Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wilde Drogenexzesse, sexuelle Eskapaden, grandiose Erfolge mit der Band Aerosmith und vier Kinder von drei Frauen – Steven Tyler hat nicht nur als Sänger und Frontmann Geschichte geschrieben. Sein Leben gleicht einer Achterbahnfahrt mit Höhen, Tiefen und mehrfachen Loopings. In "Does the Noise in My Head Bother You? Meine Rock'n'Roll Memoiren" erzählt er seine aufregende Lebensgeschichte nun erstmals selbst. Dabei gibt er äußerst persönliche Einblicke in seine Jugend in der Bronx, den Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg von Aerosmith, das Leben im Rampenlicht und in die wirtschaftlichen Hintergründe des Rockgeschäftes. Tyler spricht über seine Romanzen und die Beziehungen zu seinen Kindern ebenso offen wie über seinen immerwährenden Kampf gegen die Drogen. Seine Geschichte ist atemberaubend, rasant, verrückt. Kurz: purer Rock'n'Roll!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 662
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
STEVEN TYLER
MEINE ROCK ’N’ ROLL MEMOIREN
To the loving memory and the spiritof Susan Rey Blancha Tallar
Wenn du ein Hammer bist, sieht alles wie ein Nagel aus.
Wenn du ein Sänger bist, sieht alles wie ein Song aus.
Das Leben ist kurz. Brich die Regeln, verzeih schnell, küsse bedächtig, liebe ehrlich, lache hemmungslos und bedaure niemals etwas, was dich zum Lächeln bringt.« Wir sind nicht messbar; es gibt keine Skala der Begierde. Wenn die lodernden Flammen deines Herzens zu schwacher Glut herabgebrannt sind, könntest du feststellen, dass du deinen besten Freund geheiratet hast. Ahnung, Vermutung, Instinkt … blindes Vertrauen in was auch immer kann deinen Tod bedeuten und denk immer daran: Sing, als könnte dich niemand hören, lebe, als wäre hier der Himmel auf Erden. Damit will ich etwas Tiefes und Bedeutungsloses sagen, so was wie »Bleib dir stets treu«, aber in Wirklichkeit müssen wir als Erstes ALLE ANWÄLTE UMBRINGEN.
Als ich ein Kind und Mitglied einer Gang war, schlug mir mein sogenannter bester Freund, Dennis Dunn, auf den Arm und sagte: »Gib das weiter, Arschloch!« Also drehte ich mich zu Ignacio, schlug ihm auf den Arm und sagte: »Gib das weiter!« Ignacio wendete sich zu Footie und schlug ihm auf den Arm, Footie schlug Raymond und der … schlug wieder mich. Nichts als Positionskämpfe. Später erkannte ich, dass es in einer Band kaum anders ist. Nur dass in meiner neuen Gang Brad Tom schlug, Tom darauf Joey, Joey Joe und Joe gab mir eins aufs Maul, zartfühlender kann ich nicht beschreiben, was in jeder Band auf Erden vor sich geht (zumindest in jeder, die nach zehn Jahren immer noch besteht und einmal im Rampenlicht stand).
Ich weiß noch, was meine Mutter erwiderte, als ich ihr sagte, ich wolle wie Janis Joplin sein: »Wenn du im Rampenlicht stehst, machen dich die Leute zur Zielscheibe ihrer Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. Und wenn du damit umgehen kannst, Steven, mein kleiner Skeezix, dann liegt dir eine Blue Army zu Füßen.« Und wisst ihr was? Ich habs von allen Seiten abgekriegt! Ich möchte bei dieser Gelegenheit alle Nachbarn und gescheiterten Existenzen wissen lassen, dass mich der Lauf meines Lebens nie so weit gebracht hat, andere mit Dreck zu bewerfen, runterzumachen oder zu beschädigen … Deshalb merkt euch eins, IHR, die ihr mich gezaust habt und mir unrecht tatet, nur weil ich ein neugieriges Kind und eine nervige Künstlerseele war, dass für mich das Gleiche gilt wie für Mongo im Film Der wilde wilde Westen: Wer auf Steven schießt, macht ihn nur zornig.
Wenn du jung bist, erlebst du alles zum ersten Mal, und weil es so geradeheraus passiert, ist es einfach da … und du kämpfst dich durch. Später im Leben stellst du jeden Scheiß infrage und verschwendest viel Energie mit all den Warums. Du suchst nach diesem Donnerengel, der dein inneres Feuer löscht, und du fängst an zu glauben, dass du sechs Jahrzehnte überstanden hast, weil dir ein Engel auf der Schulter saß.
Deshalb bin ich Songschreiber – weil ich hin und her geworfen wurde zwischen NICHTS wissen und ALLES wissen, und jetzt, mit 63, bin ich wieder beim GAR-NICHTS-Wissen angelangt. Und wenn dein Kopf unbehelligt ist von sogenanntem Wissen, bist du offen, deine Fantasie spielen zu lassen. Schon Albert Einstein sagte: »Fantasie ist wichtiger als Wissen.«
Im Radio läuft dein Song; die Melodie geht so ins Ohr, dass sie in die Zuhörer hineinkriecht und sie innendrin verändert. Sie beginnen sie zu singen! Du bist in ihr Innerstes vorgedrungen, ihr habt euch geliebt. Du warst in ihrer Seele … und umgekehrt. Es ist wie ein Vujà-dé und hier tritt das Wunder zutage … ein Austausch von Orten, Worten und Konsorten.
Vater von vier Kindern (die großen Lieben meines Lebens), Songschreiber mit einem Berkeley-Ehrendiplom und einem Ehrendoktor der University of Massachusetts in Boston, Dichter und Maler, Drogenabhängiger und ein Mensch, der täglich etwas Neues lernt, ob im »Malibu Home for the Recently All Right« oder beim Dinner mit Scheich Nion in Abu Dhabi, und jetzt … Autor? Ihr macht wohl Witze! RoMANtiker. SeMANtiker. Exotisch, neurotisch, genau! Stört euch der Lärm in meinem Kopf … jetzt schon? Echt? Ich würde sagen, das ist schon mal ein guter Anfang.
S. T.
Ich wurde am 26. März 1948 im Polyclinic Hospital in der Bronx geboren. Kaum dass sie mich mitnehmen konnten, verließen meine Eltern die Stadt Richtung Sunapee, New Hampshire, und fuhren zu den kleinen Ferienhäuschen, die sie im Sommer vermieteten, so eine altmodische Art Bed-and-Breakfast. Mich legten sie in ein Gitterbett neben dem Haus. Da kam ein Fuchs des Weges, dachte, ich wäre ein Welpe, schnappte mich am Zipfel meiner Windel und schleppte mich in den Wald. Ich wuchs mit den Tieren und Kindern des Waldes auf. Ich hörte so viel in der Stille der Pinienwälder, dass mir klar wurde, später im Leben würde ich diese Leere auffüllen müssen. Meine Eltern wussten nur, dass ich irgendwo da draußen war. Eines Nachts hörten sie mich im Wald weinen, aber als sie die Stelle erreichten, sahen sie nur ein großes Loch im Boden, das sie für einen Fuchsbau hielten. Sie gruben und gruben, aber sie fanden nur einen Kaninchenbau, in den ich hineingefallen war – wie Alice.
Und wie Alice drang ich in eine neue Dimension vor: die sechste (die fünfte war schon belegt). Seither kann ich jederzeit an diesen Ort zurückkehren, denn ich kenne das Geheimnis der Kinder des Waldes; in der Stille steckt so viel, wenn du weißt, was du hörst – das, was zwischen der Psychoakustik zweier Noten tanzt und was zwischen den Zeilen steht, gleicht deinem Gegenüber, das du im Spiegel betrachtest. Mein ganzes Leben tanzte ich zwischen diesen beiden Welten: der jenseitigen GOA-ZONE und der … BEDAUERLICHEN WIRKLICHKEIT. Kurz gesagt, ich bezeichne mich selbst als peripheren Visionär. Ich höre, was nicht gesagt wird, und sehe, was unsichtbar ist. Weil unser Sehsinn aus Stäbchen und Zäpfchen besteht, kann man nachts den dunklen Pfad vor sich nur erkennen, wenn man nicht hinschaut und ihn im peripheren Sehbereich betrachtet. Mehr dazu, wenn diese Geschichte vorwärts-, rückwärts- und abseitsschreitet.
Als ich schließlich aus dem Kaninchenbau herausgezogen wurde, holten mich meine Eltern in die dritte Dimension zurück. Wie alle Eltern machten sie sich Sorgen, aber ich wagte ihnen nicht zu sagen, dass ich mich niemals so wohl gefühlt habe wie damals in diesem Wald.
In Manhattan lebten wir an der Ecke 124. Straße und Broadway, nicht weit vom Apollo-Theater. Harlem, Mann. Wenn es stimmt, dass man nie mehr so viel wie in den ersten drei Jahren seines Lebens in sich aufnimmt, dann musste ich die Musik gehört und die Geräusche inhaliert haben, die aus diesem Theater drangen. Es hatte mehr Seele als der heilige Petrus.
