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Macht Technik die menschliche Arbeit irgendwann überflüssig? Die Frage ist alt, stellt sich heute aber auf neue Weise. Denn es sind auch Berufe aus dem Feld der Wissensarbeit betroffen, die lange als geschützt galten. Algorithmen und künstliche Intelligenz dringen in Bereiche vor, in denen bisher menschliche Analysefähigkeiten unverzichtbar waren. Aber daneben passieren auch viele subtile Veränderungen, mit denen die Digitalisierung die Gestalt und Bedeutung von Wissensarbeit nachhaltig verändert. Dieser Band spürt solchen Verschiebungen nach: Er verknüpft Überlegungen aus Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und Arbeitspsychologie mit Fallstudien zur Arbeitswelt.
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Seitenzahl: 392
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Kai Dröge, Andrea Glauser (Hg.)
Digitalisierung der Wissensarbeit
Interdisziplinäre Analysen und Fallstudien
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Macht Technik die menschliche Arbeit irgendwann überflüssig? Die Frage ist alt, stellt sich heute aber auf neue Weise. Denn es sind auch Berufe aus dem Feld der Wissensarbeit betroffen, die lange als geschützt galten. Algorithmen und künstliche Intelligenz dringen in Bereiche vor, in denen bisher menschliche Analysefähigkeiten unverzichtbar waren. Aber daneben passieren auch viele subtile Veränderungen, mit denen die Digitalisierung die Gestalt und Bedeutung von Wissensarbeit nachhaltig verändert. Dieser Band spürt solchen Verschiebungen nach: Er verknüpft Überlegungen aus Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und Arbeitspsychologie mit Fallstudien zur Arbeitswelt.
Vita
Kai Dröge forscht und lehrt an der Hochschule Luzern und ist assoziierter Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Andrea Glauser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Kai Dröge und Andrea Glauser: Einleitung
Literatur
I Soziologische, arbeitspsychologische und betriebswirtschaftliche Perspektiven
Kai Dröge: Arbeit, Wissen, Digitalisierung – eine soziologische Annäherung
1Werden wir ersetzbar? Beruflicher Wandel und Digitalisierung
1.1Upgrading – wenn Berufe anspruchsvoller, aber auch interessanter werden
1.2Polarisierung – Verlierer und Gewinnerinnen
1.3Flexibilisierung und Entgrenzung
2Über das komplexe Wechselspiel von technologischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen
Literatur
Peter Kels: Zur Digitalisierung und Algorithmisierung von Arbeit im Kontext wissensbasierter Organisationen
1Race against the machine? Wissensarbeit im Spannungsfeld zwischen Automatisierung, Spezialisierung und Zukunftskompetenzen
2Building a smarter workforce? People Analytics im Personalmanagement
Literatur
Andrea Glauser: Face-to-Face-Kommunikation in der digitalen Arbeitswelt
Literatur
Leila Gisin, Jens O. Meissner und Philipp Ott: Auswirkungen des digitalen Wandels auf Wissensarbeitende aus arbeits- und organisationspsychologischer Perspektive
1Einleitung
2Die individuelle Ebene: Anforderungen, Chancen und Risiken
2.1Prototypen
2.1.1Persona »Sandra Könitz« – »Mobiles Arbeitskraftunternehmertum«
2.1.2Persona »Ursula Meyerhans« – »Portfoliowork auf mehreren Standbeinen«
2.1.3Persona »Noah Schmid« – »Solo-Entrepreneurship«
2.2Auswirkungen, Chancen, Risiken und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt
2.2.1Digitale Souveränität führt vorerst zu disruptiven Veränderungsprozessen
2.2.2Chancen für Wissensarbeitende im digitalen Zeitalter
2.2.3Risiken für Wissensarbeitende im digitalen Zeitalter
2.2.4Herausforderung Selbstmanagement
2.2.5Herausforderung Boundary-Management
2.2.6Herausforderung Arbeitsgestaltungskompetenz
2.2.7Herausforderung spezifisches Expertenwissen
3Anforderungen auf organisationaler Ebene
3.1Entscheidungsdilemmata von Organisationen als Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt
3.2Herausforderung betriebliches Gesundheitsmanagement
3.3Entwicklung eines neuen Führungs- und Managementverständnisses
4Schlussfolgerungen und Fazit
Literatur
Ulrich Egle und Markus Hodel: Digitaler Wandel der Wissensarbeit – betriebswirtschaftliche Perspektiven
1Einleitung
2Digitale Geschäftsmodelle
2.1Kundennutzen
2.2Schlüsselressourcen
2.3Schlüsselprozesse
2.4Profitformel
3Exponentielle Organisationen als Rollenmodelle in der digitalen Welt
4Digitale Technologien als Basis digitaler Geschäftsmodelle
5Chancen und Gefahren der Digitalisierung in ausgewählten Schwerpunkten der Wertschöpfungskette
6Fazit
Literatur
Ulrich Egle, Imke Keimer und Markus Gisler: Digitalisierung des Controllings – Analysen mit dem Reifegradmodell »DigiCon«
1Reifegradmodell DigiCon
2Digitalisierung im Controlling bei einem Medtech-Unternehmen
2.1Ausgangslage
2.2Standortbestimmung
2.3Roadmap
3Fazit
Literatur
II Fallstudien
Chantal Magnin: Zwischen demokratischem Engagement und Reputationsschaden – zum Gebrauch sozialer Medien durch Nichtregierungsorganisationen
1Nichtregierungsorganisationen als Pioniere
2Einblick in den Arbeitsalltag ausgewählter Nichtregierungsorganisationen
3Verbreitung und Beobachtung von Inhalten als Dauerbeschäftigung
4Spezifische Art und Weise des Kommunizierens
5Nur ansatzweise strategische Verankerung
6Kaum Spenden, aber viele Hasskommentare
7Fazit
Literatur
Markus Hodel und Franziska Kohler: Neue Möglichkeiten der Ressourcenbeschaffung in Start-ups durch die Digitalisierung
1Einleitung
2Klassische Make-or-buy-Überlegungen in Start-ups
Kompetenz
Qualität
Kosten
Zeit
Abhängigkeit
3Neue Möglichkeiten der Ressourcenbeschaffung durch die Digitalisierung
3.1Sharing Economy
Fallbeispiel Artiazza
3.2Crowdsourcing
Crowd Innovation durch digitale Communities
Fallbeispiel YAMO
Crowdfunding
Crowdworking
Auf Start-ups spezialisierte Ressourcenanbieter und Dienstleistungen
Fallbeispiel startups.ch
4Schlussfolgerungen
Literatur
Franziska Kohler: Virtuelle Teams: Auswirkungen der Digitalisierung auf die Zusammenarbeit, Kommunikation und Führung
1Einleitung
2Möglichkeiten und Chancen von virtuellen Teams
2.1Effizientes Arbeiten durch zeit- und ortsunabhängige Kommunikationsmittel
2.2Flexible Gestaltungsspielräume der Arbeit und Stärkung der Work-Life-Balance
2.3Veränderung des Führungsverständnisses
3Schwierigkeiten und Herausforderungen von virtuellen Teams
3.1Bedürfnis nach direkten Kontakten und Beziehungen sowie nach Face-to-Face Kommunikation
3.2Abnahme von Zugehörigkeitsgefühl und Vertrauen
3.3Kommunikationsmittel und Themen aufeinander abstimmen
3.4Erforderliche Arbeitskompetenzen und Abgrenzung zwischen Arbeits- und Privatleben
3.5Technische Störungen
4Fazit
Literatur
Kai Dröge: »Wie eine authentische Person, die hier lebt« – über die Arbeit von Airbnb-Hosts
1»Es ist auch ein bisschen Arbeit« – professionelle Beherbergung versus private Gastfreundschaft
2»Du musst denen die Informationen geben« – über das Management von Ambivalenzen
2.1Den Raum (er)klären – Dinge und Orte zwischen Privatheit und Öffentlichkeit
2.2Den wechselseitigen Umgang (er)klären – professionelle Dienstleistung vs. persönliche Begegnung
3Vom Sightseeing zum »Lifeseeing« – die Arbeit an authentischen Erlebnissen
3.1Die Suche nach Authentizität und ihre Widersprüche
3.2Normalität, Authentizität und erlebniswerte Ereignisse
Fazit
Literatur
Ludwig Zurbriggen: Digitalisierung der öffentlichen Hand: Wandel der Arbeit in Gemeinden und Kantonen
1Einleitung
2Chancen der Digitalisierung für die öffentliche Verwaltung
3Anforderungen
4Gefahren
5Druck durch den Vorgesetzten und Überwachung
6Erwartungen an Mitarbeiter
7Fazit: Was tun?
