Domé - Michael S. Nickel - E-Book

Domé E-Book

Michael S. Nickel

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Beschreibung

Ein Fantasy-Roman über Menschen mit der Fähigkeit, Gedanken und die Herkunft anderer Menschen"lesen" zu können. In sieben miteinander verknüpften Erzählungen werden die Probleme und Chancen solcher Fähigkeiten gezeigt.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Verfassers

Prolog

1. Teil: Das Haus Domé

2. Teil: Das Haus Kamal

3. Teil: Das Haus Doué

4. Teil: Das Haus Ebandó

5. Teil: Das Haus Bradé

6. Teil: Das Haus Dannau

7. Teil: Das Haus Godalá

Epilog

Vorwort des Verfassers

Das vorliegende Werk ist ein Produkt reiner Fantasie. Menschen, Orte, Länder, ja ganze Kontinente haben mit der heutigen Welt nur so viel (oder wenig) gemeinsam wie R. R. J. Tolkiens Kontinent „Mittelerde“ mit dem realen Britannien oder Europa seiner Zeit – sie sind Teil einer Parallelwelt mit anderen Regeln und Gesetzen …

Ich bitte daher alle, die sich von den Beschreibungen oder von Namen, Orten, Ländern oder Kontinenten betroffen oder gar getroffen fühlen, um Verzeihung – Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Natürlich gibt es Orte mit ähnlichem oder gar gleichem Namen wie New York. Aber den Wolkenkratzer, in dessen obersten beiden Geschossen sich das in ‚Teil 1, Kapitel 5‘ beschriebene Appartement befindet, kann es nicht geben – in den obersten Geschossen solcher Gebäude sind üblicherweise Technikräume untergebracht, die zum Beispiel die Wasserversorgung der darunter liegenden Geschosse sicherstellen. Oder bei besonders schlanken Gebäuden die notwendigen Schwingungsdämpfer enthalten.

Der Roman – oder besser: diese Folge von sieben aufeinander bezogenen Novellen – entstand über einen langen Zeitraum. Von dem oben angegebenen Appartement etwa existiert eine Entwurfszeichnung in einer Grafik-Datei, zuletzt gespeichert am 27.10.1996. Aus dieser Zeit bestehen auch das Grundkonzept sowie etliche Textsplitter und Zeichnungen von Gebäuden, Städten und Landschaften. Tatsächlich handelte es sich bei diesen Erzählungen um die Verdeutlichung von städtebaulichen und architektonischen Überlegungen und Visionen. So war die Burg von Dannau in ‚Teil 3 – Das Haus Dannau‘ ein reales Projekt, das ich im Jahre 1986 für ein geplantes Zentrum für Kunst und Medien der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt hatte. Es sollte eine ganz ähnliche Funktion wie in dieser Geschichte erfüllen. Leider konnte es nicht realisiert werden. Dies gilt auch für mehrere andere Projekte.

Der Roman entwickelte sich also über etwa ein Vierteljahrhundert. Dadurch erklären sich auch an mehreren Stellen die Sprünge in der technischen Entwicklung – sie waren gerade in der Medientechnologie erheblich. Und diese findet in den Geschichten auf unterschiedliche Weise Eingang, bedingt durch den Entstehungszeitpunkt der jeweiligen Geschichte. Ich habe diese Abweichungen jedoch nicht korrigiert oder angeglichen, sondern sie im Wesentlichen belassen.

Denn: einige Teile sind schon sehr alt – der Prolog, der erste und zweite Teil sowie der Epilog stammen – fertig als Korrekturfassungen ausgedruckt – aus dem Jahre 2007. Die dazwischen liegenden Teile sollten damals zeitnah entstehen. Und dann ebenfalls zeitnah veröffentlicht werden.

Aber ich bin kein professioneller Schriftsteller. Und die professionellen Arbeiten hatten seinerzeit Vorrang vor den in Mußezeiten erstellten Erzählungen. So entstand das Werk Stück für Stück. Und wurde immer wieder ergänzt. Manchmal nur zur Korrektur oder Fortführung des Bestehenden, manchmal auch durch ganz neue Teile. Und manchmal stockte der Erzählfluss für Monate und Jahre einfach. Immerhin – hier ist die (vorläufige?) Endfassung. Viel Freude damit.

Im Frühjahr des Jahres 2024

Der Verfasser

Prolog

Im Morgengrauen des dritten Tages der großen Falkenjagd begrüßten Trommeln und lang gezogene Hornsignale den Aufgang der Sonne, das Wiedererscheinens des Gottes des Lichtes, des Wachstums und des Wohlstandes, der Klarheit und der Harmonie. Zu seinen Ehren hatte sich der König zu dem kleinen Altar begeben, der auf einem Felsvorsprung aufgestellt worden war. Dieser hing wie eine vorgerückte Kanzel über der steil abfallenden Flanke des Berges. Dort hatte er sein Weiheopfer dargebracht, begleitet von den sechs hohen Fürsten des Reiches. In gebührendem Abstand beobachteten die Mitglieder des Hofstaates die Zeremonie. Der Herrscher dankte dem Gott für das Wiedererscheinen, die Gnade, die er damit ihm, seinem Stellvertreter, erwies und erbat eine gute Jagd und zahlreiche Beute.

Auf die flache und versteppte Hochebene im Norden seines weiten Landes hatte sich der Herrscher von Domé begeben, um wie in jedem Jahr der Falkenjagd beizuwohnen. Dieses Ereignis, traditionell am Ende der Regenzeit gelegen, wenn sich auf der Hochebene reichlich jagdbares Wild eingefunden hatte, stellte im Ablauf der Feiern und Ereignisse des Hofes einen besonderen Höhepunkt dar. Hier fanden sich der Herrscher, die Fürsten und Würdenträger des Reiches mit ihrem Hofstaat, mit ihren Prinzen und Konkubinen, den Köchen und Stallmeistern, Falknern und Knechten ein, um in einem scheinbar improvisierten Feldlager vom höfischen Protokoll ungehindert dem besonderen Vergnügen der Jagd frönen zu können. Nebenher wurden aber auch wichtige Verhandlungen geführt und Abkommen geschlossen, die zu einem späteren Zeitpunkt durch die Riten eines Jahrtausende alten Kodexes geheiligt werden sollten.