Vor einigen Jahren war ich mal wieder beim Apollo und sah den Park, durch den mich meine Mutter im Kinderwagen spazieren fuhr. Meine erste visuelle Erinnerung ist DIESER PARK: Bäume und Wolken ziehen über meinem Kopf dahin, während ich über der Erde schwebe. Das bin ich, ein zweijähriger Astralreisender. Ich erinnere mich, dass ich mit vier Jahren an der Hand meiner Mutter durch lauter Gänge im Keller unseres Hauses durch einen Tunnel in das angrenzende Gebäude ging, um mit zwei Vierteldollarmünzen am Automaten eine Flasche Milch zu kaufen. Ich dachte, ich wäre … weiß Gott wo. Ich hätte genauso gut auf dem Mars sein können. Ah, das war die geheimnisvolle Welt der Kindheit, wo man dauernd von jemandem an der Hand durch einen dunklen Gang in eine nagelneue Welt geführt wird, die nur darauf wartet, dass die übersprudelnde Kinderfantasie anspringt.
Meine Mutter entzündete das Feuer, das mich mein ganzes weiteres Leben wärmte. Sie las mir Parabeln vor, die Fabeln Äsops und die Genau-so-Geschichten von Rudyard Kipling. Märchen und Kinderreime aus dem 18. und 19. Jahrhundert: »Hickory Dickory Dock«, Das Kinderreimbuch von Andrew Lang, Hans Christian Andersen, Little Black Sambo von Helen Bannerman. Fantastisch! Und erst »Die Gans, die goldene Eier legte«! Meine Mutter las mir diese Geschichte immer vor dem Schlafengehen vor. Aber eines Abends, da war ich ungefähr sechs, hörte sie damit auf.
»Du musst selbst lesen lernen«, sagte sie. Bis dahin hatte ich immer mitgelesen, wenn sie auf die Wörter zeigte. Monatelang ging das so, bis sie sicher war, dass ichs mehr oder weniger kapiert hatte. Und plötzlich war da keine Mom mehr, die mir über die Schulter schaute. Sie ließ das Buch einfach neben dem Bett liegen, das verstörte mich. »Mom, ich will die Geschichten hören. Wieso willst du sie mir nicht mehr vorlesen?!«, sagte ich. Eines Abends aber dachte ich: »Jetzt muss ich wohl schlau werden.« Ach nee … Ich werde einfach Musiker und schreibe meine eigenen Geschichten und Mythen … Aeromythen.
Mom erzählte mir von einem Mann, den sie 1956, als ich acht Jahre alt war, in der Steve Allen Show gesehen hatte. Er hieß Gypsy Boots. Er war der erste Hippie, lebte in einem Baum, hatte Haare bis zur Hüfte und propagierte gesunde Ernährung und Yoga. Gypsy war der Urhippie. Er hatte Anfang der Dreißigerjahre die Schule abgebrochen und war mit einem Trupp sogenannter Vagabunden nach Kalifornien gelangt. Er lebte von dem, was er fand, schlief in Höhlen und Bäumen und duschte unter Wasserfällen. Diese Art zu leben zog mich an. Boots’ Botschaft war: So primitiv seine Welt auch schien, die Leute sollten denken, dass er ewig lebt. Hey, und das hat er beinahe geschafft, er starb 1994, elf Tage vor seinem 90. Geburtstag.
Als Nächstes trat ein vagabundierender Komponist in mein Leben, Eden Ahbez, der das Lied »Nature Boy« geschrieben hat (das meine Mutter auf einer Platte von Nat King Cole hörte). Er zeltete draußen vor dem ersten L des Hollywood-Schriftzugs, studierte orientalische Mystik und lebte wie Gypsy Boots von Gemüse, Obst und Nüssen. Meine Mutter sang mir dieses Lied vor dem Schlafengehen vor. Es löste in mir das Gefühl aus, ihr nature boy zu sein, was ich nie vergessen werde.
Das Lied erzählt davon, wie ein verzauberter, umherstreifender Naturbursche – klug und scheu, mit traurigen, glitzernden Augen – einem Sänger über den Weg läuft. Sie sitzen am Feuer und reden über Philosophen, Kerle, Kohl und Könige. Bevor der Junge aufbricht, enthüllt er das Geheimnis des Lebens: Lieben und geliebt zu werden ist alles, was wir wissen und wissen müssen. Mit diesen Worten verschwindet der nature boy in die Nacht, so geheimnisvoll, wie er erschien.
Leider haben mir die Rechteinhaber von »Nature Boy« nicht gestattet, den Text des Songs hier abzudrucken (man kann ihn einfach googeln), aber ich verspreche, dass mich nichts davon abhalten kann, ihn auf meinem Soloalbum zu bringen.
Dann gab es Moondog. Eine großartige Persönlichkeit, ein blinder Musiker, der sich wie ein Wikinger kleidete, mit Hörnerhelm und dazu passendem Speer. Er trieb sich an der Ecke 56. Straße und Sixth Avenue herum. Ich sah und roch ihn jeden Morgen auf dem Weg zur Schule. Wirklich seltsam, er lebte draußen in der Bronx, irgendwo im Wald ein ganzes Stück hinter den Wohnhäusern, wo ich aufwuchs. War das Zufall oder wollte Gott mir insgeheim sagen: »Steven, du sollst der Moondog deiner Generation werden« oder zumindest der Leader einer Rock-’n’-Roll-Band?
Über Moondog hörte ich, er habe »Nature Boy« geschrieben, aber was weiß ich schon? Vielleicht ist Eden Ahbez einfach Moondog rückwärts gelesen …
Meine Mutter wurde als Susan Rey Blancha geboren. Mit sechzehn ging sie zum Women’s Army Corps (wo Frauen in der US-Armee dienten). Während des Zweiten Weltkriegs begegnete sie meinem Vater, als beide in Fort Dix in New Jersey stationiert waren. Eines Abends hatte er ein Date mit der Frau, die mit meiner Mutter das Zimmer teilte. Die ließ ihn sitzen, stattdessen empfing ihn meine Mutter, die gerade am Klavier saß. Mein Dad ging zu ihr hin und sagte: »Sie spielen das falsch.« Es war Liebe auf den ersten Blick! Sie heirateten und bekamen die kleine Lynda, meine Schwester. Ich kam zwei Jahre später. Ha ha! Das ist meine Mutter, das ist mein Vater und deshalb bin ich so scheißdetailverliebt – und so durchgeknallt. Ich habe ihre Merkmale geerbt, die guten und die, die ich nicht so gut finde. Als Nachkomme eignest du dir diese Züge unbewusst an. Falls ihr das noch nicht wusstet. Ihr werdet zu eurer Mutter!
So hat sich das 1948 ergeben, eine spezielle Mischung aus typischem Juilliard-School-Schüler und Pin-up-Boy vom Lande, ein Wesen, das auch noch aussah wie eine Kreuzung aus Jean Harlow und Marlene Dietrich mit einem Schuss Elly May Clampett. Und wenn Gott im Detail steckt – und wir alle wissen, dass Sie das tut –, dann bin ich die perfekte Kombination. Ich bin das N in der DNA meiner Eltern. Wenn also mal jemand sauer auf mich ist und sagt, ich wär ein Depp, dann weiß ich, damit ist eigentlich Fort Dix gemeint. Meine Tochter Chelsea dachte von Geburt an, Gott sei eine Frau. Es tat so gut, von einem Kind zu hören, dass Gott eine Frau sein musste, dass ich das nie infrage stellte. (Kein Wunder, dass ich noch immer Oprah einschalte.)
Mom war ein freier Geist, ein Hippie, ihrer Zeit voraus. Sie liebte volkstümliche Erzählungen und Märchen, aber sie hasste Star Trek. Sie sagte immer: »Warum schaust du das? Alle Geschichten stehen in der Bibel … was immer man sich nur vorstellen kann. Hol die Bibel!« Ich dachte: »Oh Mann, genau das fehlte mir noch zu dem Joint, den ich eben gebaut habe, um ihn mit Spock zu rauchen.« Und übrigens, genau deshalb kommen dir die Teenager heute dauernd mit ihrem »Klar doch!« Aber wisst ihr was – und nur in den Cocktailstunden meines Lebens kann ich das zugeben –, SIE HATTE RECHT!!! Dort holten sie sich ihre Inspiration, Isaac Asimov für I Robot und Aldous Huxley für Schöne neue Welt. So wie der Sound von Elvis Presley von Sister Rosetta Tharpe (schaut euch das mal sofort auf YouTube an), Ernest Tubb, Bob Wills und Roy Orbison stammt. Und diese zeugten die Beatles, diese die Stones und diese wiederum Elton John, Marvin Gaye, Carole King und … Aerosmith. Kenne die Geschichte der Rockmusik, mein Sohn. Der Blues ist ihre Bibel.
Ich war drei Jahre alt, als wir in die Bronx zogen, in einen Wohnblock, 5610 Netherland Avenue, genau in die Gegend, wo die beiden Comicfiguren Archie und Veronica leben sollten (das machte mich wohl zu Jughead). Wir wohnten dort, bis ich neun war – im obersten Stockwerk mit herrlicher Aussicht. In heißen Sommernächten stieg ich heimlich aus dem Fenster auf die Feuerleiter und stellte mir vor, Spider-Man zu sein. Das Wohnzimmer war ein magischer Ort. Eigentlich war es nur 2,5 mal 3,5 Meter groß ! Der Fernseher in der Ecke wurde vom großen Steinway-Flügel überragt. An ihm saß mein Vater und übte jeden Tag drei Stunden, derweil schuf ich mir unter seinem Klavier meine imaginäre Welt.
