeiten unter dem Paradigma Industrie 4.0.
Es lässt sich als Fazit zu den Konsequenzen der technologischen Strategie (1) Cyber-Physische Systeme/ komplexe Vollautomatisierung für die Mitarbeiter in der Produktion, die idealtypisch formuliert als Operatoren fungieren, festhalten:
• Maschine-Maschine-Interaktion: Maschinen und Produkte kommunizieren drahtlos mittels RFID-Chip oder WLAN miteinander, eine dezentrale intelligente Steuerung. Diese umfasst auch die gesamte Produktionslogistik, von der Materialzuführung über wegeautonome Transportsysteme bis zur Ansteuerung des nächsten Produktionsschritts.
• Aufgaben für Operatoren: Die Initialisierung eines Produktionsprozesses und seine Überwachung (ausgenommen zunächst der Sonderfall Predictive Maintenance).
• Die Beschäftigungsverluste sind erheblich, über 70 % der Arbeitstätigkeiten könnten entfallen, wie es in der IAB-Studie 2016 prognostiziert wurde. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass das Produktionsvolumen in einer gegebenen wirtschaftlichen Situation nicht ausgeweitet wird.
• Für die verbleibenden Mitarbeiter im Produktionsbereich verändern sich die Job-Profile drastisch in der Richtung: höhere Verantwortung, Prozessverständnis und Entscheidungskompetenz sowie maschinenbezogenes, spezialisiertes Fachwissen – dies auf Basis einer hohen IT-Anwendungskompetenz.
• Einfache bzw. repetitive manuelle Tätigkeiten entfallen weitgehend.
Unter der technologischen Strategie (3) Montage-Assistenzsystem und Cobots zeichnet sich ein völlig anders Bild ab. Zunächst jedoch zur technologischen Strategie (2)
Hier handelt es sich nicht um eine umfassende Automatisierung aller Prozessschritte durch die Digitalisierung, sondern um eine partielle Automatisierung. Die Gesamtsteuerung liegt bei Operatoren, die den nächsten Produktionsschritt über digitale Steuerung auslösen, ihn disponieren und auch optimieren. Für die anderen Mitarbeiter in der Produktion in nicht automatisierten Montageprozessen ändert sich ihre Tätigkeit nicht wesentlich. Auch abgesehen von partiell vollautomatisierten Prozessen handelt es sich um eine Industrie 4.0-Anwendung, denn der gesamte Produktionsprozess muss digital abgebildet werden, damit eine dezentrale Steuerung möglich ist. Besonders für mittelständische Unternehmen ist diese Produktionsform attraktiv, denn es ist oft nicht möglich, einen komplexen Produktionsprozess insgesamt zu automatisieren.
Außerdem ist dieser »große Wurf« bei einem vorhandenen Maschinenpark oft nicht möglich, da insbesondere ältere Maschinen nicht mit der erforderlichen (Mess-)Sensorik zur Zustands- und Prozessüberwachung ausgestattet sind. Ein grundsätzliches Problem liegt nach wie vor darin, dass ein geschlossenes cyber-physisches System gemeinsame Protokolle aller involvierten Produktionssegmente und -werkzeuge erfordert. Die »gemeinsame Sprache« für Industrie 4.0-Anwendungen existiert zum heutigen Zeitpunkt noch nicht, wenngleich schon viele Versuche der Standardisierung und Normung unternommen wurden. Dies ist ein schwieriges Feld aufgrund der Konkurrenz der großen Automatisierungsanbieter weltweit.
