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Als Bruno Fässler, Chef der Appenzeller Kriminalpolizei, ins Berggasthaus „Plattenbödeli“ im Alpstein gerufen wird, um einen Mord aufzuklären, geht er von einem Beziehungsdelikt aus. Doch welche Rolle spielt die verschwundene Halskette der Toten bei dieser Tat? Der passionierte Wanderer und Autor Roger Marty, der das Geschehen beobachtet und den Mord als Romanvorlage nutzen will, beginnt zu ermitteln. Er stößt dabei auf ein weiteres Delikt …
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Seitenzahl: 320
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Walter Burk
Doppelbindung
Erster Teil der Alpsteinkrimi-Trilogie
Faszination pur! Fränzi Fässler, Wirtin des Berggasthauses »Plattenbödeli« im Alpstein, findet im Keller die Leiche ihrer deutschen Serviertochter Viola. Da diese sich tags zuvor wegen des einheimischen Beats von ihrem Partner Jan getrennt hat, glaubt Bruno Fässler, Chef der Appenzeller Kriminalpolizei und Bruder der Wirtin, an ein Beziehungsdelikt. Roger Marty, der als Gast den Mord im »Plattenbödeli« beobachtet hat, will das Erlebte in einen Kriminalroman umsetzen. Bei seinen Recherchen stößt er dann auch vor Bruno Fässler auf die wahren Zusammenhänge zwischen dem Mord und weiteren Delikten. Und welche Rolle spielen dabei die St. Galler Ermittler, die im »Plattenbödeli« übernachten, der verschwiegene deutsche Gast Balin und die Serviertochter Monika, die alle am Vorabend mit Viola zusammen waren?
Walter Burk wurde in Horgen geboren und lebte 35 Jahre in der Ostschweiz, bevor er nach Chur zog. Nach über 30 Jahren beruflicher Tätigkeit in der Bildung und vielfältigen Engagements im Sport ist er nun Leiter des Studiengangs »Sport Management« an der HTW Chur. Als ehemaliger Journalist und Autor einer Biografie blieb er bis heute seiner Schreibleidenschaft treu.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos vom Autor: Walter Burk
ISBN 978-3-8392-4328-2
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Es ist einer dieser typischen Sonntagmorgen.
Ein Sonntagmorgen nach einem belebten und arbeitsreichen Samstag mit vielen Gästen – Feriengästen, Wanderern und Einheimischen, die schnell auf einen Drink vorbeikamen. Und einigen Gästen, die auch die Nacht im Berggasthaus ›Plattenbödeli‹ verbringen. Überwiegend Gäste aus der näheren Umgebung, die Ferienzeit neigt sich langsam dem Ende zu, nicht nur in der Schweiz, sondern auch im benachbarten Deutschland und in Österreich.
Aber es sollte keiner dieser typischen Sonntagmorgen bleiben.
Franziska Fässler ist zufrieden, nicht nur mit dem gestrigen Tag, sondern mit der ganzen bisherigen Sommersaison. Das Team funktioniert gut, die Qualität der Küche ist hoch, die Mädchen im Service arbeiten aufmerksam, strahlen Gastlichkeit aus, erhalten viel Lob von den Gästen.
Fränzi, wie die Chefin von den Gästen und ihren Mitarbeitern gerufen wird, beginnt das Frühstücksbuffet einzurichten. Noch ist sie alleine in der Gaststube, ab sechs Uhr hält sie nichts mehr im Bett. Die beiden Mädchen, wie sie ihre Servicemitarbeiterinnen mütterlich nennt, hat sie auf halb sieben Uhr aufgeboten, das reicht. Denn gestern ist es ja etwas später geworden. Zahlreiche Gäste haben es ausgenutzt, dass es hier nicht so genau genommen wird mit der Polizeistunde. Die Polizei bemüht sich nicht sehr oft hier hoch, dafür ist die steile Anfahrt zu risikoreich, das ›Plattenbödeli‹ zu abgelegen.
In der Küche arbeitet Thushari, die singhalesische Hilfskraft, zuverlässig, sauber, hilfsbereit. Sprechen Mitarbeiter und Gäste von der »Tamilin in der Küche«, setzt sich Fränzi vehement für die Berichtigung ein. Denn Thushari ist Singhalesin, spricht Sinhala, nicht Tamil. Doch diese Unterscheidung dürfte für Europäer ebenso schwierig sein, wie für eine Singhalesin, den Appenzell-Innerrhoder Dialekt vom Ausserrhoder zu unterscheiden.
Thushari ist zusammen mit Karin als Allrounderin für den Hotelbereich, die Reinigung der Zimmer und die Wäsche zuständig. Dazu im Restaurant für die kalte Küche, das Rüsten und den Abwasch. Und für das Frühstücksbuffet – da wird Sepp Manser, der Koch, noch nicht gebraucht. Der kommt erst in die Küche, wenn es um die Vorbereitung des Mittagessens geht.
Thushari schneidet Mostbröckli und Pantli auf, belegt die Platten mit Rohschinken, Fleischkäse, dekoriert sie liebevoll. Nun sind die Käseplatten dran.
»Fränzi Chefin«, ruft sie Franziska zu, »ich brauche noch Bergkäse, den haben wir gestern hier in der Küche aufgebraucht.«
»Kein Problem, wir haben noch einige Laibe im Keller, ich hole gleich noch welchen«, hallt es aus der Gaststube zurück. In alter Tradition wird der Käse im Naturkeller unter dem Altbau gelagert und gepflegt – mindestens alle zwei Tage werden die Laibe von der Chefin höchstpersönlich mit einem groben Leinentuch trocken abgerieben und gewendet. Und ebenso traditionsgerecht bleibt diese Arbeit der Pächterin vorbehalten. Daran ändert sich auch nichts, dass der Keller nie abgeschlossen wird – das ist Teil der Vertrauenskultur, die im ›Plattenbödeli‹ herrscht.
Fränzi öffnet die Verbindungstür, welche von der Gaststube zum Aufgang zu den Nostalgiezimmern und den Matratzenlagern im Altbau, zu den Toiletten und zur Kellertür führt. Sie schaltet das Licht ein und steigt die Holztreppe hinunter.
In dem Moment, als auch Monika, die einheimische Serviertochter, den Gastraum betritt, zerreißt ein gellender Schrei aus dem Keller die morgendliche Stille.
