Diplomaten - Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem - E-Book

Beschreibung

Dr. Franz Xaver Windmüller ist ein weltberühmter Gentleman-Detektiv, den die Legende mit dem Nimbus umgibt, dass für ihn keines Rätsels Lösung unmöglich ist. Schon lange hat der Jurist seinen trockenen Beruf an den Nagel gehängt, um sich ganz der interessanteren Berufung zuwenden zu können. Psychologisches Gespür, schauspielerische Fähigkeit, sein breites Universalwissen und vor allem sein logisches Denkvermögen brachten Ruhm und Ehre und versetzten ihn zudem in die angenehme Lage, ein bescheidene Häuschen in Rom sein Eigen zu nennen. Nur noch ganz außergewöhnliche Fälle halten ihn von seinem römischen Hobby, der Archäologie, ab. Und so einer scheint vorzuliegen, als Windmüller unverhofft Besuch bekommt: Dem Minister des Auswärtigen Amts steht die Angst ins Gesicht geschrieben, als er seine Begleitung, Leutnant Freiherr von Greifensee, vorstellt. Dieser sollte der Verlobten des Königs ein Präsent überreichen, ein aus unzähligen Diamanten gefertigter Taillenschmuck, dessen besonderer Wert noch durch den "Emir al Omra" gesteigert wird. Doch für Windmüller ergibt der Raub eines unverkäuflichen Diamanten keinen Sinn. Und tatsächlich befindet sich in dem gestohlenen Schmuckkasten ein weitaus kostbareres Kleinod, ein gefährliches Dokument, das auf keinen Fall in falsche Hände geraten darf. Schon ist Franz Xaver mitten in seinem nächsten Fall, der höchste Diskretion von ihm verlangt. Doch Windmüller hat ein feines Gespür für falsche und echte Diplomaten ...Der Kauz mit Sherlock-Holmes-Qualitäten – ein höchst vergnüglicher Krimi aus dem Jahr 1910!Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854–1941) war eine deutsche Schriftstellerin, die um 1900 zu den beliebtesten deutschen Unterhaltungsschriftstellerinnen zählte. Sie war eine der wenigen deutschen Autorinnen des 19. Jahrhunderts, die ihre Werke nicht unter einem Pseudonym verfasste. Ihr erstes Werk "Die Nichten des Kardinals" veröffentlichte sie bereits mit 17 Jahren 1871 unter ihrem Geburtsnamen Eufemia Gräfin Ballestrem. Es folgten Gedichte, Novellen, Humoresken und über 40 Romane. Etwa ab 1910 legte sich die Autorin ganz auf das Schreiben von Romanen und Belletristik fest und veröffentlichte in der Regel einen Roman pro Jahr. Ihre wichtigsten Romane sind zweifelsohne die sogenannten "Windmüller"-Romane um den Gentleman-Detektiv Dr. Xaver Windmüller, die meist in aristokratischen Kreisen spielen. Mit den Romanen "Falkner vom Falkenhof", "Trix" und "Die weißen Rosen von Ravensberg" lieferte sie für die damalige Zeit außerordentliche Bestseller, von denen bis zu 120 Auflagen erschienen.-

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Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem

Diplomaten

Ein Roman in fünfundvierzig Stunden

Mit einer Musikbeilage

Saga

Diplomaten

German

© 1920 Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517611

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Doktor Franz Xaver Windmüller sass im Wohnzimmer seines Absteigequartiers in der Haupt- und Residenzstadt X. und putzte eine alte, silberne, herzförmige Dose holländischer Arbeit, indem er dabei hin und wieder einen Schluck aus einer neben ihm stehenden Tasse Tees nahm oder einen Bissen von den Sandwichs auf der zierlich angerichteten Platte. Mit diesen unschuldigen Beschäftigungen in dieser friedlichen Umgebung verkörperte Doktor Windmüller ein Idyll bei Lampenlicht, denn es war Abend.

Das mässig grosse Zimmer mit den weissen Musselinvorhängen und der einfachen Einrichtung von altersdunklen Mahagonimöbeln im Empirestil, den Silhouetten an den Wänden, den Wachsblumen unter Glasglocken auf der Kommode, auf der eine säulengetragene Alabasterpendule tickte, war an sich schon ein Idyll inmitten einer Millionenstadt, in der man solche „möblierte Zimmer“ vergeblich suchen würde, schon weil man dort ihre Existenz gar nicht für möglich hielte. Aber auch Grossstädte besitzen noch stille Winkel inmitten des lebhaften Treibens, Gärten hinter haushohen Mauern und darin altmodische Häuser. In solch einer Oase im Besitz eines jener Originale, die im Aussterben begriffen sind, fand Doktor Franz Xaver Windmüller eine ruhige Zufluchtstätte, so oft seine Geschäfte ihn aus seinem römischen Tuskulum nach X. führten, und das geschah nicht eben selten, denn in den Fällen, wo die Fäden einer Affäre gar zu unentwirrbar erschienen, wo das Dunkel ganz undurchdringbar dünkte, da rief man nach dem weltberühmten Gentleman-Detektiv, den die Legende mit dem Nimbus umgab, dass für ihn keines Rätsels Lösung unmöglich sei. Sein eigentümlicher Beruf, zu dem ihn eine phänomenale Begabung und Enthusiasmus aus der juristischen Karriere herausgedrängt, zu dem ihn psychologische Studien, universale Kenntnisse, schauspielerisches Genie und logisches Denken geradezu prädestinierten, hatte ihn längst in die angenehme Lage versetzt, sein eignes Nest zu bauen, und zwar in einem bescheidenen Häuschen in Rom, in dem er aus Mangel an einer Frau, denn zum Heiraten hatte ihm schlechterdings die Zeit gefehlt — seine Antiquitätensammlung zur Herrin gemacht, wo er sich gern als archäologische Autorität suchen und finden liess. Denn seit sein Beruf nicht mehr nach Brot zu gehen brauchte, übte er ihn nur noch in aussergewöhnlichen, in sozusagen Elitefällen aus, die seinen Ehrgeiz reizten und ihn selbst interessierten. Ein solcher Fall hatte ihn wieder einmal nach X. geführt, und er hatte eine Nuss geknackt, an der sich viele vor ihm die Zähne ausgebissen.

Seinen Beruf hätte ihm übrigens keiner angesehen, und wer ihn so in dem heimischen, altmodischen Stübchen erblickte, wie er mit dem Lederlappen in den schlanken, wohlgepflegten Händen mit den konischen Fingerspitzen über der silbernen Dose herumputzte, der hätte ihn eher für einen Gelehrten, als für einen — Bluthund gehalten, mit welchem Ehrentitel man den Kriminalisten bezeichnete, vor dessen Spürsinn das Verbrechen vergeblich einen Schlupswinkel suchte. Im Alter zwischen vierzig und fünfzig, gross, sehnig, schlank, unvermutete Körperkräfte verbergend, das glattrasierte Gesicht mit dem frappanten Moltke-Profil und dem kleinen, wohlgeformten Schädel mit spärlichem Haarwuchs — also gestaltet beugte er sich fast liebevoll über den letzten Erwerb für seine Sammlung, und die Augen, die so zärtlich auf das Silberschmiedszeichen auf dem Boden der grossen Dose herabblickten, schienen kaum fähig, bis in die Tiefen der Seele und die verborgenen Falten schuldbeladener Herzen dringen zu können. Schienen — für oberflächliche Beobachter freilich nur, denn wer näher hinsah, der entdeckte wohl allerlei Unerwartetes in diesen Augen: stahlharte, durchbohrende Lichter, Bezwingendes, eine geistige Überlegenheit, vor der mancher schon die Waffen gestreckt.

Doktor Windmüller betrachtete mit schiefem Kopfe seine Dose, befriedigt, mit dem stillen Glücke des Sammlers; dann hüllte er sie sorgsam in das Putzleder ein, schob sie zur Seite, trank seinen Tee aus, wählte noch eines der appetitlich aussehenden Brötchen und trug darauf die Platte mit dem frugalen Nachtessen, das seinen einfachen Gewohnheiten völlig genügte, hinüber auf die Kommode.