Der König schaute um sich. Er stand am Rande des Felsplateaus, die Weite seiner Lande im Osten, Süden und Westen im Blick. Der Morgen war ungewöhnlich klar und die Luft rein. Ein kräftiger Wind ließ die Banner flattern und bauschte die Gewänder der Umstehenden auf. Die Falken und Reittiere waren seltsam nervös an diesem Morgen, so als ob sie den Beginn der Jagd nicht erwarten konnten. Schon wollte er das Zeichen zum Aufbruch geben, auf das die Falkner und Treiber, die Jagdherren und Beobachter so begierig warteten, aber er hielt inne – in weiter Ferne, im Südwesten über der Bucht von Domé, wurde am Horizont ein seltsames Phänomen sichtbar. Eine langgezogene Wolke türmte sich dort auf breiter Front auf und legte sich wie eine Decke über die Landschaft. Und dann trug der Wind ein donnerndes Krachen herbei, ein die Ohren betäubendes Zerbrechen und Zerbersten wie zahllose Gewitter auf einmal. Die Menschen fielen zu Boden und pressten die Hände auf die Ohren. Die angeketteten Vögel flatterten wild und versuchten, ihre Fesseln abzuschütteln. Die Reittiere, die Kamele und Pferde bäumten sich auf und scheuten. Einige stürzten in Panik davon und über die nahe Bruchkante der Hochebene in den Tod. Der König aber stand starr und blickte weiter auf die seltsame Wolke. Und er erkannte, dass diese sehr schnell näherkam, die Täler und Flussläufe herauf anstieg und die Felder, Ortschaften und Wälder bedeckte.

Lange stand der Herrscher dort und blickte auf das Tuch aus Qualm und Rauch, das seine Länder bedeckte. Der Donner war verhallt und nur gelegentlich waren noch Geräusche aus der Ferne zu vernehmen. Der Hofstaat hatte sich von ihm zurückgezogen und stand in Gruppen bei den Zelten. An eine Jagd war an diesem Morgen nicht mehr zu denken.

Erst als klar wurde, dass die Wolke nicht zur Hochebene hinaufsteigen würde, vielmehr in den Tälern verharrte und dann langsam wieder abfloss wie ein Strom zähen Sirups, wandte sich der Herrscher dem Altar zu und betrachtete das morgendliche Opfer für den Sonnengott, eine kleine Antilope, die still im hellen Sonnenlicht lag. Und die Sonne schien weiterhin ungerührt auf das Hochplateau und die Anwesenden. Sie war für dieses Unglück nicht verantwortlich. Aber welcher Gott sollte nun angerufen und besänftigt werden?

Das Unglück, denn als solches hatte es der König erkannt, konnte noch nicht untersucht werden. Trotzdem sandte der er eine kleine Gruppe Knechte ins Tal, damit sie Nachricht aus dem nächstliegenden Dorf holen sollten. Dann wies er seine Untertanen an zu warten.

Und sie warteten. Viele Stunden, bis zum nächsten Tag. In der Zwischenzeit hatte sich der Himmel mit dichten Wolken zugezogen und es regnete den restlichen Tag und die Nacht hindurch. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, bot ihr der König kein Opfer dar. Er stand wieder an der Abbruchkante und schaute nach Süden. Die Wolke war verschwunden und die Landschaft lag klar im Sonnenlicht. Sie schien unverändert und doch wirkte sie anders. An einigen Stellen schienen trotz des Regens Feuer ausgebrochen zu sein, denn man sah einzelne Rauchsäulen.

Der König stellte wieder eine Gruppe Kundschafter zusammen. Diesmal wurden auch Mitglieder der großen Familien ausgewählt, was zu einiger Unruhe und Protesten führte.

Die Abordnung folgte dem schmalen Pfad hinab ins Tal - sie bleiben lange dort unten, aber gegen Abend sah man die kleine Gruppe, unversehrt und vollzählig, die langgezogenen Serpentinen heraufsteigen.

Ohne ein Wort durchquerten die Kundschafter die dicht gedrängte Menge. Auch als sie vor ihrem Herrscher standen, fanden sie keine Worte. Bis einer von ihnen, ein Sohn des hohen Hauses Doué, vortrat und langsam, stammelnd, von dem berichtete, was sie gesehen hatten: die ersten Kundschafter hatten sie auf halbem Wege gefunden, an einer Stelle, bis zu der die Wolke vorgedrungen war. Sie lagen dort tot, erstickt, in seltsamen Verrenkungen, mit herausquellenden Augen und weit geöffnetem Mund. Und auch die Bewohner des Dorfes unten – sie hatten wohl zu fliehen versucht, waren aber von der Wolke erfasst und erstickt worden. Mehr konnten sie nicht sagen. Doch, ja. Eines: auch alle Tiere seien tot, alles, was Leben und Atem hatte und nicht hatte fliehen können vor der alles verschlingenden Dunkelheit. Alles andere sei unberührt, die Häuser und Bäume, Getreide und Weiden, Flüsse und Wege.

Als sie geendet hatten, befahl der Herrscher, das Feldlager abzubrechen. Er wies die Fürsten an, mit ihren Untertanen zu ihren Wohnsitzen zurückzukehren. Da das Volk von Domé nunmehr nicht mehr bestehe, sollten die heiligsten Stätten vor Raub und Plünderung durch Fremde gesichert werden. Dann sollten sie sich am Tag der Wintersonnenwende wieder auf dem Plateau treffen.

Und so geschah es. Die Zurückkehrenden fanden ihre einstmals volkreichen Städte und Dörfer als Totenstätten wieder, als Orte der Fäulnis und des unerträglichen Verwesungsgestanks. Sie legten Feuer, da sie nicht jedem der ehemaligen Einwohner ein angemessenes Begräbnis bereiten konnten und verwandelten so einst blühende Gemeinwesen in Ruinenfelder. Die großen Tempel und Paläste aber verbargen sie unter Erde und Schutt, was für die wohlgeborenen Herren und ihre Familien, die Konkubinen und Diener eine ungewohnte Mühsal bedeutete.