Bruno Fässler glaubt zu träumen.
Noch gestern hatte er am Strand an der italienischen Adria gelegen, seine wohlverdienten Ferien, die feine mediterrane Küche, viel und guten Rotwein und das süße Nichtstun genossen. Und heute Morgen, nach einer über siebenstündigen Autofahrt zurück nach Appenzell – wobei Fahrt bei dem stockenden Verkehr und den zahlreichen Staus leicht übertrieben ist – heute Morgen, knapp nach halb sieben Uhr, läutet bereits wieder das Telefon.
Sonntagmorgen!
Die Nummer auf dem Display beruhigt ihn, es ist nicht seine Amtsstelle. Logisch, wenn auch nicht selbstverständlich – als kantonaler Beamter des Justiz-, Polizei- und Militärdepartements, Amt Kantonspolizei, Abteilung Kriminalpolizei, musste er seine Ferien mit genauem Anfangs- und Enddatum eingeben. Und das Enddatum ist heute, Arbeitsbeginn ist offiziell damit erst morgen.
»Warum ruft mich wohl Fränzi an einem Sonntagmorgen, vor sieben Uhr, an?«, murmelt Bruno. »So nimm doch endlich ab«, drängt ihn seine Frau unwirsch, den Rücken ihm zugewandt und die Bettdecke halb über den Kopf gezogen, »dann können wir endlich weiterschlafen.«
Doch was will seine Schwester so früh von ihm? Sie konnte es wohl nicht erwarten, bis er wieder zurück ist … Eigentlich schön, diese Geschwisterliebe – wenn auch: Sonntagmorgen! Aber irgendwie kann er Fränzi auch verstehen. Seit ihrer Trennung und Scheidung bleibt ihr neben den Beziehungen zu ihren Gästen nur noch die eigene Familie, eigener Nachwuchs war ihr bisher nicht gegönnt.
Vielleicht auch zum Glück. Aber das heißt auch, dass sie nun immer mehr und öfter die Nähe zu ihrem einzigen Bruder sucht. Was für Bruno neben seiner Ehe und seinem Beruf auch nicht immer einfach ist. Doch Familie ist und bleibt Familie, na dann …
»Bruno, guten Morgen Fränzi!«
»Du musst … sofort kommen, Bruno, … es ist … was Fürchterliches passiert.« Fränzis Stimme vibriert, nur Bruchstück für Bruchstück vermag sie ihre Mitteilung ins Telefon zu stammeln.
»Ruhig, Fränzi, was ist los? Was ist passiert?«
»… ist tot …, ich weiß nicht, was geschehen ist, gestern noch …, und heute Morgen, ich habe, … Käsekeller, weil ich doch, ja Thushari brauchte, … die Gäste kommen bald, was soll ich tun? Komm bitte, schnell, ich weiß nicht, was ich machen soll, … schnell, Bruno, bitte, … bitte!«
In Bruno erwachen langsam seine Reflexe, déformation professionelle, aber natürlich auch eine gehörige Portion Familiensinn. Wenn ein Mitglied der Familie Hilfe braucht, gibt es keine Fragen, kein Zögern, kein Wenn und Aber – und wenn dann noch kriminalistisches Gespür und Wissen gefragt sind, erst recht nicht.
Wie in Trance checkt er die anstehende Route: Appenzell – Brülisau – Pfannenstiel – Plattenbödeli. »Ich müsste es in 20 Minuten schaffen, bin gleich bei dir«, versucht er seine Schwester zu beschwichtigen, während er seine Kleider zusammensucht.
Seiner Frau gibt er nicht mehr die Möglichkeit zu fragen, worum es geht – geschweige denn, eine Antwort zu erhalten.
Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass er ihr nichts mehr zu sagen hat.
Bereits drei Minuten, nachdem er das Telefon aufgelegt hat, sitzt Bruno im Auto Richtung Brülisau.
»So passt es, die werden ihren Spaß haben!«
Marco ist zufrieden mit seiner Arbeit, die für ihn eigentlich keine war. Einerseits, weil er gerne organisiert, andererseits, weil er den Alpstein ja wie seine Hosentasche kennt. Das erste Mal, seit er die Arbeitsstelle gewechselt hat, steht ein gemeinsames Wochenende mit seinen neuen Kollegen auf dem Programm. Und seine Idee, die des Neuen, erhielt den Zuschlag. Aber dafür musste er – nein, durfte er – ihre Umsetzung auch gleich planen.
Mit der ›Bude‹ in den Alpstein. Marco muss bei diesem Ausdruck selber schmunzeln. Aber sie hatten es so gemeinsam vereinbart, es sollte ja nicht an die große Glocke gehängt werden, dass die Ermittler der Kriminalpolizei St. Gallen am Wochenende am Wandern statt am Ermitteln sind.
Seine Aufgabe als Kantonspolizist hatte Marco während sechs Jahren mit Freude ausgeübt. Aber mit der Geburt von Leonie vor eineinhalb Jahren sehnte er sich nach einer etwas regelmäßigeren Arbeitszeit, nach weniger Nachteinsätzen, nach mehr gemeinsamen freien Sonntagen mit seiner Familie. Und da seine Frau Maria noch immer ihre eigene Boutique besitzt, wollte er sie in dieser Doppelbelastung, die trotz einer guten Mitarbeiterin doch noch beträchtlich ist, stärker unterstützen.
Den Wechsel zur Kriminalpolizei hatte er noch nie bereut, auch wenn ihm der Abschied von seinen Kolleginnen und Kollegen – und vom See, wo er stationiert war – schwergefallen war. Doch von Rorschach nach St. Gallen ist es ja nur ein Katzensprung, und die neuen Kollegen, ein reines Männerteam, haben ihn gut aufgenommen.
»Hast du es beisammen?«, holt ihn Maria, die mit Leonie auf dem Arm in der Tür steht, aus seinen Gedanken zurück. »Wie sieht euer Programm denn jetzt aus? Zeigst du es mir mal?« Sie weiß, wie viel Energie und Zeit ihr Mann in die Vorbereitung gesteckt hat, und will sich nun mit ihm gemeinsam über das Resultat freuen.