„Erst acht Uhr!“ konstatierte er mit einem Blick auf die Pendule. „Soll ich noch ausgehen und mir in der Hofoper ein paar Akte der ‚Götterdämmerung‘ anhören — was seine Reize hat, sintemalen man in Rom doch keinen Wagner auf der Bühne zu hören bekommt, oder ist es weiser in Anbetracht der morgigen frühen Abreise, daheim zu bleiben und mit den Hühnern schlafen zu gehen? Ach was — weise braucht der Mensch nicht alle Tage zu sein — Torheit ist’s, die erfrischt! Also gehen wir zusehen, wie Hagen den Siegfried erschlägt.“

Doktor Windmüller trat ins Nebenzimmer, wo ein schweres Mahagonibett mit weissen Musselinvorhängen und ein mit grüner Seide drapierter Toilettetisch, wie die Königin Luise ihn gebraucht haben konnte, eher eine Dame in Empiretracht zu erwarten schienen, als einen modernen Detektiv, mochte er auch aussehen wie ein hyperfeiner Privatgelehrter. In diesem anheimelnden Stübchen, in dem ein fast fertig gepackter Koffer stand, wusch Doktor Windmüller seine Hände in einem rosenbemalten Becken, nahm den Hut vom Tisch vor dem spindelbeinigen Sofa, den Überzieher aus dem eingelegten Kleiderschrank, bürstete einige imaginäre Stäubchen von seinem tadellosen Rock und trat dann zurück ins Wohnzimmer. In diesem Augenblick wurde an der Haustür die altmodische Glocke gezogen, dass der Doktor, mit allen Sinnen auf dem „Qui vive“, aufhorchte — er hatte sich ein feines Ohr angewöhnt für die Töne der Hausglocken und konnte genau sagen, ob der Läutende Eile oder Musse hatte, ob er aufgeregt oder ruhig war, ob er als Bittender oder Befehlender, zaghaft oder sicher kam. Aus diesem Glockenzug aber meinte Doktor Windmüller geradezu einen Notschrei herauszuhören, ein Vibrieren aller Nerven der Hand, die an dem Draht riss, als könnte dies die Tür rascher öffnen.

„Gottlob, dass mich das nichts angeht,“ murmelte der Detektiv, nach seinen Handschuhen greifend; doch der fromme Wunsch war verfrüht, denn das feine Ohr des Doktors hatte unten an der Haustür in dem Durcheinander männlicher Stimmen mit dem etwas schwerhörigen Faktotum des Hauses einen bekannten Klang zu hören vermeint. Dann kamen Schritte die Treppe herauf, es wurde an die Tür geklopft, und auf das halb resignierte, halb erwartungsvolle „Herein“ des Doktors betraten zwei Herren das Zimmer, von denen der zuerst eingetretene einen besonderen Eindruck machte, denn der Doktor warf den schon zum Anziehen bereitgehaltenen Paletot auf den nächsten Stuhl und ging seinem Besuch lebhaft entgegen.

„Wie? Sie, Exzellenz?“ rief er erstaunt.

„Ja, ich!“ erwiderte der schmächtige, kleine, ältere Herr mit dem bedeutenden Kopfe — Seine Exzellenz der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, Herr v. Worb. „Welches Glück, dass ich Sie noch treffe, mein verehrter Herr Doktor! Nachdem Sie unsre Angelegenheit gestern schon in so unendlich dankenswerter Weise mit der nur Ihnen eignen Intelligenz geordnet — bitte, kein Protest, ohne Sie sässen wir noch im Dunkeln — da hielt ich es für reine Glückssache, Sie noch in X. anzutreffen. Um durch eine vorherige Anfrage in Ihrem gewohnten Quartier keine Zeit zu verlieren, denn mein Wagen stand für den Besuch der Oper vor der Tür, da fuhr ich lieber selbst direkt hierher. Das war ein guter Gedanke, denn ich sehe, Sie waren im Begriffe, auszugehen —“

„Auch in die Oper, Exzellenz,“ erwiderte der Doktor, der den Blick nicht von dem undurchdringlichen Diplomatengesicht des Ministers gewendet hatte und darin las, was andern einfach gar nicht aufgefallen wäre: eine trotz aller äussern Ruhe gewisse nervöse Spannung und — Angst.

„Ah, also nicht auf dem Kriegspfade, um so besser,“ machte Exzellenz sichtlich erleichtert. „Ich komme nämlich, Sie zu bitten, mein hochverehrter Herr Doktor, einen neuen — hm — Fall für uns zu übernehmen.“

Doktor Windmüller zögerte einen Moment.

„Ich wollte morgen früh nach Rom zurückkehren, wo ich halb und halb versprochen hatte, mein Gutachten über die Echtheit eines Kaufobjektes abzugeben,“ sagte er. „Indes, das könnte verschoben werden, wenn der Auftrag Eurer Exzellenz sehr dringend wäre, was ich wohl nach Ihrem persönlichen Erscheinen annehmen darf.“

Der Minister machte eine Handbewegung.

„Ich wusste, dass Sie das verstehen würden,“ sagte er. „Ja, ich fürchte, die Sache ist ebenso dringend wie ernst. Lassen Sie uns Ihnen den Fall darlegen — wir sind doch hier gänzlich ungestört und vor allem unbelauscht?“

„Mein Wirt und Gastfreund lebt, als Invalide an den Rollstuhl gefesselt, in den Parterreräumen. Sein Diener, Gärtner und Faktotum, ist reichlich schwerhörig, und die alte Köchin, seine Frau, ist im Hochdeutschen etwas schwach, aber nicht neugierig. Diese Wände hier haben keine Ohren, und das macht sie mir besonders wertvoll als Absteigequartier.“

„Um so besser,“ nickte der Minister befriedigt. „Ich wollte, ich könnte vom Auswärtigen Amte auch behaupten, dass es keine Ohren hätte — leider hat es aber sogar auch noch Augen, Argusaugen! Deshalb ist es doppelt gut, dass ich zu Ihnen kam mit meinem Begleiter, den ich Ihnen ja noch nicht einmal vorgestellt — Leutnant Freiherr von Greifensee, kommandiert zum Auswärtigen Amt — Herr Doktor Windmüller, lieber Greifensee, der Mann, bei dem Sie Hilfe suchen und finden werden, denn die Schlachten, die er schlägt, die er zu schlagen übernimmt, gewinnt er immer!“

„O, Exzellenz übertreiben,“ rief Windmüller abwehrend. „Ich bin schon mehr als einmal ruhmlos geschlagen worden — zuletzt durch ein hessisches Stubenmädchen, das etwas oberflächlich aufzuräumen beliebte.1) Hat mir aber viel Spass gemacht, diese verlorene Schlacht! Doch zur Sache! Wollen die Herren Platz nehmen?“

Während der Doktor sprach, hatte er den Begleiter des Ministers scharf ins Auge gefasst — es war ein auffallend hübscher, grosser, ja hünenhafter junger Mann in der kleidsamen Uniform der Leibgardehusaren, deren lichtblau-goldene Attila seinem hellen, nordischen Typus besonders gut stand; aber das offene, sympathische Gesicht des Offiziers war blass vor innerer Aufregung, ja fast verzerrt, und in seinen Augen kam eine Aufregung zum Ausdruck, die er nur mit Anstrengung bemeistern konnte.

Der war’s, der die Glocke gezogen, dachte der Doktor, und kaum hatte der Minister sich gesetzt, da liess Herr v. Greifensee sich auf den Stuhl fallen, und die Arme über den Tisch ausstreckend, rief er, ein völlig gebrochener Mann:

„Es ist aus mit mir — ich bin ruiniert!“

Der Minister wechselte einen Blick mit Doktor Windmüller.

„Nehmen Sie sich zusammen, Greifensee,“ sagte er freundlich, aber nicht ohne eine gewisse Schärfe, die stimulierend wirken sollte. „Wir wollen doch erst mal hören, was der Herr Doktor hier sagt, ehe wir die Büchse ins Korn werfen! Wir, lieber Greifensee, denn wenn der Doktor unsern Fall für hoffnungslos erklärt, dann gehen wir zwei zusammen, wie mir scheint!“

„Das ist’s ja eben,“ stöhnte der Attaché, aber er hob den Kopf wieder in die Höhe, und in dem Blick, den er dabei auf den Minister richtete, fand Doktor Windmüller einen so knabenhaft-jugendlich herzlichen Ausdruck, dass es ihm ganz warm dabei wurde. Und wenn Windmüller sich für einen Klienten erwärmte, dann entwickelte sein Geist gleich die doppelte Schwungkraft.