Als schließlich das einst blühende Land beerdigt war, zogen die Fürsten und die verbliebenen Untertanen – etliche waren bereits vorher geflohen, andere waren durch verseuchtes Wasser vergiftet, durch fehlende Nahrung verhungert oder durch die Strapazen der Arbeiten zu Tode gekommen – wieder zum Hochplateau, um die Entscheidungen des Königs zu vernehmen. Als sich alle versammelt hatten, trat dieser vor sie hin und sprach:

„Ich, Euer König und Herrscher, der Sohn der Sonne und des Lichtes, der Bewahrer des Wachstums und des Wohlstandes, der Klarheit und der Harmonie – ich habe versagt. Ich habe dieses Unheil nicht abwenden können, das durch mir unbekannte Mächte über unser Volk gekommen ist. Ein anderer hatte eine gute Jagd und mehr als zahlreiche Beute. Ich weiß keine Erklärung dafür, noch kenne ich einen Gott, den ich um Gnade hätte bitten können. Ich habe versagt.“

Und er legte die Zeichen seiner Königswürde ab, zerbrach den Stab und den Stirnreif, zerschnitt das Leopardenfell, warf den Gürtel von sich. Zuletzt nahm er den Ring mit dem großen Stein von seinem Finger und brach ihn auf. Die Fassung übergab er seinem ältesten Sohn, den Stein dem zuverlässigen Hofmeister mit der Bitte, diesen in seiner Familie aufzubewahren bis zu dem Zeitpunkt, da Domé wieder erstehen werde. Diesen Zeitpunkt kenne er nicht, noch wüsste er, ob dies jemals geschehen könne. Dann legte er den Umstehenden nahe, sich andere Orte und Völker zu suchen, denen sie sich anschließen könnten. Domé sei nicht mehr und sie seien heimatlos. Dann wandte er sich um und verließ den Ort ihrer letzten Zusammenkunft ohne ein weiteres Wort.

Ω

1. Teil

Das Haus Domé

1. Kapitel: Das Erwachen

Wabernde Lichtflecken, taumelnde und kreisende Streifen, tiefschwarze Finsternis, dann wieder grelle, pulsierende Farbfetzen. Schrilles Kreischen und Krachen, dumpfes Heulen wie von Sirenen. Hallende Stimmen. Dann ein Bild aus einer anderen Welt, klar und rein, aber fern und unnahbar: Ein hoher, schlanker Mann mit einem Umhang aus Leopardenfell und einem glitzernden Reifen über der Stirn hält in den erhobenen Händen etwas gegen die aufgehende Sonne. Am rechten Mittelfinger blitzt ein großer Edelstein. Hinter ihm stehen in einigem Abstand ähnlich gekleidete Männer. Eine weite Landschaft unter einer warmen Sonne. Das Bild verwischt und wird von anderen überlagert. Ein hübsches, dunkles Frauengesicht, lächelnd. Schimmernde schwarze Augen. Dann Dunkelheit und Kälte. Eine schneebedeckte Hügellandschaft mit Kindern, die ihm vertraut vorkommen. Sie laufen auf ihn zu und kreischen vor Vergnügen. Dann wieder grelle, funkelnde Farbpartikel, dazu scharfe Gitarrenklänge. Splitter von absteigenden Kadenzen. Und wieder ein fernes Bild. Auf einer hohen Felsenspitze, vor einem strahlenden Palast, golden schimmernd in der untergehenden Sonne: Ein Mann, ganz in Weiß gekleidet, breitet die Arme aus. Und Schmerzen. Pein. Unerträgliche Pein. Dunkelheit und barmherziger Schlaf.

Leo erwachte. Panik überflutete seinen durch Schmerzen und Medikamente betäubten Verstand. Hände und Füße gehorchten ihm nicht. Er schien blind. Er kämpfte gegen die Panik an und versuchte sich zu erinnern; was mit ihm geschehen war; was das Letzte war, an das er sich erinnern konnte; wer er selbst war. Die Bilder und Traumgestalten waren ihm keine Hilfe, aber er erinnerte sich dumpf, dass er schon etwas Ähnliches erlebt hatte. Ein gebrochenes Bein, eine provisorische Narkose. Ein Krankenhaus?

Langsam beruhigte er sich und versuchte seine Gedanken zu sammeln und zu sortieren. Er hörte leise Stimmen, beruhigende Worte, dann verschwammen auch diese und er schlief wieder ein.

Als er erneut erwachte, war sein Selbst wieder präsent. Er war Leonard H. Zimmermann, deutscher Staatsbürger, 26 Jahre alt, 1,87 m groß und um die 85 kg schwer, angenommener Sohn eines angesehenen Arztes in der nordhessischen Provinz, afrikanischer Abstammung, Broker bei einer großen Bank in New York, USA. Wohnhaft im Zentrum. Wohlhabend. Eine schicke Maisonette. Ein flottes Auto – er stutzte. Jetzt erinnerte er sich. Er war unterwegs gewesen zu seiner Verabredung mit dieser netten Buchhändlerin. An der Ecke 32nd Str. / 4. Avenue war er abgebogen und hatte auf die Passanten auf dem Zebrastreifen warten müssen. Dann ein Stoß, ein Blitz, dann Dunkelheit. Sirenen, blitzendes Licht. Schmerz.

Das war es also. Ein Verkehrsunfall. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Er war immer stolz auf sein Aussehen gewesen, die harmonischen, klaren Gesichtszüge, die hoch gewachsene, gut proportionierte Statur und die durch Sport und Hanteltraining gestärkte Muskulatur. Oder wenn etwas mit den Augen war - er versuchte sich zu bewegen.

„Bleiben Sie ruhig liegen, entspannen Sie sich“, hörte er eine ruhige, weiche, weibliche Stimme.

„Wo bin ich, was ist mit mir …?“ stammelte er.

„Sie hatten einen Unfall. Es ist einiges gebrochen und sie haben ein Trauma. Wir haben sie vier Tage ins Koma gelegt. Bleiben sie ruhig. Alles wird wieder gut.“

„Meine Augen, was ist mit ihnen …?“ fragte er besorgt.

