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Beschreibung

Die deutschen Gewerkschaften sind massiv von den Auswirkungen der Digitalisierung der Arbeitswelt betroffen. Ihre Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit wird ebenso strapaziert wie ihr Anspruch auf eine möglichst umfassende Repräsentation der lohnabhängig Beschäftigten und Arbeitenden. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Beiträger*innen die theoretischen Möglichkeiten und praktischen Erfahrungen mit der Digitalisierung von Gegenmacht aus gewerkschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Dazu gehören u.a. Formen des Arbeitskampfes im digitalen Sektor und neue, widerständige Praktiken im Internet oder in der digitalen Infrastruktur von Unternehmen und Konzernen.

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Martin Oppelt, Falko Blumenthal (Hg.)

Digitalisierung von Gegenmacht

Gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit und Arbeitskampf heute

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Martin Oppelt, Falko Blumenthal (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: IG Metall FB Kommunikation, Presse und Medien, Mediendesk, Frankfurt am Main

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN: 978-3-8376-6545-1

PDF-ISBN: 978-3-8394-6545-5

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6545-1

Buchreihen-ISSN: 2699-6626

Buchreihen-eISSN: 2703-111X

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

 

Digitalisierung und Gegenmacht – Erkundungen im politischen Denken und gewerkschaftlichen HandelnFalko Blumenthal und Martin Oppelt

Technik, Macht und MitbestimmungJohanna Wenckebach

Digital mediatisierte Kollektivität und die physische Prägung der VersammlungsfreiheitNiklas Rakowski

Spekulative Konflikte – Zur strukturellen Macht Lohnabhängiger im finanzialisierten KapitalismusFranziska Cooiman und Valentin Niebler

Gegenöffentlichkeit folgt Singularisierung? Der Arbeitskampf bei Gorillas und die Herausforderungen gegenwärtiger Rider-ProtesteJanis Ewen, Heiner Heiland und Martin Seeliger

Predictive Risk Intelligence – Macht und Gegenmacht bei digitaler ÜberwachungTim Laumann

Digitale Organisierung und Gewerkschaften: Zwischen der Krise der Repräsentation und der Notwendigkeit neuer Formen sozialer OrganisationPaolo Gerbaudo

Autor*innen

Digitalisierung und Gegenmacht – Erkundungen im politischen Denken und gewerkschaftlichen Handeln

Falko Blumenthal und Martin Oppelt

1.Avanti popolo, alla riscossa

Neben der Anlage und Pflege von Flechthecken und der Helgoländer Dampferbörte zählt seit 2014 auch das Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung zum »immateriellen Kulturerbe« in Deutschland. Laut dem 2006 ratifizierten UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (UNESCO 2003) drückt sich dieses sowohl in mündlich überlieferten Traditionen, Bräuchen und Ritualen, als auch in »Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation« (Deutsche UNESCO-Kommission 2023: 10) sowie in »Wissen […] in Bezug auf die Natur und das Universum« (UNESCO 2003: 4) aus. Mit dem Übereinkommen sollen in Ergänzung zum UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 die »Wechselwirkungen zwischen immateriellem Kulturerbe und materiellem Welterbe« hervorgehoben werden. Dies geschehe in

»Anerkennung der Tatsache, dass die Prozesse der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels neben den Voraussetzungen, die sie für einen neuerlichen Dialog zwischen den Gemeinschaften schaffen, auch – wie das Phänomen der Intoleranz – große Gefahren für den Verfall, den Verlust und die Zerstörung des immateriellen Kulturerbes mit sich bringen« (UNESCO 2003: 1).1

Die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes, welches Gemeinschaften, Gruppen und mitunter Einzelpersonen in »Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestalten«, liege dann darin, diesen »ein Gefühl von Identität und Kontinuität« zu vermitteln (UNESCO 2003: 3), weswegen sich die Vertragsstaaten unter anderem darauf verpflichten, »die Funktion des immateriellen Kulturerbes in der Gesellschaft aufzuwerten« (UNESCO 2003: 9).

