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Paul Dombey ist ein wohlhabender, stolzer und kalter Mann, der nur einen Wunsch hat: einen Sohn, der seinen Namen trägt und das Geschäft weiterführt, das er aufgebaut hat. Als Paul Dombey sein Sohn geboren wird, den er ebenfalls Paul nennt, glaubt er endlich den Nachfolger für sein Unternehmen zu haben, auf den er solange gehofft hatte – ist sein erstes Kind Florence doch als Tochter für seine geschäftlichen Belange nicht weiter zu gebrauchen. Doch Paul entwickelt sich nicht so kräftig, gesund und vielversprechend, wie Dombey es erwartet… „Dombey und Sohn“ ist die fesselnde Darstellung eines Mannes, der in seinem eigenen Stolz gefangen ist, und zeigt die verheerenden Auswirkungen emotionaler Verarmung auf eine dysfunktionale Familie. Paul Dombey führt seinen Haushalt so, wie er sein Geschäft führt: kalt, berechnend und kommerziell. In dem Maße, wie Dombeys Gefühllosigkeit sich auf andere ausweitet, einschließlich seiner trotzigen zweiten Frau Edith, legt er den Grundstein für seinen eigenen Untergang. “Dombey und Sohn” ist voller unvergesslicher Charaktere und Szenen, die mit einer fast surrealen Intensität geschrieben sind. Der Roman ist, wie die meisten von Dickens’ Werken, von eindringlicher Sprache und stiller Melancholie geprägt. Die Geschichte veranschaulicht die alte Botschaft, dass nichts außer Liebe und Güte zählt, dass wir und alles, was wir haben, vergänglich ist und dass Stolz und Egoismus die verderblichsten Waren sind, die man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten kaufen kann. Es gibt (typisch für Dickens) viele groteske Figuren in dem Roman – einige gute (der liebevolle und gutmütige Kapitän Cuttle, die freche und defensive Susan Nipper), einige schlechte (die mürrische Mrs. Pipchin, der kriecherische Major) und einige böse (das Sinnbild vollendeter Heuchelei – Mr. Carker). Der Charakter des frühreifen und dem Untergang geweihten Paul Dombey ist jedoch eine literarische Schöpfung eigener Klasse. Das Kapitel mit dem Titel “Was die Wellen immer sagten” beschreibt mit halluzinatorischer Intensität die Welt in den Augen eines sterbenden Kindes und war eine der berühmtesten Szenen der viktorianischen Zeit; sie bleibt eine der stärksten in der gesamten Literatur. „Dombey und Sohn“ hat alles, was der reife Dickens zu bieten hat. Lebendige Charaktere, eine fesselnde Geschichte und Sätze von beeindruckender Tiefe und Scharfsinn. Dies ist der vierte von insgesamt vier Bänden. Illustrierte Ausgabe.
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Seitenzahl: 462
CHARLES DICKENS
ROMAN
IN VIER BÄNDEN
BAND VIER
ILLUSTRIERT
DOMBEY UND SOHN wurde zuerst im englischen Original als Fortsetzungsroman veröffentlicht von Bradbury & Evans, London 1846-48.
Diese Ausgabe in vier Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Vier
ISBN 978-3-96130-525-4
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Charles Dickens
DOMBEY UND SOHN
BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER
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Inhaltsverzeichnis
DOMBEY UND SOHN. Band Vier
Impressum
BAND VIER
Erstes Kapitel.
Florencens Flucht.
Zweites Kapitel.
Der Midshipman macht eine Entdeckung.
Drittes Kapitel.
Mr. Toots Herzeleid.
Viertes Kapitel.
Mr. Dombey und die Welt.
Fünftes Kapitel.
Geheime Mitteilung.
Sechstes Kapitel.
Weitere Nachricht.
Siebentes Kapitel.
Die Flüchtlinge.
Achtes Kapitel.
Rob, der Schleifer, verliert seine Stelle.
Neuntes Kapitel.
Mehrere Personen entzückt und der Preishahn entrüstet.
Zehntes Kapitel.
Wieder ein Hochzeit.
Elftes Kapitel.
Später.
Zwölftes Kapitel.
Vergeltung.
Dreizehntes Kapitel.
Handelt hauptsächlich von Hochzeiten.
Vierzehntes Kapitel.
Erlösung.
Fünfzehntes Kapitel.
Schluß.
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Zu guter Letzt
BAND VIER
In dem Irrsinn seines Schmerzes, seiner Scham und seines Schreckens eilte das arme Mädchen durch den Sonnenschein eines herrlichen Morgens, als wäre er das tiefe Dunkel einer Mitternacht. Unter bitterem Weinen die Hände ringend, gegen alles unempfindlich, nur nicht gegen die tiefe Wunde in ihrer Brust, betäubt durch den Verlust aller ihrer Lieben und die einzige von dem Wrack eines großen Schiffes an eine verlassene Küste geworfene Überlebende, floh sie ohne Gedanken, ohne Hoffnung und ohne irgendeinen anderen Zweck, als eben zu fliehen, gleichviel, wohin es war.
Die lange, vom Morgenlicht vergoldete Straße, der Anblick des blauen Himmels und duftiger Wolken, die belebende Frische des Tages, so rosig nach dem Kampf mit der Nacht – all das weckte kein entsprechendes Gefühl in ihrer so tief verletzten Brust. Nur einen Platz, gleichviel, welcher es sein mochte, um ihr Haupt zu verbergen – irgendein Zufluchtsort, fern genug von der Stelle, der sie entronnen, um nie wieder ihren Blick auf sie werfen zu müssen!
Aber es gingen Leute hin und her; die Läden wurden geöffnet, und unter den Haustüren zeigten sich die Dienstboten. Das ruhige Getümmel des Tages hatte seinen Anfang genommen. Florence sah Überraschung und Neugierde in den an ihr vorbeieilenden Gesichtern, bemerkte zurückkehrende lange Schatten auf dem Pflaster und hörte fremde Stimmen fragen, wohin sie wolle und was es gebe. Obgleich dies anfangs sie nur um so mehr einschüchterte und ihre Hast beschleunigte, kam es ihr doch so weit zustatten, daß es sie einigermaßen zur Besinnung rief und sie an die Notwendigkeit einer größeren Fassung erinnerte.
Wohin gehen? Noch immer gleichgültig gegen den Ort – noch immer weiter; aber wohin? Sie gedachte jener einzigen anderen Zeit, in der sie sich unter der weiten Häuserwildnis verirrt hatte – allerdings damals nicht so verlassen wie jetzt – und schlug die gleiche Richtung ein. Nach der Heimat von Walters Onkel.
Sie unterdrückte ihr Schluchzen, trocknete ihre geschwollenen Augen und versuchte, ihr aufgeregtes Wesen zu beruhigen, damit sie nicht allzusehr die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ziehe. So lang es möglich war, die unbesuchteren Straßen einzuhalten, ging sie gelassener weiter, als mit einem Male ein bekannter kleiner Schatten auf dem sonnigen Pflaster vorbeischoß, haltmachte, wieder umwandte, dicht zu ihr herankam, wieder forteilte und um sie her hüpfte. Es war der ihres treuen Hundes, der sich jetzt, nach Luft schnappend, aber doch die Straße mit seinem frohen Bellen erfüllend, an ihre Kleider schmiegte.
»O, Di! o lieber, guter, treuer Di, wie bist du hierher gekommen? Daß ich auch dich zurücklassen konnte, Di, der du mich nie verlassen hast!«
Florence beugte sich gegen das Pflaster nieder und drückte seinen rauhen, närrischen alten Kopf an ihre Brust, worauf sie wieder miteinander weitergingen. Di, der mehr in der Luft als auf dem Boden war, bemühte sich, seine Gebieterin im Fluge zu küssen, überpurzelte sich oft und richtete sich mit der größten Gleichgültigkeit wieder auf, fuhr auf die großen Hunde mit dem possierlichen Trotz seiner Spielart los, erschreckte mit dem Anprall seiner Nase die Hausmägde, die die Türtreppen fegten, und machte inmitten von tausend Ungereimtheiten alle Augenblicke halt, um nach Florence zurückzusehen und zu bellen, bis alle Hunde in Hörweite Antwort gaben und alle, die herauskommen konnten, sich auf der Straße zeigten, um ihn anzuschauen.