Literatur
Marianne Rychner und Andrea Glauser: Wo die Gäste zu Sterntools greifen und die Könige sich nicht immer wie solche benehmen: Hotels und ihr Personal im digitalen Kundenvisier
1Sagen oder schreiben? Eine grundlegende Differenz zweier Kommunikationsmodi
2Dauerbeobachtung und das Paradox versuchter Selbstoptimierung
3Erpressung, real und als Damoklesschwert
4Interkulturelle Missverständnisse und die Orientierung an der Konstruktion eines Normgastes
5»Cooling out«
6Bewertungsportale: relativiert, kritisiert – und dennoch von Gewicht
Literatur
Peter Kels und Laura Hämmerle: Karriere und Networking in digitalen Businessnetzwerken – am Beispiel LinkedIn
1Einleitung
2Karriereselbstmanagement und Selbstkuratierung als gesellschaftliche Norm
2.1Neue Spielregeln für Arbeitsmarktfähigkeit und Karriereerfolg
2.2Normen und Praktiken des »Doing Singularity«
3Karriere- und Vernetzungshandeln auf LinkedIn
3.1Das Businessnetzwerk LinkedIn
3.2Profilbildung, Networking- und Karrierestrategien hochqualifizierter Angestellter auf LinkedIn
3.2.1Die strategischen Netzwerker
3.2.2Die Instrumentalisierungskritiker
3.2.3Die Anlassbezogenen
4Interpretation und Diskussion
Literatur
Christiane Schnell: Automatenverkauf – vom Wandel der Bankberatung in Zeiten der Digitalisierung
1Industrialisierung des Privatkundengeschäfts
2Dimensionen der Entmoralisierung
2.1Entpersonalisierung
2.2Souveräne Kunden
2.3Vom Bring- zum Holgeschäft
2.4Materielle Werteordnung
2.5Durchsetzung von Absatzzielen
3Der Amazonisierung die Schleusen geöffnet …
4 Von der Herrschaft der Zahlen zur Herrschaft der Daten
Literatur
Autorinnen und Autoren
Kai Dröge und Andrea Glauser
»Sie lenken und beaufsichtigen industrielle Arbeitsvorgänge, ersetzen die Menschen, vertreiben sie aus den Büros und von den Arbeitsplätzen an den Fließbändern.«
Diese Zukunftsvision über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt könnte durchaus aus einer der zahlreichen aktuellen Publikationen stammen, etwa zum Thema Industrie 4.0. Geschrieben wurde dieser Satz aber bereits 1956. Unter dem Titel »Die Magie der Roboter« berichtete Der Spiegel damals ausführlich über die Errichtung eines neuen »Elektronengehirns« in Frankfurt am Main (der Begriff Computer war noch nicht geläufig), eine »400 Zentner schwere Denkapparatur«, dem damals größten und schnellsten digitalen Rechner in Europa (Der Spiegel 1956: 42).
Es war die Zeit, als die ersten Großrechner in den Unternehmen und Verwaltungen Einzug hielten. Sie füllten noch ganze Räume und wurden auf einfache Weise per Lochkarte programmiert, hatten aber schon bei Wahlprognosen oder in der Lohnbuchhaltung großer amerikanischer Unternehmen ihr Potenzial bewiesen. Damit brach in der Geschichte der Technisierung der Arbeitswelt eine neue Epoche an. Bisher war vor allem die manuelle Arbeit durch leistungsfähige Maschinen ersetzt worden. Jetzt wurde sichtbar, dass sich auch geistige Arbeit bis zu einem gewissen Grad technisch automatisieren ließ und die neuen Rechenmaschinen dabei dem Menschen in Geschwindigkeit und Präzision häufig überlegen waren (Heintz 1993, Heßler 2015).
»Können Elektronengehirne denken?« (Der Spiegel 1956: 53), fragte der Artikel folgerichtig, und gab eine durchaus differenzierte Antwort: Einerseits folgten die neuen »Geistesroboter« einem starren Programmablauf und ließen somit die für den menschlichen Geist charakteristische Flexibilität und Kreativität vermissen. Anderseits aber seien sie lernfähig, könnten »Erfahrungen« speichern und auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen verbessern. Der Artikel ließ ausführlich Norbert Wiener zu Wort kommen, Mathematiker und visionärer Vordenker des Computerzeitalters, der eindringlich warnte, wir könnten »der größten Arbeitslosigkeit entgegengehen, die wir je erlebt haben«, wenn die vollautomatisierte Fabrik erst einmal Wirklichkeit geworden sei (Der Spiegel 1956: 51 f.).
Allerdings hielt der Artikel auch eine andere, positivere Zukunftsperspektive bereit. Im Zusammenspiel mit den neuen digitalen Rechnern könne der menschliche Geist zu ungeahnten Höhenflügen ansetzen: Wissenschaftliche Probleme, deren Bearbeitung zuvor viele Jahre in Anspruch genommen hätte, ließen sich jetzt in Stunden oder Tagen lösen, Meteorologen könnten ihre Prognosen stark verbessern, und auch für viele Beschäftigte in den Büros würde der Einzug des Computers große Vorteile bringen: »Frei von der eintönigen Routinearbeit, wird der Mensch zunehmend wieder Zeit für schöpferische Aufgaben haben.« (ebd.: 42)
Dieses Schlaglicht auf die Frühgeschichte der Computerentwicklung zeigt, dass die Diskussion um Digitalisierung von Beginn an zwei wichtige Deutungsmuster geprägt hat, die wir auch aus der heutigen Debatte kennen (Heßler 2015): Einmal die Befürchtung, dass die neuen Maschinen die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in vielen Bereichen ersetzen und überflüssig machen könnten, zum anderen die Hoffnung, dass sie als Werkzeuge des menschlichen Geistes dessen Möglichkeiten ähnlich stark erweitern würden, wie zuvor bereits Dampfmaschine und Elektrizität die Grenzen der menschlichen Körperkraft überwunden hatten.
Vor allem diese zweite, positive Sicht hat sich dann einige Jahre später mit einer anderen Debatte verbunden, in der es darum ging, welche Produktivkräfte für die kapitalistischen Wirtschaften des Westens nach dem absehbaren Ende des Industriezeitalters leitend sein könnten. In diesem Zusammenhang hat der US-amerikanische Ökonom Peter F. Drucker im Jahr 1959 den Begriff »Knowledge Work« (Wissensarbeit) erstmals in die Diskussion gebracht und in den Folgejahren in vielfältigen Varianten popularisiert (Drucker 1959). Auch in den an Daniel Bell (1975) anschließenden Analysen der postindustriellen Gesellschaft und Ökonomie ist die Wissensarbeit zentral: Die klassischen Produktivkräfte Boden und Kapital würden in entwickelten industriellen Gesellschaften an Bedeutung einbüßen, stattdessen werde die Entwicklung, Verbreitung und Anwendung von »Wissen« zur entscheidenden neuen Produktivkraft. »[G]egenüber Landwirtschaft, industrieller Produktion und (einfachen) Dienstleistungen nehmen wissensbasierte Tätigkeiten zu. Gegenüber Produkten mit hohen Wertanteilen an Arbeit und Material gewinnen Produkte die Überhand, deren Wert vorrangig aus der eingebauten Expertise (›embedded intelligence‹) besteht.« (Willke 1998: 162)
In diesen Diagnosen spielte die aufkommende Computertechnologie und die damit verbundenen neuen Formen der Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle. Wie oben schon angedeutet, wurde insbesondere die ermöglichende Seite der neuen Technologie betont: als Motor für Forschung und Entwicklung, als Entlastung von (auch kognitiven) Routinetätigkeiten, als Freisetzung von Kreativität: »Während einfache Tätigkeiten und Dienstleistungen von Robotern übernommen werden, steigt der Bedarf an professioneller Expertise in allen Bereichen.« (Willke 1998: 163) Bis heute gilt, dass jeder Entwicklungsschritt der digitalen Technologien auch dem Diskurs um Wissensarbeit neue Nahrung gibt. Aktuell sind es insbesondere die Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und Mustererkennung (etwa Sprach- und Bilderkennung), in der vernetzen Steuerung (Internet der Dinge, Industrie 4.0), im Bereich der Big-Data-Analysen und in der Expansion der sozialen Medien und digitalen Kommunikationsformen, die die Hoffnung auf neue Betätigungsfelder für innovative, kreative und technologisch versierte Wissensarbeit befeuern.