„Es ist schon so mancher zu mir gekommen mit der Einleitung, dass er ruiniert sei, und hat mich, alle Taschen mit frischen Hoffnungen vollgestopft, wieder verlassen,“ sagte er mit leisem Lächeln. „Exzellenz hat recht: Lassen Sie mich erst hören, um was es sich handelt, zum Klagen ist nachher noch viel Zeit!“

„Ach, es hat mich ja nur momentan so umgeworfen,“ rief Herr v. Greifensee, sich gewaltsam fassend. „Also —“

„Halt!“ fiel der Minister ein. „Unser Doktor ist ein Mann der Methode — ich kenne ihn, und methodisch wollen wir ihm daher auch den Fall vortragen. Bei mir fängt die Geschichte an, daher will ich auch beginnen; inzwischen sammeln Sie sich, um fortzufahren, wo ich einhalten muss.“

Doktor Windmüller stimmte dem Plan zu; er setzte sich an den Tisch, zog sein Notizbuch hervor und, den Bleistift in der Hand, sah er den Minister erwartungsvoll an.

„Also hören Sie,“ begann dieser. „Seine Majestät der König, der, wie Sie wissen, mit der Prinzessin Hildegard, Tochter des Kaisers von Nordland, verlobt ist, hat als ein Geschenk für seine hohe, schöne Braut einen eigenartigen Schmuck anfertigen lassen, den er ihr durch einen speziellen Abgesandten überreichen lassen wollte —“

„Wozu in solchen Fällen gewöhnlich ein hoher Hofbeamter ausersehen wird,“ warf Doktor Windmüller ein, ohne den Blick von dem Minister zu wenden.

Dieser hustete leicht.

„Meist, ja,“ gab er zu. „Indes, interne Rücksichten und besondere Umstände waren in diesem Falle die Veranlassung, eine andre Persönlichkeit zur Überbringung des königlichen Geschenkes zu wählen — die Gründe, die hierfür massgebend waren, gehören aber gar nicht zur Sache —“

„Ah,“ fiel Doktor Windmüller abermals ein, „das zu beurteilen sind wir noch nicht weit genug vorgeschritten —“

„Gar nicht zur Sache,“ wiederholte der Minister, die Silben skandierend. „Kurz, ich erhielt den Auftrag, unter dem Personal des Auswärtigen Amtes eine Persönlichkeit zu finden, die den Allerhöchsten Auftrag auszuführen geeignet sei. Ich ermutige gern meine jüngeren Attachés und gebe ihnen, wo ich kann, die Chancen für einen Orden, der in seiner dekorativen Wirkung die Augen auf sich zieht, und weil Herr von Greifensee hier eine solche Chance noch nicht hatte, so brachte ich ihn in Vorschlag. Heut’ nachmittag zwischen drei und vier Uhr war ich denn in der Lage, Herrn von Greifensee mit seiner Mission bekannt zu machen. Ich gab ihm den Befehl, heut’ mit dem Nachtzuge zehn Uhr dreissig abzureisen, indem ich ihm zugleich das Objekt, den Schmuck, mit den nötigen Instruktionen übergab. Ehe ich diese meine Einleitung aber schliesse, möchte ich den Schmuck mit einigen Worten beschreiben, was wohl das Wesentliche meines Berichtes sein dürfte, da unser Besuch bei Ihnen, mein hochverehrter Herr Doktor, wie Sie längst erraten haben werden, sich um dieses Wertobjekt dreht —“

Windmüller verbeugte sich leicht.

„Es scheint so,“ meinte er trocken. „Wenn wir nur erst die Scheibe haben, so wird das Zentrum sich auch schon finden.“

„Sie wollen damit sagen —“

„Später, Exzellenz, später!“ bemerkte Windmüller mit Gleichmut. „Bitte, beschreiben Sie den Schmuck — ich bin ganz Ohr!“

Der Minister richtete einen prüfenden Blick auf das undurchdringliche Gesicht des Detektivs.

„Also,“ sagte er mit einer Erregung im Ton, die nur Windmüller zu seinem geheimen Triumph heraushörte, „also dieser Schmuck ist als eine sogenannte ‚Korsage‘, das heisst, als eine Taillendekoration gedacht und hat die Form einer doppelten, sehr graziös geknüpften Schleife, deren fünfzehn Millimeter breites Band von tafelförmig geschliffenen, ausserordentlich schönen Diamanten gebildet wird. Der Zackenrand des Bandes sowie dessen Kehrseite, wo die Schlingung der Schleife sie sichtbar werden lässt, bestehen aus Perlen, aber dieser an sich schon kostbare Schmuck ist nur der Träger für das Juwel, das von der Schlinge der Schleife an beweglichem Gliede herabhängt und wohl ein Unikum im Reiche der Edelsteine ist: nämlich ein Rubin von der Grösse und Form eines Kiebitzeies und von so hell rosenroter Farbe, wie eine La Franee-Rose, wenn Sie sich eine solche mit einem Feuer und einem Glanze vorstellen können, der dem eines Diamanten nichts nachgibt —“

„Mit einem Worte, dies Juwel ist der ‚Emir al Omra‘,“ fiel Doktor Windmüller ein.

„Was — Sie kennen den Stein?“ rief der Minister perplex.

„Es gehört zu meinem Berufe, jeden Edelstein zu kennen, der sich durch Grösse, Farbe, Schliff, Gewicht und — durch seine Geschichte auszeichnet,“ erwiderte Windmüller mit einer Bescheidenheit, die einen Debütanten geziert hätte und bei dem Experten mit fortriss. „Der Emir al Omra, was so viel heisst als ‚Häuptling der Fürsten‘, wurde in den sechziger Jahren in den Rubinenminen von Afghanistan gefunden. Der Emir liess ihn erst roh in ein Diadem fassen, und als er Geld brauchte, was bei ihm ein chronischer Zustand war, verkaufte er ihn an einen holländischen Juwelenhändler, der den Stein seiner Form entsprechend schleifen liess, wonach er ihn auf den Markt brachte. Spinelle von dieser Grösse und Farbe aber erfordern reiche Käufer; die amerikanischen Trustmilliardäre aber waren damals noch nicht erfunden, und so blieb der Emir al Omra länger eine angebotene Ware, als dem Händler lieb war bis er einen Abnehmer in der Person eines mächtigen westeuropäischen Monarchen fand, der ihn seiner schönen Gemahlin verehrte. Diese aber fand, dass der rosige Stein zu ihrem rotgoldnen Gelock schlecht passte und trug ihn nie, und als die vordem so mächtige Dynastie abgesetzt wurde, kam der Emir al Omra mit den andern Juwelen der schönen Monarchin zur Versteigerung. Dort liess ihn der König, Ihr hochseliger Herr, Exzellenz, für sich ankaufen — man behauptete, um ihn einer — Zirkuskönigin zu Füssen zu legen. Aber das Gerücht muss wohl erdichtet gewesen sein, da der köstliche Balas-Rubin nun die Königsbraut schmücken soll. Nun, Prinzess Hildegard ist eine aschblonde Schönheit — der Emir al Omra wird sie bezaubernd kleiden!“

„Würde sie bezaubernd kleiden, lieber Herr Doktor, wenn sie ihn erhielte!“ rief der Minister, während der Attaché laut stöhnte und der Detektiv leise lächelte. „Doch lassen Sie mich zum Schlusse kommen. Die Diamantenschleife also mit dem Emir al Omra war in einen rechteckigen Kasten gebettet, der innen mit weissem Samt ausgepolstert und aussen mit rosa Seidenplüsch bezogen war, in Silber das künstlerisch gearbeitete Monogramm der Prinzess auf dem Deckel trägt, das mit Brillanten, sogenannten Rosen, inkrustiert ist. Zum Schutz war dieses etwa fünfzig Zentimeter im Quadrat messende Etui in einen zweiten Kasten von lederbezogener Pappe gesetzt und dieser wieder in eine Schutzhülle von braunem Segeltuch mit Handhaben gesteckt, denn bei dem hohen Werte des Objekts sollte der Überbringer es wie eine Art Reisetasche bei sich führen. In diesem Zustande und nachdem ich Leutnant von Greifensee überzeugt, dass der Schmuck sich in dem Kasten befand, übergab ich ihm denselben, liess ihm eine Droschke holen und sah ihn selbst vom Fenster aus darin fortfahren. Wie ihm dann der Kasten samt dem Schmuck abhanden gekommen ist, mag er Ihnen selbst erzählen.“

Der unglückliche junge Mann, der zusammengesunken auf seinem Stuhl gesessen hatte, richtete sich auf.

„Ich —“ begann er, aber Doktor Windmüller winkte mit der Hand ab.