Von diesem letzten Anhänger geleitet, eilte Florence in dem vorrückenden Morgen und in dem wachsenden Sonnenschein weiter nach der City. Die lärmenden Töne des Tages wurden lauter, die Vorübergehenden zahlreicher und die Läden rühriger, bis sie sich in einen Strom von Leben hineingerissen sah, der die nämliche Richtung einschlug und gleichgültig an Marktplätzen, Herrenhäusern, Gefängnissen, Kirchen, Reichtum, Armut, Gut und Bös vorbeiflutete, wie der nahe breite Strom, der, erwacht aus seinen Träumen von Binsen, Weiden und grünem Moos, trüb und unruhig unter dem Arbeiten und Sorgen der Menschen seine Wellen nach dem tiefen Meere hinwälzte.
Endlich tauchte die Gegend, in der der kleine Midshipman stand, vor ihren Blicken auf. Noch näher, und der kleine Midshipman zeigte sich auf seinem Posten, so angelegentlich wie nur je seinen Beobachtungen nachhängend. Noch näher, und die Tür stand offen, um sie zum Eintritt einzuladen. Florence, die am Ende ihrer Wanderung ihre Schritte beschleunigt hatte, eilte, von Diogenes begleitet, der in dem Lärm etwas verwirrt worden war, über die Straße hinüber in den Laden hinein und sank auf der Schwelle des wohlbekannten kleinen Besuchszimmers zusammen.
Der Kapitän stand in seinem Glanzhut vor dem Feuer und fertigte eben seinen Morgenkakao an; dabei lag jene elegante Kleinigkeit, seine Uhr, auf dem Kaminmantel, damit er sie im Laufe seiner Kocherei befragen konnte. Er hörte einen Fußtritt, das Rauschen eines Gewandes und wandte sich in herzklopfender Erinnerung an die schreckliche Mrs. Mac Stinger in dem Augenblick um, als Florence mit ihrer Hand ihm zuwinkte und taumelnd auf den Boden niederfiel.
Der Kapitän, so blaß wie Florence, blaß sogar in jedem Winkel seines Gesichtes, hob sie auf, als wäre sie ein kleines Kind und legte sie auf dasselbe Sofa, auf dem sie vordem geschlummert hatte.
»Es ist die Herzensfreude«, sagte der Kapitän, angelegentlich ihr Gesicht betrachtend. »Das holde Geschöpf ist zu einer Jungfrau herangewachsen!«
Kapitän Cuttle hatte so großen Respekt vor ihrem neuen Charakter, daß er sie während ihrer Bewußtlosigkeit nicht um tausend Pfund hätte in seinen Armen behalten mögen.
»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän, sich in einige Entfernung zurückziehend, während die größte Unruhe und Teilnahme sich in seinem Gesicht ausdrückte. »Wenn Ihr Ned Cuttle mit einem Finger anstoppen könnt, so tut es.«
Aber Florence rührte sich nicht.
»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän zitternd. »Um Wal'rs willen, der in der schaurigen Tiefe ertrank, dreht bei und hißt irgend etwas auf, wenn Ihr könnt!«
Da sie auch gegen diese nachdrückliche Beschwörung unempfindlich blieb, so griff Kapitän Cuttle vom Frühstückstisch ein Becken mit kaltem Wasser auf und sprengte ihr einiges davon ins Gesicht. Der Dringlichkeit des Falles nachgebend, bediente er sich sodann seiner gewaltigen Hand mit außerordentlicher Zartheit, indem er ihr den Hut abnahm, Lippen und Stirne anfeuchtete, ihre Haare zurückstrich, ihre Füße mit seinem Rock, den er zu diesem Zweck ausgezogen hatte, bedeckte und ihre Hand streichelte, die sich in der seinigen so klein ausnahm, daß er sich bei Berührung derselben nicht genug wundern konnte.
Als er bemerkte, daß ihre Augenlider zuckten und ihre Lippen sich zu bewegen begannen, setzte er seine Belebungsversuche mit gesteigertem Mut fort.
»Hellauf!« sagte der Kapitän. »Hellauf! Halt bei, mein Herzchen, halt bei! So! Es ist Euch jetzt besser. Durchhalten ist die Losung, und so haben wir es jetzt. Bleibt nur dabei! Trinkt ein Tröpflein von diesem da«, fuhr der Kapitän fort, »So recht! Wie ist es Euch jetzt, mein Herz, wie ist es Euch jetzt?«
Als er mit ihrer Erholung so weit gekommen war, nahm Kapitän Cuttle, dem bei ärztlicher Behandlung eines Patienten unbestimmt eine Uhr vorschwebte, seine eigene vom Kaminsims herunter, hing sie an seinen Haken und ergriff Florences Hand, abwechselnd von der einen zur andern hinsehend, als erwarte er von dem Zeiger irgend eine heilkräftige Wirkung.
»Wie geht es, mein Schätzchen?« sagte der Kapitän. »Wie geht es jetzt? Ich glaube, du bist ihr einigermaßen zugute gekommen, mein Junge«, fügte er halblaut bei, indem er einen zufriedenen Blick auf seine Uhr warf. »Stellt man dich alle Morgen eine halbe Stunde und gegen Abend wieder eine Viertelstunde zurück, so bist du eine Uhr, die nicht leicht ihresgleichen findet und von keiner übertroffen wird. Wie geht es, mein kleines Fräulein?«
»Kapitän Cuttle, seid Ihr es?« rief Florence, sich ein wenig aufrichtend.
»Ja, ja, mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, dem diese Form der Anrede weit zierlicher und als die höflichste vorkam, die er sich erdenken konnte.
»Ist Walters Onkel hier?« fragte Florence.
»Hier, mein Herz?« entgegnete der Kapitän. »O, es ist lange her, seit er zum letzten Male hier war, und er ließ nichts mehr von sich hören, seit er ausriß, um dem armen Wal'r nachzuziehen. Aber«, fügte der Kapitän als Trostspruch bei, »wenn auch dem Blick entschwunden, ist er doch der Erinnerung, der Heimat und der Schönheit teuer.«
»Wohnt Ihr hier?« fragte Florence.
»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän.
»O, Kapitän Cuttle!« rief Florence außer sich, während sie die Hände zusammenschlug, »rettet mich! behaltet mich hier! Laßt es niemanden wissen, wo ich bin! Ich will Euch, wenn ich kann, gelegentlich sagen, was vorgefallen ist. Ich habe in der ganzen Welt niemanden, zu dem ich gehen könnte. Schickt mich nicht wieder fort!«
»Euch fortschicken, mein kleines Fräulein?« rief der Kapitän. »Euch, meine Herzensfreude? Einen Augenblick! Wir wollen die Blende da aufziehen und den Schlüssel doppelt umdrehen!«
Mit diesen Worten holte der Kapitän, der seine eine Hand und seinen Haken mit der größten Gewandtheit arbeiten ließ, den Türladen heraus, schob ihn vor, machte alles fest und verschloß die Tür.
Als er wieder zu Florence zurückkam, nahm sie seine Hand und küßte sie. Die Hilflosigkeit dieser Handlung, das vertrauensvolle Flehen, das darin lag, der unaussprechliche Kummer in ihrem Gesicht mit dem nur allzu deutlich darin ausgedrückten Seelenschmerze, seine Kunde von ihrer früheren Geschichte und ihr gegenwärtiges, verlassenes, schutzloses Aussehen – das alles ging in dem Kopf des Kapitäns so wirr durcheinander, daß vor Mitleid und zarter Teilnahme seine Augen feucht wurden.
»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, indem er mit dem Ärmel die Brücke seiner Nase polierte, bis sie sich wie blankes Kupfer ausnahm, »sprecht kein Wort mit Ed'ard Cuttle, bis Ihr einmal glatt und behaglich vor Anker liegt, und das kann weder heute noch morgen sein. Was dann das Aufgeben von Euch oder den Rapport darüber betrifft, wo Ihr seid, so ist hieran nicht zu denken, so wahr mir Gott helfe – seht nach im Kirchenkatechismus und biegt ein Ohr ein.«
Der Kapitän sprach das alles in einem Atem und mit großer Feierlichkeit; auch nahm er bei seinem »so wahr mir« den Hut ab und setzte ihn wieder auf, sobald er mit seinem Satz zu Schluß gekommen war.
Florence konnte außer ihrem Dank nur noch eines tun, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihm vertraute, und dies geschah. An den rauhen Seemann sich als an die letzte Zuflucht ihres blutenden Herzens anklammernd, legte sie ihr Köpfchen auf seine ehrliche Schulter, schlang den Arm um seinen Hals und wollte niederknien, um Gottes Segen über ihn zu erbitten; aber er ahnte ihre Absicht und hielt sie aufrecht, wie ein treuer Mann.
»Ruhig«, sagte der Kapitän. »Ruhig. Ihr seht, mein Herz, daß Ihr zu schwach seid, um stehen zu können, und müßt Euch deshalb wieder legen. So, so.«
Und es wäre mehr wert gewesen, als hundert Szenen, der vornehmen Welt entnommen, wenn man hätte mit ansehen können, wie der Kapitän sie auf das Sofa hob und mit seiner Jacke zudeckte.