Gleichzeitig aber taucht mit jeder größeren Veränderung der digitalen Technologien auch die andere Frage wieder auf, ob nicht unsere kognitiven Fähigkeiten damit teilweise oder sogar irgendwann ganz ersetzbar werden. Lässt sich Wissen nicht weitaus besser digital speichern und analysieren? Was macht genuin menschliche Wissensformen noch aus? Treffen Algorithmen nicht unvoreingenommenere, schnellere und verlässlichere Entscheidungen als Menschen? »Unsere digitalen Maschinen haben ihre engen Grenzen gesprengt und zeigen allmählich grundlegende Fähigkeiten in der Erkennung von Mustern, komplexer Kommunikationen und anderen Bereichen, die vordem ausschließlich dem Menschen vorbehalten waren«, schreiben etwa Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee (2016: 112) in ihrer viel diskutierten Studie zum »Second Machine Age«. Gerade in den letzten Jahren hat sich (wieder) eine breite Debatte in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit darüber entwickelt, wie die Digitalisierung zahlreiche Tätigkeitsfelder umgestalten und ganze Berufe zum Verschwinden bringen könnte (vgl. dazu u. a. den Beitrag von Kai Dröge in diesem Band). Anders als früher, als die Automatisierung vor allem geringer qualifizierte Berufe in der Produktion, Verwaltung und teilweise auch im Dienstleistungssektor bedrohte, scheint heute kaum noch ein Tätigkeitsbereich davor geschützt zu sein. Einflussreiche Studien (beispielsweise Frey/Osborne 2013) legen den Beschäftigten nahe, sich eher auf ihre sozialen und kreativen Fähigkeiten zu verlassen, um einem zukünftigen Arbeitsplatzverlust zu entgehen. Qualifiziertes Fachwissen und analytische Fähigkeiten dagegen sind zwar weiterhin wichtig, gelten aber nicht mehr im selben Maße wie früher als Garant gegen einen Arbeitsplatzverlust durch Automatisierung.
Im Zuge der Verbreitung digitaler Technologien kommt es auch zu Verschiebungen in den Kommunikations- und Interaktionsformen sowie den Machtverhältnissen in der Arbeitswelt. Durch digitales »Crowdworking« bilden sich flexible Beschäftigungen heraus, aber auch neue Formen von Prekarität und sozialer Ungleichheit (Benner 2015). Wissensarbeit wird durch Überwachungsinstrumente und »People Analytics« akribisch vermessen und einer neuen Art der Steuerung unterworfen (vgl. dazu den Beitrag von Peter Kels in diesem Band), während im Internet die Produktion von »Content« verstärkt an die Nutzerinnen selbst übertragen wird, die als »Prosumer« die Inhalte auf Facebook, YouTube oder Instagram bereitstellen (Ritzer/Jurgenson 2010).
Solchen Veränderungen der Wissensarbeit spürt der vorliegende Band in einer interdisziplinären Perspektive und gestützt auf anschauliche empirische Fallbeispiele nach. Er versammelt Beiträge aus der Soziologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie der Betriebswirtschaftslehre, die ausgehend von divergierenden Erkenntnisinteressen und Grundannahmen den digitalen Wandel der Arbeitswelt in je spezifischer Weise beleuchten: Während sich die soziologischen Annäherungen vor allem für die soziale und kulturelle Einbettung der Digitalisierung sowie ihre Auswirkungen auf Interaktionen, Arbeitsverhältnisse und Berufe interessieren (Texte von Kai Dröge, Andrea Glauser und Peter Kels), fokussiert der arbeits- organisationspsychologische Beitrag hauptsächlich die Herausforderungen und Chancen für Individuen in einem sich radikal verändernden Arbeitsumfeld (Text von Leila Gisin, Jens O. Meissner und Philipp Ott). Die betriebswirtschaftlichen Beiträge wiederum gehen der Frage nach, was dieser Wandel in ökonomischer Hinsicht für Unternehmen bedeutet – welche Chancen und Risiken er birgt (Text von Ulrich Egle und Markus Hodel) und wie sich der Umgang von Organisationen mit digitalen Technologien – etwa im Bereich des Controllings – eruieren und bewerten lässt (Text von Ulrich Egle, Imke Keimer und Markus Gisler). Diese mehrheitlich literaturbasierten Artikel im ersten Teil des Bandes rücken auf der einen Seite Fragen in den Vordergrund, die in den letzten Jahren in den jeweiligen disziplinären Forschungszusammenhängen besonders für Diskussionen sorgten; auf der anderen Seite lenken sie den Blick auf interessante, aber bislang eher vernachlässigte Aspekte des digitalen Wandels.
Daneben geben im zweiten Teil des Bandes eine Reihe von empirischen Fallstudien Einblicke in sehr unterschiedliche Tätigkeitsbereiche: von klassischen wissensbasierten Berufen beispielsweise im Bankensektor oder Controlling bis hin zu neuen Betätigungsformen etwa in der Sharing Economy (Airbnb), von Start-ups bis in öffentliche Verwaltungen, vom Tourismus bis zum Engagement in NGOs. Während in der medialen Öffentlichkeit vor allem ›spektakuläre‹ Phänomene wie die Anwendungsfelder von künstlicher Intelligenz oder Algorithmen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, lenken diese Studien den Blick hauptsächlich auf die subtilen, aber nicht minder relevanten Verschiebungen, durch die sich Gestalt sowie Bedeutung von Wissensarbeit nachhaltig verändern. Wir sind bei der Auswahl der Fallstudien von einem breiten Verständnis von Wissensarbeit ausgegangen und haben bewusst auch Grenzfälle mit aufgenommen, an denen sich mitunter in besonders aufschlussreicher Weise studieren lässt, wie im Zuge von Digitalisierungsprozessen bestimmte gesellschaftliche Wissensbestände an Bedeutung gewinnen oder verlieren.
Auch wenn die Fallstudien ganz unterschiedlichen Feldern und Brennpunkten der Arbeitswelt gewidmet sind, zeichnen sich gewisse transversale Themen ab, denen für das Verständnis des digitalen Wandels besondere Bedeutung zukommt. Eines dieser Themen ist die Tendenz zur Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit. Gerade die Wissensarbeit ist davon besonders betroffen, weil sie meist mit immateriellen Gütern (Informationen) befasst ist, die kaum ortsgebunden sind und sich leicht digital transferieren lassen. Zwar ist die Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit keineswegs alleine der Verbreitung (mobiler) digitaler Technologien geschuldet; vielmehr sind diese Entwicklungen – konkret: die Individualisierung von Stellenprofilen, die Projektförmigkeit von Arbeit, das Gewicht informeller Beziehungen sowie Tendenzen des »Neopersonalismus« – typische Züge der aktuellen kapitalistischen Produktionsweise in westlichen Ländern (Boltanski/Chiapello 2003 [1999]: 165; vgl. auch Jessop 1991; Wagner/Hessinger 2008). Die Verbreitung (mobiler) digitaler Technologien unterstützt und akzentuiert diese Dynamiken jedoch in entscheidender Weise – sind sie doch mitunter gar Voraussetzung dafür, dass sich neuere Praktiken des flexiblen Arbeitens herausbilden konnten und die Abgrenzung von Arbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatheit in mancherlei Hinsicht durchlässig oder diffus geworden ist. Für die arbeitenden Subjekte bringt dies – wie verschiedene Beiträge dieses Bandes deutlich machen – durchaus widersprüchliche Dynamiken mit sich.