„Das hat Zeit, ich höre das später,“ sagte er ruhig. „Erst müssen Exzellenz schon noch die Güte haben, mir zu sagen, was in dem Kasten war.“

„Aber, mein verehrter Herr Doktor, ich habe Ihnen den Schmuck doch eben auf das genaueste beschrieben!“ rief der Minister anscheinend leicht befremdet.

Der Detektiv lachte gerade heraus.

„Um eine Handvoll tafelförmig geschliffener Diamanten wiederzufinden und einen einfach unverkäuflichen Stein von der Qualität des Emir al Omra, dazu würde dieselbe genaue Beschreibung auf dem nächsten Polizeibureau genügen,“ sagte er trocken. „Dazu brauchen Exzellenz mich nicht.“

Der Minister schüttelte mit dem Kopfe, zuckte mit den Achseln und rückte nervös in seiner Sofaecke hin und her.

„Ich verstehe wirklich nicht,“ begann er, aber Windmüller unterbrach ihn ohne Komplimente.

„Doch, Exzellenz verstehen ausgezeichnet. Genau so gut, wie ich es verstanden habe, warum man zur Überreichung des königlichen Geschenkes keinen Hofbeamten gewählt hat.“

„Sollten Sie da nicht mehr verstanden haben als ich?“ erwiderte der Minister leise lächelnd.

„Das wäre Überhebung,“ entgegnete Windmüller ebenso. „Der Kasten mit dem Schmuck war die Maske für den Export eines — nun, sagen wir, eines Dokumentes, dessen Inhalt andre Leute so neugierig macht und so interessiert, dass man nicht wagte, es der üblichen Beförderung durch einen Kurier anzuvertrauen. Die Abordnung eines hohen Hofbeamten musste andrerseits auch bemerkt werden und auffallen — wenn man also einen jungen Attaché vom Auswärtigen Amte, der erst seit kurzer Zeit dahin kommandiert war und den niemand kannte, reisen liess, als ob er auf Urlaub ginge, so war das der einfachste und relativ sicherste Weg zur Beförderung eines Schriftstückes, an dem so und so viele andre Personen ein derartiges Interesse haben, dass jedes Mittel zu seiner Erlangung geboten und erlaubt schien. Ist diese meine Hypothese korrekt, Exzellenz?“

Der Minister hatte sozusagen mit gespitzten Ohren zugehört, ohne den Blick von dem ihn ebenso scharf beobachtenden Detektiv zu verwenden.

„Mein lieber Herr Doktor —“ begann er zögernd, doch Windmüller hob abwehrend die Hand.

„Exzellenz hätten sich diese Probe auf meine Intelligenz füglich sparen können,“ sagte er lächelnd. „Ich wäre doch wirklich meinen Ruf nicht wert, wenn Ihre persönliche Begleitung des Herrn Leutnants zu mir mich die ‚deep waters‘ in dieser Affäre nicht sehen liesse.“

Der Minister nickte.

„Gewiss, gewiss!“ sagte er, angelegentlich seine Fingerspitzen betrachtend. „Es war vorauszusehen, dass Sie durch meine Begleitung des Herrn von Greifensee Schlüsse ziehen würden, die aber vielleicht doch ein wenig — übertrieben sind. Indes, der Schmuck ist tatsächlich von einem Schriftstück begleitet. Das Polster, auf dem der Balas-Rubin an seiner kostbaren Schleife ruht, lässt sich aufheben, und zwischen ihm und dem Boden der Kassette liegt, oder leider wohl lag ein geschlossenes Kuvert.“

„Und das Kuvert enthält —?“ fragte Windmüller sichtlich amüsiert.

„Ein eigenhändig geschriebenes Gedicht Seiner Majestät an Allerhöchst Seine hohe Braut,“ erwiderte der Minister mit Nachdruck und mit einem Ernst, in dem er sich aber total verrechnet hatte, denn der Detektiv brach in ein Lachen aus, dass ihm die Tränen aus den Augen liefen.

„Exzellenz,“ stöhnte er, sich die Augen wischend, „es ist sehr erfrischend, wenn man in meinem Alter und im Hinblick auf meinen Beruf und die darin errungenen Erfolge noch für einen derartigen Grünschnabel gehalten wird, der auf einen solchen Leim geht. Ein Gedicht! Nein, es ist ja zum Begraben! Man hat mir einmal zugemutet, eine Schneiderquittung zu suchen, aber damit war man doch wenigstens ganz im Ernste, weil man den Posten nicht zweimal bezahlen wollte!“

„Aber, lieber Herr Doktor,“ fiel nun der Minister ein, sich sichtlich bezwingend, „bedenken Sie doch, wie unangenehm es für Seine Majestät wäre, wenn Allerhöchst Seine Verse in unrechte Hände fielen —“

„Wenn die Verse gut sind, was ich bei dem notorischen Talente des hohen Herrn annehme, dann wär’s kein so grosses Unglück, um so weniger, als Seine Majestät zweifellos die Verse nicht extempore niedergeschrieben haben, sondern sie in der Urschrift besitzen dürften,“ entgegnete Windmüller prompt. „Und nun, Exzellenz, zur Sache,“ fuhr er scharf fort. „Das Vorwort war lustig und entspricht ganz Ihrem mir wohlbekannten und geschätzten Sinn für Humor, aber die Zeit vergeht darüber, und die Minuten sind vielleicht kostbarer als der Emir al Omra. Nun zum eigentlichen Drama, wenn ich bitten darf!“

Der Minister sah finster vor sich hin — er kämpfte offenbar mit seiner verletzten Würde, die ihn aufstehen und gehen hiess, und mit der bittern Notwendigkeit, die ihn zwang, sich an den Mann zu wenden, der einfach über das lachte, was er ihm mitzuteilen für ausreichend gehalten.

„Herr Doktor,“ sagte er nach einer Weile kühlen Tones, „Sie weigern sich also, den abhanden gekommenen Kasten mit dem Ihnen beschriebenen Inhalt seinem hohen Besitzer zurückzuschaffen?“

„Ich halte meine Mitwirkung dabei einfach für eine überflüssige Kraftprobe,“ entgegnete Windmüller ruhig. „Die Polizei Ihres Landes und die Ihnen zur Verfügung stehenden Agenten sind dazu vollkommen ausreichend, wenn es sich um einen gewöhnlichen Diebstahl der Juwelen handelte. Aber darum handelt es sich nicht, dafür bürgt mir Ihr Besuch.“

Herr v. Worb, der nervös mit den Fingern auf der Tischplatte getrommelt hatte, schlug nun mit der flachen Hand darauf.

„Herr Doktor,“ rief er nicht ohne eine endlich zum Durchbruch gelangende Erregung, „ich bitte um Ihre Entschuldigung für mein Zögern, das Ihnen wie eine Kränkung erscheinen müsste, wenn Sie nicht so gut begriffen. Tout comprendre c’est tout pardonner. Nichts für ungut denn! Ja, Sie haben vollkommen richtig gefolgert: der Schmuck und das Gedicht — sie waren nur die Maske für ein Dokument von so hoher diplomatischer Wichtigkeit, dass alles davon abhing, es ungefährdet an seinen Bestimmungsort zu befördern. Wir wissen, dass hundert Schlingen gelegt sind, dieses Dokument abzufangen, dass hundert verborgene Augen darauf lauern, es zum mindesten zu lesen. Der Entwurf, von dem keine Kopie existierte, ist von mir an meinem eignen Leibe verwahrt worden, mit dem ich in meinem eignen Bette nicht mehr sicher war an der Seite meiner Frau, die natürlich ahnungslos ist, dass sie neben mir durchaus nicht ungefährdet war — und ist. Denn wir sind nicht eher über den Berg, als bis das Dokument an seinen Bestimmungsort angelangt ist. Die Beurlaubung eines harmlosen, eben erst kommandierten Hilfsarbeiters schien wirklich der einzige Ausweg, der Schmuck die beste Maske. Herr von Greifensee hat allein bei mir in meinem Arbeitskabinett das Dokument abgeschrieben — ich habe das Original dann in den Kasten getan und ihm diesen ohne weitere Vorsichtsmassregeln übergeben, denn nur so hoffte ich die Wachsamkeit der Interessenten abzulenken, vorausgesetzt, dass diese von der ganz verborgen gehaltenen Überreichung eines Geschenkes an die königliche Braut Wind bekommen hatten. Man vertraut jungen Attachés, die man noch nicht genügend kennt, Schriften von so hoher Wichtigkeit nicht an — mit der anscheinenden Harmlosigkeit unsres Boten hatten wir also gerechnet. Der Kasten ist eigens zu diesem Zwecke aus einer durchaus zuverlässigen Werkstätte hervorgegangen und der Vorsicht halber für eine andre, scheinbar ganz unbeteiligte Person gearbeitet worden — in facto für einen unsrer Geheimagenten, der ihn ungesehen bei mir eingeschmuggelt hat. Das eigentliche Geheimfach darin ist nicht das, welches das bewusste Gedicht enthält, sondern es befindet sich in dem Deckel, zwischen dem weisssamtnen Futter und der starken, leicht gewölbten Decke. Es ist nur dazu zu gelangen, wenn man das Geheimnis kennt: die Verschiebung des aufgelegten silbernen Monogramms, welche die Klammern auslöst, die Deckel und Futter zusammenhalten. Selbstredend musste Herr von Greifensee lernen, wie der Mechanismus arbeitet, um ihn an Ort und Stelle spielen zu lassen — er war, neben dem Verfertiger, dem Besteller und mir selbst, der einzig notgedrungen Eingeweihte. So, nun wissen Sie alles, Herr Doktor — hoffentlich genügt es Ihnen, den Fall zu übernehmen.“