»Wir fahren am Samstagmorgen früh ab, Treffpunkt ist im Klosterhof, da können wir einige Autos übers Wochenende stehen lassen. Dann geht’s nach Wasserauen, von dort starten wir unsere Tour: Brülisau, Ruhesitz, hinauf auf den Hohen Kasten, über den Kastensattel und Staubernfirst bis auf die Staubern, weiter bis zur Saxer Lücke, hinunter zur Bollenwees und Abstieg zum Sämtisersee. Das wird streng, lange Pausen können wir uns unterwegs nicht erlauben, ich rechne mit sechs bis sieben Stunden reine Marschzeit. Wir wollen ja auch noch etwas vom Abend haben. Und im Berggasthaus ›Plattenbödeli‹ können wir im ›Juhee‹, dem Matratzenlager unter dem Dach des Altbaus, schlafen – da es so wenige Gäste hat, haben wir die zehn Schlafplätze für uns alleine.«
»Ja klar, der Abend ist ja auch ein wichtiger Teil dieses Wochenendes«, lacht Maria. »Aber am Sonntag geht’s dann nicht mehr so weit, oder?«
»Nicht ganz, aber der zweite Teil wird trotzdem ziemlich happig. Wir steigen hoch zur Alp Sigel, dann geht’s über die Obere Mans zur Bogartenlücke, das ist alles noch relativ einfach. Der schwierigste Teil wird die Überquerung der Marwees zum Widderalpsattel sein, ein schmaler Bergweg, ziemlich exponiert. Aber wir sind ja alle gut trainierte und einigermaßen erfahrene Berggänger, das sollte kein Problem darstellen. Über die Meglisalp und den Seealpsee kommen wir dann wieder nach Wasserauen zurück.«
»Wird damit sicher Abend, bis du wieder zu Hause bist?«
»Ja, denke ich schon – aber wenn wir schon mal ein freies Wochenende haben …« Marco faltet die Wanderkarte wieder zusammen. »Ist das okay für dich?«
»Ja, natürlich, war kein Vorwurf, nur eine Frage«, lacht Maria. »Genieß, oder besser: genießt es!«
Das Schild hatte nicht gelogen. Die Currywurst im ›Imbiss am Tetraeder‹, am Fuß der Halde Beckstraße, ist wirklich die beste der Stadt. Und auch die schärfste, obwohl Viola nur Stufe 3 nimmt, gewürzt mit Habanero, einer der schärfsten Chilipflanzen. Diese Currywurst entspricht gemäss der Speisekarte 175 000 Scoville, dem Gradmesser für Schärfe – das Angebot im Imbiss geht jedoch bis Stufe 7 und bis für Viola unvorstellbaren 1.5 Millionen Scoville. Denn schon jetzt ist sie froh, dass sie die Schärfe mit einer großen Portion Pommes und einer ebenso großen Ladung Mayo etwas abschwächen kann.
Obschon Viola schon seit 25 Jahren, seit ihrer Geburt, in Bottrop lebt, hatte sie es noch nie geschafft, zu prüfen, ob der Slogan des Imbisses stimmt. Doch das musste jetzt noch sein.
Wie noch so vieles, bevor sie in die Schweiz ziehen würde.
Der Entschluss war ihr nicht leicht gefallen. Doch was blieb ihr übrig. Ihren Bachelor in Geowissenschaften an der Ruhr-Universität in Bochum hatte sie im letzten Herbst abgeschlossen, doch eine Stelle in ihrem Fachgebiet hatte sie nicht gefunden. Wohl waren die Themen wie Alternativen zu nicht-erneuerbaren Energiequellen, Klimawandel, Umweltkatastrophen, Entsorgung von nuklearem Abfall, Grundwasserknappheit und Wüstenausbreitung, auf welche das Studium ausgerichtet war, aktuell. Doch für die meisten offenen Stellen wurde ein Masterdiplom verlangt.
Aber Viola brauchte mal eine Pause, wollte nach so vielen Jahren Schule und Studium endlich mal arbeiten, Geld verdienen. So hatte sie sich mit Gelegenheitsjobs und Zuschüssen ihrer Eltern über Wasser gehalten, sich weiterhin um eine Festanstellung bemüht, vergeblich. Bis sie sich endlich zu dem Schritt entschied, den bereits viele Deutsche in den letzten Jahren erfolgreich gemacht hatten: das Glück in der Schweiz zu suchen.
Denn von der Unterstützung ihrer Eltern will und kann sie nicht mehr länger leben, die brauchen ihr Geld selber. Als Nachkommen der ›Ruhrpolen‹ konnten diese ihre Herkunft und ihre Geschichte nie ganz überwinden. Viola Szymanskas Ur-Urgroßvater war mit seiner Familie gegen Ende des 19. Jahrhunderts wie so viele Polen nach Westfalen gekommen, um im Bergbau zu arbeiten. Und wurde wie so viele seiner Landsleute in Bottrop sesshaft, wo nach Beginn des ersten Weltkriegs mehr Polen als Einheimische wohnten.
Steinkohlebergbau wird auch heute noch in Bottrop betrieben, und das Bergwerk Prosper-Haniel könnte auch noch weitere Jahre produktiv bleiben. Doch im Gegensatz zu den Anfängen des Bergbaus in Bottrop ist dieser nicht mehr alleinbestimmend für die Wirtschaftsstruktur der Stadt. Und da nach einem Regierungsbeschluss die Steinkohleförderung in Deutschland bis 2018 auslaufen muss, sind auch die Perspektiven in Bottrop nicht gerade rosig.
Die Halden, menschengemachte Hügel aus dem Gestein, das im Steinkohlebergbau nicht verwendet werden konnte, erinnern an die alten Bergbauzeiten. Die Halde Beckstraße ist heute dank des riesigen Stahl-Tetraeders mit Aussichtsplattform und des uneingeschränkten Rundblicks über das Ruhrgebiet ein beliebtes Ausflugsziel, und dank der von einem ehemaligen Weltcupfahrer initiierten längsten Indoorskipiste Europas auf der Halde Prosperstraße ist Bottrop auch in der Sportwelt bekannt.
Doch sonst kämpft Bottrop mit den typischen strukturellen Problemen des nördlichen Ruhrgebietes: schlechte Infrastruktur, wenig Geld in den Kommunen, hohe Arbeitslosigkeit, hoher Ausländeranteil mit einem großen Anteil an bildungsfernen Familien. Wohl wurden neue Projekte gestartet, um die Entwicklung in eine neue Richtung zu lenken, doch Viola glaubt nicht daran, dass dies in den nächsten Jahren spürbar werden wird.