Es war ein Labyrinth aus Musik, in dem schon ein dreijähriges Kind in die Welt des Psychoakustischen entrissen werden konnte, wo sich ein Wesen wie ich tanzend zwischen den Noten verlaufen konnte. Ich lebte unter diesem Klavier und bis heute liebe ich es, mich unter der kosmischen Glocke aller Dinge zu verirren. Hinein zu gelangen. Jenseits aller Detailversessenheit will ich etwas wissen über das, was in der fifth (Quinte) eines Dreiklangs lebt … im Unterschied zum TRINKEN eines fifth (einer ganzen Flasche)! Also, psychomäßig habe ich es schon mal drauf … jetzt müsste ich es bloß akustikmäßig noch hinbekommen (auch wenn ich ein kleines Liedchen namens »Season of Wither« geschrieben habe).
Dort wuchs ich also auf, unter dem Klavier, und hörte und lebte zwischen den Noten von Chopin, Bach, Beethoven, Debussy. Da habe ich diese Harmonien für »Dream On« her. Dad ging auf die Juilliard School und schaffte es bis in die Carnegie Hall. Als ich ihn fragte: »Wie kommt man in die Carnegie Hall?«, sagte er wie ein italienischer Groucho: »Üben, mein Sohn, üben.« Das Klavier war seine Geliebte. Jede Taste des Instruments war für ihn von eigener persönlicher und emotionaler Bedeutung. Er spielte nicht wie einstudiert. Gott, jede Note war wie ein erster Kuss und er las die Musik, als wäre sie für ihn geschrieben worden.
Ich weiß noch, wie ich unter dem Klavier hervorkroch und meine Finger über den Resonanzkörper gleiten ließ, um ihn zu erspüren. Er war ein wenig staubig, und als ich aufsah, flog der Staub herum und in meine Augen – hundert Jahre alter Staub. Er fiel mir in die Augen und ich dachte: »Wow! Beethovens Staub – den hat er schon eingeatmet.«
Es war ein mächtiger Steinway-Flügel, kein kleines Klavier in der Ecke – ein großer, glänzender schwarzer Wal mit schwarzen und weißen Zähnen, der auf dem Grund meines Geistes schwamm und aus großer Tiefe seltsame Töne von irgendwoher brummte. 20 000 Meilen unter dem Meer war gar nichts dagegen.
Später ging ich noch einmal in die 5610 Netherland Avenue. Ich klopfte an die Tür unserer alten Wohnung 6G. Viele Jahre waren seither vergangen und der Mann, der mir öffnete, war betrunken und in Unterwäsche.
»Dad?«, fragte ich. Er neigte seinen Kopf wie Nipper, der RCA-Hund.
»Hi, ich bin –«, begann ich.
»Oh, ich weiß, wer du bist«, sagte er. »Aus dem Fernsehen … Was machst du hier?«
»Ich habe früher hier gewohnt«, antwortete ich.
»Na, erhöhe schon meine Miete!«, sagte er.
Ich trat ein und sah mich um. Die Wohnung, in der wir aufwuchsen, ist sie nicht in Wirklichkeit immer viel kleiner, als sie sich dreißig Jahre zuvor angefühlt hat? Mein Gott, die Küche war winzig, 1,20 mal 1,80! Das Zimmer, in dem meine Schwester Lynda und ich lebten, und das Schlafzimmer meiner Eltern auf den Hof hinaus – man hätte dadrin nicht mal seine Meinung wechseln können, geschweige denn seine Klamotten. Wie zum Teufel hatte mein Vater einen Steinway-Flügel in dieses Wohnzimmer gekriegt? Seltsam, sich diese kleine Wohnung vorzustellen, mit einem noch kleineren Schwarz-Weiß-Fernseher, vor dem ich gebannt mit großen Augen Sendungen wie Mickey Mouse Club sah oder The Wonderful World of Disney, das zum ersten Mal am 27. Oktober 1954 lief. Zwischen der Existenz des Dreijährigen unter dem Klavier und dem Erlebnis des Sechsjährigen, dessen schwarz-weiße Fernsehwelt plötzlich farbig wurde, wurde ich umfassend auf das Leben vorbereitet. Ich konnte kaum erwarten, mitten hineinzuspringen.
Mein Vater spielte seine Sonaten mit so viel Gefühl, dass es mich bis ins Mark erschütterte. Wenn du diese Musik jeden Tag von morgens bis abends hörst, setzt sie sich tief in deiner Psyche fest. Die Noten klingen in den Ohren und im Gehirn nach und dein ganzes Leben hindurch können dann unbewusst Gefühle ganz leicht durch Musik ausgelöst werden.
Die meisten Menschen auf der Suche nach Gold – nach dem ekstatischen Moment – werden zuerst in ihrer eigenen Sexualität fündig; dann haben sie einen Orgasmus und, zack, wars das schon. Nun stell dir jemanden auf Forschungsreise vor, vielleicht auf der Suche nach seinem Schicksal. Er stößt auf eine Höhle und aus reiner Neugierde kriecht er hinein und sieht nach oben – alles glitzert und funkelt; und ich war zum ersten Mal in Supermans Kristallpalast am Nordpol und die Gebärschreie von Mutter Erde hallten wider von den Kristallen.
Ich wusste nicht, was ich hörte, und ich verstand damals nicht, wo das alles herkam. Es war egal. Ich wollte daran teilhaben. Ich war klein, auch mein Verstand. Es war reine Magie. Mein Dad brachte diese kristallinen Momente hervor, wenn er die Noten der heiligen Sonaten spielte. Es war wie eine Mischung aus Yma Sumac und den Gesängen der Buckelwale – diese göttlichen Klänge rieselten auf mich herab.
Neulich kam mein Vater zu mir zu Besuch – er ist jetzt 93 Jahre alt! Ich setzte mich neben ihn ans Klavier und er spielte Clair de Lune von Debussy. Es war so viel bedeutender als alles, was ich je gemacht habe und noch machen werde. Es ging derart tief und beschwor so viele frühe Gefühle herauf, die sich mit meinen Gefühlen als Erwachsener vermischten, dass ich wie ein Baby weinte. Ich erinnere mich, dass mir fast der Atem stockte, als ich es als Kind zum ersten Mal hörte. Manchmal kannst du nicht ermessen, was für ein Glück du hast, bis du zurückschaust, einen Blick erhaschst auf das, was wirklich ist, und siehst, wie sich alles spiegelt in dem, was dich einmal geprägt hat. Dort fing alles an, deshalb bin ich heute hier. Mir scheint, wir sind alle hier … weil wir nicht alle dort sind.
In Sunapee, New Hampshire, verbrachte ich als Kind den Sommer. Auf der Hinfahrt kamen wir an Bellows Falls vorbei und Mom sagte jedes Mal: »Bellows Falls? Fellow’s Balls!« So war meine Mutter. Mit ihrer Art brachte sie mich sogar dazu, meine Erbsen zu essen. »Mach was du willst, aber iss die bloß nicht!« Und ich lächelte sie froschig an.
Ein paar Jahre später, so um 1961, als ich von der anderen Seite des Hauses nach meiner Mutter rief, sagte Mom: »Hey! Wo bist du? Wo bist du hin?« Heute würde ich gerne wissen, wo sie ist. Sie war ein schönes Mädchen vom Land aus Philadelphia Darby Creek, das in die Stadt zog, um uns großzuziehen, mich in der Schule lange Haare tragen ließ, sich mit den Lehrern anlegte, uns zu den ersten Clubdates fuhr und mich liebte und hegte – ganz gleich, wer ich gerade war und/oder sein wollte.
In den Fünfzigerjahren brauchtest du sieben Stunden von New York nach New Hampshire, denn damals gab es nur Landstraßen und noch keine Highways. Aber die Fahrt rauf nach Sunapee war voller fantastischer Attraktionen. Ein riesiger Tyrannosaurus Rex aus Stein am Straßenrand, Bären aus Holz, »Abdul’s Big Boy«-Restaurants und das Doughnut Dip mit einem riesigen Betondoughnut vor dem Eingang.
Trow-Rico, unser Feriendomizil in New Hampshire, hieß nach einer Kombination aus Trow Hill, einem örtlichen Wahrzeichen, und Tallarico, dem Namen meines Vaters. Die Häuschen lagen verstreut auf 144 Hektar Land mit nichts als Wäldern und Feldern rundherum. Mein Großvater Giovanni Tallarico hatte davon geträumt, als er 1921 mit seinen vier Brüdern aus Italien kam. Pasquale war der jüngste, ein Wunderkind am Klavier. Giovanni und Francesco spielten Mandoline, Michael Gitarre. In den Zwanzigerjahren waren sie als Band unterwegs – sie vererbten meiner DNA die Reiselust. Ich habe Prospekte der Tallarico-Brüder gesehen – sie traten in riesigen Hotels mit gewaltigen Ballsälen auf, in Connecticut, Detroit und anderen Orten. Sie fuhren mit dem Zug von New York in diese Hotels im ganzen Land und spielten ihre Musik für ihr Publikum. Klingt irgendwie vertraut, was?