Nun lässt sich – aus Perspektive der Sozialwissenschaften zumal – trefflich darüber streiten, welche Funktion ein immaterielles Kulturerbe konkret haben kann und was überhaupt ›die Gesellschaft‹ jenseits eines umstrittenen unmöglichen Objekts (Marchart 2013) sein soll. Über die Lieder der Arbeiterbewegung heißt es dazu konkret (Deutsche UNESCO-Kommission 2023: 128), dass ihr Singen »Ausdruck einerseits von Benachteiligung und Unterdrückung der lohnabhängigen Beschäftigten, andererseits aber auch von ihrer Gegenwehr und Zukunftsgewissheit« sei und sie ein Beispiel dafür abgäben, »wie Volkskultur aus fortschrittlichen und demokratischen Ansätzen neu gestaltet« werde. Heute komme die Praxis schließlich »bei Versammlungen, anlässlich von Streiks und anderen gewerkschaftlichen Aktivitäten zum Ausdruck«.

So liegt demnach die bewahrenswerte Funktion der Lieder der Arbeiter*innenbewegung (beziehungsweise ihres kollektiven Singens) darin, ein lebendiges Zeugnis über eine bestimmte Tradition gesellschaftlicher Selbstorganisation abzulegen, die Wissen über eine spezifische und historisch einflussreiche Form der Beziehung des Menschen zur Natur und zur Welt generiert und bewahrt, um dieses Wissen in einen Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung einer gesellschaftlichen Gruppe (durch eine oder mehrere andere) als unmittelbare Folgen dieser konkreten Beziehung zu überführen. Dies leistet die Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung im Bewusstsein der Möglichkeit der Gestaltbarkeit von ›Natur‹ und ›Geschichte‹ als kontingente, also nicht-notwendige und prinzipiell veränderbare gesellschaftliche Bedingungen und mittels Herstellung und (Re-)Aktivierung einer sinnstiftenden kollektiven Identität. Dabei geht es schließlich – was uns der hier bedeutendste Aspekt erscheint – nie um das partikulare Interesse der unterdrückten Gruppe allein. Vielmehr, so deuten wir den Text, wird der in den Liedern besungene und durch deren Singen beförderte Kampf auf eine quasi-universelle Ebene gehoben, wo er auf eine fortschrittlichere und demokratischere Zukunft für Alle, oder zumindest für das wie auch immer dann konkret zu fassende und in seiner Konstitution notwendig umstritten bleibende ›Volk‹ (Badiou et al. 2017) abzielt.

Und tatsächlich wird gerade im Vergleich zu etwa dem ebenso gelisteten Spitzenklöppeln im Oberpfälzer Wald oder der Zubereitung und Anwendung von traditionellem Kalkmörtel schnell einsichtig, dass die von der Arbeiter*innenbewegung über die Jahrzehnte (oder gar Jahrhunderte) hinweg am Leben gehaltenen epistemologischen, organisatorischen, historischen und politischen Ressourcen in ihrer Verbindung zu den allgemeinen Bedingungen und Gefährdungen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität als Grundmarker demokratischer Gesellschaften eine gesamtgesellschaftliche Dimension aufweisen. Demokratie kann oder muss hier dann in einem radikalen Verständnis (Comtesse et al. 2019; Flügel-Martinsen 2020) gefasst werden, welches weniger auf die etablierten Institutionen, Regeln und Verfahren sich selbst als demokratisch verstehender Gesellschaften, als vielmehr auf das konfliktgeladene Offenhalten des Politischen und auf die emanzipatorischen Kämpfe der Unterdrückten und Marginalisierten um den Einschluss Aller in die demokratische Gemeinschaft der Gleichen und Freien beziehungsweise gegen deren exkludierende Praktiken fokussiert.