Darum nichts wie weg, ab in die Schweiz! Auch wenn beim Blick auf die Halde und dem Genuss der Currywurst und der Pommes mit Mayonnaise bei Viola Wehmut aufkommt. »Doch ab Mai werden dann einfach die Berge etwas höher sein, und statt der Curry- werde ich Siedwürste essen«, redet sich Viola Zuversicht ein.
Denn eigentlich hatte sie ja noch Glück gehabt, dass sie ohne große Erfahrung in der Gastronomie und nach Saisonbeginn noch eine Stelle gefunden hatte. Nicht zuletzt auch dank der Agentur, die sich auf die Vermittlung von osteuropäischen Arbeitskräften in die Schweiz und in andere Länder, die auf Saisonniers angewiesen sind, spezialisiert hatte. Nur dank ihren Beziehungen zu Bekannten und Freunden im Heimatland ihrer Großeltern konnte Viola auf diesen Zug aufspringen – auch wenn sie nie in Osteuropa gelebt hatte.
Der kurze Abstecher in den Alpstein vor Wochenfrist hatte ihr ein gutes Bild ihres neuen Arbeits- und Wohnortes vermittelt: Die Lage des Berggasthauses ›Plattenbödeli‹ ist traumhaft, Fränzi eine mütterliche Chefin, und mit Monika wird ihr eine erfahrene Servicefachfrau zur Seite gestellt. Und natürlich dürfte auch der Lohn mit dem in Aussicht gestellten Trinkgeld höher ausfallen, als sie mit ihrem Bachelor in einem der großen Energiekonzerne in der Region erhalten hätte – zumal Kost und Logis im ›Plattenbödeli‹ auch noch inbegriffen sind.
Und vielleicht sind ja auch das Bergklima und die Bewegung gut für ihre gesundheitlichen Probleme, die sie seit rund einem Jahr belasten. Immer wieder tauchen plötzliche Schmerzen in ihren Finger- und Zehengrundgelenken auf, ein schmerzhaftes Ziehen, das dann jeweils erst nach Wochen wieder zurückgeht. Die Finger- und Zehengelenke sind dann jeweils leicht angeschwollen und gerötet, beidseitig. Vor allem am Morgen behindern sie diese Schmerzen, klingen dann im Laufe des Tages etwas ab, wenn sie sich bewegt und ihre Durchblutung anregt.
Doch die Vorfreude auf den Wechsel mischt sich mit leichter Trauer, denn da ist ja auch noch Jan.
Seit zwei Jahren sind sie nicht nur, sondern leben auch zusammen, in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Bottrop. Der um drei Jahre ältere Jan hat dem Drängen von Viola nachgegeben, hier zu wohnen, und nimmt dafür täglich den Mehraufwand auf sich, die rund 15 Minuten mit der S-Bahn nach Essen zu fahren. Das Auto bleibt damit üblicherweise zu Hause, denn wenn es auch nicht die berüchtigte A40 ist, welche die beiden Städte verbindet – Stau gehört auf beinahe allen Straßen des Ruhrgebietes zum arbeitstäglichen Standard.
Und in einem solchen steht er heute. Für einmal musste Jan das Auto nehmen, da am Nachmittag noch ein Termin außer Haus ansteht.
Viel lieber wäre er natürlich zusammen mit Viola auf eine Currywurst zur Halde gefahren.
Doch als Berater im Wealth Management des Private Bankings der kleinen, aber erfolgreichen Privatbank ›Fides‹ in Essen muss er einen Kunden in Mülheim an der Ruhr besuchen. Nach ersten Einschätzungen der Bank ist es einer dieser – in der Bankensprache – HNWI, ein ›high-net-worth individual‹, mit einem investierbaren Vermögen von mindestens einer Million Euro. Diese Kunden, oft sogenannte ›Executive Entrepreneur‹, Unternehmer und Geschäftsleiter, werden auf Wunsch auch zu Hause beraten.
Und da der Kunde im ›Tal der Könige‹ wohnt, in einer der ehemaligen Stahlbarone-Villen, die zu modernen Luxuswohnungen umgebaut wurden, machte die Entscheidung, das Auto zu nehmen, auch Sinn. Obwohl dies Jan nach der Hälfte der Strecke und bereits 20 Minuten Verzögerung auf der Gladbeckerstraße im Moment nicht wirklich so erscheint. Doch damit muss ich mich in zwei Wochen nicht mehr beschäftigen, geht es Jan durch den Kopf. Denn wenn Viola in die Schweiz zieht, wird auch er umziehen – nach Essen.
Doch davon wird er ihr erst erzählen, wenn sie sich im Alpstein und er sich in Essen niedergelassen haben.
Mit weiteren 15 Minuten Verspätung erreicht er endlich sein Büro in der Innenstadt. Trotz der eingeplanten Reserve von einer halben Stunde hat es nicht ganz gereicht, was er nicht nur auf seiner Uhr, sondern auch im Gesicht seines Vorgesetzten deutlich erkennen muss. Thorsten Fliege, seines Zeichens Chief Executive Officer des Bereiches Wealth Management der Fides Bank Essen-Mitte, erwartet ihn bereits im Gang zu seinem Büro: »Herr Bauer, wir müssen unbedingt miteinander reden, es geht um Ihren Termin heute Nachmittag mit Herrn Khakwani in Mülheim. Ich muss Ihnen noch einige Hintergrundinformationen zu diesem Mann geben, die für Ihre Beratung von größter Bedeutung sind.«
Kein Wort über meine Verspätung, wundert sich Jan, dann muss es ja wirklich wichtig sein. Denn Fliege ist sonst bekannt für seine übertriebene Genauigkeit, die er auch von all seinen Mitarbeitern einfordert. Nicht nur Fliege und sein Führungsstil wären eigentlich schon längst ein Grund zur Kündigung gewesen, doch beim aktuellen Stellenmarkt in Nordrhein-Westfalen, auch im Bankensektor, ist Jan dieses Risiko schlichtweg zu groß.