»Jetzt müßt Ihr etwas frühstücken, kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort, »und der Hund soll auch nicht vergessen bleiben. Dann könnt Ihr nach dem Stübchen des alten Sol Gills hinaufgehen und dort schlafen wie ein Engel.«
Kapitän Cuttle streichelte Diogenes, als er diese Anspielung auf ihn machte, und Diogenes kam dem Erbieten in Gnaden auf dem halben Wege entgegen. Während der Anwendung der Belebungsmittel hatte er augenscheinlich nicht gewußt, ob er auf den Kapitän losfahren oder Freundschaft mit ihm schließen sollte, und diesen Kampf seiner Gefühle abwechselnd durch Wedeln mit dem Schwanze und Weisen seiner Zähne mit gelegentlichem Knurren angedeutet. Inzwischen hatten sich jedoch alle seine Bedenken gehoben, und es war klar, daß er den Kapitän als einen der liebenswürdigsten Menschen und als einen Mann betrachtete, dessen Bekanntschaft einem Hund zur Ehre gereichte.
Um diese Überzeugung zu bekunden, wartete Diogenes vor dem Kapitän auf und zeigte ein lebhaftes Interesse für die Haushaltung des Mannes, der eben ein kleines Frühstück anfertigte, obschon diese Bemühung sehr vergeblich war; denn Florence konnte vor Weinen und Weinen nichts genießen, wie sehr sie sich auch Mühe gab, der Bewirtung Ehre anzutun.
»Nun, nun«, sagte der teilnehmende Kapitän, »deckt Euch jetzt nur ein, meine Herzensfreude, und dann wird es schon vorwärts gehen. Ich will jetzt dir deine Ration zuteilen, mein Junge« – dies galt Diogenes – »und du sollst droben bei deiner Gebieterin Wache halten.«
Diogenes hatte das ihm zugedachte Frühstück mit wässernder Schnauze und glänzenden Augen betrachtet; statt aber, als es ihm vorgesetzt wurde, gierig darüber herzufallen, spitzte er die Ohren, stürzte nach der Ladentür hin und bellte wütend, während er zugleich mit dem Kopf an der unteren Leiste bohrte, als wolle er zum Durchgang eine Mine anlegen.
»Kann jemand kommen wollen?« fragte Florence beunruhigt.
»Nein, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän. »Wer würde so kommen, ohne Lärm zu machen? Seid guten Muts, mein Herz. Es sind nur Leute, die vorübergehen.«
Gleichwohl bellte und bellte, bohrte und bohrte Diogenes in hartnäckiger Wut fort, und so oft er inne hielt, um zu lauschen, schien er in seinem Innern eine neue Überzeugung zu gewinnen, denn er hub wohl ein dutzendmal stets wieder an, zu bellen und zu bohren. Sogar als man ihn durch Überredung bewog, zu seinem Frühstück zurückzukehren, entsprach er dem Locken nur mit zweifelhafter Miene und schoß in einem abermaligen Krampf wieder fort, noch ehe er einen Bissen berührt hatte.
»Wenn jemand draußen lauschte?« flüsterte Florence. »Jemand, der mich kommen sah und mir vielleicht nachgegangen ist?«
»Könnte es wohl die junge Person sein, kleines Fräulein?« fragte der Kapitän, dem plötzlich eine glänzende Idee auftauchte.
»Susanne?« entgegnete Florence mit Kopfschütteln. »Ach, nein! Susanne ist schon lange nicht mehr bei mir.«
»Hoffentlich doch nicht desertiert?« versetzte der Kapitän, »Ihr wollt doch nicht sagen, das junge Frauenzimmer sei davongelaufen, mein Herzchen?«
»O nein, nein!« rief Florence. »Sie ist eine der treuesten Seelen von der Welt.«
Der Kapitän fühlte sich bei dieser Antwort sehr erleichtert und drückte seine Zufriedenheit dadurch aus, daß er den harten Glanzhut abnahm und sich mit seinem zur Kugel zusammengeballten Taschentuch den ganzen Kopf rieb. Dabei bemerkte er zu wiederholten Malen mit ungemeiner Selbstgefälligkeit und strahlendem Gesicht, daß er das im voraus gewußt habe.
»Bist du jetzt ruhig, Kamerad?« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Gott behüte, es ist niemand dagewesen, mein kleines Fräulein.«
Diogenes war hiervon nicht überzeugt, denn die Tür zog ihn von Zeit zu Zeit noch immer an. Er schnüffelte daran herum und legte sich vor ihr hin, ohne den Gegenstand vergessen zu können. Dieser Umstand nebst der Bemerkung, daß Florence müde und erschöpft war, bewog den Kapitän, sogleich Sol Gills' Stübchen als Zufluchtsort für sie herzurichten. Er begab sich daher hastig nach dem Giebel des Hauses hinauf und traf die besten Vorbereitungen, die ihm seine Einbildungskraft und seine Mittel an die Hand gaben.
Es war bereits sehr rein, und der Kapitän, der die Ordnung liebte und gerne alles schiffsgerecht hielt, wandelte das Lager in ein Ruhebett um, indem er es ganz mit einem reinen, weißen Überwurf bedeckte. In ähnlicher Weise machte er den kleinen Ankleidetisch zu einer Art Altar, den er mit zwei silbernen Teelöffeln, einem Blumentopf, einem Fernrohr, seiner berühmten Uhr, einem Taschenkamm und einem Gesangbuch ausschmückte – eine kleine Raritätensammlung, die sich ganz schön ausnahm. Nachdem er noch die Fenster verdunkelt, den Bodenteppich glatt gelegt und seine Vorbereitungen eine Weile mit großer Behaglichkeit gemustert hatte, stieg er nach dem kleinen Hinterstübchen hinunter, um Florence nach ihrem neuen Wohnsitz zu holen.
Nichts konnte den Kapitän zu dem Glauben an die Möglichkeit bewegen, daß Florence die Treppe hinaufgehen könne, und selbst wenn ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, würde er es für einen schmählichen Bruch der Gastfreundschaft gehalten haben, ihr dies zu gestatten. Florence war zu schwach, um sich hierüber in einen Streit einzulassen, weshalb er sie unangefochten hinauftrug, auf das Ruhebett niederlegte und mit einem großen Wachtmantel bedeckte.
»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, »Ihr seid hier so sicher, als befändet Ihr Euch bei weggeschaffter Leiter auf der Spitze der St.-Pauls-Kirche. Vor allen Dingen ist Euch jetzt Schlaf nötig, und wohl bekomme Euch dieser Balsam für die stille kleine Stimme eines verwundeten Herzens. Braucht Ihr irgend etwas, meine Herzensfreude, was Euch dieses geringe Haus oder die Stadt bieten kann, so erlaßt ein Signal an Ed'ard Cuttle, der von jener Tür aus- und einsteuern wird, und der Mann zittert vor Freude, es beizuschaffen.«
Zum Schlusse küßte der Kapitän Florences ihm hingebotene Hand mit der Galanterie eines alten fahrenden Ritters und schlich sich auf den Zehen aus dem Gemach.
Kapitän Cuttle stieg nach dem kleinen Stübchen hinunter und beschloß nach einem hastig mit sich selbst gehaltenen Kriegsrat, für einige Minuten die Ladentür zu öffnen und sich zu überzeugen, daß jedenfalls jetzt niemand draußen mehr herumlungere. Demgemäß schloß er auf, trat auf die Schwelle, hielt scharfen Auslug und bestrich die ganze Straße mit seiner Brille.
»Wie geht es Euch, Kapitän Gills?« fragte eine Stimme neben ihm.
Der Kapitän schaute nieder und fand, daß er, während er den Horizont untersuchte, von Mr. Toots aufgesucht worden war.
»Wie geht es Euch, mein Junge?« versetzte der Kapitän.
»Ziemlich gut, danke, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots. »Ihr wißt ja, es ist mir nie ganz, wie ich es wünschen könnte; und ich erwarte auch nicht, daß es je soweit kommen wird.«
Mr. Toots näherte sich, wenn er sich mit Kapitän Cuttle unterhielt, infolge der stattgehabten Übereinkunft dem großen Gegenstand seines Lebens nie weiter, als etwa in solcher Weise.
»Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, »wenn ich das Vergnügen haben könnte, ein Wort mit Euch zu sprechen. Es handelt sich um – um etwas Besonderes.«
»Nun ja, aber Ihr seht, mein Junge«, versetzte der Kapitän, der nach dem Hinterstübchen voranging, »ich bin heute morgen nicht ganz – wie soll ich sagen – nicht ganz frei, und wenn Ihr es deshalb ein bißchen kurz machen könnt, so wird mir dies sehr lieb sein.«
»Allerdings, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, der von des Kapitäns Meinung nur selten eine richtige Vorstellung hatte. »Das gerade wünsche ich ja auch. Natürlich.«
»Wenn dies der Fall ist, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, »so tut es.«
Der Kapitän war von dem wichtigen Geheimnis, daß Miß Dombey in diesem Augenblick sich unter seinem Dach befand, während der unschuldige, nichts ahnende Toots ihm gegenüber saß, so sehr in Anspruch genommen, daß ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach und er, als er denselben, den Glanzhut in der Hand, abtrocknete, seine Augen nicht von dem Gesicht seines Gastes verwenden konnte. Mr. Toots, der gleichfalls einen geheimen Grund zur Aufgeregtheit zu haben schien, geriet unter dem starren Blick des Kapitäns in eine so unaussprechliche Verlegenheit, daß er, nachdem er ihn eine Weile ausdruckslos angeschaut hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte und dann begann:
»Ich bitte um Verzeihung, Kapitän Gills, aber seht Ihr denn nichts Besonderes an mir?«
»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän. »Nein.« »Ja, schaut nur«, sagte Mr. Toots mit einem Kichern, »ich weiß, daß ich magerer werde. Ihr könnt Euch ohne Bedenken darüber aussprechen. Es – es ist mir sogar lieb. Ich bin so dünn geworden, daß Burgeß und Co. sogar mein Maß ändern mußten. Aber es freut mich. Ich – ich bin froh darüber. Ich – ich würde sogar lieber ganz und gar schwindsüchtig werden, wenn ich könnte. Ihr wißt, ich bin nur ein Tier, das auf der Oberfläche der Erde herumgrast, Mr. Gills.«
Je mehr Mr. Toots in dieser Weise fortfuhr, desto schwerer fühlte sich der Kapitän von dem Gewicht seines Geheimnisses bedrückt und mit desto größeren Augen musterte er ihn. Dieser Anlaß der Unruhe und sein Wunsch, Mr. Toots los zu werden, versetzte den guten alten Mann in einen so verschüchterten, seltsamen Zustand, daß sogar eine Unterhaltung mit einem Gespenst ihn kaum weniger außer Fassung hätte bringen können.
»Aber was ich sagen wollte, Kapitän«, fuhr Mr. Toots fort, »offen gestanden, als ich heute morgen zufällig dieses Weges kam, wollte ich ein Frühstück mit Euch einnehmen. Was den Schlaf betrifft, so wißt Ihr wohl, daß ich jetzt nie schlafen kann. Ich könnte für einen Nachtwächter gelten, mit der Ausnahme, daß ich keine Zahlung dafür bekäme und er nichts auf dem Herzen hätte.«
»Nur weiter, mein Junge«, sagte der Kapitän in ermunterndem Ton.
»Ja, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Vollkommen richtig. Ich war heute morgen – etwa vor einer Stunde – zufällig in dieser Straße, und da ich die Türen verschlossen fand – –.«
»Wie, Ihr habt draußen gewartet, Bruder?« fragte der Kapitän.
»Durchaus nicht, Kapitän Gills«, antwortete Mr. Toots. »Ich hielt mich keinen Augenblick auf. Ich dachte, Ihr wäret ausgegangen. Aber die Person sagte – beiläufig, Ihr haltet doch keinen Hund, oder, Kapitän Gills?«
Der Kapitän schüttelte den Kopf.
»Natürlich«, sagte Mr. Toots. »Das nämliche, was ich auch sagte. Ich wußte es ja. Es ist ein Hund mit im Spiele, Kapitän Gills – aber entschuldigt mich. Dies ist ein verbotener Boden.«
Der Kapitän starrte Mr. Toots so lange an, bis ihm dieser wenigstens zweimal so groß vorkam, und abermals brach auf seiner Stirn der Schweiß aus, wenn er dachte, Diogenes könnte es sich in den Kopf setzen, herunterzukommen und im Hinterstübchen der Dritte im Bunde sein zu wollen.
»Die Person sagte«, fuhr Mr. Toots fort, »sie habe im Laden einen Hund bellen hören, und da ich wußte, dies sei unmöglich, so sagte ich es ihr. Aber sie beharrte so entschieden auf ihrer Angabe, als ob sie den Hund gesehen hätte.«
»Was für eine Person, mein Junge«, sagte der Kapitän.
»Ja seht, eben da liegt der Hase im Pfeffer, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, und man merkte ihm noch mehr an, wie angegriffen er war. »Es steht mir nicht zu, zu sagen, was stattgefunden haben mag, oder nicht. In der Tat, ich weiß es nicht. Es gehen so allerlei Dinge in mir um, daß ich sie nicht recht zusammenreimen kann, und ich denke, es ist etwas ein bißchen schwach in meinem – – kurz, in meinem Kopf.«
Der Kapitän nickte mit dem seinen zum Zeichen der Zustimmung.
»Aber als wir weitergingen«, fuhr Mr. Toots fort, »sagte die Person, daß Ihr wüßtet, was unter obwaltenden Umständen sich zutragen könne« – er betonte das ›könne‹ sehr nachdrücklich – »und wenn man Euch auffordere, Euch bereit zu halten, so werde man Euch ohne Zweifel auch bereit finden.«
»Die Person, mein Junge!« wiederholte der Kapitän.
»Ich weiß wahrhaftig nicht, wer sie ist, Kapitän Gills, und kann mir auch nicht die mindeste Vorstellung von ihr machen«, versetzte Mr. Toots. »Aber als ich an die Tür kam, fand ich sie hier wartend, und sie fragte mich, ob ich wieder komme, worauf ich ja sagte. Besagte Person ist aber ein Mann. Er fragte mich dann, ob ich Euch kenne, und ich antwortete dann, ja, ich hätte das Vergnügen Eurer Bekanntschaft – Ihr hättet mir nach einigem Zureden die Ehre Eurer Bekanntschaft geschenkt; und er sagte, ob ich, wenn das der Fall sei, Euch nicht sagen wolle, was ich Euch bereits mitgeteilt habe, von obwaltenden Umständen und Vorbereitetsein, und ob ich Euch, sobald ich Euch sehe, nicht ersuchen wolle, daß Ihr, wäre es auch nur für eine Minute, wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit um die Ecke hinüber zu Mr. Brogley, dem Makler, kommen möchtet. Ich will Euch sagen, Kapitän Gills: um was es sich auch handeln mag – ich bin überzeugt, daß es sehr wichtig ist, und wenn Ihr jetzt rasch mal hinüberkommen möchtet, so will ich hier warten, bis Ihr zurückkommt.
Der Kampf zwischen der Furcht, durch sein Nichtgehen Florence in irgendeiner Weise bloßzustellen, und dem Schrecken, Mrs. Toots im Hause zu lassen, wo er hinter das Geheimnis kommen konnte, versetzte den Kapitän in eine solche geistige Not, daß sogar Mr. Toots nicht blind dagegen sein konnte. Der junge Gentleman aber, der darin nur die Vorbereitungen seines seemännischen Freundes auf die bevorstehende Zusammenkunft sah, ließ sich dadurch nicht anfechten und konnte auf sein eigenes kluges Benehmen nur mit Kichern zurückblicken.
Endlich entschied sich der Kapitän dafür, unter zweien Übeln das kleinere zu wählen und zu dem Makler Brogley hinüber zu gehen, zuvor aber die Tür, die die Verbindung mit dem oberen Teil des Hauses herstellte, abzusperren und die Schlüssel in die Tasche zu stecken.
»Ihr werdet mich entschuldigen, Bruder, wenn ich dies tue«, sagte der Kapitän zu Mr. Toots zögernd und nicht ohne tiefe Scham.
»Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, »ich bin mit allem einverstanden, was Ihr tut.«
Der Kapitän dankte ihm herzlich, versprach, nach weniger als fünf Minuten wieder zurückzukehren, und entfernte sich, um die Person aufzusuchen, die den Mr. Toots mit einer so geheimnisvollen Botschaft beauftragt hatte. Der arme Mr. Toots, der jetzt sich selbst überlassen war, dachte, als er sich auf das Sofa ausstreckte, wenig daran, wer erst kürzlich darauf geruht hatte, und während er, in Träume an Miß Dombey sich vertiefend, nach dem Hochlichtfenster hinaufschaute, hatte er bald Zeit und Raum vergessen.