„Sie haben ein paar Schnittwunden im Gesicht. Nichts Ernstes. Wir mussten Sie aber verbinden, fixieren und ruhigstellen, damit nichts Ernstes daraus wird. Alles wird gut.“

Schnittwunden im Gesicht. Er stöhnte. Ob er so zerschunden aussehen würde wie der Popstar Seal? Hoffentlich nicht. Aber was blieb ihm nun anderes übrig, als zu warten und zu schlafen? Er versuchte sich zu entspannen, in dem er schöne Erinnerungen beschwor. Die hübsche Buchhändlerin. Seine Jugendfreundinnen. Die Kindheit in Wolfburken. Das alte Haus am Hang. Die Wiese mit den Obstbäumen hinter dem Haus. Die Geschwister. Die Freunde. Er stutzte in Halbschlaf. Diese Bilder in seinem Traum, so klar und doch fern. Wo hatte er diese schon gesehen? In einem Film? Eine Dokumentation über Afrika? Seltsam. Erinnerungen konnten es nicht sein. Er war noch nie in Afrika gewesen. Leo Zimmermann schlief wieder ein.

Und wieder kamen die Bilder. Sie kamen näher diesmal und wurden dabei klarer und deutlicher. Manche bewegten sich. Fantastisch gekleidete Menschen näherten sich ihm, lächelten ihn an und verbeugten sich. Und er wusste, dass diese Menschen zu ihm gehörten, obwohl er keinen von ihnen jemals zuvor gesehen hatte. Ihre Namen lagen ihm auf der Zunge, ohne dass er sie benennen konnte. Eine andere Zeit, eine andere Welt. Und noch etwas Anderes. Donnern und Krachen. Rauch und Staub und eine alles verschlingende Finsternis. Und ein funkelnder Stein in der Dunkelheit.

2. Kapitel: Genesung

Etwa eine Woche später saß Leo Zimmermann in seinem Krankenbett und frühstückte. Noch immer waren auf der linken Seite der Arm und der Unterschenkel bandagiert. Aber die Krankengymnastin war zufrieden mit ihm gewesen und hatte ihm eine baldige Heimkehr angekündigt. Natürlich mit Krücke. Und er sollte sich noch ein paar Tage schonen. Die Bandagen um das Gesicht und die Augen waren schon abgenommen worden. Die Schnitte waren noch sichtbar und mit Pflastern beklebt, aber es zeichnete sich ab, dass die Folgen vielleicht noch erkennbar, aber nicht dramatisch, vielleicht sogar interessant sein würden. Charaktervoll.

Er las den Bericht der Polizei über den Unfall. Ein durch Drogen betäubter Taxifahrer hatte zu fest auf das Gaspedal gedrückt, war mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Menschenmenge auf dem Zebrastreifen gerast und hatte mehrere Passanten schwer verletzt. Zwei Tote. Er hatte Leos wartenden Porsche an der Breitseite gerammt und ihn gegen einen Laternenmast gedrückt. Dass er nicht schwerer verletzt war, erschien wie ein Wunder. Der Porsche war Schrott. Der Fahrer des Taxis war nur leicht verletzt, aber ohnmächtig gewesen. Er saß nun im Gefängnis und wartete auf einen Prozess mit klarem Ausgang und einer langen Haftstrafe.

Leo lehnte sich zurück. Der Porsche war zu verschmerzen. Er hatte ihn für ein bereits bestelltes Cabrio in Zahlung geben wollen. Den Job würde ihn der Aufenthalt im Krankenhaus nicht kosten, trotz des zeitlichen Ausfalls und der unerledigten Aufträge. Zwei Kollegen aus der Bank waren gestern Abend zu Besuch gewesen und hatten die Genesungswünsche des Chefs überbracht, über die Entwicklungen im Büro und die Anteilnahme der Kolleginnen und Kollegen berichtet. Einige große Blumensträuße verschönten schon seit einigen Tagen das Zimmer. Und mit der Mutter hatte er gesprochen, telefonisch natürlich, und sie beruhigt. Sie war schon auf dem Weg zum Flughafen gewesen, aber Leo hatte sie zurückhalten können und sie auf den Urlaub in zwei Monaten vertröstet. Als Arztsohn hatte er sie über alle Verletzungen und deren Behandlung aufklären können. Auch der Vater war am Telefon gewesen und hatte sich zufrieden gezeigt. Früher hatte er Leo dazu überreden wollen, Medizin zu studieren. Damit er später die Praxis übernehmen könnte. Und Leo hatte das Studium auch begonnen, aber bald festgestellt, dass er sich nicht für den Beruf des Arztes eignete. Dass er ihn in vielen Dingen unter- und in einigen auch überforderte. Und als mittelmäßiger kleiner Hausarzt in der Provinz zu versauern entsprach so gar nicht seinem Ehrgeiz. Stattdessen hatte er sich der Welt der Bilanzen und Renditen zugewandt und dabei so talentiert gezeigt, dass er schon bald den Wohlstand seines in Geldangelegenheiten eher schlampigen Vaters mit verschiedenen Anlagen und Transaktionen hatte mehren und stabilisieren können. Seit diesem Zeitpunkt hatte Dr. Zimmermann nicht mehr auf der Übernahme der Praxis beharrt, sondern seine Hoffnungen auf Leos Schwester Edith verlagert. Leo grinste. Die gute Edith, immer schon Vaters Liebling nun sein Opfer. Aber sie würde ihre Sache gut machen. Sie war nicht hübsch, aber talentiert, solide und bodenständig. Gerade die Richtige für die Patienten und ihre Wehwehchen. Eine echte Mutterfigur zum Ausweinen für die Wehleidigen, streng und sachlich zu den Hypochondern, sanft zu den schwer Betroffenen.

Zur Bewältigung seiner aktuellen Probleme hatte es auch gehört, dass er in dem Buchladen angerufen und seine Verabredung erneuert hatte. Die hübsche Dana war zunächst recht kühl gewesen, denn keine Dame sieht es gern, wenn ihr Galan sie versetzt. Der Verweis auf seinen Krankenstand und auf den Bericht über den Unfall in der Presse hatten dann aber die Wogen geglättet und die Dame gnädiger gestimmt. Sogar ein Krankenbesuch war angekündigt worden. Leo lehnte sich zufrieden zurück. Erzwungene Muße hat den Vorteil, dass man über manches nachdenken kann, das sonst unbeachtet bleibt. Und so dachte er über seinen weiteren Lebensweg nach – ein befriedigendes Ergebnis wollte sich allerdings nicht einstellen.