Auf der einen Seite eröffnen sich, wie etwa die Fallstudie von Ludwig Zurbriggen zur »Digitalisierung der öffentlichen Hand« und die Überlegungen von Leila Gisin, Jens O. Meissner, Philipp Ott zu den »Auswirkungen des digitalen Wandels auf Wissensarbeitende« zeigen, zeitliche, räumliche und soziale Freiheitsgrade in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeit von Arbeit, wobei die Kommunikation mittels E-Mail – so selbstverständlich sie (mittlerweile) auch scheinen mag – eine kaum zu überschätzende Rolle spielt. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren, vor allem geknüpft an die Etablierung digitaler Plattformen, neue Arbeitsweisen jenseits klassischer Angestelltenverhältnisse oder freiberuflicher Tätigkeiten entstanden – etwa als Airbnb-Host (vgl. dazu die Fallstudie von Kai Dröge) oder in Form von zeitlich befristetem »Crowdworking«, das – wie der Beitrag von Ulrich Egle und Markus Hodel zeigt – im Zuge der Verbreitung digitaler Geschäftsmodelle stark an Bedeutung gewonnen hat. Diese neueren Formen des Arbeitens und die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich durch die Verbreitung digitaler Technologien eröffnen, sind in vielerlei Hinsichten mit Herausforderungen und Risiken verknüpft. Das gilt nicht nur, wie oben angedeutet, für Fragen der sozialen Sicherung, sondern zentral auch für die Möglichkeit der Abgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche, was häufig unter dem Begriff des »Boundary Management« diskutiert wird: Sowohl im Kontext digitalisierter Büroarbeit wie auch (erst recht) als »Host« im Kontext von Airbnb obliegt die Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatheit vermehrt den (arbeitenden) Subjekten, wobei sie in ihren Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs schlicht frei, sondern mit vielfältigen und nicht selten diffusen Erwartungen konfrontiert sind und die Risiken ihrer Grenzziehungsarbeit über weite Strecken selbst zu tragen haben. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Flexibilisierung von Wissensarbeit in geradezu paradox anmutender Weise auch von Standardisierungstendenzen und die viel beschworene Tugend der Selbstverantwortlichkeit von neueren Praktiken der umfassenden digitalen Kontrolle und Bewertung arbeitender Subjekte begleitet wird (siehe dazu den Beitrag von Peter Kels »Zur Digitalisierung und Algorithmisierung von Arbeit im Kontext wissensbasierter Organisationen« sowie Christiane Schnells Fallstudie »Automatenverkauf – vom Wandel der Bankberatung in Zeiten der Digitalisierung«). Es wäre klar zu kurz gegriffen, die durch den digitalen Wandel eröffneten Möglichkeitsräume losgelöst von den gegenläufigen Tendenzen der Überwachung, der Standardisierung und Limitierung von Freiheitsgraden zu denken.
Ein zweites transversales Thema, das sich in den Analysen und empirischen Fallstudien als zentral erwiesen hat, ist die besondere Form von Öffentlichkeit, die durch das Internet – spezifischer noch: durch Social-Media-Formate – entstanden ist. Dieser können (und wollen) sich Organisationen und Individuen kaum entziehen, was wiederum Auswirkungen auf die Wissensarbeit in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern hat. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist insbesondere Chantal Magnins Fallstudie zu Nichtregierungsorganisationen und ihrem Gebrauch von sozialen Medien. Diese Studie schärft den Blick für die Spannungsfelder und Dilemmata, die sich ergeben, wenn NGOs ihre Anliegen über digitale Netzwerke wie Twitter und Facebook verbreiten. Nicht nur werden zwischen den thematisierten Anliegen – etwa dem Schutz von Menschenrechten – und den Geschäftspraktiken der genutzten Kanäle – etwa Facebook – aktuell oder potenziell Widersprüche deutlich; auch sehen sich solche Organisationen mit der Herausforderung konfrontiert, einen erheblichen Teil der zeitlichen Ressourcen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Online-Interaktionen zu investieren, wenn sie die Möglichkeit der Debatte und des Austauschs im Kontext von sozialen Medien nicht unterbinden und »Hasskommentare« unbeantwortet im Raum stehen lassen wollen. So prägt die Art und Weise, wie sich Kommunikation online entspinnt (Fitzpatrick 2018; Jarren 2019), die Arbeit in vielen Nichtregierungsorganisationen wesentlich mit. Stark verändert hat sich mit der Entstehung des Internets – vor allem dem Aufkommen digitaler Bewertungsplattform – auch die Arbeit in der Hotellerie. Dieser Thematik spürt die Fallstudie von Marianne Rychner und Andrea Glauser nach. Die Autorinnen fragen danach, was passiert, wenn flüchtige, persönliche Interaktionen durch Bewertungsportale ins grelle Licht der Öffentlichkeit rücken, und wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit umgehen, dass sie quasi Objekte von Dauerbewertung geworden sind.
Das Interesse an unterschiedlichen Strategien im Umgang mit digital fundierten Öffentlichkeit(en) teilt dieser Beitrag mit der Fallstudie von Peter Kels und Laura Hämmerle zu digitalen Businessnetzwerken am Beispiel von LinkedIn. Im Zentrum steht hier die Frage, wie hochqualifizierte Angestellte solche Netzwerke nutzen (oder auch bewusst meiden), welche Chancen und Gefahren sie mit einem entsprechenden digitalen Engagement verbinden und wie sich die Differenzen in den Gebrauchsweisen soziologisch verstehbar machen lassen. So verschiedenartig die untersuchten Bereiche, Medien und Netzwerke auch sind – es zeichnet sich auf breiter Basis ab, dass Akteure die neu entstandenen digitalen Öffentlichkeit(en) nicht nach Belieben ignorieren oder kontrollieren können und dass deren Präsenz das Arbeiten in komplexer Weise prägt. Auch sind sie gewissermassen dazu gezwungen, Stellung zu beziehen – sich in einer bestimmten Art und Weise zu diesen Erscheinungen zu verhalten. Der Soziologe Heinrich Popitz (1992: 30 ff.) hat dieses mit der Herstellung und Verbreitung von Technologien verbundene Phänomen als wichtige Dimension von Macht identifiziert und unter dem Begriff der »datensetzenden Macht« eingehend analysiert.
Ein drittes Thema von transversaler Relevanz ist das Verhältnis von technisch vermittelter Kommunikation und Face-to-Face-Kommunikation. Es ist eng mit der erstgenannten Thematik – der Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit – verknüpft. Durch die Verbreitung digitaler Technologien und die Etablierung entsprechender Infrastrukturen hat sich in den letzten Jahren die Möglichkeit von Kommunikation noch stärker als früher von den Anforderungen einer zeitlichen und räumlichen Kopräsenz der involvierten Akteure ›emanzipiert‹. Dies macht sich in vielerlei Formen in der gegenwärtigen Arbeitswelt bemerkbar. Das Vorhandensein digitaler Kommunikationstechnologien erweitert beispielsweise das Spektrum der Ressourcenbeschaffung von Start-ups, indem es die Kommunikation gerade auch mit räumlich entfernten Kooperationspartnerinnen und -partnern vereinfacht und beschleunigt (vgl. die Fallstudie von Markus Hodel und Franziska Kohler zu dieser Thematik). Auch leisten die digitalen Technologien der Herausbildung neuer Arbeitsweisen Vorschub – so etwa dem Arbeiten in virtuellen Teams, das Franziska Kohler in ihrer Fallstudie genauer unter die Lupe nimmt. Sie zeigt auch, dass die Möglichkeit digital vermittelter Interaktion die Kommunikation unter Anwesenden nicht etwa gänzlich irrelevant macht; für die Pflege informeller Kontakte und für komplexe, vergleichsweise persönliche Gesprächsinhalte ist die räumliche und zeitliche Kopräsenz der Kommunikationspartnerinnen und -partner nach wie vor wichtig. Diese These vertritt auch Andrea Glauser in ihrem Beitrag zu »Face-to-Face-Kommunikation in der digitalen Arbeitswelt«, der, gestützt auf soziologische Studien, der Frage nachgeht, was genau die Kommunikation unter Anwesenden so schwer substituierbar macht und inwiefern diese im Kontext digitalisierter Arbeitswelten sogar zusätzlich an Relevanz gewinnt. Als Diskussionsbeispiel dient unter anderem das Phänomen der Coworking Spaces, das mittlerweile auch in ländlichen Gegenden anzutreffen ist und in dem sich der digitale Wandel in seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität pointiert zeigt.