In diesem Verständnis sollten die Lieder der Arbeiter*innenbewegung und die in ihnen übermittelten Traditionen daher nicht als an sich beschützenswertes (immaterielles) Artefakt objektifiziert werden. Andernfalls bestünde schließlich die Gefahr, sie ihres politischen Gehalts zu berauben und zur Folklore verkommen zu lassen, wo sie etwa auf Versammlungen ehemals traditioneller Arbeiter*innenparteien inbrünstig geschmettert werden, nachdem man dort Arbeitsmarktreformen durchgewunken hat, die es gelinde gesagt an Solidarität mit mindestens den Adressierten missen lassen. Da es unserer Ansicht nach in und mit ihnen im Sinne der oben genannten »Wechselwirkungen zwischen immateriellem Kulturerbe und materiellem Welterbe« (UNESCO 2003: 1) vielmehr immer auch um den Kampf um den Erhalt oder die (Neu-)Schaffung der Voraussetzungen und Bedingungen der Demokratie beziehungsweise gegen ihre Gefährdungen unter den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und technologischen Verhältnissen geht, sollten sie als ein wichtiger Bestandteil des Archivs und Arsenals der politischen Ideengeschichte (Llanque 2008) sowohl der Arbeiter*innenbewegung als eben auch der Demokratie behandelt werden. Inwiefern Staat, Politik und Parteien für deren Erhalt und Aufwertung dann wirklich Sorge tragen (können), muss freilich fraglich bleiben. Bereits ein flüchtiger Blick in die Geschichte legt schließlich offen, warum jene meist eher ex negativo als Angriffspunkt und Hemmschuh der anzustrebenden freieren und emanzipierteren Welt adressiert wurden. Daher widmen wir uns im vorliegenden Band auch den Gewerkschaften als Bewahrerinnen dieser Tradition kämpferischer gesellschaftlicher Selbstorganisation und zwar nicht nur als einer Institution derPolitik im Sinne eines spezifischen Institutionensystems, welches gesamtgesellschaftliche Angelegenheiten (ver)regelt und koordiniert, sondern auch als einer Institution desPolitischen (Hermann/Flatscher 2020; Marchart 2010), also der ontologischen Dimension der (Neu-)Gründung demokratischer Gesellschaften und politischer Systeme in kontingenten und konfliktgeladenen Auseinandersetzungen (auch) in Krisenzeiten und Transformationsprozessen.

Als Bestandteil der politischen Ideengeschichte der Demokratie sagen uns die Traditionen der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung daher also nicht nur etwas über längst vergangene Zeiten aus. Sie sind kein Gegenstand fürs Museum, sondern beanspruchen Relevanz für die Gegenwart sowie für eine mögliche, wenngleich heute noch mitunter utopisch erscheinende Zukunft, die jedoch in gegenwärtigen widerständigen Praktiken (vgl. Höntzsch/Celikates 2019) vielleicht schon vorgedacht und vorgeformt, sprich: präfiguriert wird (Sörensen 2023a; Sörensen 2023b). Politisch sind sie dann, weil mit ihnen »Normen in Handlungen überführt werden und Orte, Räume, Regime geschaffen werden, in welchen sich dieses [politische] Handeln abspielt und koordiniert wird« (Llanque 2008: 1). Gleichzeitig dienen sie als ein Prüfstein, der an gegenwärtige Verhältnisse angelegt wird, um so (selbst-)kritisch zu eruieren, ob und welche möglichen Strategiewechsel angezeigt sind, um dem eigenen historischen Auftrag noch gerecht werden zu können. Versteht man also die Lieder der deutschsprachigen Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung – ungeachtet deren Quellorganisationen in christlichen, jüdischen, liberalen, sozialistischen und anarchistischen Traditionen, vor allem aber deren Aufspaltung in mindestens einen sozialdemokratisch-reformistischen und einen kommunistisch-revolutionären Strang – nicht nur als Zeugnisse einer kollektiven Arbeiter*innen-Identität, sondern als Trägerinnen eines sinnstiftenden kämpferischen demokratischen Narrativs mit dem Ziel effizienter Mobilisierung und des Aufbaus schlagfertiger Gegenmacht, wird die Bedeutung organisierter Arbeitskämpfe für die Herstellung befreiter Verhältnisse für Alle erkennbar.

Auf die gegenwärtige Situation angewandt, fällt dann (neben der die Arbeiterinnen* konsequent verdeckenden Maskulinität der Texte) vor allem die Bedeutung körperlicher Ko-Präsenz als wesentliche Stütze der Hoffnung auf eine durch erfolgreiche Bildung von Gegenmacht erreichbare bessere Welt auf. So reihten sich in jenen Liedern die Kämpfer (Einheitsfrontlied) seit jeher »Seit an Seit« schreitend und durch »starke Arme« verbunden ein, während »Wort und Lied und Blick und Schritt« zusammenschlugen und das (einander) Sehen und Hören und (miteinander) Sprechen und Marschieren die »neue Zeit« fühlbar machten (Wann wir schreiten Seit an Seit). Jene starken Arme sollten dann auch alle Räder stillstehen lassen, sobald die eigene Macht erkannt und der entsprechende Wille geformt wäre (Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein), so dass alle Brüder (!) sodann »in eins die Hände« legend den »Zug von Millionen« bilden und in eine strahlende Zukunft aufbrechen (Brüder zur Sonne). Wo also eine bessere Welt tatsächlich erreichbar scheint (Dem Morgenrot entgegen), sind es einander über geteilte leibliche Erfahrungen verbundene Körper, die den »langen schweren Weg« (Leben einzeln und frei) gemeinsam und mitunter auch mittels physischer Anstrengung von allen Hindernissen freiräumend auf sich nehmen (Die Internationale) und die eigene Handlungsmacht in die »kommende Welt« tragen, die man nur selbst erschaffen kann (Der Arbeiter von Wien).