Der Vater meiner Mutter – das war eine andere Geschichte. Um Haaresbreite konnte er aus der Ukraine flüchten. Der Familie gehörte eine Pferdezucht. Als die Deutschen einmarschierten, mähten sie die ganze Familie vor den Augen meines Großvaters mit Maschinengewehren nieder. »Alle raus aus dem Haus!« Bb-r-r-r-r-a-t! Sie erschossen seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester. Er entkam, indem er in einen Brunnen sprang, und später erwischte er den letzten Dampfer nach Amerika.
Bis ich neunzehn war, verbrachte ich jeden Sommer in Trow-Rico. Sonntags veranstaltete meine Familie ein Picknick für die Gäste. Onkel Ernie grillte Steaks und Hummer und wir mussten den Kartoffelsalat machen. Wir bedienten die Gäste – wie viele werden das gewesen sein? Acht Familien, so um die zwanzig Leute, in unseren Glanzzeiten. Nach dem Essen, bei Sonnenuntergang, luden wir Heu auf den Anhänger, hängten ihn an unseren 49er-Willys-Jeep und fuhren die Gäste auf unserem Grundstück spazieren. Wir hatten einen Gemeinschaftsraum für die Mahlzeiten, wo sie Frühstück und Abendessen bekamen, für das Mittagessen sorgten die Gäste selbst, und all das für rund 30 Dollar die Woche. Und wenn die Leute abreisten, schnappte sich die ganze Familie Töpfe und Pfannen aus der Küche und schlug sie aneinander. Und siehe, der Anlass deines ersten Be-in!
Kaum war ich alt genug, musste ich mitarbeiten. Zuerst musste ich Hecken schneiden. Als ich nörgelte: »Wozu soll das denn gut sein?«, sagte mein Onkel: »Machs ordentlich und halt den Mund.« Er nannte mich Skeezix. Fast die ganze Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte er auf den Fidschi-Inseln, deshalb wusste er Bescheid in geschäftlichen Dingen und allem, was uns umtrieb. Ich half ihm, Gräben auszuheben, eine Wasserleitung eine Meile über den Berg zu legen und mit bloßen Händen einen Teich zu graben. Abends spülte ich Töpfe und Geschirr, und als ich alt genug war, einen Rasenmäher zu schieben, mähte ich den Rasen mit meinem Vater. Ich putzte Toiletten, machte Betten und las alle Kippen der Gäste auf.
Das Heu sammelten wir mit Heugabeln auf und brachten es in den unteren Teil der Scheune. Das Untergeschoss war leer, bis auf Eimer für Ahornsirup und hölzerne und metallene Sirupzapfhähne für Bäume, von einer Familie, die vor uns hier gelebt hatte. Es war ein Abenteuer, dort hinunterzugehen, alles war voller Spinnennetze, Eimerstapel, Glaskrüge und Zeug aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren – all jene verstaubten, rostigen Sachen, mit denen Kinder gern spielen – ganz besonders ich.
Im oberen Stockwerk der Scheune gab es eine Tür, durch die man das Heu ein- und auslud. Dort kletterte ich hinauf und sprang von den Dachsparren. In dieser Scheune vollführte ich meinen ersten Rückwärtssalto; weil das Heu so weich war, war es, als würde man auf, nun ja, Heu landen. Aber ich passte immer auf, ob nicht irgendwo Heugabeln vergessen worden waren. Wäre ich auf einem dieser Scheißteile gelandet, hätte ich schreien gelernt, wie ich es heute kann … nur zwanzig Jahre früher.
Mit den anderen Familien durfte ich erst an den Strand, wenn ich meine Aufgaben erledigt hatte. Nach einer Weile entwickelte ich einen Plan, der da hieß: früher aufstehen.
Während des Sommers spielte mein Vater jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag Klavier in der Soo Nipi Lodge mit Onkel Ernie am Saxofon. Sie hatten einen Trompeter namens Charlie Gauss, einen Kontrabassisten, Stuffy Gregory, und einen Schlagzeuger, der namenlos bleiben soll. Soo Nipi Lodge – die man heute Snoop Dogg Lodge oder so nennen würde – war so ein klassisches Hotel wie das in Shining: ganz aus Holz, prächtig und riesig, mit Speisesälen und Veranden mit Schaukelstühlen und Trennwänden. Eine Chill-out-Zone, nach heutigen Begriffen. Seit den 1870er-Jahren entstanden diese Ferienorte, als Pferde und Kutschen die Gäste vom Bahnhof zum Hotel brachten. Das Einzige, was noch fehlte, waren Musiker, die mit ihrem Spiel die Gäste unterhielten – wohl deshalb kauften die Brüder Tallarico das Land dort.
Während der Prohibitionszeit kamen die Leute mit dem Zug aus New York nach Sunapee und der Schnaps kam aus Kanada. Manche tranken, andere nicht. Vielleicht kamen sie auch nur übers Wochenende rauf, um zu sehen, wie sich die Blätter verfärbten, aber ich stelle mir vor, sie hätten sich mal eben für einen Wochenendtrip in den Zug gesetzt, um sich herumkutschieren zu lassen, in den großen Hotels zu logieren und auf den alten Dampfern zu fahren. Die, die heute im Hafen von Sunapee liegen, sind Nachbauten der Schiffe von vor hundert Jahren. Sehr idyllisch. Zehn Meilen weiter oben liegt New London, der originale Peyton Place, wo seltsamerweise Tom Hamilton geboren wurde. Aber so gesehen ergibt das inzwischen für mich einen Sinn.
Sonntagabends gab Dad Konzerte in Trow-Rico. Die Leute kamen von weit her angereist, um ihn zu hören, und meine Großmutter, meine Mutter und meine Schwester spielten Duette. Alle Familien bei uns zu Gast hatten Kinder und Tante Phyllis polterte: »Na los, Steven, denen bieten wir eine Show!« Unter dem Klavierzimmer lag das Spielzimmer der Scheune: Tischtennis, eine Musikbox, eine Bar und natürlich eine Dartscheibe. Über eine Ecke des Raums, die als Bühne diente, war ein großer Vorhang gespannt, dort brachte Tante Phyllis allen Kindern Fahrtenlieder wie »John Jacob Jingleheimer Schmidt« und »Ein Loch ist im Eimer« bei. Ich machte Pantomime zu einer alten 78er-Aufnahme von »Animal Crackers«. Es war ein Abend mit lagerartigem Varieté. Für das Finale hängten wir ein weißes Tuch vor einen Tisch aus zwei Sägeböcken und einem Brett. Jemand aus dem Publikum musste sich darauflegen und hinter ihm warf eine riesige Lampe Schatten auf das Tuch. Onkel Ernie führte an der Person eine Operation durch, wobei er vorgab, ihn in der Mitte durchzusägen und schließlich ein Baby herauszuholen – ziemlich furchteinflößend, aber zum Wegschmeißen komisch. Alles geschah mit einem Augenzwinkern, das war der Anfang meiner Karriere.
Über die Jahre gaben wir bestimmt 150 Shows oder mehr. Es war richtiges Schmierentheater. Ich machte niedliche Dinge, die sich nur ein Kind erlauben konnte – besonders vor bewundernden Verwandten. Es war wie aus einem Mickey-Roonie-Film. Ich lernte den ganzen Text des Lieds »Kemo-Kimo«.
Keemo Kyemo stare o stare
Ma hye, ma ho, ma rumo sticka pumpanickle
Soup bang, nip cat, polly mitcha cameo
I love you
Und dann machte ich noch etwas wie »Sticky sticky Stambo no so Rambo, had a bit a basket, tama ranna nu-no«. Was zum Teufel das war? Der Beginn meiner Liebe zu abwegiger Musik und verrückten Texten.
Bevor ich in Trow-Rico Arbeit aufgedrückt bekam, bevor ich die Mädchen, Pot und das Spielen in Bands entdeckte, führte ich mit meiner Steinschleuder und Luftdruckpistole ein herrliches Leben im Wald. Kaum waren wir angekommen, war ich schon fort und kam nie vor dem Abendessen zurück. Ich war ein Bergstreuner, barfuß und unabhängig. Ich durchstreifte den Wald, schaute hinauf in die Bäume, sah Vögel und Eichhörnchen – es war mein ganz privates Paradies. Ich knotete ein Seil an einen Stock und machte aus jedem Ast eine Schaukel. So wuchs ich auf, ein wildes Kind der Wälder und Teiche. Aber natürlich glaubt mir das niemand. Die Leute wissen nicht, was sie denken sollen, wenn ich sage: »Ach, ich bin nur ein Junge vom Land.«
Keine Wellen, kein Wind. Wenn du in einem Aufnahmestudio mit schallisolierten Wänden bist, fühlt sich etwas für deine Ohren falsch an. Besonders, wenn die Tür zugemacht wird – dann ist der Raum schalltot, ohne Echo, ohne Klang. Nicht so im Wald. In dieser Stille hörte ich noch ganz anderes.
Dieses Geheimnis ging mir verloren, als ich auf Drogen war. Wieder aus diesem Getöse aufgetaucht, fühlte ich erneut die Verbindung zum Wald. Drogen beklauen dich wie ein Ganove. Spiritualität, vorbei. Ich konnte die Dinge nicht mehr sehen, die ich zuvor in meinem peripheren Sichtfeld gesehen hatte. Keine Peripherie, kein Sehen.