Die Bilder in seinem Kopf aber beunruhigten ihn. Gegenüber der behandelnden Ärztin hatte er eine Bemerkung fallen lassen, dass er seit dem Unfall gewissermaßen an Halluzinationen litte. Sie hatte ihn beruhigt und dieses Phänomen mit den Nachwirkungen der Beruhigungsmittel erklärt. Das klang plausibel, war es aber nicht. Er bekam kaum noch Medikamente, jedenfalls keine, die gewissermaßen halluzinogen wirken konnten. Die Bilder aber blieben. Sie kehrten nun nicht nur im Schlaf zurück, sondern auch im Wachen erschienen sie. Er entschied, sie zu ignorieren wie lästiges Ohrenpfeifen oder Zahnschmerzen.

3. Kapitel: Mitgefühl

Fräulein Dana Walker Haynsbury war zu Besuch gewesen. Leo hatte sich gerne von ihr bedauern und bemuttern lassen. Sie kannten sich erst seit kurzem. Sie hatte ihm einen populären Roman verkauft und einige Anmerkungen dazu gemacht, die ihn das Werk (eigentlich ein Geschenk für Edith) schnell und interessiert hatten lesen lassen. Bei seinem nächsten Besuch, beim Kauf der Fortsetzung, hatten sie sich sehr nett unterhalten und er hatte sie spontan eingeladen.

Nun war sie also zu ihm gekommen. Ihr Gesichtsausdruck, als sie ihn in seiner beklagenswerten Lage zu sehen bekam, hatten ihm mehr verraten, als sie vielleicht hatte zeigen wollen. Die lieblosen Blumenarrangements und die sicher mangelnde Pflege hatte sie zu beanstanden gewusst. Leo hatte dies lächelnd über sich ergehen lassen. Und als sie wie aus Versehen seine rechte, unverletzte Hand berührte, hatte er die ihre genommen und gehalten. Schweigend hatte sie dann neben ihm gesessen. Er hatte sich erneut für die geplatzte Verabredung entschuldigt, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und sich abgewendet. Leo hatte aber deutlich die feuchten Augen sehen können und ihre Hand fester gedrückt. Dann war sie gegangen und er lag weiterhin an sein Bett gefesselt. In seinem Bauch aber begannen die Schmetterlinge zu tanzen.

Oberarzt Dr. Baldwin war zur Visite gekommen. Allein diesmal, ohne Schwestern und Assistenten. Er studierte schweigend Leos Krankenakte und nach einigen oberflächlichen Untersuchungen, bei denen er Leo gelegentlich prüfend und mit gerunzelter Stirn angeschaut hatte, fragte er unvermittelt und angelegentlich in die Akte schauend:

„Sie haben Halluzinationen?“

Leo erschrak. Dann versuchte er verlegen, seine Träume und Visionen abschätzig darzustellen. Er verstummte schnell.

„Wann?“ fragte der Arzt.

„Na ja - ziemlich oft.“

„Auch tags?“

Leo nickte.

„So etwas wie afrikanische Fürsten, Landschaften in Afrika?“

Leo erschrak wieder und meinte dann: „Habe wohl Eddie Murphy’s ‚Prinz von Zamunda’ zu oft gesehen?“

Der Arzt schaute ihn weiter schweigend an und setzte sich dann. Wie abwesend schaute er aus dem Fenster und meinte dann:

„Früher als Kind hatte ich so etwas auch gelegentlich. Später nie mehr. Seit ein paar Tagen dann wieder, seit dem 14. März genauer gesagt.“ – „Und wenn ich sie mir so ansehe …“, ergänzte er und schüttelte den Kopf. „Wie ein Déjà-vu, merkwürdig bekannt. Hat aber sicher keine Bedeutung. Was ich eigentlich sagen wollte - sie haben eine ungewöhnlich robuste Gesundheit. Der Heilungsprozess vollzieht sich außerordentlich schnell, äußerst ungewöhnlich. Alle Werte sind schon jetzt optimal. Wenn die Brüche nicht wären und die Narben, könnte man sagen: kerngesund. Ich gratuliere. Eigentlich könnten wir sie entlassen. Wir sollten die Brüche zur Kontrolle aber noch einmal ablichten und auch den Bericht der Krankengymnastin heute Nachmittag abwarten. Und vielleicht ein paar Gewebeproben entnehmen und so weiter. Im Interesse der Wissenschaft“, ergänzte er grinsend und wandte sich zum Gehen.

An der Tür drehte er sich noch einmal um, als wollte er etwas Ergänzendes sagen, runzelte kurz die Stirn, blickte noch einmal wie zweifelnd in Leos Gesicht, schüttelte den Kopf und ging.

Leo war verblüfft. Ein anderer, völlig fremder Mensch hatte ähnliche, vielleicht sogar die gleichen „Halluzinationen“? Und seit dem 14., dem Tag seines Unfalls. Gab es hier eine Verschwörung? War dieses Krankenhaus eine Brutstätte zur Beeinflussung des Bewusstseins? Er blickte um sich, als suche er Gerätschaften, mit denen man wie in Science-Fiction-Filmen der Kategorie B üblich, das Gehirn wehrloser Opfer bearbeiten konnte. Aber das Zimmer sah aus wie ein ganz gewöhnliches Krankenhauszimmer. Vielleicht doch Halluzinogene?

„Was soll’s!“ dachte er und versuchte sich wieder etwas bequemer hinzulegen, „Bald bin ich draußen und kann mich Wichtigerem widmen.“ Er schloss die Augen, summte und dachte an die Verabredung mit Dana. Plötzlich lachte er. Er hatte die Musikfetzen, die ihm im Kopf herumgeschwirrt waren, erkannt. Purple Rain von Prince.

Es klopfte und ein Mann mittleren Alters trat ein. Er stellte sich als Detective James E. Mason vor und fragte, ob er einige Fragen wegen des Unfalls stellen könne. Es gäbe da einige kleine Ungenauigkeiten.