Das war gut für ihn; denn obgleich der Kapitän nicht lange ausblieb, zögerte er doch viel länger, als er versprochen hatte. Als er endlich zurückkehrte, war er sehr blaß und aufgeregt. Ja, er sah sogar aus, als habe er Tränen vergossen. Er schien das Sprachvermögen völlig verloren zu haben, bis er den Schrank geöffnet und aus der Korbflasche ein Schlücklein Rum geholt hatte. Dann atmete er tief auf, setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hand vor sein Gesicht.
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots teilnehmend, »ich hoffe, es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen.«
»Danke, mein Junge, nicht das Geringste«, versetzte der Kapitän. »Ganz im Gegenteil.«
»Ihr scheint aber sehr aufgeregt zu sein, Kapitän Gills«, bemerkte Mr. Toots.
»Ach, mein Junge, ich bin freilich ein bißchen an den Mast geworfen«, räumte der Kapitän ein. »Jawohl.«
»Und kann ich nichts dabei tun, Kapitän Gills?« fragte Mr. Toots. »Wenn irgend möglich, so gebietet über mich.«
Der Kapitän entspannte sein Gesicht, sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit an, ergriff ihn bei der Hand und drückte sie kräftig.
»Nein, ich danke Euch«, sagte der Kapitän. »Nichts. Aber Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr mich vorderhand allein laßt. Ich glaube, Bruder« – mit einem abermaligen Händedruck, »daß Ihr nach Wal'r, nur in einer ganz andern Art, ein so guter Bursche seid, wie nur je einer ein Schiff bestieg.«
»Wahrhaftig, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, indem er der Hand des Kapitäns einen vorläufigen Schlag gab, ehe er sie wieder drückte, »ich bin überglücklich, Eure gute Meinung zu besitzen. Danke Euch.« »Und laßt den Mut nicht sinken«, sagte der Kapitän, ihn auf den Rücken klopfend. »Der Tausend, es gibt mehr als ein süßes Geschöpf in der Welt.«
»Für mich nicht, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots ernst. »Ich versichere Euch, für mich nicht. Meine Gefühle für Miß Dombey sind so unsagbar, daß mir mein Herz wie eine verlassene Insel erscheint, in der sie allein wohnt. Ich zehre mich mit jedem Tag mehr ab, und ich bin stolz darauf. Wenn Ihr meine Beine sehen könntet und ich mir die Stiefel auszöge, so würdet Ihr Euch eine Vorstellung davon machen, was unerwiderte Liebe bedeutet. Man hat mir Chinarinde verordnet, aber ich nehme sie nicht, weil ich nicht wünsche, daß meine Konstitution in irgendeiner Weise wieder gekräftigt werde. Nein, ich will dies nicht. Aber ich berühre verbotenes Gebiet. Kapitän Gills, Gott befohlen!«
Kapitän Cuttle erwiderte die Wärme von Mr. Toots Lebewohl herzlich, schloß die Tür hinter ihm ab, schüttelte mit demselben merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit, wie früher, den Kopf und begab sich nach dem oberen Teile des Hauses, um zu sehen, ob Florence nichts von ihm begehre.
In dem Gesichte des Kapitäns ging ein völliger Wechsel vor, als er die Treppe hinaufstieg. Er wischte sich die Augen mit dem Taschentuch und polierte, wie er bereits am Morgen getan hatte, die Brücke seiner Nase mit seinem Ärmel. Aber seine Züge hatten einen ganz andern Ausdruck. Das eine Mal hätte man ihn für überschwenglich glücklich, das andere Mal für traurig halten können. Aber der Ernst, der auf seinem Gesichte lag, war etwas so ganz Neues und übte eine so angenehme Wirkung, daß man wohl auf den Glauben kommen konnte, seine Züge hätten einen Verfeinerungsprozeß durchgemacht.
Er klopfte mit seinem Haken zwei- oder dreimal an Florences Tür, erhielt aber keine Antwort. Deshalb wagte er es, zunächst einmal hineinzuschauen und dann einzutreten. Zu letzterem Schritt ermutigte ihn vielleicht die vertrauliche Begrüßung des Hundes, der an der Seite ihres Lagers auf dem Boden ausgestreckt lag, mit dem Schwanz wedelte und dem Kapitän mit den Augen zublinzelte, ohne daß er sich die Mühe nahm, aufzustehen.
Sie lag in einem tiefen Schlaf, der nur hin und wieder durch ein Seufzen unterbrochen wurde. Kapitän Cuttle, den ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Kummer mit einer tiefen Ehrfurcht erfüllten, richtete ihren Kopf auf, legte den Mantel auf die Stellen, wo er heruntergefallen war, wieder zurecht, verhüllte das Zimmer etwas mehr, damit sie ungehindert weiterschlafen könne, schlich dann wieder hinaus und bezog seinen Wachtposten auf der Treppe. Alles das geschah mit einem Berühren und Auftreten, so leicht wie Florences eigener Gang.
Es mag in dieser gemischten Welt wohl lang ein nicht leicht zu entscheidender Punkt bleiben, was der schönere Beweis von der Güte des Allmächtigen ist – die zarten Finger, die, zu teilnehmender Berührung gebildet, die Eigenschaft besitzen, Schmerz und Pein zu mildern, oder die rauhe, harte Hand des Kapitäns Cuttle, der unter der Lehre und Leitung eines gefühlvollen Herzens in einem Nu so weich wird!
Florence schlief, ihre Heimatlosigkeit und Verwaisung vergessend, auf ihrem Lager fort, und Kapitän Cuttle wachte auf der Treppe. Ein ungewöhnlich lautes Schluchzen oder Stöhnen brachte ihn bisweilen nach der Tür. Aber allmählich wurde ihr Schlaf ruhiger, und der Kapitän setzte seine Wache ungestört fort.
Es dauerte lange, bis Florence erwachte. Der Tag erreichte seine Mittagshöhe und nahm wieder ab. Aber noch immer schlief sie unruhig fort, des fremden Bettes, des Lärms und Getümmels auf der Straße und des Lichtes vergessend, das außerhalb des verhüllten Fensters schien. Indessen konnte sogar der tiefe Schlummer der Erschöpfung die Erinnerung an das, was in der nicht mehr bestehenden Heimat vorgefallen war, nicht ganz verdrängen. Einige unbestimmte, schmerzliche Bilder davon, die unruhig schlummerten, aber nie wirklich schliefen, wühlten während der ganzen Zeit ihrer Rast fort. Ein dumpfes Weh, gleich einem halbbeschwichtigten Schmerzgefühl, war ihr immer gegenwärtig, und ihre blassen Wangen befeuchteten sich öfter mit Tränen, als dem ehrlichen Kapitän, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf leise durch die angelehnte Tür hereinsteckte, zu sehen lieb war.
Die Sonne sank im Westen und durchdrang, aus einem roten Nebel hervorblickend, mit ihren Strahlen, als wären sie durchdringende goldene Pfeile, die Öffnungen und die durchbrochene Arbeit an den Türmen der Stadtkirchen. Weithin über den Fluß und seine flachen Ufer breitete sie einen Glanz, ähnlich einem Feuerpfad; auf dem Meere draußen brach sich ihr Licht an den Segeln der Schiffe, und von ruhigen Kirchhöfen oder den Hügelspitzen des Landes aus gesehen, übergoß sie die fernen Landschaften mit einer rötlichen Glut, in der Erde und Himmel herrlich zusammenzuschmelzen schienen. Jetzt erst öffnete Florence die schweren Augen, ohne jedoch anfangs die fremden Wände um sie her zu erkennen, blickte teilnahmslos auf ihre Umgebung und hörte mit ebensowenig Achtsamkeit den Lärm auf der Straße. Bald aber fuhr sie von ihrem Lager auf, und nach einem erstaunten Umherschauen kam ihr wieder alles ins Gedächtnis.
»Mein Herzchen«, sagte der Kapitän, an die Tür klopfend, »wie geht es?«
»Lieber Freund«, rief Florence, auf ihn zueilend, »seid Ihr da?«
Der Kapitän war so stolz auf diese Bezeichnung und fühlte sich so glücklich bei der frohen Glut, die sich bei seinem Anblick in ihrem Gesichte ausdrückte, daß er als Antwort in sprachloser Selbstzufriedenheit seinen Haken küßte.
»Wie geht es, mein funkelnder Diamant?« sagte der Kapitän.
»Ich habe gewiß sehr lange geschlafen«, entgegnete Florence. »Wann kam ich hierher? Gestern?«
»Nein, heute ist der gesegnete Tag, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän.
»Es ist also keine Nacht dazwischen – noch immer Tag?« fragte Florence.