Ich ging in den Wald und saß dort allein, um dem Wind zuzuhören. Als Kind entdeckte ich, wo die Geschöpfe des Waldes lebten. Winzige menschliche Wesen. Ich sah Betten aus Moos, Kissen aus Piniennadeln, ihre Schlupfwinkel unter den Wurzeln umgestürzter Bäume und in hohlen Stämmen. Ich suchte nach Elfen, denn wie konnte etwas so schön und seltsam sein, ohne dass dort jemand lebte! Das alles regte meine Fantasie an, ich wusste, dass etwas neben mir existierte. Auf so dickem Moos schlafen zu dürfen, wäre Glückseligkeit. Ich roch das grüne Gras. Ich sah die kleinen Höhlen im Wald und sagte mir: »Dort muss wohl ihr Haus sein.«
Vor einigen Jahren entdeckte ich ein Moosbett, das in dem kleinen Geschäft einer Dame in New London zum Verkauf stand. Der Laden war voll mit Naturkram und hatte vor dem Eingang einen großen Holzbogen und riesige Vogelschwingen. Das Bett war aus Ästen gebaut, mit einer Moosmatratze, Kissen mit Hühnerfedern – ein hölzernes Nest, ein aufgeschlagenes Straußenei mit einer kleinen Botschaft darauf sowie den Fingerabdrücken der Feen, die in diesem Bett geboren worden waren. Wir haben es immer behalten, damit meine Kinder, Chelsea und Taj, es sehen und wissen würden, dass Feen darin zur Welt gekommen waren. »Wirklich?«, fragten sie und ich antwortete: »Wirklich!«
Ich kaufte die beiden Felder, durch die ich immer gestreift war. In letzter Zeit war ich nicht mehr im Wald, um zu sehen, ob man ihn in Ruhe gelassen hat. Ich habe Angst davor, zu überprüfen, ob alles noch so ist wie in meiner Erinnerung. Aber ich wuchs mit diesen Geschöpfen auf. Ich war allein im Wald, aber nie einsam. Dort machte ich meine ersten Erfahrungen von Anderssein, von einer anderen Welt. Meine Spiritualität kam nicht von Gebeten zu Gott oder der Kirche oder den Bildern in der Bibel, sie kam aus der Stille. Die so anders war als alles, was ich kannte. Das einzige Geräusch, das du im Pinienwald hörst, ist der sanfte, pfeifende Laut des Windes, der durch die Nadeln bläst. Sonst ist es still … wie wenn eben Schnee gefallen ist … Im Wald wird es wirklich ganz still … knackende Zweige, sonst nichts. So war es auch, als ich LSD nahm – ich fühlte, wie mir der Wind über das Gesicht strich, obwohl ich wusste, dass ich bei geschlossener Tür in meinem Badezimmer stand. Mutter Natur sprach zu mir.
Ich lief stundenlang durch den Wald. Ich stieß auf Kastanienbäume, Feenringe von Pilzen, Vogelnester, die aus Menschenhaar und Angelschnüren gebaut waren. Ich stellte mir vor, ich wäre im afrikanischen Dschungel und würde auf die Tore der großen Anwesen klettern und mich auf die steinernen Löwen setzen (bis jemand schrie: »Komm da runter, Kind!«).
Dort wurde mein Geist geboren. Natürlich wurde ich auch durch die Religion in die Spiritualität eingeführt, von der presbyterianischen Kirche in der Bronx und meiner Chorleiterin, Miss Ruth Lonshey. Mit sechs kannte ich alle Weisen (und einige Waisen). Ich verliebte mich in die beiden Mädchen, die im Chor neben mir standen. Zwillinge natürlich. Ich weiß noch, wie ich mit fünf Jahren neben meiner Mutter in der Kirchenbank saß und auf den Altar schaute, wo die Bibel lag und ein wunderschöner goldener Kelch stand, über den sich der Geistliche beugte. Es gab auch einen goldenen Wandteppich, der bis zum Boden reichte und mit einem Kreuz bestickt war. Ich war ganz vertieft in die Liturgie, aufstehen, setzen, aufstehen, singen, setzen, beten, singen, beten, aufstehen, beten, singen, in der Hoffnung, all dies würde mich dem Himmel näher bringen. Ich dachte ganz sicher, Gott wohne GENAU DORT unter DIESEM Altar. So wie ich früher eine Decke über die Stühle im Esszimmer gelegt hatte, um eine Festung zu errichten, einen sicheren Ort der Macht, irgendwie kirchenartig, zuzüglich etwas Fantasie. WOW, all dies in Kombination war ein herrlicher Moment für mich, in dem ich GOTT spürte. Aber da hatte ich Sie schon einmal zuvor im Wald getroffen.
In Sunapee lief ich mit meiner Steinschleuder über die Wiesen und durch den Wald, bis ich mich verirrte … und da begann mein Abenteuer. Ich stieß auf riesige Bäume, deren Äste sich unter der Last der Kastanien bogen, Büsche voll wilder Heidelbeeren, Himbeeren und Traubenkirschen, kilometerweit offene Felder mit wilden Erdbeeren im Gras – so viele, dass es, als ich das Gras abmähte, wie nach Mutters hausgemachter Marmelade roch. Ich fand Fußspuren von Tieren, Habichtfedern, Glühwürmchen und Pilze, die aussahen wie die Häuser der Hobbits, von denen mir erzählt wurde, Frodo und Arwen aus Der Herr der Ringe hätten sie verlassen. Zufällig waren es genau die gleichen Pilze, die ich später essen sollte und die wie durch Zauberhand meinen Stift dazu brachten, die Texte zu Songs wie »Sweet Emotion« zu schreiben. Im Chor sang ich zu Gott, aber mit den Pilzen sang Gott zu mir.
Ich tat so, als wäre ich ein Lakota-Indianer mit Pfeil und Bogen – »Jeder Schuss ein Treffer« –, nur dass ich eine Luftdruckpistole hatte – »jeder Schuss ein Vogel«. Mit meinem Fantasiefreund Chingachogook schlich ich lautlos durch den Wald. Ich hatte Anfängerglück; einmal kam ich, nachdem ich den ganzen Nachmittag mordend mit meiner Steinschleuder und meiner Red-Ryder-Pistole unterwegs gewesen war, mit einer Reihe Blauhäher an meinem Gürtel nach Hause. Dieser Teil war nicht eingebildet. Jedes Frühjahr hatte ich beobachtet, wie die Blauhäher die Nester anderer Vögel ausraubten und mit den Jungen davonflogen. Mein Onkel hatte mir erzählt, die Blauhäher seien Fleischfresser, so wie Habichte und Rechtsanwälte.
Mit meinem Vater fuhr ich zum Angeln hinaus auf den Lake Sunapee in einem vier Meter langen, riesigen Holzboot aus den Vierzigerjahren, das 135 Kilo wog und nur ein Wikinger hochbekam. Allein die Griffe der Ruderblätter waren dicker als Shaq im Pissoir. Du bist draußen, mitten auf dem See, die Sonne knallt auf dich herab wie in der Wüste. Du bist schon verbrannt und kannst nicht mehr weiter. Während wir noch zur Mitte hinausruderten, wo die RICHTIG GROSSEN anbeißen, wussten wir schon, dass wir wieder zurückmussten. Wir, das war ICH. Ha ha ha! Ich wurde zu Popeye Tallarico. Da ich jede Woche den Rasen mähen musste, hatte ich die nötigen Muckis, um zurück ans Ufer zu rudern (und die Last der Welt zu tragen).
Hinter dem See im Wald gab es große Granitblöcke, die die Gletscher während der Eiszeit dorthin geschoben hatten. Ein Stück weit unsere Straße in Sunapee rauf waren Höhlen mit Indianerzeichnungen an den Wänden – Piktogramme und Zeichen. Sie wurden in den 1850ern entdeckt, als die Stadt besiedelt wurde. Die Pennacook-Indianer lebten in diesen Höhlen. Nachdem die Weißen alle Indianer ausgerottet hatten, bauten sie ein Grandhotel mit 75 Zimmern und benannten es nach ihnen, Indian Cave Lodge, das erste von drei Grandhotels in der Gegend und der erste Ort, an dem ich mit der Band meines Vaters 1964 als Schlagzeuger auftrat – nur eine halbe Meile davon entfernt hörte ich zum ersten Mal Brad Whitford spielen.
In Sunapee Harbor gab es eine Rollschuhbahn. Es war eine alte Scheune; die Tore zu beiden Seiten waren geöffnet, draußen war Beton gegossen, so konnte man um das Gebäude herum und durch die Tore auf die andere Seite fahren. Für mich als Kind war das eine großartige Bahn. Man konnte auch Rollschuhe ausleihen und Limonade in Bechern kaufen, nach denen man im Vorbeifahren schnappte. Später wurde dort eine Bühne errichtet, auf der Bands spielten, dann konnte man nicht nur rollerskaten, sondern zu Livemusik rock-’n’-rollerskaten. Der Laden hieß einfach die Scheune und war der erste dieser Art. Auf der anderen Straßenseite war ein Restaurant, das Anchorage. Man konnte mit dem Boot dort anlegen, und nach einem langen Tag Wasserski fahren, sonnenbaden oder glücklos angeln gab es dort Fish and Chips … und wo wir gerade von Chips reden, niemand machte bessere Pommes frites als einer der Köche im Anchorage – Joe Perry. Ich ging nach hinten, um ihm die Hand zu schütteln, und da stand er in seiner vollen Pracht, mit seiner schwarzen Hornbrille, in der Mitte zusammengehalten von weißem Klebeband. Er sah aus wie Buddy Holly mit Schürze. Ich sagte: »Hi, wie gehts dir?«, oder vielleicht auch: »Wie high gehts dir?« Zu der Zeit war ich Mitglied einer Band namens Chain Reaction – und ich ahnte nicht, dass meine Zukunft irgendwo zwischen den Pommes frites und dem Klebeband der Brille liegen sollte.