Leo hatte nichts dagegen. Er konnte sich aber kaum an etwas erinnern, das der Polizei hätte helfen können. Er hatte sein Rendezvous im Sinne gehabt und nicht auf die weitere Umgebung, nur auf die Fußgänger geachtet. Er erinnerte sich an das Aufheulen eines Motors und an das Kreischen von Menschen in verschiedenen Tonlagen. Er hatte den Kopf gedreht, da kam schon der Schlag. Plötzlich fiel ihm doch etwas ein.

„Aber wenn sie etwas Genaueres über den Unfall wissen wollen, sollten sie den Fahrgast fragen“, meinte er.

Der Polizeibeamte sah ihn verblüfft an. Ein Fahrgast? Ja, meinte Leo, in dem Taxi hatte jemand gesessen, schräg hinter dem Fahrer, der sich hinter das Steuer geduckt habe. Ein dunkles, ausdrucksvolles Gesicht. Ein Herero vielleicht. Der Detective starrte ihn an.

„Also, das ist komisch“, meinte er nach einer Weile langsam, „wir haben Spuren gefunden, die tatsächlich auf einen Fahrgast hindeuten. Der Taxifahrer hatte zum Beispiel das Fahrgeld, das vom Taxameter angezeigt wurde, auf dem Schoß liegen. Er weiß aber von nichts, auch nichts von einem Fahrgast. Und eine alte Frau will jemand gesehen haben, der geduckt ausgestiegen sein könnte, aber niemand sonst hat ihn bemerkt. Bei dem Trubel ist das aber nicht verwunderlich. Wir haben der Sache keine Bedeutung beigemessen, da die Alte schon ziemlich verwirrt ist. Sind sie sicher?“

Leo war sich sicher. Er fragte nach dem Taxifahrer. Der könne sich eben an nichts erinnern, behauptete er jedenfalls, war die Antwort. Ein wortkarger Puerto-Ricaner mit einigem Dreck am Stecken. Und was sei ein Herero?

„Oh, ein Volk in Afrika. In Namibia, genauer gesagt. Berühmte Krieger. Was ich sagen wollte ist, dass der Fahrgast bestimmt kein Puerto-Ricaner gewesen ist.“

Dass der Mann ihm aber irgendwie bekannt vorkam, verschwieg er dem Polizisten vorsichtshalber. Die Sache mit den Traumbildern war schon ungewöhnlich genug und er wollte nicht als Spinner dastehen.

Der Polizist verabschiedete sich. Wie der Arzt blickte er an der Tür noch einmal zurück und runzelte die Stirn.

„Na toll“, dachte Leo amüsiert, „Es wir immer komplizierter. Jetzt trachten nicht nur die New Yorker Taxifahrer nach meinem Leben, darüber hinaus hält mich die Polizei für einen verrückt gewordenen Deppen mit Halluzinationen.“

Denn dass der Beamte sich über seinen Zustand informiert hatte, ärztliche Schweigepflicht hin oder her, hielt er für mehr als wahrscheinlich. Dann überlief es ihn mit einem Male kalt. Wie in einem seiner Traumbilder erinnerte sich plötzlich klar und deutlich daran, wie das Taxi auf ihn zukam, der Fahrer hinter das Steuer geduckt und die Augen geschlossen, der andere aber mit weit aufgerissenen Augen ihn anstarrend.

„Sie trachten nach meinem Leben …“

4. Kapitel: Familie

Einige Tage später fühlte sich Leo H. Zimmermann im siebten Himmel. Die Dame seines Herzens, denn dazu war sie nach einem weiteren Krankenbesuch geworden, bei dem er kaum noch krank genannt werden konnte, hatte sich zum Essen in ein Restaurant mit bekannt guter Küche und akzeptablem Ambiente ausführen lassen. Sie hatten sich angeregt unterhalten, wenn auch mit einigen Pausen im Gespräch. Und während Dana sich schließlich angelegentlich mit ihrem Dessert befasste, hatte er sie erneut genauer betrachten können. So, als wolle er herausfinden, was ihren Zauber ausmachte.

Dabei war ihm aufgefallen, dass seine aktuellen Gefühle so ganz und gar nicht denen glichen, die er sonst in einer solchen Situation empfand. Jedenfalls war er sich sicher, dass der Übergang vom Abend zur Nacht nicht durch die Frage: „Zu dir oder zu mir?“ eingeleitet werden würde. Nicht, dass er dies nicht sehnlich gewünscht hätte, aber diese Frau war, das musste er nun fast ernüchtert feststellen, kein Mäuschen, das sich vorwiegend zum Bettwärmen eignete. Er suchte nach einem passenden Begriff, der auf sie anwendbar wäre. Eine Gefährtin? Ja, das war …

Sie blickte zu ihm auf und ihm blieb nichts Anderes übrig, als die Augen niederzuschlagen und zu hoffen, dass er nicht wie der größte Depp auf Gottes Erdboden aussah. Als der rote Schleier vor seinen Augen sich wieder verzogen hatte und er hoffte, ihr wieder in die Augen sehen zu können, stellte er fest, dass auch sie schnell ihren Blick senkte und ihr Gesicht einen Ausdruck zeigte, dessen Bedeutung er sofort erkannte. So musste er wohl gerade selbst ausgesehen haben.

„Hilfe! Jetzt ist es passiert!“ dachte er mit einer Mischung aus Panik und Entzücken. Dann verebbte die Panik und das Entzücken blieb, eingebettet in Ruhe und Gewissheit. Der nächste Schritt würde einfach sein und der weitere Weg lag klar vor ihm, oder genauer gesagt, vor ihnen. Und er würde seine uralte Pflicht und Schuldigkeit tun …

Einige Tage später war Leo bei der Familie des Dr. Haynsbury zum Abendessen eingeladen. Zum Ende ihrer ersten Verabredung hatte er die Dame seines Herzens in stillem Einvernehmen und ohne weiteres Nachfragen bis zur Haustüre begleitet, eine Vorstellung bei den Eltern aber abgelehnt mit dem Hinweis darauf, dass er keine Umstände machen wolle. Dann hatte er darum gebeten, den Eltern zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl vorgestellt zu werden und seinen Heiratsantrag vorgebracht. Er war ruhig angenommen worden und mit einem zugegebenermaßen ungebührlich langen Gutenachtkuss besiegelt worden. Er hatte sich nur mit Mühe losreißen und verabschieden können.

