Doppelgott - Walter Burk - E-Book

Doppelgott E-Book

Walter Burk

4,3

Beschreibung

Im Alpstein machen sich fundamentalistische Kräfte für den Erhalt ihrer Traditionen stark und bekämpfen alles Fremde. Doch was haben die Drohung gegen das Berggasthaus »Bollenwees«, der Unfall eines Deltaseglers, der Mord an einer jungen Frau und der Absturz eines erfahrenen Berggängers damit zu tun? Bruno Fässler, Chef der Kriminalpolizei Appenzell Innerrhoden, kommt in seinen Ermittlungen erst weiter, als sich der passionierte Wanderer und Krimiautor Roger Marty einschaltet.

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Walter Burk

Doppelgott

Dritter Teil der Alpsteinkrimi-Trilogie

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Walter Burk

ISBN 978-3-8392-4952-9

TEIL 1

Berggasthaus »Bollenwees« am Fälensee (Prolog)

Der Regen hat endlich aufgehört.

Roger ist froh, bei seinem sonntäglichen Morgenspaziergang von der trockenen Kleidung, die er bei jeder seiner Bergwanderungen im Rucksack mitführt, profitieren zu können. So kann er die durchnässten Kleider von gestern noch im Trockenraum belassen und direkt zu seiner kleinen Runde an der frischen Luft starten.

Roger genießt ab dem ersten Atemzug die durch den Regen gereinigte, aber nun trockene und frische Morgenluft. Doch feucht war nicht nur die Witterung der letzten beiden Tage, sondern auch der gestrige Abend im Berggasthaus »Bollenwees«. Der Dauerregen hatte die Gäste schon früh ins Berggasthaus getrieben und einige von ihnen zur spontanen Übernachtung gebracht. So füllte sich die Gaststube schon am späteren Nachmittag mit Kletterern und Bergwanderern und dem Geruch ihrer schweiß- und regengetränkten Kleidung, dem süßlichen Duft von Kräuter- und Zwetschgenlutz und dem würzigen Geschmack von Käserösti.

Und Roger muss sich einmal mehr eingestehen, dass er, wenn er früh mit dem Konsum des Alkohols beginnt, diesen nicht nur über eine längere Zeit verteilt trinkt, sondern auch die Gesamtmenge erhöht. Was heute Morgen das schmerzhafte, permanente Ziehen über seinem linken Auge bestätigt.

Auch deshalb ist der kurze Morgenspaziergang hinauf zu der schlichten Kapelle und zur Privathütte der Sektion St. Gallen des Schweizerischen Alpenclubs SAC ein Genuss. Am »Ort der Stille und des Gebets«, wie die zu Ehren des Heiligen Bernhard von Aosta, dem Patron der Bergsteiger und Skifahrer, errichtete Kapelle bezeichnet wird, hält es Roger nicht lange aus. Ihm fehlt die innere Ruhe, um unter dem einfachen Satteldach in sich gehen und die Stille genießen zu können.

Deshalb treibt es Roger hoch auf die kleine Anhöhe mit der SAC-Hütte, von wo sich ihm ein uneingeschränkter Blick auf den Fälensee und das Berggasthaus bietet. Hier ist für ihn ein Kraftort, der ihm jedes Mal, wenn er diesen besucht, Energie gibt. Und die frische Luft hilft ihm heute, seine Ausschweifungen des gestrigen Abends zu verarbeiten und mit neuem Elan in den noch jungen Tag zu steigen.

Im Berggasthaus scheint es ruhig zu sein, die Fenster der Gästezimmer sind nur teilweise aufgeklappt, außerhalb des Hauses ist niemand zu sehen. Ob das Team um Anita Streule bereits den morgendlichen Betrieb aufgenommen hat, lässt sich von hier oben nicht erkennen. Zahlreiche Farbtupfer in den drei Doppelfenstern des Trocknungsraumes auf der Nordwestseite des Berggasthauses weisen nochmals auf die Auswirkungen des gestrigen Regens hin und lassen vermuten, dass die Möglichkeit, die Wanderung wieder in trockenen Kleidern fortsetzen zu können, rege genutzt wurde.

Roger ist erstaunt, dass dieses kleine, kaum sichtbare Detail, das wohl jeder andere Beobachter übersehen hätte, seine Aufmerksamkeit so stark bündelt. Doch plötzlich wird ihm klar, warum. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft die Erkenntnis seinen noch leicht vernebelten Kopf, lässt seine Gedanken auf einen Schlag klar werden.

Es ist keine Logik, sondern vielmehr die Verknüpfung von Gefühl und Verstand, von Vorahnung und Erfahrung, von Wunsch und bereits Erfülltem, von Fiktion und Realität, die ihn zum Schluss kommen lässt, dass ab diesem Moment auch in der »Bollenwees« nichts mehr so sein wird, wie es bis anhin war. Dass in diesem Moment im Berggasthaus »Bollenwees« etwas Schreckliches geschehen ist oder entdeckt wurde. Und dass dieser Moment große und anhaltende Auswirkungen auf viele Menschen haben wird.

Als er bei seiner Rückkehr nach einem hastigen Abstieg in die weit aufgerissenen Augen von Anita blickt, die hinter dem Buffet steht und deren Blick ihn zu durchdringen scheint, weiß Roger, dass er richtig liegt.