Windmüller hatte mit gespanntester Aufmerksamkeit zugehört.

„Und was enthielt das Dokument?“ fragte er statt einer Antwort.

Der Minister fuhr empor wie gestochen — er war dunkelrot geworden.

„Ist diese — indiskrete Frage notwendig für Ihr Geschäft?“ sagte er hochmütig.

„Es scheint so — sonst hätte ich sie kaum getan, für den Diskretion nicht nur die etwas breitgetretene Ehrensache, sondern die Grundbedingung jeglichen Erfolges ist,“ entgegnete der Doktor ebenso scharf. „Wozu mit Worten fechten, Exzellenz? Entweder Sie setzen volles Vertrauen in mich oder gar keines — ein Mittelding existiert hier einfach nicht. Wie kann ich ein Schriftstück suchen, wenn mir die Augen verbunden werden, so dass ich die Spuren nicht sehen kann? Wenn ich nicht weiss, wer ein Interesse hat an diesem Dokument und warum er es hat — wo soll ich’s dann suchen? Im Monde? Während es vielleicht auf dem Mars zu finden ist? Also auf Deutsch: soll ich Zeit und Geld auf der chinesischen Botschaft vergeuden, während die amerikanische es vielleicht hohnlachend übers Wasser schickt? Denn ich bin doch kein Hexenmeister, Exzellenz, sondern ein zweibeiniger Schweisshund, der die Fährte verfolgt, auf die man seine Nase setzt. Sie sprachen von der hohen politischen Wichtigkeit des Dokuments, folglich darf ich wohl annehmen, dass es sich um nichts Geringeres, als um politische Wirren, vielleicht um Krieg und Frieden handelt, wenn es in die Hände fällt, für die es nicht bestimmt ist — also muss ich wissen, um was es sich handelt, ehe ich es diesen Händen wieder entreissen kann.“

Der Minister hatte mit finsterm Gesicht zugehört.

„Nun wohl,“ sagte er jetzt mit Anstrengung, „an den Inhalt des Dokumentes hätten eventuell ein Interesse die Staaten von —“

„Damit bin ich nicht abzuspeisen, Exzellenz,“ fiel Windmüller ein. „Es handelt sich hier, soweit ich es verstehe, nicht um das Kunststückchen ‚antispiritistischer Soireen‘, einen unbekannten Gegenstand zu suchen, sondern Konflikte zu verhindern, die den innern und äussern Frieden bedrohen. Ich muss wissen, wovon das Dokument handelt — die Interessenten daran werde ich schon allein finden.“

Der Minister zerrte nervös an seinem dünnen Schnurrbart.

„Herr Doktor,“ sagte er rauh, „ich habe Ihnen Schmuck und Kassette genau beschrieben und bat Sie, diese Gegenstände, die abhanden gekommen sind, wiederzufinden. Das Dokument, glaube ich, ist sicher darin; haben Sie die Kassette, dann haben Sie auch das Dokument. Dieses enthält ein Staatsgeheimnis von höchster Wichtigkeit, und ich fühle mich weder veranlasst, noch geneigt, es Ihnen mitzuteilen, mehr noch, ich sehe die Notwendigkeit dazu nicht ein.“

Doktor Windmüller stand von seinem Stuhle auf und steckte sein Notizbuch ein.

„Ich wünsche den Herren einen recht angenehmen guten Abend,“ sagte er im höflichsten Konversationston. „Wir kommen, glaube ich, noch reichlich zum dritten Akt der ‚Götterdämmerung‘ zurecht.“

Der Minister, blass geworden bis an die Lippen, fuhr in die Höhe.

„Sie vergessen, mit wem Sie sprechen, Herr Doktor!“ rief er zornig.

„Im Gegenteil — es ist mir nie so klar wie in diesem Moment, dass ich mit einem Ehrenmanne spreche, der das ihm anvertraute Gut hütet und schützt bis zur Grenze des eignen Falles und darüber hinaus,“ erwiderte Windmüller mit einem Ernst und einer eindringlichen Überzeugung, die ihre Wirkung nicht verfehlte, denn Herr v. Worb liess sich schwer in seine Sofaecke zurückfallen und deckte die Hand über die Augen. So sass er einen Moment, und so still war es in dem Zimmer, dass man eine verspätete Fliege schwerfällig um die Lampe summen hörte. Dann sah der Minister auf und reichte dem Detektiv mit mattem Lächeln die Hand.

„Sie verstehen mich und ich Sie,“ sagte er einfach. „Aber da ich einmal zu Ihnen gekommen bin, so haben Sie recht und ich unrecht. Gar nichts oder alles! Ich sehe das ein. Mein Sturz würde das Unglück nicht aufhalten, während mein Bleiben es kann. Sie werden die ‚Götterdämmerung‘ für heut’ schon ganz aufgeben müssen. Herr Doktor.“

Windmüller nahm wieder Platz, ohne nur durch ein Zucken den Triumph seines Sieges zu verraten.

„Ich stehe Euer Exzellenz zur Verfügung,“ erwiderte er so ruhig, als ob sein Besuch eben erst bei ihm eingetreten wäre, und die Situation ebenso akzeptierend, beugte der Minister sich vor und unterrichtete seinen in so hartem Kampfe gewonnenen Helfer mit gedämpfter Stimme von dem Inhalt des Dokuments. Als er fertig war, versank Windmüller in ein tiefes Nachdenken.

„Haben Exzellenz schon irgendwelchen Schritt getan?“ fragte er nach einer Weile.

„Ja. Ich habe die interessierte Macht in einem chiffrierten Telegramm von dem Abhandenkommen des Dokuments unterrichtet.“

„Gut. Sehr gut. Hm! Wenn ich die Situation also recht auffasse, so handelte es sich für eine gewisse andre Macht darum, in den Besitz des Wortlautes des Vertrags zu kommen, um ihm vor seinem Vollzuge so zu durchkreuzen, dass durch die notwendig gewordene Verzögerung zwei verbündete Mächte eventuell durch Besetzung der Grenzen durch Militär in den Stand gesetzt sind, einzuschreiten. Ist das richtig?“

„Durchaus richtig. Sie werden demnach die Notwendigkeit erkennen, die es gebot, das Dokument mit so vielen Sicherheitsmassregeln zu umgeben. Dass der Macht A., welche den Liebesdienst des Durchkreuzens für die Mächte B. und C. übernommen hat, eine Gegenleistung in Aussicht steht, darf als sicher gelten. Umsonst ist der Tod! Ein fait accompli würde die drei Mächte A., B. und C. kalt stellen. Wie sie Wind bekommen haben von dem drohenden Vertrage zwischen uns und Nordland? Mein Himmel, wozu gäbe es denn politische Agenten, für die Unsummen jährlich die Budgets belasten! Das Interesse von A. an der Sache? Ah — die gewichtige Befürwortung seines Eintritts in das Konzert der Grossmächte. Besser in diesem Orchester die letzte Bratsche spielen, als nur als Hilfsgeiger draussen warten, bis man eine Verstärkung nötig hat, die nach getaner Arbeit entlohnt und wieder entlassen wird. Also an Motiven fehlt es auf keiner Seite, und das Einschreiten von B. und C. würde uns insofern empfindlich treffen, als ohne ein Zustandekommen des Vertrages unsre Argumente zur See den gegnerischen nicht gewachsen sind. Es stellen also drei vielgewandte Jäger in schöner Übereinstimmung dem Wilde nach, und wenn ich mich auch in der leisen und sehr schwachen Hoffnung wiege, dass das Dokument so geschützt ist, dass es vielleicht doch dem Spürsinn entgeht und mit dem Korpus delikti, dem Kasten samt den Juwelen, vernichtet ist oder wird, so muss ich doch der Möglichkeit Raum geben, dass es andrerseits ebensogut in eben diesem Augenblicke schon auf dem Wege zu einem der drei Ministerpräsidenten ist.“