Und tatsächlich berichten auch Zeitzeug*innen der Widerbelebung der Arbeiterlieder als Mittel des politischen Kampfes nach Faschismus und Adenauer-Ära ab den 1960er Jahren von der Bedeutung genau jener körperlichen Dimension:

»Also wir wurden nachts angerufen und da wurde ein Termin gegeben, morgen früh 9 Uhr an dem und dem Tor. Und dann ins Auto steigen und dann die Anlage aufgebaut und dann mit den Leuten vor Ort singen. Wir haben Texte dabei gehabt, haben das verteilt und es war sofort eine neue Situation, die in diesem Streikalltag plötzlich ein neuer Höhepunkt war. Also man hat gemerkt, dass das nicht nur große Freude bereitet hat, sondern dass auch die Sinnhaftigkeit eine andere war, dessen, dass sie da gemeinsam auch was gesungen haben. Das war ein ganz, ganz wichtiges stabilisierendes Element in dieser Streikauseinandersetzung. […] Es war nie tot, aber es wird erst dann interessant, wenn der Betrieb, in dem du arbeitest, in Schwierigkeiten gerät. Wenn du nachts als Streikender vor dem Tor stehst und die Nächte sind lang, dann ist es schön, wenn man ein Lied hat, das man singen kann« (Herzing 2016).

Wo nun jedoch die körperliche Dimension der Versammlung ein fundamentales Prinzip des Aufbaus erfolgreicher Gegenmacht ist, stellt sich mit Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche Transformationsprozesse die Frage, ob und wie dies noch praktisch umsetzbar ist und weiterhin Relevanz beanspruchen kann. Wo nämlich aufgrund des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft (Seeliger 2023) die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der physischen Versammlung in Arbeitskontexten abnehmen, wo historische Kontinuitäten strukturell bedingt unterbrochen und damit die Grundlagen für die Herausbildung tragfähiger politischer Identitäten (systematisch) zerstört werden, wie kann dort das tradierte Wissen noch in politisches und vor allem schlagkräftiges Handeln übersetzt werden? Welche Orte und Räume kollektiven Handelns kann es noch bespielen oder selber schaffen, wo als Folge von Neoliberalisierung und Digitalisierung die Räder, die man stillstellen will, gar nicht mehr physisch greifbar sind, sei es, weil sie im Zuge von Standortwechseln verschifft, auf weit verstreute Standorte aufgeteilt oder aufgrund technologischer Fortschritte bereits komplett überflüssig geworden sind? Welchen Sinn macht es da noch, sich zu versammeln, worauf und wie kann und muss man die eigene (physische wie intellektuelle) Kraft noch werfen und welche Rolle kommt der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung hier noch zu?

Unbestreitbar haben Globalisierung, Neoliberalisierung und Digitalisierung auch in Deutschland massive Auswirkungen auf die Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften sowie auf deren Anspruch auf eine möglichst umfassende Repräsentation der lohnabhängig Beschäftigten und Arbeitenden, weswegen seit längerem eine Krise der Gewerkschaften zu konstituieren ist (Ebbinghaus 2002; Müller-Jentsch 2006). Die voranschreitenden politischen, ökonomischen, sozialen und technologischen Veränderungen haben sich stark auf das traditionelle Verständnis von Arbeit ausgewirkt, was auch am klassischen Verständnis von Arbeitskämpfen nicht spurlos vorbeigehen kann. Phänomene wie der Rückbau des Wohlfahrts- und Sozialstaates, der vermeintliche Rückgang nationalstaatlicher Souveränität und die Entstehung postindustrieller Gesellschaften stellen nicht zuletzt auch Gewerkschaften und Betriebsräte vor existenzielle Herausforderungen. Hinzu kommen Themen der Ökologie, der Geschlechtergerechtigkeit und des Anti-Rassismus, die es mit dem Anspruch der Vertretung der Interessen vor allem von Arbeiter*innen in Einklang zu bringen gilt, wo die Gewerkschaften eben gleichzeitig mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen haben und entsprechend an Durchschlagskraft einbüßen. So werden Gewerkschaften und Betriebsräte mitunter auch von ihrem Kernklientel immer weniger als relevante Akteure auf dem klassischen Konfliktfeld zwischen Staat, Kapital und Arbeit angesehen, zugleich aber gelingt es ihnen nicht, ausreichend Strahlkraft auf neue Akteure des sozialen, politischen und ökonomischen Wandels auszuüben.