Und so saß er nun am Familientische und verzehrte seinen reichlich bemessenen Anteil an der nicht enden wollenden Folge von den schmackhaften Gerichten. Da er ein guter „Futterverwerter“ war, wie seine Mutter früher oft seufzend festgestellt hatte, wenn ein weiterer Nachschlag anstand, hatte er wenig Mühe, seinen Anteil zum Wohlgefallen seiner künftigen Schwiegermutter abzuarbeiten.

Zu seiner Person hatte es in der Familie Haynsbury im Vorfeld einige kontroverse Debatten gegeben. Vor allen der Doktor hatte, eifersüchtig wie die meisten Väter auf ihre Schwiegersöhne in spe, Bedenken angemeldet gegen diesen ausländischen Menschen. Ein Schwarzer aus Deutschland? Was sollte denn das sein? Ein Army-Bastard vielleicht? An dieser Stelle war Frau Haynsbury eingesprungen und hatte gefragt, ob er wohl auch einen Bastard dort hinterlassen habe, schließlich sei er zeitweilig dort drüben stationiert gewesen. Der Doktor hatte diesen Einwurf schnaubend ignoriert. Auf Danas ruhig vorgebrachten Hinweis, dass ihr Verlobter ein Adoptivkind aus Afrika sei, hatte er zum Anlass genommen, über die heruntergekommenen Hungerleider dort herzuziehen und die grassierende Verbreitung des HIV-Virus in manchen Ländern wegen der herrschenden Unmoral zu geißeln. Dana hatte trocken erwidert:

„Zu seiner Geburt gab es meines Wissens noch keine Infektionen in Afrika, jedenfalls erwähnt Roland Norman in seinem Buch …“

„Norman, dieser Besserwisser! Was weiß der schon!“ hatte der Doktor unterbrochen und war auf das Gebiet der Unmoral und des inflationären Gebrauchs von Kondomen übergewechselt, so als wolle er seine Tochter der zügellosen Promiskuität anklagen. Auf den Hinweis seiner Tochter, dass sie mit ihrem Verlobten noch keine vorehelichen Vertraulichkeiten gehabt habe, hatte er mit einem verächtlichen:

„Ein Schlappschwanz also!“ kommentiert.

„Also, das wohl eher nicht, denke ich …“, hatte seine Tochter nachdenklich gesagt, „…; wenn er nicht einen ziemlich großen Revolver in der Tasche gehabt hatte neulich Abend …“

An dieser Stelle hatte ihre Mutter, die nicht wusste, ob sie über ihren Mann empört oder belustigt sein sollte, lauthals losgelacht und die anderen Familienmitglieder am Frühstückstisch hatten sich angeschlossen. Dr. Haynsbury hatte weiter vor sich hin gegrummelt, seine Attacken aber eingestellt, um die Munition für das Treffen mit dem unwillkommenen Schwiegersohn-Anwärter aufzusparen.

Und so saß der Delinquent mit am Familientisch. Nach einer üppigen Vorspeisenplatte, gegrillten Rippchen, Lachsschnitten in zweierlei Soße und einem gefüllten Truthahn fühlte sich Leo vom Wohlwollen seiner Schwiegermutter in spe geradezu überrollt, während die bohrenden Fragen des Doktors über Herkunft, Familie, Einkommen und sonstige persönliche Daten ebenfalls nicht enden wollten. Alles reichlich dubios. Ein abgebrochenes Medizin-Studium! Stattdessen ein Geldumdreher. Alles Betrüger! Und Weiße aus Naziland als Zieheltern! Der Doktor war empört.

Leo hatte auf die Attacken und gezielten Provokationen einerseits wie auf die wohlwollenden Nachfragen andererseits freundlich und sachlich geantwortet. Beim Stadium des Kaffees im Wohnzimmer hatte das gute und mehr als reichhaltige Essen das Gemüt des Doktors etwas beruhigt. Er war nun missvergnügt wegen der mangelnden Bereitschaft seines Schwiegersohnes in spe zu einem leidenschaftlichen Disput einerseits und über die nicht zu übersehende Tatsache andererseits, dass seine geliebte, aber leider etwas dickköpfige Tochter diesen unerwünschten Kerl als ihren Gatten ausgesucht hatte und mit Sicherheit auch heiraten würde. Leo indessen hatte nachdenklich begonnen, die bislang unzusammenhängenden Bruchstücke seiner Biografie zu verknüpfen:

„Sehen sie, Doktor“, hatte er gemeint, „Was meine Person angeht, so gibt es sicher einiges Sonderbare oder vielleicht sogar Zweifelhafte, aber das meiste ist doch nur alltäglich und unspektakulär. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass ich mich dazu eigne, ein großer Star zu sein, in welcher Branche auch immer. Kein Nobelpreisträger der Medizin zum Beispiel, der seine Familie mit Glanz überschüttet, wenn sie verstehen, was ich meine …“

Der Doktor schnaubte.

„Aber ich glaube nicht, dass Dana so etwas erwartet …“

Die Dame seines Herzens schüttelte lächelnd die schwarzen Locken.

„Ich habe bisher“, fuhr er fort, „darauf geachtet, dass ich einen Job gut mache, für den ich mich eigne und nicht mit etwas dilettiere, wozu ich mich nicht eigne. Ich will nicht behaupten, dass ich am Ziel meiner Wünsche angelangt bin, was den Beruf anbelangt, meine ich, aber ich habe schon jetzt eine gesicherte Existenz und das bleibt auch so, wenn morgen zum Beispiel die Kartenhäuser der Weltwirtschaft zusammenbrechen. Ich habe soweit vorgesorgt, dass ich heute einfach aufhörend könnte, irgendetwas Berufliches zu tun, ohne dass meine Familie Hunger leiden müsste. Es sei denn, diese Familie hätte die kostspieligen Angewohnheiten von Filmstars oder anderer Jetset-Typen. Aber ich denke, auch da bin ich bei Dana sicher. Wenn sie weitere Details …“

Der Doktor schüttelte den Kopf.