»Nun, Herr Bauer, sie werden heute den ungekrönten Gastronomiekönig des Ruhrgebiets treffen – haben Sie das gewusst?«, startet Fliege, während er genüsslich in seinem schwarzen Ledersessel vor- und rückwärts wippt und seinen silbernen Füllfederhalter zwischen den Fingern wandern lässt. Seine Frage strahlt Überlegenheit aus und legt die interne Hierarchie nochmals klar fest – wenn auch nur für ihn selbst.
»Du A …, schießt es Jan durch den Kopf, traust du mir nicht zu, dass auch ich mich schlau mache, bevor ich einen so wichtigen Kunden aufsuche? »Ja, hab schon gehört, dass er einige Restaurants besitzt«, hält er sich zurück – auf diese Hahnenkämpfe will er sich nicht einlassen.
»Einige Restaurants …, wählen Sie um Himmels willen nicht diese Formulierung, wenn Sie Herrn Akbar Khakwani treffen …, einige …, ja aber: Welche und wo, das ist das Wesentliche«, begehrt sein Chef auf.
»Khakwani gehören unter anderem – ich betone: unter anderem – die italienischen ›Presso Amici‹-Restaurants im Centro Oberhausen, hier in Essen am Limbecker Platz und in Bredeney, im Forum Duisburg, in der Thier-Galerie Dortmund, im Forum City Mülheim, im Ruhr-Park Bochum, in der Innenstadt von Gelsenkirchen, in den Recklinghausen Arcaden et cetera, et cetera … An besten und hochfrequentierten Lagen! Antipasti, Pizza, Pasta, Dolce, Vino – das, was alle Leute immer lieben, Touristen wie Einheimische, ein Supergeschäft! Klar, dass nicht alle Leute hier das gerne sehen … Aber für uns ist es natürlich interessant, wenn Khakwani nicht nur seine Geschäftskonten bei uns hat – übrigens schon seit zehn Jahren – sondern auch sein Vermögen durch uns verwalten lässt.«
»Wie ist Khakwani groß geworden, woher hatte er das Geld in der Aufbauphase?«, versucht Jan wieder etwas Sachlichkeit in das Gespräch zu bringen und Flieges Euphorie abzuschwächen. »So viele Betriebe lassen sich ja wohl kaum aus dem Erlös der bereits bestehenden finanzieren, zumindest nicht am Anfang. Erbe, Lottogewinn, Fremdfinanzierung …, eventuell durch Bankkredite von uns?«
»Nun, was ich gehört habe, ist, dass Khakwani von einem ehemals einflussreichen paschtunischen Stamm aus Afghanistan abstammt. Seine Familie ist später nach Pakistan ausgewandert und wurde dort durch Landwirtschaft reich. Er muss demnach bereits über ein gewisses Vermögen verfügt haben, als er nach Deutschland kam. Doch wie mir die Kollegen, bei denen er seine Geschäftskonten eröffnet hat, erklärt haben, steht hinter der gesamten Gastronomiekette eine pakistanisch-indische Investorengruppe, die Geld für Investitionen und bei Betriebsverlusten einschießt. Eine komfortable Situation für Khakwani – aber auch für Ihre Verhandlungen, Sicherheiten dürften in diesen kein Diskussionspunkt sein …«
Und die Frage, woher das Geld wirklich kommt, darf keiner sein, schweigt Jan in sich hinein.
Monika fährt zusammen – das war doch die Stimme der Chefin!
Und dabei hatte der Tag doch so ruhig und gut angefangen. Was auch nötig war nach dem gestrigen Abend. Einmal mehr wurde es später als geplant, die letzten Gäste verschwanden erst kurz vor zwei Uhr in ihre Zimmer. Mit Viola hatte sie deshalb vereinbart, dass sie selbst am Morgen früher anfange, Viola dafür noch fertig aufräume und als Gegenleistung am Sonntag erst um zehn Uhr beginnen müsse.
Monika und Viola verstehen sich gut, harmonieren gut in der Arbeit, die sie oft gemeinsam erledigen. Auch in der Freizeit sind sie oft zusammen, das bringt die spezielle Situation im ›Plattenbödeli‹ so mit sich. Platz, um sich auszuweichen, ist nur beschränkt vorhanden, außer, man verlässt das Haus in Richtung Alpsteingebirge oder hinunter nach Brülisau und Appenzell. Natürlich haben beide auch ihren persönlichen Freundeskreis, doch wird auch dieser oft geteilt und gemischt. Monika hat sich damit abgefunden, dass Viola, und nicht sie, im Mittelpunkt steht, wenn sie zusammen in Gesellschaft sind. Viola scheint auch für Monikas Freundeskreis eine exotische Ausstrahlung zu haben und eine entsprechende Anziehung auszuüben, weil sie aus Polen beziehungsweise Deutschland stammt. Und weil sie natürlich auch sehr gut aussieht, viel besser als sie selbst, das muss Monika ihr zugestehen. Die Figur, die Viola hat, würde sie sich wünschen, würde gerne einige ihrer Kilos abgeben, auch wenn sie sich selber nicht als dick bezeichnet. Kräftig gebaut, das ist schon eher zutreffend.
Wie lange Viola noch gearbeitet hat und wann sie ins Bett ging, hat Monika nicht mehr mitbekommen, sie hat das Gefühl, schnell eingeschlafen zu sein. Und heute Morgen war es noch ruhig im Zimmer neben ihr, in welchem Viola schläft.
Ja, diese Männerrunde hatte es in sich, die waren kaum raus zu kriegen. St. Galler, Firmenwochenende in den Bergen, gute Typen – und lustige. Am Schluss hatten alle noch am Stammtisch gesessen: Fränzi, Thushari, Karin, die zweite Allrounderin, Sepp, der Koch, Viola, die St. Galler Männergruppe, Violas Freund Jan, dann Balin, ein deutscher, dunkelhäutiger Gast – indischstämmig, vermutet Monika – der nicht viel mehr sagte als seinen Namen und den ganzen Abend beobachtend am Tisch saß, und Roger, ein St. Galler Unternehmer und regelmässiger Gast im ›Plattenbödeli‹.
Zuerst hatten die St. Galler Episoden aus ihrer Tagestour erzählt – Wasserauen, Hoher Kasten, Saxer Lücke, Bollenwees – eine lange Tour und eine Menge Erlebnisse. Schon das war unterhaltsam und lustig, doch so richtig los ging es, als alle begannen, Witze zu erzählen, einen nach dem anderen.