Nach dem Sommer ging es wieder in die Bronx, für mich ein Kulturschock. Zurück in die totale Stadt – Mietshäuser, Bürgersteige – weg vom totalen Land – Rock ’n’ Röhr mit Hirschen und Antilopen. Ich kenne nicht viele, die solche Wechselbäder erlebten. Unsere beiden Wohnorte waren der völlige Gegensatz: Stadt – Sirenen, Hupen, Müllautos, Betondschungel – versus Land – verrottete Kanus als letzter Gruß einer Generation, die noch eingeborene Indianer kannte. Holy shift! Anfang September waren alle Touristen, die einen fröhlichen Sommer lang New Hampshire zum Zittern und Beben gebracht hatten, wie Zugvögel zurück in ihre Städte geflogen. Willkommen in der season of wither. Die eine Seite war Gras, grün und good old Mother Nature, die andere Asphaltwege, U-Bahnen und Springmesser. Doch irgendwie kriegte ich es immer hin, ein Junge vom Land zu bleiben, sodass ich auch in der Stadt ein Mother Nature’s son war – aber einer mit attitude.
Wenn mich die Kinder fragten: »Und wo bist du gewesen?«, antwortete ich: »In Sunapee!« Ein toller, geheimnisvoller indianischer Name. Als wäre ich von einem anderen Planeten heimgekehrt. Zurück in der Stadt erfand ich fantastische Abenteuer: Ich war einem Grizzly entkommen, wurde von Indianern angegriffen. »Hast du ein Kleinkaliber?« »Hä, wie?« Und dann fabulierte ich drauflos: »Eine Klapperschlange hat mich gebissen …«, und ich zeigte ihnen eine Narbe, die ich mir im Sommer an einer Feuerstelle zugezogen hatte. Nach und nach glaubte ich meinem eigenen Schwindel; du erzählst eine Lüge und sie wird immer größer. »Das Teil kam auf mich zu, geifernd, mit Blut an den Zähnen, vom Camper, den es gerade getötet hatte.« »Du machst wohl Witze?« »Nein, im Ernst, es war tollwütig, aber ich habe es mit meinem Kleinkaliber genau zwischen den Augen getroffen.« Na ja, ich wollte nicht zugeben, dass ich Rasen gemäht und den Müll rausgetragen hatte. Damit konnte man nicht punkten, bei den Mädchen nicht und nicht bei den Jungen, die dir Druck machten, wenn du ihnen nicht bronxmäßig genug drauf warst. Ich wollte ihnen erzählen, wie ich einen Grizzly mit bloßen Händen erledigt hatte – ich war der Huck Finn aus Teufels Küche. Stadtleute haben ohnehin seltsame Vorstellungen vom Land, also konnte ich erfinden, was ich wollte, und sie glaubten es mir. Vergesst nicht, es war das Jahr 1956. Und in der Fernsehserie nannte Ward Cleaver seinen Sohn, nicht seine Frau, allen Ernstes – Muschi.
Ich war ungefähr neun, als wir aus der Bronx nach Yonkers zogen. Ich hasste es, Steve genannt zu werden. In meiner Familie hieß ich Little Stevie, das war in Ordnung, weil es meine Familie war. Aber von irgendwem Steve genannt zu werden, ging mir auf den Sack. Aus der Bronx an einen Ort namens Yonkers (ein fast so schlimmer Name wie Steve) versetzt zu werden, erforderte einige Umstellung. Es war dort zu weiß und zu republikanisch für einen Rabauken aus der Bronx ohne Arsch in der Hose. Mein bester Freund hieß Ignacio und der riet mir, meinen mittleren Namen zu verwenden, Victor, wie mein Alter! Dieser Vorschlag eines Kindes, dessen Name wie eine italienische Wurst klang, war perfekt. Ein Jahr lang nannten mich alle Victor, länger hielt das nicht.
Der Umzug aus der Bronx nach Yonkers war okay, weil wir in einem Haus mit einem riesigen Garten und rundherum Wald lebten. Zwei Blocks von dem Haus entfernt gab es einen See, der als Wasserreservoir diente, in dem angelten meine Freunde und ich unsere Teenagerjahre hindurch. Der See war voll mit Fröschen, Lachs, Barschen und allen möglichen anderen Fischen. Im Garten gab es Stinktiere, Schlangen, Kaninchen und Rehe. In diesem Wald lebten so viele Tiere, dass wir alle begannen, sie mit Fallen zu fangen, zu enthäuten und die Felle für wenig Geld zu verkaufen, eine Art Hinterwäldlerhobby, das ich von meinen Landjugendkameraden aus New Hampshire übernahm. Mit fünfzehn entdeckte ich einen Spielzeugladen, der Kinderplanschbecken anbot. Ich kaufte eins und schleppte es runter zum See, paddelte hinaus und sammelte alle Köder ein, die sich im Schilf verfangen hatten. Danach verkaufte ich sie den Leuten, die sie verloren hatten. Ich war ein Schlitzohr, ein reservoir dog, bevor es den Film gab.
Mit vierzehn sah ich hinten im Boy’s Life oder einem anderen Tiermagazin eine Anzeige von Thompson’s Wild Animal Farm in Florida. Dort gab es alles zu kaufen, vom Panther über Kobras und Taranteln bis zum Waschbär. Ein Waschbärbaby? Wow, so eins wollte ich haben! Ich bestellte es und es kam in einer Holzkiste und schaute mich an mit Augen wie auf einer Zeichnung von Bil Keane oder wie ein Anime-Schulmädchen. Ich badete ihn, lud ihn mir auf die Schulter und lief runter zum See. Dort zeigte er mir, wie man angelte. Ich nannte ihn Bandit, denn wenn du ihm den Rücken zukehrtest, räumte er deine Hosentaschen oder den Kühlschrank leer. Nachdem er ein Jahr lang das Haus verwüstet hatte, sah ich ein, dass man ein wildes Tier nicht wie ein Haustier halten konnte, deshalb zog er um in den Garten. Man muss sie nur füttern und ansonsten vor sich hin leben lassen. Drinnen nehmen sie etwas von deiner eigenen Persönlichkeit an; mit sechzehn hatte ich nur Blödsinn im Kopf und dass ein Tier so wird, kannst du nicht wollen. Er riss jeden Vorhang runter, den Mom aufhing. Ich liebte Bandit und er änderte meine Einstellung zum Töten von Tieren. Letztlich gab ich ihn an einen Farmer in Maine ab, wo er riesig, fett und uralt wurde. Beim Versuch, sich seinen Weg in die Freiheit zu bahnen, biss er ein Kabel durch, die Scheune brannte nieder. Bis heute ist sein Gesicht auf den Fahndungszetteln in Maine zu sehen. Hut ab, Bandit!
In der Bronx versammelten sich die Kinder jeden Morgen auf dem Hof der guten alten Volksschule 81. »Also dann, Klasse, stellt euch auf!«, Punkt 8:15 Uhr. Als ich in der dritten Klasse war, stand eines Morgens ein Mädchen auf dem Hof und ich musste wohl eine kaputte Glühbirne geschnappt haben, mit der ich sie über den Hof jagte – wie jeder kleine (Scheiß-)Kerl auf der Suche nach ein wenig Zuneigung. Das war meine Art zu zeigen, dass jugendliche Galanterie mehr bedeuten konnte als Schlangen und Schnecken und Glücksbringer verstecken.
Ihre Mutter ging sofort zum Direktor. »Wenn Steven Tallarico nicht fliegt, nehme ich meine Tochter von der Schule! Er hat sie mit einer TÖDLICHEN WAFFE verfolgt (bla bla bla). Er ist völlig verroht!« Ich hatte bereits einen Ruf als böser Junge und das hier machte ihn nicht besser. Meine Mutter wurde einbestellt. Sie wollten mich auf eine spezielle Schule für Kinder schicken, deren Eigensinn heute als ADHS bekannt ist.
»Was? Das soll wohl ein Witz sein?«, sagte meine Mutter zum Direktor. Meine Mom hielt immer soooo zu mir. »Wissen Sie was? Ich nehme ihn von dieser Schule. Fuck you!« Letzteres sagte sie zwar nicht, aber ihr BLICK sprach Bände. Und sie nahm mich von der Schule. Ich ging dann auf die Hoffmann School, eine Privatschule in Riverdale, versteckt im Wald, kurioserweise in der Nähe von Carly Simons Haus. Ich hatte keine Ahnung, dass Carly in der Nähe von Riverdale wohnte. Dreißig Jahre später bei einem gemeinsamen Konzert in Martha’s Vineyard erzählte sie mir, dass auch sie auf die Hoffmann School gegangen war.