„Gut. Davon also später. Und was die Herkunft angeht, die ist in der Tat merkwürdig, aber eher traurig als bedenklich. Meine Eltern – und sie sind meine Eltern, denn sie haben mir alles gegeben, was Eltern ihren Kindern geben können, mir und meinen Geschwistern, ihren leiblichen Kindern diesmal – nun, sie waren einige Jahre für die Organisation ‚Ärzte für die Welt‘ in Zentralafrika und haben mit dem Aufbau von Krankenstationen und bei der Ausbildung von Arzthelfern beschäftigt. Eines Tages nun hatten die Leute im Dorf morgens in der Nähe ihres Brunnens eine alte Frau gefunden, die niemand kannte. Sie war den Anzeichen nach weit gewandert und wohl in der Nacht an Entkräftung und Hunger gestorben. Sie hatte nur einen nicht einmal ein halbes Jahr alten Säugling bei sich. Sie hielten ihn auch für tot, bis er sich ein wenig regte. Er war nackt; die Alte hatte ihn in ihren Umhang gewickelt und an ihrem Leib getragen, aber sie war sicher nicht seine Mutter, dazu war sie viel zu alt. Um den Hals hatte der Junge eine Kette mit einem merkwürdigen Gebilde aus verfärbtem Metall als Anhänger.“

Hier öffnete Leo den silbernen Knopf seines steifen Hemdkragens und zog das Amulett hervor.

„Ich denke, es ist ein Ring“, meinte er nachdenklich, während er das sich langsam drehende Gebilde betrachtete, „Oder genauer gesagt, eine Ringfassung. Für einen großen Stein …“

Hier stockte er, denn eines seiner Traumbilder überflutete plötzlich sein Bewusstsein, während der Ring sich drehte. „Und ein funkelnder Stein in der Dunkelheit …“

„Das Komische ist nun, der Ring ist aus schwerem Gold. Davon hätte die alte Frau Monate, vielleicht Jahre leben können. Stattdessen ist sie lieber gestorben, als dieses Stück wegzugeben. Seltsam, nicht wahr?“

Der Ring ging von Hand zu Hand und wurde begutachtet. Danas Bruder Joseph, der zum Ärger seines Vaters als Schmuck-Designer arbeitete und in seiner Ausbildung zeitweilig bei einem Juwelier gearbeitet hatte, betrachtete ihn stirnrunzelnd.

„Der ist ziemlich alt, wenn mich nicht alles täuscht. Jedenfalls nicht nachgemacht und auf alt getrimmt. So etwas sieht man.“

Er gab den Ring an Leo zurück und der verstaute ihn wieder und knöpfte das Hemd zu. Und um weitere Spekulationen zu vermeiden meinte er:

„In den letzten Jahrzehnten hat es in Afrika heftige Umbrüche gegeben und manche früher wohlhabende Familie ist ins Elend gestürzt. Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr herausbekommen, was damals geschehen ist. Die alte Frau wurde schnell irgendwo begraben, ich selbst adoptiert und nach Auslaufen des Vertrags meiner Eltern nach Deutschland gebracht. Das ist nun über ein Vierteljahrhundert her und die Umbrüche sind stärker geworden. Ich fürchte, die Suche nach meinen Wurzeln dürfte so schwierig werden wie so manch eines Amerikaners nach den seinen.“

Das Gespräch ging nun auf andere Themen über. Dr. Haynsbury beteiligte sich nun nur noch sporadisch am Gespräch. Auch er hatte den Ring kurz und mit einem Stirnrunzeln gemustert. Als aber die Verabschiedungsrunde am Ende des Abends an ihn kam, hatte er dem künftigen Schwiegersohn kurz die Hand gedrückt und ihn forschend angesehen.

Nachdem sie ihren Verlobten an der Tür verabschiedet hatte, kehrte Dana zu ihrem Vater zurück.

„Bist du mir böse, Papa?“, fragte sie.

Der schüttelte den Kopf. Nach einer langen Pause fragte er:

„Willst du diesen wirklich als deinem Mann, als Vater deiner Kinder?“ und sie antwortete sofort:

„Oh ja, dazu ist er der Richtige, das weiß ich. Vertraust du ihm nicht?“

„Doch, aber – ich habe Angst vor ihm.“

Sie schaute ihn erstaunt an.

„Angst? Du glaubst doch nicht, dass er ein Gangster ist oder so etwas. Das ist lächerlich!“

„Nein, kein Gangster oder sonst etwas Böses. Eher das Gegenteil. Da ist so etwas an ihm …“

„Aber wie kann man vor etwas Gutem Angst haben. Wirklich, Papa, ich bitte dich!“

„Es ist auch nicht wirklich Angst, Kind. Ich kann es nicht benennen. Irgendetwas Ungewöhnliches, Verwirrendes. Als er die Sache mit dem Amulett erzählte, da war etwas in seinem Blick …“

„Ich weiß“, meinte sie nach kurzem Zögern, „Aber ich bin sicher, dass dies nur gut sein kann. Oder meinst du gar …“ und sie begann zu lachen, „dass er so etwas ist wie Denzel Washington in diesem Film mit Whitney Houston. Ein Engel oder so?“

Der Doktor schüttelte ratlos seinen Kopf. Er dachte an seine Träume des Nachts in letzter Zeit. Und als er den Ring gehalten hatte, schien es ihm, als stünde hinter dem Gast des Abends eine unendlich lange Reihe von hoheitsvollen Geistern, die ihn prüfend musterten. Dieses Gefühl hatte ihm nicht gefallen.

5. Kapitel: Hochzeit

Das Flugzeug hatte eine dreiviertel Stunde Verspätung. Bis Dr. Zimmermann und seine Frau sowie ihre Kinder Edith (Frau Dr., frischgebacken) und Achim, der Softwareentwickler, ihr Gepäck bekommen hatten, hatte es noch einmal so lange gedauert. Nun standen sie in der eindrucksvollen Ankunftshalle der Fluggesellschaft mit ihren expressiven Betonschalen und begrüßten den beinahe verlorenen Sohn und seine Verlobte. Auch deren jüngerer Bruder Ernie hatte sich angeschlossen.