Monika versucht, sich an einen oder mehrere der Witze zu erinnern, ohne Erfolg. Es ist immer das Gleiche – wenn man sie hört, nimmt man sich vor, sie zu behalten, am nächsten Tag ist alles wieder weg. Woran sie sich aber noch erinnert ist, dass die Männer Fragen nach ihrer Arbeit konsequent auswichen. Muss wohl irgendein Bürobetrieb sein, überlegt Monika, wobei sie es eigenartig empfand, dass ausnahmslos alle Mitglieder der Gruppe so gut trainiert aussahen und ihre braun gebrannten Gesichter eher denen von Straßenarbeitern als denen von Büromenschen glichen. Doch das komme von ihren regelmäßigen Wander- und Outdooraktivitäten, hatten diese mit einem Lächeln erklärt.
»Geht mich eigentlich auch nichts an«, murmelt Monika. Denn ihr Interesse gilt nicht der Gruppe als Ganzes und ihrem beruflichen Hintergrund, sondern vielmehr Peter oder Pit, wie ihn seine Kollegen nannten. Den ganzen Abend hatte sie neben ihm gesessen, ab und zu auch mal Blicke ausgetauscht, die gegenseitige Sympathie und Interesse aneinander verrieten. Doch für einen Dialog, für einen intensiveren Austausch und die Möglichkeit, sich besser kennenzulernen, blieb kein Raum.
Und aus dem Augenwinkel hatte sie beobachtet, wie sich zwischen Albert und Viola etwas Ähnliches abspielte. Albert muss so was wie der Abteilungsleiter sein, mutmaßt Monika. Er war den ganzen Abend durch der Wortführer der Gruppe, auch wenn er immer wieder betonte, dass Marco für die Organisation und Durchführung dieses Wochenendes zuständig sei.
Nun, jedenfalls schien es Viola neben Albert zu gefallen, ihre Augen strahlten und suchten immer wieder seinen Blick. Dass Jan sie dabei argwöhnisch beobachtet, schien ihr ebenso egal zu sein wie der Altersunterschied zu Albert, wobei Monika ihn seinem Aussehen nach auf nicht viel älter als 40 einschätzte. Gut erhalten und durchaus noch attraktiv, zieht sie Bilanz.
Für Violas Verhalten hat sie ein gewisses Verständnis, obwohl es ihr auf der anderen Seite etwas gar provokativ schien, wie sie sich gestern in Anwesenheit von Jan verhielt. Wohl kam ihr Freund regelmäßig in die Schweiz, doch so richtig zu harmonieren schien diese Beziehung nicht oder besser: in der letzten Zeit nicht mehr. Oft hatte sie die beiden bei heftigen Diskussionen und Streitereien beobachtet – so auch gestern wieder – doch mit ihr darüber reden wollte Viola nicht.
Zu einem Streit zwischen den beiden kam es gestern nicht mehr, denn Jan verschwand schon früher im Matratzenlager. Bei seinen Besuchen kann und darf er nicht in Violas Zimmer schlafen, denn dieses und das Bett sind zu klein für zwei Personen. So hat er dieses Mal das Matratzenlager mit neun Schlafplätzen im ersten Stock des Altbaus bezogen, mangels weiterer Gäste, welche dieses Angebot gebucht hatten, alleine. Auf der gleichen Etage, auf der auch Viola schläft, jedoch am anderen Ende des Korridors und getrennt durch eine Schwingtür.
Vielleicht lag der Grund für die Streitereien ja auch bei Beat, der Viola regelmäßig im ›Plattenbödeli‹ besucht, und mit dem Viola ab und zu ihre Freitage verbringt. Jan weiß davon und reagierte dementsprechend eifersüchtig, auch wenn Viola immer wieder beteuert, dass zwischen ihr und Beat nichts sei. Auch Monika scheint diese Beziehung eher freundschaftlich denn leidenschaftlich zu sein.
Der Schrei von Fränzi holt sie brüsk aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. »Fränzi, was ist los, wo bist du?«, ruft Monika durch den leeren Gastraum. Auch Thushari eilt aus der Küche herbei, aufgeschreckt durch die beiden lauten Rufe.
»Keller … schnell, hilf mir …«, hallt es dumpf zurück. Gemeinsam mit Thushari steigt Monika in den Keller hinunter.
Fränzi steht wie versteinert vor der Nische im Naturkeller, wo der Käse gelagert wird, den Rücken zur Treppe, mit der linken Hand stützt sie sich seitlich an der Mauer ab, die rechte bedeckt ihren Mund. Monika eilt ihr zur Seite und entdeckt im selben Moment die Beine am Boden, welche aus der Nische ragen.
»Das ist doch … Wir müssen sofort die Polizei rufen«, stammelt sie. Sie nimmt Fränzi bei der Hand und steigt mit ihr und Thushari wieder zurück in die Gaststube, um zu telefonieren.
Der Blick vom Staubernfirst auf den Sämtisersee und aufs ›Plattenbödeli‹ begeistert Roger jedes Mal, wenn er hier oben steht.
Aber erst jetzt, mit den Tafeln des 1. Geologischen Wanderweges der Schweiz, wird er sich der Besonderheiten des Sämtisersee bewusst: Der See besitzt keinen oberflächlichen Abfluss, sein Wasser versickert ausschließlich über eine natürliche Spalte am Seegrund. Und tritt dann nach ein bis vier Tagen im Rheintal, bei Sennwald, wieder aus.
Dass sich die Größe des Sees im Laufe des Jahres extrem verändert, ist ihm auf seinen regelmäßigen Wanderungen im Alpstein auch schon aufgefallen. Den Grund hierfür kannte er jedoch bislang nicht. Doch bei sogenannten Karstseen, so erklärt die Lehrtafel, ist eben dieser natürliche Abfluss die Erklärung – die Wassermenge, die abfließen kann, bleibt konstant, die Zuflussmenge jedoch verändert sich im Laufe des Jahres.