Zu partieller Automatisierung einige Beispiele: Gigaset produziert im Werk Bocholt seit 2018 wieder Smartphones der Modellreihe GS 185, allerdings nur in der Endmontage. Das angestrebte Produktionsvolumen ist mit 100.000 Smartphones jährlich eher bescheiden im Vergleich zu den großen Herstellern. Die Komponenten werden weiterhin in Asien produziert. Die Präzisionsmontage des Positionierens und Verschraubens der Komponenten erfolgt durch stationäre Roboter (partielle Vollautomatisierung). Das Verlegen von Kabeln und das Verpacken erfolgt durch menschliche Arbeitskraft. Die Fehler- und Ausschussquote ist deutlich niedriger als bei der bisherigen manuellen Montage in Asien, die Produktionskosten liegen jedoch nicht höher. Die Anzahl der Stellen in der Endmontage beläuft sich auf 24 Mitarbeiter im 3-Schicht-Betrieb für das beabsichtigte Produktionsvolumen von 100.000 Smartphones. Auf zehn Mitarbeiter in der Fließbandfertigung in Asien kommt jetzt ein Mitarbeiter in der automatisierten Endmontage in Bocholt. Treiber für die Rückverlagerung der Endmontage nach Deutschland waren die Qualität und Time-to-Market, denn Gigaset kann mit einer schnellen Lieferung für Anbieter von Telekommunikations-Verträgen punkten. Außerdem kann ein firmenspezifisches Customizing für Großkunden erfolgen (Gigaset-Pressemitteilung, 25.05.2018). Produktionstechnisch interessant ist ein Detail, nämlich dass das Verlegen von Kabeln durch menschliche Arbeitskraft erfolgt. Tatsächlich können moderne Roboter heute nahezu alles (die Montage in der Produktion betreffend), was Menschen auch können. Einen Nachteil haben Roboter in diesem Bereich allerdings: Sie sind weniger gut in der Lage, sogenannte biege-schlaffe Materialien (Kabel, Schläuche) zu verarbeiten.
Hinsichtlich einer großindustriellen Serienfertigung nach der technologischen Strategie (2) finden sich wenige Beispiele. Den Karosseriebau für E-Modelle im BMW-Werk Leipzig könnte man dazu zählen. Hier wird seit 2015 das in Deutschland erste Großserien-Elektromodell von BMW gebaut, also noch zu einem recht frühen Zeitpunkt der Entwicklung von Industrie 4.0-Anwendugen. Eine Impression aus der Presse: »Menschen sind in der Karosseriebau-Halle des Leipziger BMW-Werks eine Randerscheinung. Hier, wo der Autobauer seine Elektromodelle i3 und i9 montiert, regieren die orangefarbenen Kuka-Roboter. Sie greifen, heben und verkleben Leichtbauteile (…), die einige Meter weiter mit dem Fahrwerk und Elektroantrieb des Autos verbunden werden. Die wenigen Mitarbeiter, die man in der erstaunlich ruhigen Halle entdeckt, schauen auf Displays und kontrollieren, dass alles mit rechten Dingen zugeht« (Tagesspiegel, 08.01.2018).
Als Fazit zu den Konsequenzen der technologischen Strategie (2) Digitale Vernetzung/ dezentrale Steuerung für die Mitarbeiter in der Produktion lässt sich damit festhalten:
• Mensch-Maschine-Interaktion: wenige Operatoren steuern den Gesamtprozess oder überwachen Teilprozesse (Interaktion). Menschliche Arbeitskraft ist in den Montageprozess teilweise eingebunden, diese interagieren aber nicht mit dem System (zum Unterschied von Interaktion und Kollaboration, die im nächsten Kapitel dargestellt wird).
• Die Aufgaben für Operatoren entsprechen dem in Strategie (1) genannten Schema.
• Die Beschäftigungsverluste sind moderater als unter Strategie (1) und erreichen potenziell 20-50 % der Arbeitstätigkeiten, je nach Umfang der bisherigen manuellen und nun automatisierten Montagetätigkeiten.
• Für die Mitarbeiter in der nicht-automatisierten Montage ändert sich grundsätzlich wenig. Entweder sie werden in neue Arbeitsprozesse eingelernt oder die Tätigkeiten selbst ändern sich nicht entscheidend.
• Einfache bzw. repetitive manuelle Tätigkeiten sind weiterhin, aber in geringerem Umfang vorhanden.