„Das zu beweisen ist meine Sache,“ rief Windmüller mit der ihm eignen Energie, die immer über ihn kam, sobald er einem ihn interessierenden „Falle“ gegenüberstand. „Es kann — sage: kann sich ja auch nur um einen simpeln Juwelendiebstahl handeln, doch ehe ich das oder jenes Motiv annehme oder verwerfe, muss ich die Umstände des Abhandenkommens der Kassette hören. Wollen Sie nun die Güte haben, Herr von Greifensee, mir zu erzählen, wie und wann Sie die Ihnen anvertraute Kassette vermisst haben? So chronologisch wie möglich, wenn ich bitten darf, und mit dem kleinsten, scheinbar unwichtigsten Detail! Und werden Sie, bitte, nicht ungeduldig, wenn ich Sie unterbreche und unbegreifliche und scheinbar törichte Fragen an Sie richte. Ja?“

Der junge Mann, der bisher den stummen Zuhörer gespielt, aber sich dabei sichtlich gefasst und gesammelt hatte, richtete seine klaren und intelligenten Augen fest auf den Detektiv, der ihn anscheinend jetzt überhaupt zum erstenmal beachtete, aber trotzdem drückte sich darin eine mit Respekt gemischte Bewunderung aus.

„Bitte, fragen Sie nur,“ sagte er mit einem knabenhaften Eifer, der ein wohlwollendes Licht in den scharfen, vielen so ungemütlichen Augen des Detektivs aufleuchten liess. „Ich will versuchen, so genau wie möglich zu sein. Also: Exzellenz hatten mir befohlen, zur Vermeidung jedes Aufsehens eine einfache Droschke zu nehmen, in dieser den Kasten mit dem Schmuck zu mir zu fahren und meine Wohnung bis zum Abgang des Zuges zehn Uhr dreissig nicht zu verlassen. Eine Droschke mit einem Geheimpolizisten als Kutscher würde mich zum Bahnhof abholen, ein andrer Geheimpolizist als Gepäckträger verkleidet mein inzwischen bereit gemachtes Gepäck abholen und aufgeben, so dass ich mich selbst um nichts als um den bewussten Kasten zu bekümmern hätte. Zwei weitere Geheimpolizisten sollten die Reise mit mir im gleichen Coupé machen, der eine in der Maske eines zur Jagd fahrenden Herrn, der andre als ein etwas protzig aussehender Gentleman mit orientalischem Anstrich. Diese beiden Herren dienten zu meiner persönlichen Sicherheit während der nächtlichen Eisenbahnfahrt. Mit allen vieren hatte ich Parole zu wechseln, um sicher zu sein, dass es auch die richtigen waren und nicht durch gegnerische Agenten ersetzte. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass auch die einfache Droschke, die mich vom Auswärtigen Amt in meine Wohnung fuhr, von einem unsrer Agenten gelenkt wurde. Nun, ich traf kurz vor vier Uhr an meiner Wohnung ein —“

„Wo wohnen Sie?“ unterbrach Windmüller den ruhig und klar begonnenen Bericht.

„Mariannenstrasse 72a im ersten Stock, wo ich zwei Zimmer von Frau Geheimrat von Seewirth gemietet habe.“

„Lebt die Dame allein?“

„Nein, mit ihrer Tochter und einem Mädchen für alles. Frau von Seewirth ist die Witwe des bekannten Staatsrechtslehrers dieses Namens, sehr respektable alte Dame, aber etwas klamme Finanzen, denen sie durch Vermieten von Zimmern an Damen und Herren mit Prima-Referenzen etwas nachhilft.“

„Die Tochter — ist sie jung, hübsch?“

„Keins von beiden. Mindestens vierzig, garstig und fürchterlich töricht. Es ist erstaunlich, wie solch gescheiter Mann wie Doktor Seewirth eine so dumme Tochter haben kann, besonders da die Mutter gar nichts Törichtes an sich hat.“

„Sie verkehren viel mit den Damen?“

„Wir stehen auf gutem Fusse, und sie laden mich manchmal zum Tee ein. Ich nehme das dankbar an, wenn ich nicht sonstwie abgehalten bin, weil ich gern im Familienkreise verkehre und mir aus dem Wirtshausleben nichts mache.“

Wer bewohnt das Haus noch?

„Die Parterrewohnung hat ein verheirateter Generalstäbler, den zweiten Stock ein Universitätsprofessor und den dritten zwei zusammenwohnende ältere Damen, von denen die eine Stiftsdame ist, die andre, ihre Freundin, eine pensionierte Hofdame. Ich treffe alle diese Mitbewohner des Hauses hin und wieder bei Frau von Seewirth, bei der ich seit einem halben Jahre Aftermieter oder, wie die Tochter ständig sagt, ‚möblierter Zimmerherr‘ bin.“

„Sie sind der einzige Mieter?“

„Ja, das heisst ich war’s bis vor kurzem. Die Wohnung besteht aus sechs Zimmern mit Zubehör: drei gehen nach der Strasse, eins liegt im Fond, das sogenannte Berliner Zimmer, zwei Stuben und die Küche nach dem Hofe. Das Mädchen schläft, glaube ich, in den Mansarden. Von diesen sechs Zimmern vermietet Frau von Seewirth drei. Ich hatte die zwei Zimmer nach der Strasse genommen, fand aber, dass ich noch gut einen Raum zur Unterbringung der Sachen brauchen konnte, und fragte nach einem solchen — natürlich vorausgesetzt, dass er auf derselben Etage läge, denn der Mann, der mich bedient, kommt nur morgens und abends meine Sachen zu putzen und sich Aufträge zu holen, und was ich brauche, muss ich daher zur Hand haben —“

„Warum halten Sie keinen eignen Diener?“

„Ach, nachdem ich mich mit ein paar ganz untauglichen Kerlen herumgeärgert, die sich herumtrieben, sich den Teufel um meine Sachen kümmerten und mir meine Zigarren mopsten, habe ich es so versucht und bin sehr zufrieden mit meinem braven Pfifferling, wie er heisst. Er ist mir von Kollegen warm empfohlen worden und verdient seinen guten Ruf, denn er hält meine Sachen in musterhafter Ordnung, ist goldehrlich und dabei ein pudelnärrischer Geselle, der sich ganz mit dem Auswärtigen Amt identifiziert.“

„Sonst räumt Ihnen das Mädchen für alles auf?“

„Nein, das macht Pfifferling. Das Mädchen bringt mir früh nur den Kaffee und was ich sonst brauche, wenn ich daheim bin. Aber ich bemühe sie nur selten, da ich gewohnt bin, mir selbst, soweit es geht, zu helfen.“

„Ein weises Prinzip der Selbständigkeit, denn es macht frei. Was ist das Mädchen für alles für eine Person?“

„Die Lina? Ach, ein ungeschickter Trampel ist sie, die über ihre eignen Füsse fällt. Irgend woher vom Lande importiert. Bekommt wahrscheinlich einen minimalen Lohn, denn sonst begreife ich nicht, warum die Damen mit ihr wirtschaften.“

„Gehen wir über die Lina zur Tagesordnung über. Sie wollten also ein drittes Zimmer mieten —“