»Es geht jetzt stark auf Abend, mein Herzchen«, sagte der Kapitän, den Fenstervorhang zurückziehend. »Seht!«
Florence, ihre Hand so schüchtern und bekümmert auf den Arm des Kapitäns gelegt, und der Kapitän, mit seinem rauhen Gesicht und seiner stämmigen Gestalt so ruhig als Schützer ihr zur Seite, standen in dem rosigen Lichte des schönen Abendhimmels da, ohne ein Wort zu sprechen. In was für eigentümliche Worte der Kapitän auch seine Gefühle gebracht haben würde, wenn er sie hätte laut werden lassen, so sagte ihm doch sein Inneres, wie es nur der beredteste Mensch tun konnte, es liege etwas in der Ruhe der Zeit und in ihrer sanften Schönheit, das Florences verwundetes Herz zum Überströmen bringen würde, und es sei besser, daß solche Tränen ihren Lauf nähmen. Er sprach daher kein Wort. Aber als er seinen Arm inniger umfaßt fühlte, das Köpfchen ihm näher kam und sich endlich an seinen groben, blauen Ärmel anschmiegte, drückte er es sanft mit seiner rauhen Hand; er verstand sie und wurde verstanden.
»Jetzt besser, mein Herzchen!« sagte der Kapitän. »Hellauf! hellauf! Ich will jetzt hinuntergehen und Essen bereit halten. Wollt Ihr dann selbst kommen, mein Herz, oder soll Ed'ard Cuttle kommen und Euch holen?«
Florence versicherte ihm, daß sie jetzt völlig imstande sei, die Treppe hinunterzugehen, und wenngleich der Kapitän im Zweifel zu sein schien, ob es sich mit seinen Pflichten als Wirt und Beschützer vertrage, dies zu gestatten, entfernte er sich doch, um sogleich über dem Feuer im kleinen Stübchen ein Huhn zu braten. Damit er seine Kochkunst mit größerer Geschicklichkeit entfalten konnte, zog er seinen Rock aus, schlug die Hemdärmel zurück und setzte seinen Glanzhut auf, ohne dessen Beistand er nie an ein verfängliches oder schwieriges Unternehmen ging.
Nachdem Florence den schmerzenden Kopf und das brennende Gesicht mit dem frischen Wasser gekühlt hatte, das während ihres Schlafes von dem sorgfältigen Kapitän in das Zimmer geschafft worden war, trat sie an den kleinen Spiegel, um ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Da bemerkte sie nun allsogleich – denn sie bebte erschrocken davor zurück –, daß sich auf ihrer Brust das dunkle Malzeichen einer zürnenden Hand befand.
Bei diesem Anblick strömten ihre Tränen aufs neue. Scham und Schrecken erfüllten sie, obschon sie dabei keinem Unwillen gegen ihn Raum gab. Der Heimat und des Vaters beraubt, vergab sie ihm alles, oder dachte kaum daran, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Aber sie floh jetzt vor dem Bilde von ihm, das sie in ihrem Herzen getragen, wie sie vor der Wirklichkeit geflüchtet, und er war jetzt ganz dahin und verloren. Es gab kein solches Geschöpf mehr in der Welt.
Die arme unerfahrene Florence konnte sich noch nicht denken, was sie tun oder wo sie sich aufhalten sollte. Es schwebte ihr wie in einem unbestimmten Traum vor, sie könnte in weiter Entfernung von London ein Haus finden, wo es einige kleine Schwestern zu unterrichten gäbe, die freundlich gegen sie wären, und denen sie sich unter einem andern Namen anschließen könnte. Sie wuchsen dann auf in ihrer glücklichen Heimat, heirateten, blieben gütig gegen ihre alte Gouvernante und vertrauten ihr vielleicht mit der Zeit die Erziehung ihrer eigenen Töchter an. Und sie dachte, wie seltsam und bekümmernd es sein würde, in solcher Weise grau zu werden und ihr Geheimnis ins Grab mitzunehmen, nachdem Florence Dombey längst vergessen war. Alles erschien ihr jetzt trüb und umwölkt. Sie wußte nur, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und sagte sich das oft selbst, wenn sie in stiller Einsamkeit ihr betendes Haupt vor dem himmlischen Vater beugte.
Ihr kleiner Geldvorrat belief sich nur auf einige Guineen. Einen Teil davon mußte sie auf Anschaffung einiger Kleidungsstücke verwenden, da sie nichts hatte, als was sie auf dem Leibe trug. In ihrem Leid konnte sie nicht daran denken, wie bald ihr Geld aufgebraucht sein würde – ja, sie war auch in weltlichen Dingen noch zu sehr Kind, um sich deshalb sehr zu grämen, selbst wenn ihr anderer Kummer geringer gewesen wäre. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen und ihren Tränen Einhalt zu tun – den Sturm in ihrem klopfenden Kopf zu beschwichtigen und sich zu dem Glauben zu zwingen, was vorgefallen war, habe sich nur vor wenigen Stunden, nicht aber vor Wochen und Monaten zugetragen, wie es ihr vorkam. Dann ging sie hinunter zu ihrem freundlichen Beschützer. Der Kapitän hatte mit großer Sorgfalt das Tischtuch ausgebreitet und war eben damit beschäftigt, in einem kleinen Pfännchen eine Eierbrühe anzufertigen. Auch bestrich er gelegentlich das vor dem Feuer sich bräunende Huhn mit großer Aufmerksamkeit. Das Sofa war um der größeren Behaglichkeit willen in eine warme Ecke gerückt und für Florence bequem aufgepolstert worden, so daß der Kapitän seine Küche ungehindert weiter ordnen konnte. Er tat dies mit außerordentlicher Fertigkeit, machte in einem zweiten Pfännchen Fleischbrühe heiß, kochte in einem dritten eine Handvoll Kartoffeln, vergaß aber nie die Eierbrühe in dem ersten und machte unparteiisch seine Runde bei allen, indem er mit dem brauchbarsten Löffel bald den Braten beträufelte, bald die Brühen umrührte. Außer diesen Obliegenheiten mußte der Kapitän ein weiteres Augenmerk der winzigen Bratkachel zuwenden, in der einige Würste in sehr musikalischer Weise zischten und prutzelten, und in dem Eifer seines Geschäfts nahm er sich so strahlend aus, daß man unmöglich sagen konnte, ob sein Gesicht oder sein Hut am meisten glänzte.
Endlich war das Mahl fertig, und Kapitän Cuttle trug es mit nicht geringerer Gewandtheit auf, als er es gekocht hatte. Dann kleidete er sich für das Diner an, indem er seinen Glanzhut abnahm und den Rock anlegte. Sobald dies geschehen war, rückte er den Tisch vor das Sofa, sprach ein Gebet, schraubte seinen Haken ab, ersetzte diesen durch seine Gabel und machte die Honneurs der Tafel.
»Mein Frauenzimmerchen«, sagte der Kapitän, »hellauf, und versucht ordentlich zu essen. Halt bei, mein Schätzchen. Hier ein Hühnerflügel. Sauce. Würste. Und Kartoffel!«
Alles das ordnete der Kapitän symmetrisch auf einem Teller, goß mit dem brauchbaren Löffel heiße Fleischbrühe über das Ganze und setzte es seinem geehrten Gast vor.
»Die ganze Fensterreihe im Vorderschiff ist zu, Frauenzimmerchen«, bemerkte der Kapitän ermutigend, »und alles sicher. Versucht ein bißchen zu picken, mein Schatz. Wenn Wal'r hier wäre –«
»Ach, daß ich ihn jetzt zum Bruder hätte!« rief Florence.
»Laßt es Euch nicht so angreifen, mein Schatz!« sagte der Kapitän; »tut mir den Gefallen! Er war Euch wie ein natürlich geborner Verwandter – war es nicht so, mein Herz?«
Florence hatte keine Worte zur Erwiderung und sagte nur:
»O lieber, lieber Paul, o Walter!«
»Sogar die Planken, auf denen sie ging«, murmelte der Kapitän, nach ihrem gesenkten Antlitz hinblickend, »hat Walter so hochgeschätzt, wie die Wasserbäche, nach denen er in Dombeys Bücher eingetragen wurde, und als er beim Diner von ihr sprach, glänzte sein Gesicht wie eine neu aufgeblühte Rose im Tau, obschon es nur in der größten Bescheidenheit geschah. Ja, ja, wenn unser armer Walter hier wäre, mein Fräuleinchen – oder wenn er hier sein könnte – denn er ist ertrunken, nicht wahr?«
Florence schüttelte den Kopf.