Es tut jeweils gut, das Ziel vor Augen zu haben, weiß Roger, auch wenn er im ›Plattenbödeli‹ noch nicht ganz am Ziel ist. Doch der Abstieg nach Brülisau gehört so oft zu seinen Wanderungen wie jener vom Seealpsee nach Wasserauen – seine Ziele definiert er jedoch lieber mit dem letzten Punkt in der Höhe. Ruhesitz und Hohen Kasten hat er bereits hinter sich, nächster Fixpunkt ist das Berggasthaus ›Staubern‹, wo er, schon beinahe traditionell, einen ›Saft ohne‹, einen Apfelwein ohne Alkohol, trinken wird. Dann folgt noch der steile, aber gut mit natürlichen und künstlichen Tritten ausgebaute Abstieg zum Sämtisersee. Bereits hat er wieder zahlreiche Fotos geschossen, obwohl er diese Route zum x-ten Mal absolviert. Fotos, mit denen er seine Touren dokumentiert. Ein Tagebuch ohne Worte.
Auch das gehört zu Rogers Art des Wanderns. Meist sind es spontane Entscheide, sein Büro in St. Gallen, das gleichzeitig sein Zuhause ist, zu verlassen und Richtung Alpstein zu fahren. Als selbstständiger Unternehmensberater kann er sich das leisten – mindestens zeitlich, da die Auftragslage im Moment nicht so gut ist. So fährt er mal nach Wasserauen, mal nach Schwende, mal nach Brülisau. Dann losmarschieren, ebenfalls spontan, der Weg entsteht beim Gehen, wie es einer seiner Wander- und Philosophiefreunde nennt. Oder wie es Jostein Gaarder in seinem Roman ›Der Geschichtenverkäufer‹ geschrieben hat. Klar ist jeweils nur das Ziel, welches dem Ausgangspunkt entspricht, der Rest geschieht einfach. Ebenso wie die Bilder, die er fotografisch festhält, die einfach entstehen – aus dem Augenblick heraus, der bei jeder Wanderung am gleichen Ortspunkt ein anderer ist. Denn für Roger ist klar: Man kann nicht nur nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, wie Heraklit gesagt hat, sondern auch nicht zweimal die gleiche Wanderung im Alpstein machen.
Roger fühlt sich fit, ist nach wie vor, trotz seiner 54 Jahre, noch gut in Schuss. Kein Wunder, investiert er doch viel Zeit in Sport – Wandern, Radfahren, Fitness, ab und zu auch mal Joggen. Doch neben der Bewegung, der Natur, der frischen Luft und dem Fotografieren gibt es einen weiteren Motivationsgrund für Roger, immer und immer wieder den Alpstein zu besuchen: Philosophieren, die Gedanken in freier Natur schweifen lassen. Die Wissenschaft pflegen, die streng genommen keine ist, und die mehr Fragen schafft als sie Antworten hat.
Und Eindrücke und Bilder sammeln für seinen Blog. Roger liebt das Schreiben und das Spiel mit der Sprache und den Worten. Er geht den Dingen gerne auf den Grund, vor allem, wenn es sich um die Sprache handelt. Und das hört auch bei seinem Namen nicht auf, der, obschon aus dem Französischen abstammend, von all seinen Kollegen – und natürlich auch von ihm selbst – englisch ausgesprochen wird. So wie der beste Schweizer Tennisspieler gerufen wird. ›Rotscher‹ statt ›Roschee‹, nur eine kurze Betonung auf der ersten Silbe, statt zusätzlich auch noch das lange ›e‹ am Wortende zu betonen. Eben diese typische Erstsilbenbetonung, welche die Schweizer Sprache nicht nur vom Französischen, sondern auch das schweizerische Hochdeutsch von der deutschen Standardsprache in der Aussprache so wesentlich unterscheidet.
Eindrücke und Bilder sammelt er aber auch für sein zweites Buch, das er schreiben will, von dem er aber bis heute weder Titel noch Inhalt kennt. So ist auch sein erstes entstanden, aus einem Moment heraus, welcher ihm klar machte: »Darüber musst du ein Buch schreiben.« Aus dem Titelgewinn eines ihm bekannten Sportlers entstand so dessen Biografie – doch schon damals war ihm klar, dass nach dieser ›Pflichtübung‹, wie er es nannte, irgendwann die Kür in Form eines Romans folgen müsse. Irgendwann.
Roger scheint für Beobachter, die ihn nur flüchtig kennen, ein Einzelgänger zu sein, ist oft allein unterwegs. Mit dieser Einschätzung kann er gut leben: Lieber alleine als einsam! Denn nur die besten Freunde wissen, wie sehr er auch Gesellschaft genießt. Oder die Beobachtung von anderen Menschen, wenn er in deren Gesellschaft ist. Fotografische Beobachtungen, ohne seine Kamera zu benutzen. Denn Menschen ohne deren Einverständnis abzulichten kann und will er nicht. Und mit dem Einholen der Einwilligung müsste er sich aus der Rolle des unbeteiligten Beobachters begeben.
Gut zwei Stunden später ist er wieder in dieser Rolle, auf der Terrasse des Berggasthauses ›Plattenbödeli‹, wo er sich vor dem finalen Abstieg nach Brülisau ein ›quellfrisches‹ Bier gönnt. Bei seinen Wanderungen ist Roger jedoch nicht nur an den Orten an sich interessiert, sondern auch an deren Namen und der Herkunft derselben. So weiß er, dass sich der Name ›Plattenbödeli‹ aus den Namen der Bergterrasse, der ›Platte‹, und dem kleinen Grundstück bei der Flur ›Platten‹, dem ›Bödeli‹, das landwirtschaftlich genutzt wird, zusammensetzt. Doch dass die Namensherkunft nicht immer so offensichtlich ist wie hier, musste er beim Namen ›Bollenwees‹ erfahren, den er in seiner Logik zuerst auf die ›Bollen‹, die Felsbrocken auf der Wiese, zurückgeführt hat. Doch handelt es sich bei der ›Bollenwees‹ um die ›Wees‹, die Wiese, die einst im Besitz eines Herrn Boll war.
Es sind bereits die letzten Sonnenstrahlen, welche noch wenige Tische und Stühle draußen erwärmen. Dementsprechend sind auch nicht mehr viele Gäste im Freien. Ein Einheimischer, wie es Roger scheint, ist gerade daran, seine Sachen zusammenzupacken, ein Ehepaar gönnt sich noch einen dieser garnierten Wurst-Käsesalate, die wie Röstivariationen auf der Speisekarte eines jeden Alpsteinrestaurants stehen, ein junger Mann sitzt vor seinem Bier, eine Wanderin ist von der Alp Sigel herunter gekommen und trinkt nun einen Lutz, einen Kaffee mit Schnaps, der so wenig Kaffee enthält, dass der Zucker auf dem Boden des Glases klar erkennbar ist, und ein junges Ehepaar versucht, ihren Kleinen, der kreuz und quer zwischen Tischen und Stühlen herumrennt, unter Kontrolle zu halten.