Bell, Daniel (1975), Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York.
Benner, Christiane (Hg.) (2015), Crowdwork – zurück in die Zukunft? Perspektiven digitaler Arbeit, Frankfurt am Main.
Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003 [1999]), Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz.
Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew (2016), The second machine age. Work, progress, and prosperity in a time of brilliant technologies, New York/London.
Drucker, Peter F. (1959), The Landmarks of Tomorrow, New York.
Der Spiegel (3.10.1956), »Elektronengehirne: Die Magie der Roboter«, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064251.html, letzter Zugriff: 23.7.2019, S. 42–53.
Fitzpatrick, Jasmin (2018), Digital Civil Society. Wie zivilgesellschaftliche Organisationen im Web 2.0 politische Ziele verfolgen, Wiesbaden.
Frey, Carl B./Osborne, Michael A. (2013), The future of employment, Oxford, letzter Zugriff: 15.9.2017, http://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf.
Heintz, Bettina (1993), Die Herrschaft Der Regel: Zur Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt am Main/New York.
Heßler, Martina (2015), »Die Ersetzung des Menschen? Die Debatte um das Mensch-Maschinen-Verhältnis im Automatisierungsdiskurs«, in: Zeitschrift für Technikgeschichte, H. 82, S. 109–136.
Jarren, Otfried (2019), »Veto-Spieler und Populisten. Social Media und Plattformen fordern die Demokratie heraus«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.2019, S. 16.
Jessop, Bob (1991), The Politics of Flexibility: Restructuring State and Industry in Britain, Germany, and Scandinavia, Aldershot.
Popitz, Heinrich (1992), Phänomene der Macht, 2. Aufl., Tübingen.
Ritzer, George/Jurgenson, Nathan (2010), »Production, Consumption, Prosumption: The nature of capitalism in the age of the digital ›prosumer‹«, in: Journal of Consumer Culture, Jg. 10, H. 1, S. 13–36.
Wagner, Gabriele/Hessinger, Philipp (Hg.) (2008), Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie, Wiesbaden.
Willke, Helmut (1998), »Organisierte Wissensarbeit«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 27, H. 3, S. 161–177.
I
Kai Dröge
Technologische Umbrüche in der Wirtschafts- und Arbeitswelt haben die Soziologie immer schon beschäftigt. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass die Entstehung dieser Disziplin wesentlich mit einem solchen Umbruch zusammenhängt: Im 18. und 19. Jahrhundert hat die industrielle Revolution die westlichen Gesellschaften tiefgreifend verändert. Die Städte wuchsen, das Bürgertum wurde reich und gewann politisch an Einfluss, die Arbeiterschaft hingegen lebte vielfach in großer Armut und Abhängigkeit. Es wurde immer deutlicher, dass eine rein wirtschaftliche Sicht auf diese Umbrüche zu kurz griff. Vielmehr mussten auch die gesellschaftlichen Auswirkungen mit in Betracht gezogen werden, um die sozialen Probleme angehen zu können. Die neu entstandene Disziplin der Soziologie hat genau dies zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben gemacht.
Heute ist vielfach die Rede davon, dass wir uns in Zeiten einer neuen industriellen Revolution befinden, deren wichtigster Motor die Digitalisierung ist.1 Die Soziologie verfolgt auch diesen Wandel in ihrer Forschung intensiv mit und leuchtet seine sozialen und kulturellen Dimensionen aus.
In dem vorliegenden Beitrag geht es vor allem um den Wandel der Arbeit im Kontext der Digitalisierung, mit einem besonderen Fokus auf der Wissensarbeit. Für die soziologische Sichtweise ist Arbeit weit mehr als ein Mittel zur Existenzsicherung. Arbeit strukturiert die Biografie (Ausbildung, Erwerbsphase, Ruhestand) sowie den Wochen- und Tagesablauf, und sie kann Sinn vermitteln: In der (Erwerbs-)Arbeit können wir uns als Subjekte erleben, die einen wertvollen Beitrag zu einem arbeitsteiligen Gesamtzusammenhang erbringen, deren Wissen und Fähigkeiten also gebraucht werden und gesellschaftlich anerkannt sind (Honneth 2008). Arbeit hat so eine zentrale Bedeutung sowohl für die eigene Identität und das Selbstwertgefühl als auch für den gesellschaftlichen Status. Außerdem spielen Arbeit und Leistung in den Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle. Allerdings hat die Zentralität der Arbeit in unserer Gesellschaft auch Schattenseiten: Arbeit wird zu einem Zwang, dem sich viele Menschen auch dann unterwerfen müssen, wenn die Bedingungen schlecht sind, wenn die Tätigkeit nicht den Fähigkeiten und Wünschen entspricht, wenn der eigene Beitrag nicht wertgeschätzt wird, wenn die Belastung die Ressourcen aufzehrt etc.
Vor diesem Hintergrund haben technologische Umbrüche wie die Digitalisierung immer ein doppeltes Gesicht: Einerseits droht die Technologie, unsere eigene Arbeitsleistung zu entwerten, uns überflüssig und nutzlos zu machen – mitsamt der Gefahren der sozialen und ökonomischen Deklassierung, des Statusverlusts und der Identitätskrisen. Andererseits aber verspricht der technologische Fortschritt auch eine Entlastung vom Zwang zu Arbeit und ihren Schattenseiten. Wenig befriedigende Routinetätigkeiten sollen von den Maschinen übernommen werden, der Mensch sich auf die interessanteren Aufgaben konzentrieren, die weniger belastend sind und seine Kreativität und Schöpfungskraft wirklich fordern.
Klassischerweise ist die Wissensarbeit ein solcher Ort. Die spezifische Kombination von Fachwissen, analytischen Fähigkeiten und kreativer Problemlösungskompetenz galt lange als nicht durch Technik substituierbar. Inwiefern das zukünftig noch so sein wird, ist in der Forschung jedoch umstritten (Hays et al. 2017; Misik 2017; Boes/Kämpf/Gül et al. 2016), denn die Digitalisierung verändert auch das Verständnis davon, was eigentlich als Wissensarbeit angesehen wird. Durch Fortschritte in der computergestützten Datenanalyse, algorithmischen Mustererkennung und künstlichen Intelligenz gelten viele Tätigkeiten, für die in der Vergangenheit spezifisch menschliche Analysefähigkeiten und Formen der Wissensaneignung unverzichtbar erschienen, nun als Routineaufgaben, die weitgehend automatisiert werden können (Crouch 2018: 187; Dengler/Matthes 2015).
Ein erster Schwerpunkt dieses Beitrages wird sich genauer mit dem durch die Digitalisierung ausgelösten Wandel der beruflichen Landschaft und seinen sozialen Auswirkungen beschäftigen. Im zweiten Teil wird dann das Wechselspiel zwischen technologischen, sozialen und kulturellen Entwicklungsdynamiken in den Blick genommen. Nur wenn man diese gesellschaftliche Einbettung des technologischen Wandels angemessen berücksichtigt, lässt sich abschätzen, welche der aktuellen Zukunftsprognosen zu den digitalen Umbrüchen in der Arbeitswelt letztlich Realität werden könnten.