Vor diesem Hintergrund wird daher die Frage drängender, ob und inwiefern sich Gewerkschaften gerade unter den Bedingungen eines digitalen Kapitalismus (Staab 2019) neu aufstellen müssen und überhaupt aufstellen können, um in der immer größer und wichtiger werdenden Netzwerk- und Informationsökonomie dem traditionellen Anspruch auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen genüge leisten und effiziente Bündnisse »zum Kampf gegen die Übergriffe des Kapitals« (Engels 1987: 258) und gegen den Rückbau demokratischer Errungenschaften schmieden zu können. Die Bedeutung gerade der Digitalisierung für die traditionell von Gewerkschaften und Betriebsräten bespielten Arenen der Tarifpolitik und klassischen Interessensvertretung soll daher im vorliegenden Band diskutiert werden, nicht zuletzt weil sie die traditionellen Prinzipien des Aufbaus von Gegenmacht mit am stärksten betrifft. Zugleich soll auch nach ihren Auswirkungen auf die Bedeutung von Gewerkschaften als identitätsstiftende und zum politischen Kampf mobilisierende Solidargemeinschaften gefragt werden. Wir sehen die Rolle der Gewerkschaften als nach wie vor maßgeblich an, um Gegenmacht gegen politisch gesteuerte Transformationsprozesse aufzubauen, die wir mindestens als enorme Herausforderung, wenn nicht als Gefahr nicht nur für die Interessen und Lebensbedingungen der lohnabhängigen Beschäftigten, sondern für die Demokratie im Sinne eines emanzipatorischen Kampfes für Gleichheit und Freiheit für Alle begreifen.

2.Chancen auf Gegenmacht in der Digitalisierung

In der Bundesrepublik sind die Gewerkschaften insofern eine Besonderheit, als dass sie recht offen mit dem Begriff Macht arbeiten. Die autonome Handlungs- und Konfliktfähigkeit ist in der gewerkschaftstheoretischen Debatte die zentrale Kategorie, nach der diese beurteilt werden können (Kittner 2020: 103). In Abgrenzung zu einem Sozialverband, der durch Beratung und Petitionen wirkt, sind Gewerkschaften durch Streik und Boykott in der Lage, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, wie es die Arbeitgeber*innen nicht von sich aus gewähren möchten. Verwandt sind die Gewerkschaften mit den Sozialverbänden in der Hinsicht, als dass sie ihre Mitglieder in Fragen des Arbeits- und Sozialrechts beraten und vor Gericht vertreten, sozialpolitische Interessenvertretung auf allen Ebenen des politischen Systems betreiben und durch Bildungsarbeit sowie Kulturarbeit Identitäten stiften. In Abgrenzung zu Parteien und Initiativen gehen die Gewerkschaften als Solidargemeinschaften jedoch mit unmittelbar materiellen Leistungen für ihre Mitglieder über politische oder ideelle Beweggründe für eine Mitgliedschaft hinaus, was sich in ihrer um ein Vielfaches breiteren Mitgliederbasis gegenüber Parteien und verwandten Strukturen niederschlägt. In Verwandtschaft mit den Parteien und politischen Wahlämtern schafft das deutsche System der dualen Mitbestimmung eine Beziehung zwischen den gewerkschaftlichen Institutionen und Gremien einerseits und andererseits den gesetzlichen Interessenvertretungen in Betriebsräten, Personalräten, Mitarbeitendenvertretungen und, nicht zuletzt, in den Aufsichtsräten: Interessenvertretungen im Betrieb, in der Dienststelle oder auf übergeordneter Ebene greifen auf die Ressourcen der Gewerkschaften in Form von Expertise (einschließlich der Eigenschaft der Gewerkschaften als größter nicht-öffentlicher Bildungsanbieterin), politischem Druck und Wahlkampffinanzierung zurück. Sie verschränken ihre gesetzlichen Möglichkeiten mit der gewerkschaftlichen Mobilisierung, um Tarifrecht zu schaffen. Gegenläufig entwickeln die Gewerkschaften aus ihrem Austausch mit den gesetzlichen Interessenvertretungen politische Zielsetzungen genauso wie eine Sprechposition als Vertreterinnen der Arbeitswelt gegenüber den Akteuren des politischen Systems. Ihre Sichtbarkeit und Mitgliederentwicklung, vor allem aber auch ihre Mobilisierungsfähigkeit im Arbeitskampf, ist mit nur kleinen Unschärfen an die von den Belegschaften wahrgenommene Leistung ihrer Betriebsräte und Vertrauensleute gekoppelt.