»Ja, ja, ertrunken«, fuhr der Kapitän beschwichtigend fort, »wie ich sagen wollte, wenn er hier sein könnte, mein Kleinod, so würde er bei Euch bitten und betteln, daß Ihr ein bißchen mehr zulanget und für Eure eigene süße Gesundheit sorgtet. Nehmt doch Bedacht darauf, mein Kindchen, als wäre es um Walters willen, und legt Euren hübschen Schnabel vor den Wind.«
Florence versuchte, dem Kapitän zu Gefallen einen Bissen zu essen. Dieser aber schien sein eigenes Diner ganz vergessen zu haben; denn er legte Messer und Gabel nieder und rückte seinen Stuhl an das Sofa.
»Wal'r war doch ein prächtiger Junge, meint Ihr nicht, mein Kleinod?« sagte der Kapitän, die Augen auf sie geheftet, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und das Kinn gerieben hatte, »und ein braver Junge, und ein guter Junge.« Unter Tränen pflichtete Florence bei.
»Und er ist ertrunken, mein schönes Kind, ist er es nicht?« sagte der Kapitän in beschwichtigender Stimme.
Florence konnte abermals nichts anderes tun, als zustimmen.
»Er war älter als Ihr, mein kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort; »aber Ihr wart von Anfang an wie zwei Kinder gegeneinander – nicht wahr, so war es?«
»Ja«, lautete Florences Antwort.
»Und Wal'r ist ertrunken«, sagte der Kapitän. »Nicht wahr?«
Die Wiederholung dieser Frage war eine eigentümliche Art Trost, schien aber jedenfalls für Kapitän Cuttle diese Eigenschaft zu besitzen, da er immer wieder auf sie zurückkam.
Florence, die gerne ihr Mahl unberührt beiseite geschoben und sich auf das Sofa zurückgelehnt hätte, gab ihm ihre Hand in dem Gefühl, daß sie seine Erwartungen getäuscht hätte, obschon sie nichts sehnlicher wünschte, als ihm nach aller seiner Mühe gefällig zu sein. Er behielt sie in der seinen, drückte sie und murmelte, des Diners und ihres Appetitmangels ganz vergessend, bisweilen im Tone brütender Teilnahme für sich hin: »Der arme Wal'r. Ja, ja! ertrunken. Ist es nicht so?« Dabei wartete er stets auf ihre Antwort, die augenscheinlich bei diesen seltsamen Betrachtungen ihm das wichtigste war.
Das Huhn und die Würste waren kalt, die Fleischbrühe und die Eiersauce aber fest geworden, ehe sich der Kapitän erinnerte, daß sie noch bei Tisch saßen. Dann aber fiel er unter dem Beistand von Diogenes über das Mahl her, und es gelang ihren vereinigten Kräften, rasch damit fertig zu werden. Das frohe Erstaunen des Kapitäns über die ruhige Emsigkeit, womit Florence ihm beim Abräumen des Tisches, beim Ordnen des Stübchens und beim Reinigen des Herds sich betätigte – man hätte nur den Eifer, womit er ihren Beistand ablehnen wollte, damit vergleichen können – steigerte sich allmählich so sehr, daß er zuletzt selbst nichts mehr tat und ihr bloß zusah, als wäre sie irgendeine Fee, die derlei Gefälligkeiten so zierlich für ihn verrichtete. Dabei begann in seiner unaussprechlichen Bewunderung der rote Streifen auf seiner Stirne wieder zu glühen.
Aber als Florence vom Kaminsims seine Pfeife herunterlangte und sie ihm mit der Bitte in die Hand gab, daß er jetzt rauchen möchte, wurde der Kapitän durch ihre Aufmerksamkeit so verwirrt, daß er das Rauchinstrument auf eine Art in der Hand hielt, als habe er sich sein ganzes Leben über nie mit dergleichen Dingen abgegeben. Und als nun Florence gar in den kleinen Schrank hineinsah, die Korbflasche herausnahm und unaufgefordert ein Glas trefflichen Grogs für ihn mischte, das sie vor ihm niedersetzte, da wurde seine rötliche Nase eigentlich blaß ob der Ehre, die ihm widerfuhr. Nachdem er in einer wahren Verzückung seine Pfeife gefüllt hatte, zündete Florence ihm diese an, ohne daß er imstande gewesen wäre, eine Einwendung dagegen zu erheben oder sie daran zu hindern. Dann nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und blickte mit einem so liebevollen und dankbaren Lächeln nach ihm hin, – einem Lächeln, das ihm zeigte, ihr kummervolles Herz sei ihm in gleicher Weise zugewendet, wie ihr Gesicht – daß sich der Rauch seiner Pfeife in seiner Kehle verfing und ihn zum Husten zwang, während er zugleich seine Augen so sehr belästigte, daß sie ihm überliefen.
Es war in der Tat ergötzlich anzusehen, wie der Kapitän sich glauben zu machen versuchte, der Grund dieser Wirkungen liege in der Pfeife selbst; denn er suchte in dem Kopf darnach, und als er ihn da nicht fand, tat er, als wolle er ihn zum Rohr hinausblasen. Die Pfeife geriet jedoch bald in ein besseres Stadium, und er kam in jenen Zustand von Ruhe, der es ihm möglich machte, ordentlich fortzurauchen. Gleichwohl verwandte er kein Auge von Florence, und mit einer strahlenden Selbstgefälligkeit, die sich nicht beschreiben läßt, hielt er hin und wieder inne, um von seinen Lippen langsam eine kleine Wolke zu entsenden, als wäre sie ein langer Streifen Papier mit der Inschrift: »Ja, ja, der arme Wal'r. Ertrunken, ist es nicht so?« Dann fuhr er mit unendlicher Zartheit wieder in seinem Rauchgeschäft fort.
So ungleich sie auch im Äußeren waren – es konnte kaum einen schrofferen Gegensatz geben, als den, der Florence in ihrer zarten Jugend und Schönheit dem knaufigen Gesicht, der breiten, verwitterten Gestalt und der rauhen Stimme des Kapitäns gegenüber darbot – standen sie sich doch, was einfache Unschuld und Arglosigkeit betraf, sehr nahe. Der Kapitän verstand sich auf gar nichts, als auf Wind und Wetter, und sein einfacher Charakter, seine Leichtgläubigkeit und Vertrauensfülle glichen denen eines Kindes. Sein ganzes Wesen war in die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe geteilt, so, daß für nichts anderes mehr Raum vorhanden war, als für eine gewisse romanhafte Weltanschauung, ohne denkbare wirkliche Grundlage, indem sie alle Rücksichten auf die zeitliche Klugheit oder die Wirklichkeit außer acht ließ. Während der Kapitän rauchend dasaß und Florence ansah, trug er sich mit weiß Gott wie viel unmöglichen Bildern, in denen sie ihm stets als Hauptgestalt vor die Seele trat. Ebenso haltlos und unsicher, obschon nicht so hoffnungsreich waren ihre eigenen Gedanken über das vor ihr liegende Leben, und wie ihre Tränen das Licht in prismatischen Farben sich brechen ließen, so sah sie auch in ihrem neuen schweren Gram bereits am fernen Horizont den matten Abglanz eines Regenbogens. Eine wandernde Prinzessin und ein treu gesinntes Ungeheuer, wie sie in den Märchenbüchern dargestellt werden, hätten ebenso neben dem Kamin sitzen und sprechen können, wie Kapitän Cuttle und die arme Florence dachten. Auch würde ein solcher Vergleich, was ihr Äußeres angeht, nicht ganz unpassend gewesen sein.
Der Kapitän ließ es sich nicht entfernt einfallen, er könnte sich eine Last oder Verantwortlichkeit aufbürden, wenn er Florence bei sich behalte, und er glaubte in dieser Beziehung alles getan zu haben, wenn er Läden und Türe schloß. Ja, hätte sie sich sogar unter dem besonderen Schutz des Lord-Kanzlers befunden, so würde er sich nicht im mindesten daran gekehrt haben, denn von allen Menschen auf Erden war er gewiß derjenige, der sich zuletzt durch derartige Rücksichten anfechten ließ.
So rauchte der Kapitän ganz behaglich seine Pfeife, während Florence ihren eigenen Gedanken nachhing. Nachdem die Pfeife ausgegangen war, genossen sie etwas Tee, und Florence bat ihn nun, er möchte sie nach einem benachbarten Laden begleiten, wo sie einige zunächst nötige Bedürfnisse einkaufen wollte. Es war schon ganz dunkel, und der Kapitän willigte ein, schaute aber sorgfältig vorher hinaus, wie er es in den Zeiten seines Verstecks vor Mrs. Mac Stinger getan hatte, und bewaffnete sich mit einem großen Stock, für den Fall, daß durch eine unerwartete Wendung der Gebrauch von Waffen nötig würde.