Die technologische Strategie (3) scheint für die industrielle Fertigung die Methode der Wahl zu sein, auch wenn sich Unternehmen hier in ihrer Ausrichtung erheblich unterscheiden. Kernbestandteil dieser technologischen Strategie sind manuelle Montage-Arbeitsplätze mit Montage-Assistenzsystemen, welche in die gesamte Produktionssteuerung integriert sind (U-Form Montageinseln oder verkette Montage nach dem One-Piece-Flow-Prinzip; vgl. Lotter/Müller, 2018, S. 101). Der Pionier einer modularen Produktion mit Montage-Assistenzsystemen in Europa ist SEW Eurodrive mit seinem Werk in Graben-Neudorf – und dies bereits seit der Umgestaltung der Produktion im Jahr 2013. Getriebe und gewerbliche Elektromotoren werden hier produziert. Die Grundprinzipien der technologischen Strategie lassen sich an diesem Praxisbeispiel gut veranschaulichen.
Der Materialfluss und die gesamte Produktionslogistik erfolgen vollautomatisch über liniengeführte FTS (fahrerlose Transportsysteme). Die manuelle Montage erfolgt in einer U-förmigen Montagestation, in der ein fahrbarer Montagetisch den nächsten Montageschritt ansteuert. Der Montagetisch stellt sich dabei automatisch auf die ergonomisch optimale Höhe der Arbeitsfläche ein. Das Werkstück trägt einen RFID-Chip, der jeweils nächste Montageschritt wird dem Monteur per Bildschirm angezeigt. Das benötigte Montagematerial wird durch Lichtsignal in Boxen angezeigt. Die Montageboxen werden automatisch befüllt. Der Monteur löst selbst den nächsten Montageschritt aus. Ist die Montage abgeschlossen, gibt der Monteur das Werkstück frei. Das FTS mit dem Werkstück steuert selbstständig die nächste Montagestation an. An den meisten Montagestationen arbeitet jeweils ein Mitarbeiter. Am Ende der Produktionsstrecke sind zum Heben und Positionieren mobile Roboter eingesetzt. Einzelne Routineaufgaben übernehmen »mobile Handlingassistenten«. Sie fahren an die jeweilige Arbeitsstation zur Bestückung von Dreh- und Fräsmaschinen. Hier belädt der mobile Assistent ein Zuführband mit den zu bearbeitenden Wellen. Anschließend fährt er automatisch die nächste Station an und entnimmt die bearbeiteten Wellen. In der werkübergreifenden Logistik kommen neuerdings »Logistikkapseln« zum Einsatz, die sich eigenständig auf dem Werksgelände bewegen und sich auf LKW oder Züge verladen können. Der gesamte Produktionsprozess wird digital abgebildet und von einem Leitstand aus gesteuert, etwa wenn eine Montagestation zur Störungsbehebung kurzfristig geschlossen werden muss oder die Personaldisposition die Besetzung einzelner Montagestationen nicht zulässt.
Die Vorteile gegenüber der früher auch bei SEW Eurodrive vorherrschenden Linienfertigung liegen auf der Hand: die maximale Flexibilität des Produktionsablaufs, der weitgehend unempfindlich auf Störungen reagieren kann. Ebenso ist es möglich, auf Schwankungen in der Auftragslage schnell zu reagieren und den Produktionsfluss anzupassen. Der eigentliche Treiber dieser Entwicklung zu Industrie 4.0 lag jedoch in der Beherrschbarkeit der Variantenvielfalt. In der traditionellen Linienfertigung hatte die Qualität durch Montagefehler gelitten, die durch die stark gestiegene Komplexität der Varianten mitverursacht wurden. Die Marktstärke von SEW Eurodrive liegt in der kundenspezifischen Entwicklung von Getrieben und Antrieben. Nach Einführung der Smart Factory bei SEW Eurodrive spricht man für die erste Ausbaustufe von einem Produktivitätsgewinn von ca. 20 %. Personalanpassungen bleiben aus, da das Produktionsvolumen ausgeweitet werden konnte. Wesentlich war auch eine deutliche Verkürzung der Lieferzeiten (Soder, 2017; SEW Eurodrive, 2019).