Aus der Perspektive von Akteur*innen der politischen Arbeit der 2020er Jahre sind die Gewerkschaften die ressourcenstärksten Strukturen in der Bundesrepublik (Schroeder 2021: 40–41). Allein die IG Metall wandte 2019 insgesamt 46 Millionen Euro für die gesellschaftspolitische Dachverbandsarbeit des DGB und die internationale Gewerkschaftsarbeit auf, 33 Millionen Euro wurden in die Bildungsarbeit investiert (IG Metall 2020). Im Vergleich gab die SPD als mitgliederstärkste deutsche Partei im selben Jahr 31,5 Millionen Euro für die allgemeine politische Arbeit ohne Wahlkampfausgaben aus (Deutscher Bundestag 2021). Die Treuhandverwaltung IGEMET GmbH betreut über einhundert Gewerkschaftshäuser, vier Bildungszentren der IG Metall, neuerdings die gewerkschaftseigene Hochschule University of Labour in Frankfurt am Main und weitere Liegenschaften. Die Mitgliederzeitung der IG Metall metallzeitung erreicht eine Mindestauflage von 2,15 Millionen Exemplaren. Nimmt man die weiteren Ressourcen der Gewerkschaften, ihrer Stiftungen und Treuhandgesellschaften hinzu, ist nachvollziehbar, welche Bedeutung die Gewerkschaften für das agenda setting in der Zivilgesellschaft haben: Busse zu Massendemonstrationen, Räume für Initiativen, Bündnisse und Jugendarbeit, Trainings zu Diskriminierungsthemen und Demokratiebildung, Finanzierung wissenschaftlicher Arbeit, logistische Strukturen für Volksbegehren und Bürger*innenentscheide oder Sensibilisierungsarbeit zu gesellschaftlichen Themen in das politische System multiplizieren die politische Handlungsfähigkeit der Bevölkerung – weit über die Grenzen des Betriebs hinaus. Diese aus Perspektive der 2020er Jahre bemerkenswerte Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften als Transmissionsriemen scheint jedoch prekär.

Nicht nur in der Corona-Pandemie haben die deutschen Gewerkschaften weit über 100.000 Mitglieder verloren, vielmehr sank ihre Zahl an Mitgliedern seit Mitte der 1990er Jahre um gut vier Millionen. Zwar entscheiden sich jedes Jahr hunderttausende Menschen, in eine Gewerkschaft einzutreten, doch geht der absolute Organisierungsgrad der Gewerkschaften trotz wachsender Erwerbsbevölkerung nach wie vor zurück. Die Gründe sind vielfältig und reichen vom mangelnden Erfolg der Ausdehnung der Gewerkschaften auf das Gebiet der ehemaligen DDR und der Einschränkung gewerkschaftlicher Kampffähigkeit durch die Legalisierung der kalten Aussperrung und damit des Endes des Flächenstreiks über Strukturwandel, die Akademisierung und Prekarisierung der Ware Arbeitskraft bis hin zum Wandel der Institutionen und der Kultur von Mitgliedschaft insgesamt. Folge des Gewerkschaftsschwunds ist ein Rückgang der Tarifbindung und ein Aufbrechen auch der großen Tarifsysteme wie etwa der Metall- und Elektroindustrie oder dem Öffentlichen Dienst durch Abweichungsverträge und tariflose Neugründungen von Unternehmen (Lübker/Schulten 2023: 3–4).