Mit ungemeinem Stolz reichte Kapitän Cuttle Florencen seinen Arm und geleitete sie einige hundert Schritte weit, durch seine große Wachsamkeit und die zahllosen Vorsichtsmaßregeln die Blicke aller Vorübergehenden auf sich ziehend. In dem Laden angelangt, glaubte der Kapitän, das Zartgefühl fordere von ihm, sich für die Dauer des Einkaufs, der aus Kleidungsartikeln bestehen sollte, zurückzuziehen. Zuvor aber stellte er seine Zinnbüchse auf den Tisch und erklärte dem Ladenmädchen, daß sie vierzehn Pfund zwei Schillinge enthalte. Wenn übrigens dieser Betrag nicht zureiche, um den Aufwand für die kleine Ausstattung seiner Nichte zu bestreiten – bei dem Wort »Nichte« warf er Florence einen sehr bedeutsamen Blick zu und begleitete denselben mit einer Gebärde, die Schlauheit und Geheimnisfülle ausdrückte – so solle sie nur die Güte haben, Signal zur Tür hinaus zu geben, da er dann den Mehrbetrag aus seiner Tasche entrichten wolle. Gelegentlich zog er auch seine große Uhr hervor, als ein schlaues Mittel, das Ladenpersonal durch den Anschein von großem Vermögen zu blenden, küßte sodann gegen die neue Nichte seinen Haken und ging zur Tür hinaus, nach der Außenseite des Fensters, wo man von Zeit zu Zeit unter den Seidenstoffen und Bändern sein großes Gesicht in augenscheinlichem Argwohn hereingucken sah, Florence könnte durch eine Hintertür geistartig verschwinden.
»Mein lieber Kapitän«, sagte Florence, als sie mit einem Päckchen herauskam, dessen Umfang die Erwartungen des Kapitäns sehr enttäuschte, da dieser geglaubt hatte, es werde ihr ein Lastträger mit einem Warenballen folgen, »ich brauche in der Tat dieses Geld nicht und habe auch nichts davon ausgegeben. Ich bin selbst mit Geld versehen.«
»Mein kleines Fräulein«, entgegnete der betroffene Kapitän und ließ seinen Blick die Straße hinuntergleiten, »wollt Ihr so gut sein, es für mich aufzuheben, bis ich es einmal fordere?«
»Darf ich es an den gewöhnlichen Platz zurückstellen und es dort aufbewahren?« fragte Florence.
Der Kapitän war mit diesem Vorschlag nicht ganz zufrieden, antwortete aber:
»Nun ja, mein Kindchen, stellt es hin, wohin Ihr wollt, wofern Ihr nur wißt, daß Ihr es wieder finden könnt. Für mich ist es unnütz«, fügte er hinzu, »und es wundert mich nur, daß ich es nicht schon längst beim Würfeln verspielt habe.«
Der Kapitän war für den Augenblick völlig entmutigt, lebte aber bei der ersten Berührung von Florences Arm wieder auf, und sie kehrten mit derselben Vorsicht wie auf dem Herweg nach Hause zurück. Der Kapitän öffnete die Tür zum Bord des kleinen Midshipman und huschte mit einer Schnelle hinein, wie nur viele Übung es ihn gelehrt haben konnte. Während Florences Morgenschlummer hatte er die Tochter einer älteren Frau gemietet, die gewöhnlich auf dem Leaden Hall-Markt unter einem blauen Sonnenschirm Geflügel verkaufte, daß sie ins Haus komme, Florences Zimmer in Ordnung bringe und ihr andere kleine Dienste leiste. Während ihrer Abwesenheit war diese Jungfer erschienen, und Florence fand jetzt alles um sich her so bequem und ordentlich, wenn auch nicht so schön, wie in dem schrecklichen Traum, den sie früher ihre Heimat nannte.
Sobald sie wieder allein waren, bestand der Kapitän darauf, daß sie eine Röstschnitte essen und ein Glas Würzgrog, den er vortrefflich anzufertigen wußte, trinken müsse. Nachdem er ihr außerdem mit freundlichen Worten und allen nur erdenklichen ungereimten Redewendungen zugesprochen hatte, führte er sie zu ihrem Schlafgemach hinauf. Aber auch er trug etwas auf seinem Herzen, und seinem ganzen Wesen war eine gewisse Unruhe anzumerken.
»Gute Nacht, mein liebes Herz«, sagte er zu ihr, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete.
Florence erhob ihre Lippen zu seinem Gesicht und küßte ihn.
Zu jeder andern Zeit würde der Kapitän durch einen solchen Beweis von Zuneigung und Dankbarkeit ganz und gar das Gleichgewicht verloren haben. Aber obschon er auch jetzt nicht unempfindlich dafür war, blickte er ihr sogar mit größerer Unruhe, als er früher kundgegeben, ins Gesicht und schien nicht Lust zu haben, sie zu verlassen.
»Der arme Wal'r!« sagte der Kapitän.
»Der arme, arme Walter!« seufzte Florence.
»Ertrunken, nicht wahr?« sagte der Kapitän.
Florence schüttelte den Kopf und seufzte.
»Gute Nacht, mein kleines Fräulein!« sagte Kapitän Cuttle, seine Hand ausstreckend.
»Gott behüte Euch, mein lieber, wohlwollender Freund!«
Aber der Kapitän zögerte noch immer.
»Ist etwas vorgefallen, lieber Kapitän Cuttle?« fragte Florence, die in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand leicht in Schrecken geriet. »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«
»Euch etwas zu sagen, Frauenzimmerchen?« versetzte der Kapitän, sie in großer Verwirrung ansehend. »Nein, nein; was sollte ich Euch auch zu sagen haben, mein Herz? Ihr erwartet doch nicht, daß ich Euch etwas Gutes mitteilen könne?«
»Nein«, versetzte Florence kopfschüttelnd.
Der Kapitän blickte gedankenvoll nach ihr hin, wiederholte das »Nein« und zögerte noch immer in großer Verlegenheit.
»Armer Wal'r«, sagte er. »Mein Wal'r, wie ich dich zu nennen pflegte! Neffe des alten Sol Gills. Allen, die dich gekannt haben, so willkommen wie die Blumen im Mai! Wo bist du hingekommen, wackerer Junge – ertrunken, nicht wahr?«
Sein Selbstgespräch mit diesem plötzlichen Grübeln und dieser Wendung an Florencen schließend, wünschte er ihr gute Nacht und stieg die Treppe hinunter, während sie oben das Licht hinaushielt, um ihm zu leuchten. Er war schon in der Dunkelheit verschwunden und, wenn man aus dem Schall seiner sich entfernenden Tritte einen Schluß ziehen durfte, eben im Begriff, nach dem kleinen Stübchen sich zu wenden, als sein Kopf und seine Schultern unerwartet wieder aus der Tiefe auftauchten, augenscheinlich in keiner anderen Absicht, als um die Worte zu wiederholen: »Ertrunken, nicht wahr, meine Liebe?« Wenigstens verschwand er sogleich wieder, nachdem er diese Frage im Tone zarten Mitleids gestellt hatte.
Florence bedauerte sehr, daß sie durch ihre Flucht hierher – ohne es zu wissen, obschon ganz natürlich – im Innern ihres Beschützers solche Erinnerungen geweckt hatte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, den der Kapitän mit dem Fernrohr, dem Gesangbuch und andern Raritäten ausgestattet hatte, und dachte an Walter und alle die Dinge, die in der Vergangenheit mit ihm in Verbindung standen, bis sie zuletzt fast wünschte, sie möchte sich niederlegen und sterben können. Aber ihrer einsamen Sehnsucht nach dem Toten, den sie geliebt hatte, mengte sich kein Gedanke an die Heimat oder an die Möglichkeit der Rückkehr dahin – kein Bild von ihrem Vorhandensein bei. Sie hatte den Mord vollziehen sehen. Als der Vater, an dem sie so sehr gehangen, das letztemal vor ihr gestanden, war auch jede zögernde Spur von dem so zärtlich gehegten Bilde aus ihrem Heizen gerissen, verzerrt und erschlagen worden. Der Gedanke daran wirkte so erschütternd auf sie, daß sie die Augen bedeckte und nur mit Zittern auf die Tat oder die grausame Hand, die sie verübte, zurückblicken konnte. Wenn ihr inniges Herz imstande gewesen wäre, nach einem solchen Vorgang sein Bild noch länger zu bewahren, so hätte es brechen müssen. Aber es vermochte dies nicht, und an die Stelle der Leere trat eine wilde Furcht, die vor jedem zerstreuten Bruchstück dieses Bildes sich flüchtete – eine Furcht, die sich nur aus den Tiefen einer so innigen, einer so schwer verletzten Liebe erheben konnte.