Ich freute mich auf die Hoffmann School. Als ich dort hinkam, merkte ich, dass die Kinder wirklich sehr »speciale« waren. Manche riefen mitten im Unterricht »Fuck YOU!«, hatten so eine Art Tourettesyndrom und schrien sich ihre Lunge aus dem Leib. Ich würde sagen, es ging ein wenig wilder zu als in einer öffentlichen Schule. In der Zeichenstunde schnüffelten die Kinder am Kleber und malten Graffiti in den Gängen … andere aßen die Fingerfarbe und alle schossen mit Gummiflitschen aufeinander. WOW, da gehörte ich hin!
Das waren Kinder so wie ich, aufgedreht, überkandidelt – richtig kleine Biester! Nicht dass ich genau das war, das war nur der Italiener in mir, diese laute, störrische, direkte und ungezügelte Sorte Italiener eben. Aber mir war klar, dass ich mit Konsequenzen rechnen musste, wenn ich überzog, und dass ich dann das Lineal auf meinen Knöcheln zu spüren bekäme. Trotzdem stellte ich an, was immer mir in den Sinn kam. Ich weiß noch, dass ich einmal beim Essen mein Haar mit der Gabel kämmte. Die Folgen waren nicht der Rede wert; im Gegensatz zu der Geschichte, als ich einmal den Mülleimer in Brand steckte.
Also, das war die Bronx, noch ziemlich wild. Auf dem Weg zur Hoffmann School nahm ich eine Abkürzung über ein Feld, wobei ich über eine Mauer sprang. Over the river and through the woods. Dort gab es einen Kirschbaum, dick und fett wie eine Ulme, und wenn der blühte, war es wie eine Explosion von rosa und weißen Blütenblättern, wie bei einem Schneesturm. Im Sommer war er voller Kirschen.
Hinter den Wohnblöcken suchte ich immer nach etwas, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Ich stieß auf einen schönen, großen Erdhaufen, von dem mir später klar wurde, dass er der Aushub all der Wohnblöcke in dieser Gegend war. Ein zehnstöckiger Berg aus Erde, auf den man hinaufklettern musste wie auf den Mount Everest – ein Kindertraum! Für mich war dieser Erdhaufen ein Berg – Mount Tallarico. »Lasst uns auf den Berg steigen«, sagte ich zu meinen Freunden. Oben angekommen tat sich eine riesige Fläche voller Unkraut und Schößlinge auf – und Nester von Gottesanbeterinnen und allem Möglichen, an das sonst niemand herankam. Natürlich musste ich ein Nest einer Gottesanbeterin mit nach Hause bringen. Es sah aus wie das zwischen meinen Beinen – ganz rund, fest, schrumplig und feigenähnlich. Ich versteckte es in der obersten Schublade, weil ich es so cool fand. Eines Morgens zwei Wochen später wachte ich auf und das ganze Zimmer war voll von Gottesanbeterinnenbabys – Tausende! Sie waren überall, im Stockbett, auf den Decken, Kissen, an den Wänden … »Mom!«
Wir öffneten die Fenster, liefen raus und schlossen die Tür. Unnötig zu erwähnen, dass ich fast eine Woche lang auf der Wohnzimmercouch schlief. Als wir endlich wieder hineingingen, waren sie alle weg.
Auf dem Gipfel des Berges gab es einen kleinen Tunnel, den ich schon entdeckt, aber noch nicht erforscht hatte. Einmal kroch ich einen Meter hinein, aber es war dunkel und modrig, sodass ich mich nicht allzu weit traute. Mit der Zeit wagte ich mich immer weiter vor. Schließlich kroch ich eines Tages hinein und sagte zu meinem Freund: »Halt meine Füße!« Denn als Kind denkst du dir, dass es das Kaninchenloch ist, von dem ich aber in dem Alter noch nichts wissen wollte. Später zahlte ich der Grinsekatze eine Million Dollar dafür, dass sie mein Mitbewohner wurde! Seltsam, nachdem wir zusammengezogen waren, hatte sie fast mein Leben auf dem Gewissen.
Mit einer Taschenlampe kroch ich vorsichtig hinein, während mich mein Freund an den Füßen hielt. Aber alles, was ich dort fand, war ein altes M1-Gewehr, das bei einem Überfall auf einen Schnapsladen in der Nähe von 5610 Netherland Avenue eingesetzt worden war. Ich schulterte das Gewehr und spazierte damit wie General Patton nach Hause. Dabei dachte ich: »Wow, schaut, was ich da habe! Ich kann kaum erwarten, es meiner Mutter zu zeigen.« Sie rief die Polizei und erzählte, wo ich es gefunden hatte. Am nächsten Tag stand ich in der Zeitung und hatte meine fünfzehn Minuten Ruhm. Eine echte Abwechslung für ein Kind, das sonst immer nur in Schwierigkeiten geriet. Okay, ich wurde ein Held beim Versuch, Schwierigkeiten zu machen, aber trotzdem … ein tolles erstes Mal.
Während wir auf unserer Raunchy waren, ich meine die Ranch (à la Spin and Marty) in Sunapee, wohnte Joe Perry an dem See keine sechs Meilen entfernt in The Cove. Wie das bei Kindern oft so ist, lebten wir am selben Fleck, liefen uns aber nie über den Weg. Wir machten die gleichen Sachen. Er schwamm ebenfalls den ganzen Tag und lebte im Wasser – und der See war arschkalt, nach einer halben Stunde waren deine Lippen blau. Wenn ich aus dem Wasser stieg, legte ich mich am Dewey Beach im Sand auf den Bauch, streckte meine Arme aus wie Flügel und schaufelte den heißen Sand Richtung Körper, um mich aufzuwärmen wie eine Eidechse auf dem Felsen. Ich möchte nicht wissen, was mein Herz bei dieser Heiß-Kalt-Prozedur alles durchmachte.
Aber es war nicht alles reine Idylle in Sunapee – es gab Rassismus, und wir waren Italiener. Die Familie Cavicchio zeigte im Hafen eine Wasserskishow, die sie aus Florida mitgebracht hatte. Sie waren die Einzigen, die den Wasserskisprung draufhatten, Fahren mit bloßen Füßen und die eine menschliche Pyramide aus sieben Mädchen hinter dem Boot herziehen konnten. Eines Tages wurden die Anleger von Dewey Beach entfernt, um die Cavicchios zu vertreiben. Eine Ära ging zu Ende und nun konnte niemand mehr vom Anleger aus Wasserski fahren. Mein Onkel Ernie jedoch hatte eine Idee. Er wusste, dass es jedem Anfänger mehr Spaß macht, auf dem Anleger sitzend zu starten als mit dem Hintern im kalten Wasser. Also baute er ein 3 mal 3 Meter großes Floß, montierte Fässer darunter, damit es besser schwamm, und befestigte es mit vier Ketten am Grund des Sees, damit es nicht abtrieb. Wer auch immer den Anleger abgerissen hatte, er konnte uns nichts anhaben, denn das Floß lag so weit vom Ufer entfernt, dass es niemandem im Weg war. Doch irgendwem ging das gegen den Strich. Eines Nachts nahm er altes Öl aus der Friteuse eines Hafenrestaurants und verschmierte es auf dem Floß. Es war so fettig und stank derart, dass niemand mehr von dort aus Wasserski fuhr. Ist es nicht seltsam, dass das Öl von Joe Perrys Pommesfriteuse derselbe Schmodder war, der den ersten Ölteppich auf dem Lake Sunapee verursachte? Es war eine ländliche Version der Exxon Valdez … nur dass es etwas besser schmeckte.
Freitagabends trampte ich meist von Trow-Rico runter nach Sunapee Harbor und traf mich mit meinen Kumpels. Zunächst wurde einer ausgeguckt, der Bier besorgte, danach spielten wir ein Spiel, bei dem man von Bootshaus zu Bootshaus springen musste, wie beim Dächerspringen in New York, nur eben in New Hampshire, am See. Die Regel war, dass man den Boden nicht berühren durfte, und wer es am weitesten schaffte, bekam den Sechserpack Colt 45 und das Mädchen, das das Ganze cool fand. Ein billiges Vergnügen. Das Restaurant Anchorage im Hafen hatte drei Flipper, die die ganze Nacht in Betrieb waren, besonders wenn Elyssa Jerett dort war. Nick Jerett, ihr Vater, spielte Klarinette in der Band meines Vaters. Elyssa war das schönste Mädchen in Sunapee – und später heiratete sie Joe Perry. Aber damals im Anchorage ließ sie es jeden Abend krachen – sie war eine Pinball Wizardess!
Meine eigene Hütte in Trow-Rico war winzig. Es gab ein Stockbett, einen Schreibtisch und ein Fenster mit einer Kette zum Herunterziehen. Ich schlief auf dem oberen Bett und morgens weckte mich mein Vater, indem er Äpfel vom Holzapfelbaum warf. So gegen sieben Uhr. Auch wenn ich überhaupt keinen Schlaf abbekommen hatte, hieß es, gut gelaunt aus den Federn zu springen. Er warf die Äpfel nicht fest, aber es reichte, um mich zu wecken. Die Äpfel an meiner Hütte klangen für mich wie eine Art dumpfe Musik, wie der Rhythmus einer Snaredrum – seither weiß ich, wie laut die Snare auf einer Aufnahme sein muss.