Die, vor allem soziologische, Literatur der Gewerkschaftsforschung geht historisch von einer institutionalisierten Rolle der Gewerkschaften aus und nennt sich Industrielle Beziehungen.2 Der Begriff leitet sich von Ralf Dahrendorfs (1957: 70ff., 234ff.) Übersetzung der US-amerikanischen Begriffe industrial relations und labour relations ab. Aus Perspektive der kommunizierenden Röhren zwischen organisiertem Kapital und organisierter Arbeit scheint auch hier die Linie des Niedergangs der Gewerkschaften fortsetzbar, angefangen in den 1980er Jahren mit dem organisierten Industriearbeiter und der selbstbewussten Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst über die Krisen und Umbrüche 1989/90, 2001, 2009/10 und 2022/23 zum Leiharbeiter in der fossilen Zuliefererindustrie und der Servicekraft im privatisierten Dienstleisterbetrieb ohne Betriebsrat und gewerkschaftliche Strukturen. Ausdruck dieser Perspektivlosigkeit der klassischen Deutung der Gewerkschaften sind Versuche, Begriffe wie Gewerkschaftsdämmerung zu prägen (Lorenz 2013). Aus der Beobachtung neuer Kämpfe und neuer Formen von Gewerkschaftlichkeit, auch unter der Konstellation der Post-Pandemie, etwa bei den Konflikten um die Einführung von Betriebsräten bei Ryanair oder Lieferando oder den bemerkenswerten Arbeitskämpfen für Tarifverträge bei Vestas und Rohrwerk Maxhütte, scheint eine Beobachtung von Gegenmacht weiterhin relevant zu sein (DGB Bildungswerk BUND 2019; Fritsche 2023; König 2022; Preuss 2023; Wigand 2020). Die Gewerkschaften öffnen sich für die Beschäftigten kleiner und mittelständischer Unternehmen, Betriebsrätegründungen werden als eigenständiger Aufgabenbereich verstanden und alle Beschäftigtengruppen, auch mit Studium oder ausländischer Qualifizierung, sollen gewonnen werden. Das Bemühen um Hochqualifizierte und um Macht in Branchen jenseits der industriellen Kerne ist jedoch nicht neu und Bestandteil insbesondere der linken Theoriearbeit in den Gewerkschaften, vor allem in der IG Metall (Brenner 1971; Urban, 1989). Das soziale Grundbedürfnis nach Gegenmacht zu Staat und Kapital scheint also auch in der Netzwerkökonomie und im New Normal zu wirken (Castells 2010: 419ff.). Doch was genau ist dann unter Gegenmacht zu verstehen?

Um die Wurzeln und Entwicklungslinien des Konzepts der Gegenmacht zu erhellen, bietet sich ein kurzer Streifzug durch das ideengeschichtliche Archiv an. Die Gewerkschaftstheorie, explizit ausgehend von Max Webers Machtbegriff als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber 1922: 28), entwickelte einen Machtressourcenansatz, der implizit von Webers Kampfbegriff als »Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner« (Weber 1922: 20) angeleitet wird: Strukturelle Macht, Organisationsmacht, institutionelle Macht und gesellschaftliche Macht bilden die analytische Basis zur Herleitung von Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften in ihrem Kontext (Schmalz/Dörre 2014: 222–230). Fundament dieser soziologisch gefassten Säulen ist jedoch der ursprüngliche politische Akt der (körperlichen) Versammlung (siehe auch Butler 2016), hier zur Konstituierung der Arbeitenden zum solidarischen Verband. Es waren die Aufstände und Streiks der Ruderer und Arbeiter Athens, die die Geburt der Politikwissenschaft auslösen (Wood 2011: 82ff.):Welche Form der Beteiligung an der Herrschaft ist hinreichend, um ohne Bürgerkrieg, ohne demokratischen Terror und ohne Verlust der militärischen Handlungsfähigkeit die Klassenkonflikte zu stabilisieren und institutionalisieren? Nach dem Scheitern der freien griechischen Städte in den Eroberungskriegen Alexanders von Makedonien und der Befriedung der hellenistischen Klassenkämpfe durch Militär und Massensklaverei ist es die römische Republik, die zuerst nichtadeligen Kaufmännern den Zutritt zu den Ämtern der Stadt zugestehen muss und dann das Bürgerrecht und eigene plebejische Ämter für die gesamte Stadtbevölkerung schaffen muss: Die Secessio, der Auszug der Proletarier aus der Stadt, wird für Niccolò Machiavelli zur Grundlage seiner Klassenkampftheorie, die er in seiner Konstruktion und Rekonstruktion der Wollweberaufstände im mittelalterlichen Florenz weiterentwickelt bis hin zur Möglichkeit eines Arbeiterfürsten und in der Konsequenz zur Möglichkeit des Volks als Principe (Machiavelli 1934: III; Machiavelli 2000: I). In der frühkapitalistischen Stadt der italienischen Renaissance wird zum ersten Mal eine Gegenmacht denkbar.