Der Wandel der beruflichen Landschaft durch die Digitalisierung ist ein Thema, das in den letzten Jahren vielfach wissenschaftlich untersucht wurde und auch in der öffentlichen Debatte große Befürchtungen ausgelöst hat. Immer wieder ist die Rede davon, dass ein beträchtlicher Teil der heutigen Berufe verschwinden werde – teils ersetzt durch Roboter, künstliche Intelligenz und digitalisierte Geschäftsprozesse, teils bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet. In der Folge könnte die globale Arbeitslosigkeit im Jahr 2050 bis zu 24 Prozent betragen (heute durchschnittlich elf Prozent), schätzen die Expertinnen und Experten des internationalen Millennium-Projektes, an dem auch die deutsche Bertelsmann-Stiftung beteiligt ist (Daheim/Wintermann 2016). »Apple, Google und Facebook erzielen zusammen so viel Umsatz wie früher die drei größten amerikanischen Autokonzerne – doch sie brauchen dafür nur ein Zehntel der Mitarbeiter.« (Hagelüken 2018)
Maßgeblich angestoßen wurde diese Debatte durch eine Untersuchung von Carl Benedict Frey und Michael A. Osborne (2013) von der Universität Oxford, in der sie für über 700 Berufe in den USA detailliert analysiert haben, inwiefern diese durch die Fortschritte in der Digitalisierung überflüssig werden könnten. Ihre Schlussfolgerungen sind dramatisch: Die sogenannten Risikoberufe, deren Ersetzbarkeit in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten wahrscheinlich scheint, machen demnach rund die Hälfte (47 Prozent) des gesamten heutigen Beschäftigungsvolumens der Vereinigten Staaten aus. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ihrer Studie war, dass im Unterschied zu vergangenen technologischen Umbrüchen und Automatisierungswellen die Digitalisierung nicht nur gering qualifizierte Tätigkeiten ersetzt. Auch viele Berufe mit einem mittleren Qualifikationsniveau und aus der Wissensarbeit sind betroffen – beispielsweise in der betrieblichen Sachbearbeitung, im Verkauf und in anderen qualifizierten Dienstleistungstätigkeiten. Als relativ geschützt werden dagegen künstlerisch-kreative Berufe angesehen und solche, die eine hohe soziale Kompetenz erfordern, beispielsweise im gehobenen Management oder in der sozialen Arbeit, aber auch in direkt personenbezogenen Dienstleistungen wie etwa dem Friseurwesen oder der Kranken- und Altenpflege.
Diese drastischen Prognosen haben die wissenschaftliche, aber auch die politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Studie von Frey und Osborne wurde für Europa verschiedentlich wiederholt (vgl. beispielsweise Dengler/Matthes 2015), mit in der Tendenz ähnlichen Resultaten. Allerdings gab es auch Kritik – dass Frey und Osborne die Geschwindigkeit des technologischen Wandels überschätzten, dass sie neu entstehende Berufe nicht hinreichend berücksichtigten oder dass tatsächlich nur bestimmte Tätigkeiten durch Computer ersetzt würden, nicht ganze Berufe (ebd.). Dennoch haben diese Studien die Debatte nachhaltig verändert. Jahrelang standen in wirtschaftlicher Hinsicht eher die positiven Auswirkungen der Digitalisierung im Fokus – neue Geschäftsfelder, verbesserte Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten etc. Nun kam die alte Frage wieder an die Oberfläche, die den technischen Fortschritt immer begleitet hat und begleiten wird: Machen die Maschinen die menschliche Arbeit irgendwann überflüssig?
Tatsächlich sind viele der Hoffnungen und Befürchtungen, die heute im Zusammenhang mit der Digitalisierung geäußert werden, historisch nicht neu (Heßler 2016). Die Vorstellung, dass Maschinen den Menschen und die menschliche Arbeit sukzessive ersetzen könnten, ist so alt wie die Industrialisierung selbst. Allerdings hat das Auftauchen der ersten Computer in den 1950er Jahren diese Diskussion nochmals grundlegend verändert. Denn erstmals schien uns die Technik nicht nur körperlich überlegen, sondern drang auch in jenen Bereich ein, der gemeinhin als ein Kern menschlicher Wesenhaftigkeit gesehen wird: die Fähigkeit zum intelligenten Denken und Urteilen (Heßler 2015). Seitdem hat dieser Diskurs verschiedene konjunkturelle Wellen erlebt. Weitreichende Visionen über die Möglichkeiten der neuen Technologien lösten sich dabei mit Phasen der Desillusionierung ab, in denen die Grenzen des Computereinsatzes im Arbeitsalltag stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten (Heßler 2016). Heute befinden wir uns erneut in einer Hochphase dieses Diskurses und es ist zu vermuten, dass auch darauf eine Zeit der Desillusionierung folgen wird.
Doch auch wenn absehbar ist, dass sich nicht alle heutigen Zukunftsvisionen tatsächlich realisieren werden, so ist doch unabweisbar, dass die Digitalisierung unsere Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten maßgeblich umgestaltet hat und dies auch in Zukunft weiter tun wird. Der Blick in die Geschichte kann uns jedoch lehren, dass die Entwicklung keineswegs so fest vorgezeichnet ist, wie manche aktuelle Prognosen vermuten lassen. Stattdessen scheint es sinnvoller, verschiedene Zukunftsszenarien zu unterscheiden, wie dies etwa der Arbeitssoziologe Hartmut Hirsch-Kreinsen (2016b) getan hat. Er unterscheidet drei mögliche Entwicklungslinien der Digitalisierung der Arbeitswelt: »Upgrading«, »Polarisierung« sowie »Flexibilisierung und Entgrenzung«. Diese sollen hier aufgegriffen und spezifisch auf die Veränderungen der Wissensarbeit angewandt werden.
Dies ist eine recht klassische Deutung des Automatisierungsdiskurses, die davon ausgeht, dass der Einsatz von Technik vor allem jene Anteile menschlicher Arbeit ersetzt, die repetitiv und wenig herausfordernd sind, wodurch die Tätigkeiten insgesamt eine Aufwertung erfahren. Entsprechend gibt es auch in der aktuellen Diskussion viele Positionen, die eher von einem solchen »Upgrade« bestehender Berufe ausgehen: Gerade mit Blick auf die qualifizierte Wissensarbeit wird angenommen, dass Algorithmen und vernetzte Computersysteme sukzessive immer mehr Routinetätigkeiten in der Informationserfassung und ‑verarbeitung übernehmen werden (vgl. etwa Hays et al. 2017). Dadurch sollen diese Berufe aber nicht vollständig ersetzt, sondern insgesamt anspruchsvoller und damit auch letztlich interessanter werden. Insbesondere kreative und soziale Aspekte, die sich nur schwer automatisieren lassen, könnten an Bedeutung gewinnen. Hinzu kommen neue Beschäftigungsperspektiven in der aufstrebenden Digitalwirtschaft, die einen Teil des wegfallenden Arbeitsvolumens ersetzen sollen.
Voraussetzung für dieses eher positive Szenario ist allerdings, dass das Bildungssystem auch in der Lage ist, entsprechend qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl auszubilden und ältere Beschäftigte weiterzuqualifizieren bzw. umzuschulen (Boes 2017). Dennoch wird auch in diesem Szenario erwartet, dass ein Teil der Beschäftigten mit den neuen Qualifikationsanforderungen nicht Schritt halten kann und dadurch Probleme auf dem Arbeitsmarkt bekommen wird (Boes/Kämpf/Lühr 2016; Brynjolfsson/McAfee 2014; Dengler/Matthes 2015; Hays et al. 2017; Hirsch-Kreinsen, 2016b: 10–11).
In einem weiteren Sinne kann man auch jene Positionen in das Szenario des »Upgrading« einordnen, die davon ausgehen, dass die Produktivitätsgewinne durch die Digitalisierung das Arbeitsvolumen insgesamt reduzieren und dadurch Zeitressourcen freisetzen werden, die die Menschen für andere sinnvolle Tätigkeiten jenseits der Erwerbssphäre nutzen können – beispielsweise für ehrenamtliches und zivilgesellschaftliches Engagement, für Familienarbeit oder künstlerisch-kreative Tätigkeiten. Die Digitalisierung würde uns also mehr Freizeit bescheren. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens aufgeworfen, das aus den Digitalisierungsdividenden finanziert werden könnte und es den Menschen erleichtern würde, zeitweilig oder dauerhaft das Erwerbssystem zu verlassen und andere Projekte zu verfolgen (Kurz/Rieger 2013; Straubhaar 2017).
Dieses Szenario geht ähnlich wie das erste davon aus, dass die Digitalisierung zwar einige Tätigkeiten aufwerten wird. Zugleich wird aber ein neuer digitaler Rationalisierungsschub erwartet, der für viele Berufe eher ein »Downgrading« hinsichtlich ihrer Qualifikationen und selbstbestimmten Handlungsmöglichkeiten bedeute (Hirsch-Kreinsen 2016b: 11–12). Die berufliche Landschaft würde sich also polarisieren in die Gewinner der Digitalisierung einerseits und einen Bereich der »digitalen Einfacharbeit« (Hirsch-Kreinsen 2016a) andererseits, während Berufe mit mittleren Qualifikationsanforderungen tendenziell an Bedeutung verlieren.