„Ja, weil mir der Raum zu beschränkt war mit meinen Koffern im Schlafzimmer und die Leute sich in dem engen Korridor immer an meinen grossen Reisekoffer stiessen, den ich notgedrungen zwischen meinen beiden Türen aufgestellt hatte. Als ich damit herausrückte, das heisst mit dem Wunsch nach einem dritten Raum, da hiess es: ‚Ach, wie schade! Die ganze Zeit habe das eine Zimmer nach dem Hofe leer gestanden, aber seit ein paar Tagen sei es vermietet.‘ Na, jedenfalls hatte ich das Nachsehen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand eingezogen war und war auch gar nicht neugierig, wer es sein konnte, aber Frau von Seewirth erzählte mir ungefragt, dass es eine junge Dame sei, ob aber jung oder alt — es interessierte mich wenig, denn wenn ich den Damen auch nicht aus dem Wege gehe, so laufe ich ihnen doch nicht nach. Fräulein von Seewirth erzählte mir später, ihre Mieterin wäre eine russische Studentin und fand das in ihrer törichten Art ‚furchtbar interessant‘. Was ich bisher von russischen Studentinnen gesehen habe, hat mich weiter nicht gereizt; ich halte sie für eine von den ungeraden Nummern, vor denen ich ein gewisses Vorurteil zu haben bekenne. Gesehen habe ich meine Hausgenossin nur einmal von weitem: eine lange, überschlanke Gestalt mit wirrem Cléo de Merode-Scheitel, schlampigen Kleidern und schiefgetretenen Absätzen, die unter dem abgestossenen, aber natürlich schleppenden und bewischten Rocksaum hervorsahen. Auf dem Kopfe ein Burenhut von ruppigem Filz mit weit herausspiessender Nadel — kurz, ein Genre, das mir greulich ist und mich gar nicht interessiert.“

„Mich sehr — in diesem Falle. Ich kenne den Typus. Das Interessante ist, dass eine Vertreterin desselben in dem vornehmen Viertel der Mariannenstrasse Wohnung gesucht und in solch exklusivem Haushalte gefunden hat. Das sucht gewöhnlich kleine billige Pensionen oder ebensolche möblierte Zimmer in den Studentenvierteln auf.“

„O, sie wird wohl all right sein. Wenigstens erzählte Fräulein von Seewirth, dass dies Fräulein Tatjana Petrowna Petrojewitsch mit vorzüglichen Empfehlungen von einem Professor der Universität gekommen wäre.“

„Empfängt das Fräulein viele Besuche?“

„Weiss ich nicht, ich bin noch nie jemand begegnet, der sie besucht hat, habe sie selbst, wie gesagt, nur einmal von fern auf der Treppe gesehen. Jedenfalls muss sie um das Zimmer nicht gehandelt und es pränumerando bezahlt haben, denn die Damen des Hauses loben übers Kreuz ihr stilles, bescheidenes Wesen und ihre distinguierte Persönlichkeit, was mir eigentlich beides nicht aufgefallen ist. Die Lina scheint ein andres Lied zu singen, denn sie wollte mir einmal vorklagen, dass ‚die Russin‘ schrecklich unordentlich in ihrem Zimmer wäre und oft so spät heimkehre, aber ich habe ihr gleich abgewinkt, denn der Russin wird sie wohl Sachen über mich erzählen, und ich liebe Hausklatsch nicht.“

„Sehr richtig, Herr von Greifensee — von Ihrem Standpunkt aus. Ich bin leider auf den Hausklatsch in meinem Berufe oft ganz angewiesen und hätte es als günstig empfunden, wenn Sie dazu neigten. Indes, ich werde schon sehen, wie ich zu meiner Ration dieses fördernden Prinzips komme; die Lina wird ja wohl ihre zugänglichen Seiten haben. Bitte, sehen Sie mich nicht so entsetzt an — ich muss eben manchmal aus trüben Quellen schöpfen — fahren Sie indes immerhin fort. Sie kamen also heut’ nachmittag gegen vier Uhr mit dem Kasten vor Ihrem Hause an und —“

„Ja, ich stieg damit aus und fiel sozusagen gleich einem vorbeigehenden Kollegen in die Hände — dem russischen Legationssekretär Prinz Rosanoff — der mir natürlich so ungelegen wie möglich kam, denn mir lag daran, ungesehen ins Haus zu kommen. Prinz Rosanoff, der für meinen Geschmack etwas zu sehr grossrussischer Grandseigneur ist und von etwas herablassender Liebenswürdigkeit, blieb stehen, als ich, mit dem Kasten in der Hand aussteigend, ihn fast anrempelte, und wir wechselten ein paar banale Phrasen —“

„Können Sie sich deren noch erinnern?“

„O — ‚wie geht’s?‘ übers Wetter — was man so auf der Strasse redet. Ja, und natürlich bemerkte er den Kasten in meiner Hand, der wie eine Reisetasche aussah, klopfte mit dem Stöckchen darauf und meinte: ‚Warum lassen Sie sich das nicht schicken? Ihr Deutschen seid doch zu komisch, dass ihr euch immer mit Gepäck und Paketen schleppt.‘ Ich antwortete ihm lachend — eigentlich war ich ärgerlich — dass ich dies enorme Gepäckstück ohne Schaden für meine Gesundheit die paar Schritte schon noch erschleppen könnte, worauf er achselzuckend meinte: ‚Chacun à son goût‘ und dann weiterging. Ohne jemand zu begegnen — nur der Portier, der mir die Haustür von seinem Souterrain aus öffnete, sah mich — erreichte ich dann glücklich meine Zimmer und stellte den Kasten auf den Sofatisch in meiner Wohnstube.“

„Darf ich Sie um eine kurze Beschreibung Ihrer Zimmer bemühen, ehe Sie fortfahren?“

„Gewiss. Sie liegen nach der Strasse heraus, gleich linkerhand, wenn man die Entreetür aufmacht, zu der ich natürlich meinen eignen Drücker habe. Zwei zweifenstrige, hübsche, grosse Zimmer. Die erste Tür führt in das Wohnzimmer, das mit der Schlafstube durch eine Tür verbunden ist. Das letztere hat einen Ausgang nach dem Korridor, der Tür gegenüber, hinter der die andere Mieterin wohnt; eine dritte Tür in dem Schlafzimmer, die in den Salon der Dame des Hauses führt, ist durch einen grossen, schweren Kleiderschrank zugestellt. Genügt das? Gut also, nachdem ich in meinen Zimmern war und den Kasten auf den Tisch gestellt hatte, damit ich ihn immer im Auge hatte, trotzdem ich in aller Welt nicht gewusst hätte, wie er mir jetzt hätte abhanden kommen sollen, fing ich gleich an, mir meine Sachen für meine Reise herauszusuchen und im Schlafzimmer zurechtzulegen. Wenn Pfifferling abends kam, sollte er meinen Koffer packen. Immer zwischen den beiden Zimmern hin und her gehend, war alles rascher zusammengeholt, als mir lieb war, denn was sollte ich mit der ganzen Zeit bis zum Abend anfangen? Wie ich so noch eine überflüssige Stiefelparade abhalte, klingelt’s, und eine dröhnende Bassstimme fragt nach mir. Ich kannte diese Stimme, sie gehörte meinem Onkel, Herrn von Tiefenthal, an, der unweit von hier ein Landgut hat und mich manchmal besucht. Onkel Tiefenthal ist der beste und anständigste Mensch von der Welt, aber dabei ein so verzweifelt ungeschliffener Diamant, dass er wirklich nur unter vier Augen geniessbar ist und — ein Muster von Taktlosigkeit. Trotzdem habe ich ihn ganz gern, und meist amüsiere ich mich über seine Ungeniertheiten. Heut’ wünschte ich ihn aber ins Pfefferland und hielt mich ganz still, in der Hoffnung, dass Lina mein Kommen nicht bemerkt hatte. Sie sagte auch richtig, sie wüsste nicht, ob ich zu Hause wäre, aber Onkel Tiefenthal schrie, das würde er selbst konstatieren, und ehe ich noch zuspringen und den Riegel vorschieben konnte — aufs Klopfen hatte ich nicht zu reagieren beschlossen, da war er auch schon im Zimmer drin und fragte mich, ob ich taub wäre, dass ich ihm nicht entgegenkäme, oder geschlafen hätte oder gedöst. Ich machte nur meine Schlafstubentür zu, damit er meine Sachen nicht sah, denn er ist neugierig wie eine Nachtigall, indessen hatte er auch schon glücklich den Kasten beim Wickel mit der Frage, was denn das wäre? Ich sagte kurz, der Gegenstand gehöre mir nicht, ich hätte ihn nur zum Aufbewahren hier und erkundigte mich krampfhaft nach dem Befinden von Tante Theone, seiner Frau. Nun erklärte er mir, er wäre in Geschäften hier, hätte gleich — gottlob — einen Termin beim Rechtsanwalt und wollte dann mit mir bei Dingsda zu Abend essen und dann in das Operettentheater. Ich bedauerte darauf riesig, ich wäre dienstlich verhindert und für den Abend versagt — hätte ich die Wahrheit gesagt, dann hätte er lieber seinen Termin verpasst, ehe er nicht herausgekriegt hätte, wohin ich verreisen wollte und warum. Dabei muddelte er fortwährend an dem Kasten herum und wollte durchaus wissen, was darin wäre, und auf meinen Bescheid, ich wüsste es nicht, sagte er ganz gemütlich, wir könnten ja mal nachsehen, Klapperschlangen würden ja nicht herausfahren. Na, ich hatte Mühe, ihm das auszureden, und weil ich vorgab, den Schlüssel gar nicht zu haben, liess er auch ab, und ich war froh, als er die Treppe endlich herabstampfte und mir noch von der Strasse aus heraufschrie, er käme mich morgen früh aus den Posen trommeln, um mit mir Einkäufe machen zu gehen. Ganz abgehetzt von dem Besuche — Onkel Tiefenthal hat das so an sich, die Leute abzuhetzen — warf ich mich aufs Sofa. Da klingelt’s wieder, ein Murmeln, dann klopft es, und Lina lässt mir ohne weiteres einen andern Besuch ein, den ich sonst sehr gern habe: den Honourable John Holybush von der englischen Gesandtschaft —“

„Ah!“ machte Doktor Windmüller.