Erst jetzt nimmt Roger die Gruppe wahr, die um den langen Tisch sitzt, der durch eine kleine, gegen die Terrasse offene Hütte, ähnlich einem kleinen Gartenhaus, gedeckt ist. Gesehen hatte er diese Gruppe schon, doch erst jetzt, da er in der Verlängerung der Öffnung sitzt, nimmt er die Männer auch akustisch wahr. Die Stimmung scheint gut zu sein, nicht zuletzt dank einiger bereits leeren und mindestens so vielen noch teilweise gefüllten Flaschen Bier auf dem Tisch.
Und bereits steuert die Serviertochter wieder den Tisch mit einer Runde Appenzeller Alpenbitter an, die – oder galt es der Serviertochter? – lautstark empfangen wird. Monika lacht, lässt einen Spruch fallen, den Roger nicht versteht, der aber in der Gruppe ein noch lauteres Lachen auslöst, dreht sich um und wirft im Vorbeigehen Roger mit einem Schulterzucken ein verschmitztes Lächeln zu: Männerrunde, Männer eben!
Wenig später steht einer der sechs Männer auf und geht Richtung Gaststube. Erst kurz bevor er auf Höhe von Rogers Tisch ist, erkennt ihn dieser. »Hallo Marco, hatte gar nicht gesehen, dass du auch hier bist! Was macht ihr hier?« »Hallo Roger, schön, dich zu sehen. Wir sind mit der Bude hier, Wanderwochenende. Und heute übernachten wir hier.«
Ausflug mit der ›Bude‹ – Roger kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Marco ist der Schwiegersohn eines langjährigen Freundes, mit dem er sich immer wieder trifft. Und bei einem solchen Treffen hat er vor einigen Jahren Marco kennengelernt. So hatte er auch mitbekommen, dass dieser bis vor gut einem Jahr Kantonspolizist war, bevor er zur Kriminalpolizei St. Gallen wechselte. ›Bude‹ – Roger geht der Begriff nicht aus dem Kopf. Scheint für Kriminalbeamte schwierig zu sein, in ihrer Freizeit ihren Beruf öffentlich zu machen und dazu zu stehen, was sie arbeiten …
Nachdem Marco in der Gaststube verschwunden ist, lässt Roger die ganze Szene der letzten Minuten nochmals vor seinen Augen Revue passieren. Die abendliche, ruhige Stimmung auf der Terrasse, die letzten einfallenden Sonnenstrahlen, die Ruhe des mächtigen Alpsteinmassivs, der Mann im Aufbruch, das Ehepaar und der junge Mann im Sein, die Wanderin im Ankommen, das Kind, das seine Eltern beschäftigt und alle anderen Gäste unterhält, die Gruppe Männer, deren Dominanz in ihrer Präsenz durch die Holzhütte etwas eingedämmt wird und er, Roger, mittendrin, unbeteiligt beteiligt.
Und plötzlich wird es ihm klar, dass dies der Moment ist, auf den er 15 Jahre gewartet hat.
Der Moment, der ihm die Idee und den Stoff für seinen Roman gibt.
Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass im ›Plattenbödeli‹ eine ›Neue‹, eine ›Deutsche‹, im Service arbeite. Und dazu noch gut aussehe. Grund genug für Beat und drei seiner Freunde, nach Feierabend die Fahrt von seinem Wohnort Appenzell nach Brülisau und dann zu Fuß den steilen Anstieg in Angriff zu nehmen – mit Aussicht auf mindestens ein Bier und die Möglichkeit, ab sofort bei der optischen Beurteilung der Neuen mitreden zu können.
Doch zuerst muss er noch den automatischen Sicherungslauf, das Back-up der Kundendaten des Privatkundenbereichs, neu konfigurieren. Beat arbeitet in der IT-Abteilung der Executive Trust Bank, welche durch die Übernahme einer anderen Privatbank auf dem Platz St. Gallen erst vor Kurzem eine neue Filiale der traditionsreichen Schweizer Bank eröffnen konnte. Diese hatte aus strategischen Überlegungen die Ausdehnung ihres Filialnetzes in die Ostschweiz beschlossen, obwohl sie bereits gut auf den beiden führenden Schweizer Finanzplätzen Genf und Zürich sowie den beiden ebenfalls bedeutenden Nebenschauplätzen Basel und Lugano vertreten ist. Neben dem Hauptsitz in Zürich, so ihre strategische Stoßrichtung, will die Executive Trust Bank in allen grenznahen Städten präsent sein – und da war bisher in St. Gallen noch ein weißer Fleck.
Beat sah im Wechsel von seinem bisherigen Arbeitgeber, einem mittelständigen Unternehmen in Appenzell, zur neuen Bank in St. Gallen die Chance, sich fachlich weiterzuentwickeln und in einem größeren Unternehmen mit breiter gefächerten Aufstiegsoptionen Fuß zu fassen. Dafür nimmt er auch den weiteren Arbeitsweg in Kauf. Doch für ihn, der in Appenzell aufgewachsen ist und sich mit der einzigartigen Tradition seiner Heimat eng verbunden fühlt, steht ein Wohnortswechsel nicht zur Diskussion. Dank der aktuellen Technik ist in dringenden Fällen ein First Level Support auch online möglich, und wenn er wirklich vor Ort gebraucht wird, kann er dies in einer guten halben Stunde bewerkstelligen. Und diese halbe Stunde braucht er auch heute, bis er auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell seine Freunde trifft, bevor sie gemeinsam mit Beats Auto weiter nach Brülisau fahren.
In knapp zehn Minuten haben sie den Pfannenstiel erreicht, die letzte und dem Plattenbödeli nächste Parkmöglichkeit vor dem Aufstieg zum Bergrestaurant. Doch dieser nimmt, trotz zügigem Tempo der Gruppe, nochmals eine halbe Stunde in Anspruch.