Der Grund für dieses »Downgrading« sind nicht in erster Linie mangelnde Qualifikationen der Beschäftigten. Vielmehr werden ganze Tätigkeitsfelder so umstrukturiert, dass Algorithmen, Datenbanksysteme, künstliche Intelligenz und digitale Überwachungstechnologien die anspruchsvollen Steuerungs- Koordinations- und Entscheidungsfunktionen zu einem großen Teil übernehmen, während die Menschen nur noch jenen »Workflow« ausführen, den die Technik detailliert vorgibt und überwacht. Es entsteht eine Art »digitaler Taylorismus«, in dem die »Spielräume für die autonome Ausgestaltung der Arbeitsprozesse durch die Beschäftigten fast vollständig getilgt sind« (Staab/Nachtwey 2016: 28; vgl. auch Moore 2019). Beispiele für solche Entwicklungen finden sich heute schon in vielen Bereichen: von den Warenhäusern von Amazon, in denen jeder Schritt der Beschäftigten minutiös digital geplant und kontrolliert wird (Staab/Nachtwey 2016: 27–30), bis hinein in Bereiche hoch qualifizierter Wissensarbeit wie etwa die »agile« Softwareentwicklung (Boes/Kämpf/Lühr/Marrs 2014; Boes/Kämpf/Langes/Lühr 2018: 28–30) oder den Bankensektor, wo Finanzprodukte, Beratungs- und Vertriebsprozesse immer weiter standardisiert und digital vorstrukturiert werden, sodass die Spielräume für individuelle Beratung sehr gering werden (Praeg/Schmidt 2016; vgl. auch den Beitrag von Christiane Schnell in diesem Band).
Zur Polarisierung der Beschäftigtenstruktur trägt ebenfalls bei, dass das mittlere Management in digital durchorganisierten Unternehmen tendenziell an Bedeutung verliert. Klassischerweise ist es eine zentrale Aufgabe dieser mittleren Führungsschicht, zwischen der Geschäftsleitung und den Beschäftigten zu vermitteln und den Informationsfluss in beide Richtungen zu gewährleisten. Bereits heute werden diese Aufgaben zumindest teilweise durch digitale Steuerungs-, Planungs- und Controllinginstrumente wie etwa das verbreitete SAP ERP übernommen – ein Trend, der sich mit dem verstärkten Einsatz digitaler »Business-Analytics«-Tools noch weiter verstärken dürfte (Arbeitskreis Integrationsmanagement für neue Produkte der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V. 2018; Boes et al. 2018; Staab/Nachtwey 2016: 29).
Dieses dritte Szenario ist nicht unbedingt als Alternative zu den beiden zuerst genannten zu verstehen, sondern kann sich durchaus parallel vollziehen. Es beschreibt die zeitliche, räumliche, organisationale und funktionale Entgrenzung von Arbeit, die durch digitale Technologien ermöglicht und vorangetrieben wird (Hirsch-Kreinsen 2016b: 12–14). Bereits heute sehen wir, wie der Einsatz von Smartphones, Homeoffice und Cloudtechnologien die raumzeitlichen Grenzen der Arbeit verschiebt uns insbesondere die für die moderne Gesellschaft so charakteristische Trennung von Wohn- und Arbeitsort sowie Freizeit und Erwerbsleben aufzulösen beginnt (siehe dazu auch den Beitrag von Leila Gisin, Jens Meissner und Philipp Ott in diesem Band). Im Feld der Wissensarbeit, wo es ja hauptsächlich um die Verarbeitung von Informationen geht, die sich leicht digitalisieren lassen und kaum ortsgebunden sind, ist diese Entwicklung schon vergleichsweise weit vorangeschritten (Boes/Kämpf/Gül et al. 2016).
Digitale Kommunikations- und Kollaborationstools wie Outlook, Skype oder Slack ermöglichen außerdem die Zusammenarbeit in virtuellen Projektteams, die nicht nur die Grenzen eines physischen Unternehmensstandortes, sondern auch Ländergrenzen überspannen (siehe dazu den Beitrag von Franziska Kohler in diesem Band). Von dort ist der Schritt nicht weit, auch unternehmensexterne Personen zur Bearbeitung der digital erfassten und koordinierten Arbeitsvollzüge heranzuziehen. Die Rede ist hier von »Crowdworking« oder »Crowdsourcing«, bei dem komplexe Prozesse in kleine und kleinste »Work Packages« aufgesplittet werden, deren Bearbeitung dann über digitale Plattformen an eine große Menge externer Auftragnehmerinnen und -nehmer (die »Crowd«) vergeben wird (Leimeister/Durward/Zogaj 2016; vgl. auch den Beitrag von Markus Hodel und Franziska Kohler in diesem Band). Diese neue Form der Arbeitsorganisation wirft viele Fragen auf – insbesondere weil sich hier geringe Autonomiespielräume, eine oft sehr rigide Kontrolle des Arbeitsvollzuges (beispielsweise über die Erfassung von Tastaturanschlägen oder Screenshots) und eher schlechte Bezahlung mit sehr reduzierten sozialen Schutzrechten verbindet, da die Crowdworker formal als selbständig Erwerbende firmieren (Leimeister et al. 2016; Staab/Nachtwey 2016: 29–31; Benner 2015).
Als »entgrenzt« kann diese neue Arbeitsform insofern gesehen werden, als sich hier nicht nur raumzeitlich, sondern auch in sozialer Hinsicht die Grenzen des Betriebes auflösen (Jürgens/Hoffmann/Schildmann 2017: 33–35). Es fragt sich, inwiefern überhaupt noch sinnvoll von einem Betrieb oder einer Organisation gesprochen werden kann, wenn deren »Mitglieder« (die Crowd) von Stunde zu Stunde wechseln, über die ganze Welt verstreut sind, sich untereinander nicht kennen und nur atomisierte Arbeitspakete erledigen, deren übergreifender Sinn ihnen häufig verborgen bleiben dürfte. Eine solche Entwicklung wäre insofern folgenreich, als der Betrieb ja nicht nur Arbeitsstätte ist, sondern auch ein Lebensort, an dem wir üblicherweise viel Zeit verbringen, wo soziale Bindungen, Freundschaften und manchmal sogar Liebesbeziehungen entstehen, wo sich politische Interessensvertretungen formieren (etwa im Rahmen gewerkschaftlicher Arbeit), wo Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Selbstbestätigung erfahren werden. Formen der digitalen Vereinsamung, wie wir sie bereits aus der privaten Internet- und Social-Media-Nutzung kennen (Turkle 2010), könnten zukünftig auch in der Arbeitswelt stärker um sich greifen, wenn sich die soziale Einheit des Betriebes als solche aufzulösen beginnt.
Schließlich kann in einer weiteren, diesmal funktionalen Hinsicht davon gesprochen werden, dass sich die Arbeit unter den Bedingungen der Digitalisierung entgrenzt. Viele der aktuell erfolgreichsten Unternehmen der neuen Digitalökonomie sind eigentlich nur Betreiber von Plattformen2, während die angebotenen Inhalte, Güter oder Dienstleistungen von den Nutzerinnen und Nutzern selbst bereitgestellt werden. Sie füllen YouTube mit interessanten Videos, Instagram mit ihren Fotos, schreiben die Texte auf Facebook und bieten auf Airbnb ihre Privatwohnungen an (siehe dazu die Fallstudie von Kai Dröge in diesem Band). Die Rollen von Konsumierenden und Produzierenden sind in dieser digitalen Plattformökonomie nicht mehr funktional getrennt, sondern verschwimmen in der neuen Mischform der »Prosumer« (Ritzer/Jurgenson 2010). Die Tätigkeit dieser »Prosumer« kann durchaus als Arbeit begriffen werden, denn sie produziert einen Mehrwert, ohne den das Geschäftsmodell der Anbieter nicht überlebensfähig wäre (Dröge/Voirol 2013). Entgrenzt ist diese Arbeit in einem doppelten Sinne: Zunächst, weil hier Menschen im Dienste des Unternehmens tätig werden und maßgeblich zur Wertschöpfung beitragen, ohne in einem Angestellten- oder klar definierten Auftragsverhältnis zu stehen und ohne dafür im herkömmlichen Sinne entlohnt zu werden.3 Entgrenzt ist diese Arbeit aber auch insofern, als hier zumeist private Aktivitäten wie das Teilen persönlicher Fotos, Videos oder Texte, die eigentlich keinem ökonomische Zweck dienen, einer wirtschaftlichen Verwertung zugeführt werden. Hier werden also die Grenzen ökonomisch produktiver Arbeit bis weit in die Privat- und Intimsphäre hinein ausgedehnt (Dröge/Voirol 2013).