„Ja,“ fuhr Herr v. Greifensee fort, „aber heut’ wäre es mir lieber gewesen, er wäre nicht gekommen. Einerseits war’s ja eine angenehme Zerstreuung, aber andrerseits war ich heut’ nervös und unruhig. So mit der ersten diplomatischen Mission — und gleich mit solch einer auf der Seele — Sie werden das vielleicht verstehen! Holybush ist ein reizender, urnetter Kerl, aber ich empfing ihn mit gemischten Gefühlen. Er kam fragen, ob ich nicht zum Fife o’clock — bei Lady L., der Frau des ersten Botschaftssekretärs — mitkommen wollte, er bettelte förmlich darum, weil — na ja, weil er mich als Elefant brauchte, und zog ganz betrübt ab, als ich ihm sagte, ich hätte noch im Bureau zu arbeiten. Den Kasten hatte er auch bemerkt und fragte, ob ich verreisen wollte, was ich aber leugnete. Er ging also gleich wieder und keine zwanzig Minuten später kam ein dritter Besuch — manche Tage geht das wie im Bäckerladen, besonders dann, wenn man allein sein möchte. Diesmal war’s ein japanischer Kollege, Vicomte Ynunee —“

„Ah! Ah!“ machte Doktor Windmüller. „Ich kenne ihn — er war vorher bei der japanischen Botschaft in Rom. Ein ganz hervorragend begabter junger Mann — sieht eigentlich kaum wie ein Mongole aus —“

„Seine Mutter ist eine Amerikanerin,“ fuhr Greifensee fort. „Auch ein riesig netter Kerl, der kleine Ynunee. Sein Tollpunkt ist die Veredlung seiner Rasse. Darum ist er fest entschlossen, sich mit einer Europäerin zu verheiraten, und wählt nun krampfhaft unter den Töchtern des Landes, die aber immer noch nicht ein gewisses Vorurteil gegen die gelbe Gefahr überwunden haben. Er erzählt mir heute, strahlend vor Begeisterung, dass er eben sein Ideal gesehen — eine junge Dame, die aus einer Gepäckdroschke gestiegen wäre, ich weiss nicht mehr, wo, und die er Gelegenheit gehabt hätte, im Vorübergehen ausgiebig zu bewundern, weil sie sich mit dem Kutscher über die Taxe gezankt hätte. Er fand es schneidig, dass sie sich nicht übers Ohr hauen lassen wollte. Jetzt weiss ich’s: es war in der Regentenstrasse — ach so! Er wollte mich ausholen, ob ich sie vielleicht kennte, darauf komme ich jetzt erst! Regentenstrasse siebenundzwanzig! Natürlich! Gott, in dem grossen Hause wohnen so viel andre Leute — na, jedenfalls habe ich nichts zu Ynunees Erleuchtung beitragen können, und weil er wohl merkte, dass ich heut’ nicht sehr aufgelegt war, ging er auch bald wieder, denn er ist sehr taktvoll, der kleine Ynunee.“

„Über den Kasten hat er keine Bemerkung gemacht?“

„O nein. Und wenn es ein lebendiges Krokodil gewesen wäre, er hätte davor gesessen, ohne zu zucken und ohne zu fragen, ob das mein neuestes Haustier wäre. Diese Asiaten sehen alles, aber sie reden nicht darüber.“

„Sehr richtig beobachtet. Nun, und als Vicomte Ynunee sich empfohlen —“

„Ja, da dachte ich, jetzt wären die Besuche wohl für heut’ erledigt, aber Kuchen! Es kam noch einer. Ein sehr merkwürdiger und nie erwarteter. Eine Dame.“

„Ah! Ah! Ah!“

„Ja, wenn ich mir’s jetzt überlege — ich bin dazu noch gar nicht gekommen — was hat sie eigentlich gewollt? Doch ich will nicht aus dem Text fallen. Also, so nach sechs Uhr höre ich, wie Fräulein von Seewirth mit einigen geflöteten Bemerkungen über die Lina, die immer noch nicht zurück sei von den zwei Schritten zum Kaufmann um die Ecke, an die Entreetür öffnen geht und dort mit einer andern weiblichen Stimme verhandelt. Gleich darauf klopft es, ich sage gewohnheitsmässig Herein und falle fast auf den Rücken vor Staunen, als mit einer Wolke scharfen Parfüms — Gräfin Sulau in mein Zimmer rauscht!“

„Aha! Die schöne Witwe!“

„Wie, Herr Doktor — Sie kennen die Gräfin?“ rief der Minister interessiert.

„Nur dem Namen nach bis jetzt, nicht persönlich,“ erwiderte Doktor Windmüller. „Sie steht auf meiner Liste so gut wie auf Ihrer, Exzellenz.“

„Auf welcher Liste?“ fragte Greifensee perplex.

„Auf der Liste der — hm — politisch Beschäftigten,“ erwiderte der Minister, und, als er des Attachés erstauntes Gesicht sah, setzte er mit halbem Lächeln hinzu: „Sie sind noch zu kurze Zeit bei uns, um mit dieser Liste bekannt geworden zu sein. Das kommt erst später, dieser Anschauungsunterricht mit den Warnungstafeln.“

Greifensees Gesicht war eine Studie.

„Die Herren wollen doch nicht sagen, dass Gräfin Sulau eine — eine politische Sp— Agentin ist?“ platzte er heraus.

„O — nicht eben gerade das in dem vollen Sinne des Wortes, aber sie erweist politische Gefälligkeiten,“ erklärte Windmüller. „Das ist eine Nuance — so so! Sie kennen also die Gräfin Sulau und werden sogar von ihr besucht. Das ist von grösstem Interesse. Natürlich ziehen Sie auch mit am Siegeswagen der ‚schönen Witwe‘.“

„Nein, das tue ich nicht — es fällt mir gar nicht im Traume ein,“ erklärte Greifensee energisch. „Die Gräfin Sulau ist eine Verwandte von mir. Als ihr Mann noch lebte auf seiner Klitsche von Landgut — er war meiner Mutter Stiefbruder — da nannte ich die Gräfin Tante, wie das so Sitte ist, Tante Mieze. Als der Onkel starb, verduftete seine Frau mit dem Ertrage des verkauften Gutes, sie ging auf Reisen, heisst das, und tat ihre einzige Tochter in eine Erziehungsanstalt. Hier habe ich die Tante wiedergefunden als sezessionistische Schönheit, die sich auf die ‚blonde Bestie‘ und das Nietzschesche Überweib hinausspielt und ‚Maja‘ heisst. Sie hat mir verboten, sie ‚Tante‘ zu nennen, weil das alt mache, wenn’s ein so langer Labander wie ich tut, und ich muss ‚Cousine Maja‘ zu ihr sagen. Ich habe Onkel Sulaus Frau mit ihrem Getue schon als Junge nicht leiden mögen; aber jetzt, mit ihrer künstlichen Jugend, ihren gelbgefärbten Haaren und ihrem Hinausspielen auf die ‚in ihrer Individualität sich Auslebende‘ ist sie mir geradezu grässlich —“

„Das sagt man nicht so rund heraus,“ meinte der Minister mit einem Tadel, der von einem Schmunzeln und einem fast zärtlichen Blick auf den jungen Mann begleitet war.