Ein generelles Problem der heutigen industriellen Fertigungsprozesse ist durch dieses Beispiel benannt: Die Beherrschung der Variantenvielfalt aufgrund von kundenspezifischen Lösungen oder Individualisierung von Produkten ist in der klassischen Linienfertigung immer weniger zu gewährleisten. Dies ist der zentrale Grund für die aktuell starke Positionierung einer modernen Fertigungsstruktur als modulare, flexible Fabrik – in Abkehr von der starren Linienfertigung (Kärcher et al., 2019). Dies gilt auch und gerade als Empfehlung für die Automobilindustrie (vgl. Bauernhansl, 2018; Bauernhansl/Fechter, 2019; Schulz, 2019). In einer solchen modular aufgebauten Produktion können Montageprozesse über manuelle Arbeitskraft mit automatisierten Prozessen verbunden werden. Das Postulat eines cyber-physischen Systems mit umfassender Vernetzung aller Produktionssegmente widerspricht dem keineswegs. Im Gegenteil, die durchgängige digitale Steuerung ermöglicht erst einen solchen flexiblen Produktionsprozess. Daher sind auch alle Assoziationen an die »Inselfertigung« oder »Boxenfertigung« der 1990er Jahre in der Automobilindustrie unzutreffend.
Ebenso fragwürdig sind die euphemistischen Formulierungen »Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand« oder »Kollege Roboter«. Merkmal der technologischen Strategie der Montage-Assistenzsysteme ist die digitale Steuerung aller Prozesse, also sowohl der Arbeitskraft als auch des Roboters. Daher sprechen wir hier von Mensch-Maschine-Kollaboration und nicht von Kooperation oder gar von Interaktion und Zusammenarbeit. Denn diese Form von »Zusammenarbeit« ist grundsätzlich systemgeleitet. Und dies hat Konsequenzen für die Arbeitsprozesse.
Dies wird deutlich an Montage-Assistenzsystemen mit Pick-to-Light-Technik (Lichtanzeige der Box, aus der das nächste Werkstück zu entnehmen ist, bei Bosch Rexroth) oder einem Poka Yoke Arbeitsplatz (Null-Fehler-Montage) von Mitsubishi Electric & Handke Industrietechnik (Automation & Digitalisierung, 2018a). Ziel ist ein fehlerfreier manueller Montageprozess. »Guided Operator Solutions« nennt Mitsubishi diese Technik. Der »Poka Yoke Controller« von Mitsubishi steuert den Montageprozess. Die kommissionierten Materialbehälter sind mit Türklappen versehen, die nur die Entnahme des vorgesehenen Bauteils zulassen. Das nächste Bauteil wird am Display angezeigt, und der Monteur quittiert die Entnahme am Behälter. Der »Poka Yoke Controller« regelt den Nachschub an Bauteilen. Ein MELFA-Roboter (Cobot) mit sensitiver Schutzhaut (Druckluft) führt schwere Werkstücke von bis zu 6 kg Gewicht in die manuelle Montage.