Dad wusste, wie gern ich Schlagzeug spielte, deshalb bot er mir an, während des Sommers drei Abende pro Woche mit seiner Band aufzutreten. Die Band machte eine Art Gesellschaftsmusik, so aus der Welt des Großen Gatsby. Wir spielten Cha-Cha-Cha, Wiener Walzer, Foxtrott und Songs aus Broadwaymusicals wie »Summertime« aus Porgy and Bess. Ich war jedes Mal beschämt, wenn ein Mädchen meines Alters hereinkam, gleich wieder kehrtmachte und ging. Ich wollte viel lieber eine fetzige Version von »Wipeout« oder »Louie Louie« spielen als Walzer aus der (gefühlten) Zeit Ludwigs XIV. Wir bauten uns im großen Ballsaal des Lodge auf und von 19:30 bis 22:00 Uhr spielten wir vier Sets von je einer halben Stunde. Ich musste mein langes Haar zurückkämmen, mit Pomade und Haarwachs glätten und zu einem Pferdeschwanz binden. Ich sah aus wie ein vierzehnjähriger Al Pacino in Scarface!
Zwei oder drei Sommer brachte ich rum, indem ich zwei Monate lang jeden Abend mit meinem Vater spielte. Das Publikum war eher älter, aber hie und da brachten die Leute ihre Töchter mit, es war ja ein familiärer Rahmen. Als ich eines Abends gerade spielte, kam ein hübsches Mädchen in einem weißen Kleid mit ihren Eltern herein. Ich beobachtete sie vom Schlagzeug aus, verschlang sie mit den Augen und ließ meiner Fantasie freien Lauf, wie Jungs das so machen. Ihre Mutter sah dabei zu, wie der Vater, natürlich, den ersten Tanz mit seinem Engelchen tanzte. Wie niedlich! Sie war etwa vierzehn – mollig, pubertär wie ein Weltmeister, mit strahlend grünen Augen und Haaren bis zur Hüfte. »Oh mein Gott«, dachte ich, und überwältigt von jugendlicher Lust löste ich mein Haar, obwohl das meinen Vater sehr erzürnte. Ich wollte meine FLIPPIGE FLAGGE FLIEGEN lassen! Bei den Songs, die wir spielten, bin ich sicher: Wäre sie nicht mit ihren Eltern hier gewesen, hätte sie wie jedes Mädchen bei klarem Verstand nach zwei Sekunden die Biege gemacht. Ich konnte ihre Gedanken lesen: Ich will nur raus hier! … und ich dachte dasselbe! Die Jagd war eröffnet. In der Pause war Dad mit seiner Band an der Bar und ich streunte durch die Halle, auf der Suche nach dem Engelchen in Weiß.
Da gab es einen Typen namens Pop Bevers, der zu uns kam und die Wiesen mähte, wenn wir im Juli nach Trow-Rico rauffuhren. Er kaute Tabak – ein großes Stück an jeglichem Tag. Ich saß bei ihm und wir unterhielten uns, während er seine Zigaretten drehte und mir zeigte, wie das ging. Ich machte meine eigenen Zigaretten aus Maisbart. Ich legte ihn auf die Steinmauer zum Trocknen, rollte ihn in Zigarettenpapier und rauchte das Zeug. Maisbart! Einmal versuchte ich, Tabak zu kauen, aber mir wurde so schlecht davon, dass ich ganze Brocken auf meine Schwester Lynda spuckte.
Danach kam die Trinkphase. Den ganzen Sommer hindurch sammelte meine Familie große Coca-Cola-Flaschen. Während des Winters in der Bronx und in Yonkers hob meine Mutter leere Saft- und Bierflaschen und Weinkrüge auf, wir brachten sie kistenweise nach Trow-Rico. Im Spätsommer, wenn die Gäste abreisten, begann die Apfelsaison im Obstgarten. Wir pflückten die Äpfel, brachten sie zu einer Presse, füllten den Saft ab und lagerten die Flaschen im Keller von Trow-Rico, wo sie zu starkem Apfelmost vergoren. Eines Abends, nach einer Show in unserer Scheune (wir spielten dort jeden Sonntagabend), sagte mein Cousin Auggie Mazella: »Lass uns mal in den Keller gehen.« Wir griffen uns eine Flasche und tranken sie weg, aus Tassen eines Navy-Essgeschirrs. Den Deckel des Blechgeschirrs nutzten wir als Topf, um Bohnen aufzuwärmen. Ein paar Teller und Besteck waren auch dabei – echt cool.
Der Apfelmost war ziemlich stark. Wir tranken ihn wie Saft und ahnten nicht, wie schnell er betrunken machte. Ich torkelte in die Scheune, wo die Band spielte, und begann, die erstaunten Zuhörer zu bespaßen, in einem neuartigen Zustand, der mir bald schon nur allzu vertraut sein sollte. Schnell war die Luft raus. Mir wurde übel, ich stolperte nach draußen, fiel flach auf den Bauch und landete mit dem Mund in der Gartenerde. Ich kroch zu meiner Hütte. Hatte ich meine Lektion gelernt? Ja! Aber nicht so, wie ihr denkt.
Eines Abends ging meine Kindheit in der Soo Nipi Lodge zu Ende. Vom Dasitzen mit Daddy, mit einer Cola und Erdnüssen, ging es geradewegs in die böse Welt der Drogen. Ich traf ein paar von den Angestellten, Hilfskellner, die in den Bungalows wohnten. Jemand drehte gerade einen Joint. Damals, wir sprechen von 1961, waren Joints dünn. Sie waren winzig. Pot war so illegal, dass ich nichts davon wissen wollte. Ein anderes Mal fuhr ich in die Stadt, um in der Scheune eine Band zu hören, und einer von diesen Typen drehte sich auf dem Klo einen Joint. Er fragte: »Hey, willst du den rauchen?« »Nee«, sagte ich, »ich brauch das nicht! Hab schon genug Probleme.« Außerdem hatte ich Reefer Madness gesehen, den Anti-Kiffer-Film, also reichte ich ihn weiter, aber dabei wurde ich neugierig. Wars der Geruch oder Verliebtheit, jedenfalls war von nun an alles, was ich tat, verboten, unmoralisch oder kalorienreich.
Wenig später begann ich, Pot anzubauen, was ich allerdings vor meiner Familie geheim hielt – als hätten sie je erkennen können, was das war. Ich überlegte, wenn ich es direkt in die Wiese pflanze, kommt bei meinem Glück gleich jemand und mäht es ab. Deshalb säte ich einige Samen drüben bei den Starkstrommasten, das erschien mir abgelegen genug. Ich stellte mir vor, regelmäßig dorthin zu gehen und die Pflanzen bei Bedarf zu gießen. Aber zuvor nahm ich noch einen Fisch – einen Barsch, den ich im See gefangen hatte –, hackte ihn in kleine Stücke und legte ihn auf die Steinmauer, wo er in der Sommerhitze gären sollte. Zwei Wochen später summten Fliegen um ihn herum. Er war vergammelt und stank! Ich mischte ihn mit Erde, vergrub das Ganze mitsamt den Samen und kam jeden Tag zum Gießen. Zwei Monate später hatte ich eine abgefahrene Bonsaiversion von Cannabispflanze. Sie hatte jede Menge Dünger bekommen, aber aus irgendeinem Grund wollte sie nicht wachsen. Die Stängel waren hart wie Holz. Was lief falsch? Ich überlegte. Vielleicht waren die Nächte in New Hampshire zu kalt – na klar! Falsch. Es stellte sich heraus, dass unter den Starkstromleitungen DDT oder andere Pestizide versprüht waren, um das Wachstum der Pflanzen einzudämmen. Hey, Drecksäcke! Ich zupfte die Blätter ab, rauchte sie und wurde high. Ich liebte es, im Wald einen durchzuziehen. Auf dem Trip ging ich mit Debbie Benson – meiner Sexfantasie mit fünfzehn – hinauf zu den Bergen und Flüssen.
Ich rauchte Pot auch mit Freunden in meiner Hütte. Wir schlossen die Tür ab, obwohl ich das Kiffen vor meiner Mutter nie verbergen musste. Ich sagte ihr: »Mom, du trinkst. Kiff doch lieber!« Ich drehte einen Joint und sagte: »Ma, riechst du das?« Sie sagte nie, mach das aus, aber vor allem liebte meine Mutter ihren Fünf-Uhr-Cocktail (oder das Hochgefühl dabei).
Wenn mich niemand die vier Meilen im Auto von Trow-Rico zum Hafen mitnahm, ging ich zu Fuß. Im Wald von New Hampshire war es nachts so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sah. All die furchteinflößenden Geschichten, die ich meinen Freunden in der Bronx erzählt hatte, sie wurden nun wahr. Ganze Rudel Wölfe! Schwarze Riesenspinnen! Der Schatten des Würgers von Boston! Blutrünstige Indianer! Ich wusste, dass es in Sunapee keine Indianerstämme mehr gab. Wir – die Weißen – hatten sie ausgerottet. Aber was war mit den Geistern