Gegenmacht, gelesen als Alternative zur herrschenden Macht (Hardt 1999), wird also in dem Moment eine Möglichkeit des politischen Denkens, in dem nicht nur der Demagoge den Mob auf die Akropolis führt sondern, mit Machiavelli, die Masse sich als Volk konstituiert und ein eigenes Gemeinwesen begründen kann.3 In der marxistischen Theorie ist Gegenmacht möglich, sobald das Proletariat sich seiner selbst – seiner Stellung gegenüber den Produktionsverhältnissen – bewusst werden kann und die herrschende Klasse nicht mehr notwendigerweise herrschen muss – die Macht über die Produktionsmittel nicht mehr mit der Entwicklung der Produktivkräfte Schritt halten kann (Marx/Engels 1972). Diese politische Möglichkeit des Sozialismus ist mit der industriellen Revolution der westlichen Länder gegeben, dennoch muss auf empirischer Ebene Marx die Pariser Commune für ihr Scheitern an der Errichtung der Diktatur des Proletariats schelten (Marx 1976).

In dem Maße, wie sich die Kernorganisationen der industriellen Arbeiterbewegung von der revolutionären Ungeduld und der Naherwartung entfernen, wird Gegenmacht zu einem organisationspolitischen Projekt, welches homolog der herrschenden Macht entgegenstehen soll (Sperling/Ohm 1999). Die deutsche Sozialdemokratie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellt, forciert auch durch die Illegalität, ihre Bildungsvereine und Parteischulen, ihre Unterstützungskassen und Versicherungsvereine, ihre Konsumgenossenschaften und Bauvereine, ihre Verlage und politischen wie intellektuellen Führungspersönlichkeiten dem Apparat des Staates gegenüber. Die rote Fahne ist die Alternative zu den Reichsfarben Schwarz, Weiß und Rot, der ›Arbeiterkaiser‹ August Bebel der Gegenentwurf zu Wilhelm von Hohenzollern.

Die Architektur der homologen Gegenmacht scheitert an ihrem Erfolg (Sperling/Ohm 1999). Gewerkschaften und Sozialdemokratie erreichen einerseits Schnittstellen zwischen Macht und Gegenmacht wie etwa die Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartnerinnen und des kollektiven Arbeitsrechts, insbesondere der Tarifverträge. Andererseits erreichen sie eine Integration der Gegenmachtinstitutionen und ihrer Repräsentant*innen in den Staat als Minister*innen, Abgeordnete, Arbeitsdirektor*innen, Richter*innen und Lehrer*innen. Das lineare Hineinwachsen der Gegenmacht in die herrschende Macht scheint denkbar, die soziale Demokratie folgt der formalen Demokratie als deren qualitative Ausgestaltung. Die ideenpolitische und organisationspolitische Entledigung der revolutionären Intellektuellen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert schafft jedoch die politischen Voraussetzungen zur Spaltung der Arbeiter*innenbewegungen und -organisationen insgesamt. Die Abspaltung der osteuropäischen Kommunist*innen von ihren sozialistischen Ursprungsorganisationen und die Erfolge der Bolschewiki stellen international das reformsozialistische Projekt in Frage. Mit der Vorbereitung des ersten Weltkriegs und der Mobilisierung der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Strukturen für die Rüstungswirtschaft entlädt sich die Spannung in den Organisationen. Nur mit rigorosen Maßnahmen und listenweisen Ausschlüssen können die Spitzenapparate gehalten werden, zeitweise überflügelt die oppositionelle USPD ihre Mutterorganisation. Die Spaltung geht von den innersten Zirkeln der Partei- und Gewerkschaftsführungen bis in die Flächenorganisationen.

Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur, des Weltkriegs und der Shoa steht der Begriff von Gegenmacht