Der beschriebene Poka Yoke-Arbeitsplatz stellt sicherlich ein extremes Beispiel für eine Dequalifikation dar. Natürlich sind auch anspruchsvollere Formen von systemgeleiteten Assistenzsystemen verfügbar und sinnvoll. Hierunter zählen auch Industrie 4.0-Anwendungen wie Datenbrillen und Augmented Reality, mittels derer der nächste Montageschritt im Display angezeigt werden. Entscheidend ist, welche Form von Assistenzsystemen ein Unternehmen für welche Arbeitsprozesse zur Anwendung bringt. Werden die Handlungsspielräume von Monteuren massiv eingeschränkt (Neo-Taylorismus) oder ermöglichen Assistenzsysteme eine Entlastung für eigenständige Entscheidungen (Autonomie)? (vgl. Niehaus, 2017) Nur in letzterem Fall kann von einer Zunahme der Qualifikationsanforderungen ausgegangen werden. In der Mehrzahl der Fälle ist bei repetitiven Arbeitstätigkeiten eher die Tendenz zur Dequalifikation in der Tätigkeit zu beobachten. Keineswegs führt also Industrie 4.0 automatisch zu anspruchsvolleren Arbeitstätigkeiten (vgl. dagegen Lukowski/Neuber-Pohl, 2017)
Zunächst ist festzuhalten, dass die ergonomischen Vorteile solcher Systeme mit dem Einsatz von Cobots immens sind. Das Heben und Drehen sowie das exakte Positionieren schwerer Werkstücke entfällt. Ebenso sind Montagefehler, wie der Griff zu einer falschen Schraube, so gut wie ausgeschlossen (je nach System). Das fördert eine fehlerfreie Montage, auch bei Losgröße 1. Damit handelt es sich um eine zielführende Strategie, bei steigender Variantenvielfalt die Qualität zu sichern und die Stabilität der Prozesse zu gewährleisten. Andererseits ist die Arbeitstätigkeit des Monteurs unter Industrie 4.0, also einer systemgeleiteten Montage, von Dequalifikation gekennzeichnet. Für diese einfachen und repetitiven Tätigkeiten benötigt man keine Facharbeiterqualifikation, es handelt sich eher um angelernte Tätigkeiten.
Als Fazit zu den Konsequenzen der technologischen Strategie (3) Montage-Assistenzsysteme mit oder ohne Cobots für die Mitarbeiter in der Produktion bleibt festzuhalten:
• Mensch-Maschine-Kollaboration: Menschliche Arbeitskraft ist in ihrer Tätigkeit weitgehend systemgeleitet. Allerdings kann sie die Geschwindigkeit des Montageprozesses selbst bestimmen, ist also nicht taktgebunden (natürlich nur im Rahmen von Bandbreiten). Die Tätigkeit selbst ist durch einfache und repetitive Prozesse gekennzeichnet (Dequalifikation in der Tätigkeit).
• Die Aufgaben für Operatoren, die bisherigen Produktionsmeister, sind extrem anspruchsvoll. Sie steuern, disponieren und überwachen komplexe Abläufe am Bildschirm und treffen Entscheidungen über den Personaleinsatz. Außerdem müssen sie über Fachkenntnisse/Erfahrung zur Beseitigung kleiner Störungen verfügen. Sie sind im Normalfall die Ansprechpartner der Montage-Mitarbeiter und benötigen entsprechende Führungskompetenz. Hinsichtlich der Quantität werden in dieser Funktion (geschätzt) 40 % weniger Mitarbeiter benötigt als Produktionsmeister in der traditionellen Fertigung.
• Die Beschäftigungsverluste sind in den zitierten Beispielen insgesamt moderat und entsprechen in ihrer Quantität den Effekten von Rationalisierungsmaßnahmen früherer Zeiten. Im Unterschied zu den Annahmen der oben zitierten Studien entfallen einfache und repetitive Tätigkeiten keinesfalls aufgrund der Digitalisierung unter Industrie 4.0.
• Aufgrund der Vereinfachung der Tätigkeiten ist mittelfristig mit einem Absinken des Lohnniveaus für Montagetätigkeiten möglich. In welchem Ausmaß gewerkschaftliche Aktivitäten im Metallbereich dem entgegenwirken können, wird die Zukunft zeigen. Von einem Facharbeitermangel wird man in naher Zukunft für Montagetätigkeiten nicht mehr sprechen.
Viele Veröffentlichungen gehen unter den Vorzeichen von Industrie 4.0 von einer Zunahme von Teamarbeit und demzufolge von notwendigen personalen