Ein häufiges Problem in der Diskussion um die sozialen Auswirkungen technologischer Umbrüche ist, dass sie sehr stark technikdeterministisch argumentieren. Das heißt, man geht davon aus, dass das, was aus heutiger Sicht technisch möglich scheint, auch so umgesetzt wird und entsprechende Auswirkungen in Gesellschaft und Arbeitswelt nach sich zieht. Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass solche Prognosen häufig falsch liegen. Auch die Geschichte der digitalen Medien ist reich an Beispielen für Fehleinschätzungen dieser Art. So gab es Smartphones in einem technischen Sinne beispielsweise schon lange vor Einführung des iPhones (zum Beispiel Blackberry oder Modelle mit Windows CE bzw. Windows Mobile). Aber erst Apple hat es vermocht, daraus einen Kultgegenstand zu machen, der die Massen anzieht und so die Nutzung digitaler Medien nachhaltig und umfassend verändert hat. Solche und andere Beispiele zeigen, dass nicht die technischen Möglichkeiten alleine darüber entscheiden, ob eine Innovation sich letztlich durchsetzt oder nicht. Viel wichtiger ist oft, welche kulturelle und soziale Dynamik rund um eine Technologie entsteht und welche Widerstände oder Hemmnisse ihr im Alltag entgegenstehen (klassisch dazu: Lutz 1987; Heintz 1993). Davon hängt ab, welche technischen Innovationen sich letztlich durchsetzen und welche konkreten Nutzungsformen im Alltag entstehen.
Vor diesem Hintergrund ist auch gegenüber den aktuellen Prognosen zur Zukunft der digitalisierten Arbeitswelt einige Skepsis angebracht, denn sie argumentieren oft ebenfalls nach dem klassischen Muster des Technikdeterminismus – sie leiten also zukünftige Entwicklungen primär aus dem technisch Machbaren ab und beziehen kulturelle und soziale Rahmenbedingungen kaum ein. Tut man dies, so kommt man zu einem differenzierteren Bild, das auch sichtbar macht, welche Hemmnisse sich einer ungebremsten Digitalisierung in den Weg stellen könnten und welche Widersprüche und Ungewissheiten dieser Prozess in sich birgt.
Wir wissen aus der Change- und Transformationsforschung, dass betriebliche Reorganisationsprozesse oft mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und sich selten bruchlos so umsetzen lassen wie geplant. Dies hat nicht unbedingt – wie oft unterstellt – mit einer generellen Ablehnung jeglichen Wandels durch die Beschäftigten zu tun, sondern vor allem auch damit, dass geplante Veränderungen mit eingespielten sozialen Kooperationsmustern und bewährter Routinen kollidieren, formelle und informelle Hierarchien im Betrieb infrage stellen oder in Konflikt zu unternehmenskulturellen Wertorientierungen und Arbeitshaltungen geraten, die sich nicht von heute auf morgen ändern lassen (Dent/Goldberg 1999). Dies gilt natürlich auch für Transformationsprozesse, die durch neue digitale Technologien ausgelöst werden. Aber auch umkehrt kann es sein, dass soziale oder kulturelle Veränderungen in Arbeitswelt und Gesellschaft bestimmten technologischen Entwicklungen eine neue und unerwartete Dynamik verleihen.
Ein Beispiel dafür ist das bereits erwähnte digitale Homeoffice, früher auch als »Telearbeit« bezeichnet. Die Idee an sich ist alt und auch die technologischen Voraussetzungen sind prinzipiell bereits seit Jahrzehnten verfügbar. Schon 1976 prophezeite Norman Macrae, stellvertretender Herausgeber des britischen Economists, es werde bald ganz normal sein, auf Tahiti zu leben und via Computer in einem New Yorker Büro zu arbeiten (Macrae 1976: 53). Tatsächlich hat sich die Praxis des Homeoffice aber erst in den letzten Jahren und hier auch nur in bestimmten Beschäftigtenkategorien langsam etablieren können. Die Gründe sind weniger technischer als vielmehr sozialer Natur. Darin spiegeln sich Wandlungsprozesse kultureller Normen und Werte ebenso wie der sozialen Praxisformen im Berufs- und Privatleben. In den frühen 1980er Jahren waren es zunächst die Beschäftigten und die Gewerkschaften, die erste Ansätze zur Einführung von Telearbeit vehement bekämpften. Hintergrund war, dass hier eine Wiederkehr der extrem prekären Arbeitsverhältnisse der »Heimarbeit« aus frühkapitalistischen Zeiten befürchtet wurde (Jäckel/Rövekamp 2001; Tanner 2002). Diese negative Einschätzung kehrte sich in den Folgejahren jedoch weitgehend um. Ein wesentlicher Motor dafür war der Wandel der familialen Lebensformen und die damit zusammenhängende steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen. Nun forderten Beschäftigte verstärkt selbst ein, zumindest einen Teil ihrer Erwerbsarbeit auch von zu Hause aus erledigen zu können, um Beruf und Familie besser zu vereinbaren (Jäckel/Rövekamp 2001). Dem entgegen standen diesmal jedoch Vorbehalte vonseiten der Unternehmen und Vorgesetzten, die einen Verlust an Kontrollmöglichkeiten befürchteten, wenn ihre Untergebenen nicht mehr im Betrieb, sondern in den eigenen vier Wänden arbeiteten (Kordey/Korte/Fedtke 1998: 41). Diese Vorbehalte konnten erst in jüngerer Vergangenheit durch den Wandel der Führungskonzepte von direkter Kontrolle zu indirekten Steuerungsformen und mehr Selbstkontrolle teilweise abgebaut werden.
Das Beispiel zeigt, dass erst aus dem Zusammenspiel technischer Möglichkeiten, unternehmenskultureller Veränderungsprozesse und dem Wandel sozialer Lebenswelten eine Dynamik entstanden ist, die schließlich tatsächlich einen Übergang zu neuen Arbeitsformen eingeleitet hat. Ähnlich komplexe und ergebnisoffene Entwicklungen sind auch in anderen Bereichen der Digitalisierung der Arbeitswelt zu erwarten. So ist es zum Beispiel sehr unwahrscheinlich, dass das oben beschriebene »Downgrading« von Tätigkeiten durch digitale Steuerung oder der geschilderte Bedeutungsverlust des mittleren Managements ohne Widerstände vonseiten der Betroffenen geschehen wird (für aktuelle Beispiele solcher Widerstandsformen siehe Moore 2019). Im Bereich von Big-Data-Anwendungen, algorithmischen Entscheidungsprozessen und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz stehen weitreichende ethische, normative und juristische Fragen im Raum, deren gesellschaftliche Klärung erst ganz am Anfang steht (Lischka/Klingel 2017). Wer beispielsweise kann juristisch und moralisch zur Verantwortung gezogen werden, wenn eine künstliche Intelligenz Fehlentscheidungen trifft? Wer haftet, wenn eine digital unterstützte medizinische Diagnose fehlerhaft ist oder ein autonomes Fahrzeug einen Unfall hat (Di Fabio/Broy/Hilgendorf/Nehm 2017)? Unter welchen Bedingungen sind algorithmische Verfahren zur Bewertung von Bewerberinnen und Bewerbern bei der Stellenvergabe, zur Rückfallwahrscheinlichkeit von Straffälligen oder zur Risikoprognose eines Kreditantrages gerechtfertigt und wann stellen sie eine illegitime Diskriminierung dar (Lischka/Klingel 2017)? Die Antworten auf diese Fragen werden weitreichende Konsequenzen dafür haben, inwieweit menschliches Wissen sowie menschliche Intelligenz und Entscheidungskompetenz zukünftig tatsächlich durch Algorithmen ersetzt werden wird.
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