St. Gallen, am Bohl

»Es wäre die Verwirklichung eines Traums, die Realisierung eines Projekts, das schon seit Jahren in der Planungsphase steckt.«

Marcel Kuster greift sich sein Bierglas, hebt es gegen die letzten Sonnenstrahlen, die noch vom Marktplatz her auf die Tische vor dem Café »Merkur« einfallen, senkt das Glas und streckt es Vinzenz zum Anstoßen hin: »Aber ohne deine Unterstützung schaffe ich es nicht!«

»Ist auch vernünftiger, auf die Begleitung eines professionellen Bergführers zu setzen, als es alleine zu versuchen, Marcel«, prostet Vinzenz Sonderer seinem langjährigen Freund zu. »Du bist in deinen bisherigen Deltaprojekten schon genug Risiken eingegangen – und auch wenn ich dich und dein Team auf den Kreuzberg III hinaufführe, bleiben für Start und Flug noch genug Risiken übrig.«

Marcel nickt mit einem verschmitzten Lächeln: »Gut, der Höhenrekord mit dem Ballon-Drop auf über 10.000 Metern war ein spezielles Projekt und sicher das risikoreichste. Aber seither ging es für mich nur noch um den Genuss, nicht mehr um Rekorde oder das Urmännliche, das ich mir damals schaffen wollte. Denn so wie sich die Frau mit einem Kind das Urweibliche erfüllt, um der Welt etwas Bleibendes zu hinterlassen, wollte auch ich meiner Nachwelt etwas hinterlassen, das an mich erinnert, mein Eigen ist. Und dementsprechend hat sich auch das Risiko verringert. Denn ich suche ja nicht die Gefahr, sondern das Leben!«

»Verringert schon, aber auch bei deinem letztem Ballon-Drop, als du dich auf über 4.500 Metern vor der Eigernordwand von deinem Trägerballon ausgeklinkt hast, blieb ein hohes Restrisiko. Hätte sich dein Segler, als du ihn für den Sinkflug in die Vertikale brachtest, weitergedreht, würdest du jetzt wohl nicht hier sitzen.« Vinzenz sieht die Videobilder noch vor sich, den Deltasegler, der sich vom Ballon löst und im Sturzflug innert Sekunden auf über 90 Stundenkilometer beschleunigt, vom Piloten aufgefangen und in Richtung Eigernordwand gelenkt wird, die er in nur wenigen Metern Abstand mehrfach abfliegt.

»Ein Restrisiko bleibt, da muss ich dir recht geben«, lenkt Marcel ein, »und doch war es dieses Gefühl, dieses physisch erlebte und psychisch wirkende Gefühl, Platz zu haben und seiner Seele Raum geben zu können, wert.«

Vinzenz erinnert sich, dass Marcel ihm seine Sehnsucht nach dem Fliegen einmal damit erklärt hatte, dass er schon als Jugendlicher den Wunsch gehabt habe, auf den Kondensstreifen am Himmel spazieren zu können. Eine Sehnsucht, die er auch durch eine intensive Auseinandersetzung mit Texten wie »Wind, Sand und Sterne« des ehemaligen Piloten Antoine de Saint-Exupéry weiter verstärkt hat.

»Der Mensch braucht Ziele und Visionen, und schon dies alleine gibt einem Projekt wie dem Start vom Kreuzberg III auch den Sinn, nachdem ich immer wieder gefragt werde. Ich bin mir bewusst, dass ich den Luxus genieße, solche Projekte realisieren zu können. Und dass das Ausleben meiner Leidenschaft und das Flowerlebnis nur für mich persönlich Sinn machen«, fasst Marcel seine Motivation zusammen. »Die Anerkennung für solche sportlichen Leistungen ist zweitrangig, und wichtiger als der Kick während des Fluges ist für mich die nachhaltige Energie, die ich daraus gewinne.«

»Dann lass uns nochmals gemeinsam die Details durchgehen«, versucht Vinzenz das Gespräch wieder auf das Projekt zu lenken, welches den eigentlichen Grund für das Zusammenkommen der beiden Freunde gab.

Marcel schildert dem Bergführer, wie er sich den Ablauf vorstellt, den Transport des 30 Kilogramm schweren und rund fünf Meter langen Seglers das Brüeltobel hinauf ins Plattenbödeli und von dort weiter in die Bollenwees. Die Idee, dafür ein oder zwei Mountainbikes zu nehmen oder ein Fahrgestell zu bauen, und die nur kleine Chance, dass der Transport vom »Bolle«-Wirt mit dem Auto übernommen wird.

»Das ist aber noch das kleinste Problem, ich brauche einfach genug starke und ausdauernde Freunde, die mich unterstützen. Von der Bollenwees hinauf in die Saxer Lücke, zur Roslenalp und zum Einstieg in die Kreuzberge wird’s dann nochmals richtig anstrengend … Dann kommst du zum Zug, ohne dich bringen wir den Segler nicht hinauf auf den Gipfel.«

»Und das soll alles am gleichen Tag geschehen, richtig?«

»Ja, der Segler muss am Abend vor dem Start oben sein. Ohne Fluggerät sind wir dann am Morgen schnell oben und ich kann rechtzeitig starten.«

»Ich kann die Seilschaft mit dem Segler sichern, drei, vier deiner Kollegen, das ist kein Problem«, schlägt Vinzenz vor, »doch wenn jemand das Ganze filmen oder fotografieren soll, muss ich noch einen zweiten Bergführer oder zumindest einen erfahrenen Kletterer aufbieten, sonst wird es zu gefährlich.«

Marcel nickt: »Das habe ich mir auch gedacht – aber für gutes Bildmaterial lohnt sich der Aufwand.« Auch wenn die persönliche Anerkennung nicht im Vordergrund steht, weiß er um die Bedeutung von guten Fotos und Videoclips. Nur mit diesen kann er Berichte und Fotoreportagen in den Onlinemedien der einschlägigen Magazine. »Ja, und Roger ist zwar ein geübter Berggänger und Kenner des Alpsteins, aber Klettererfahrung hat er kaum. Zudem braucht er eine Absicherung, wenn er von der Route abweichen muss, um den spektakulären Transport des Seglers auf den Gipfel aus einer gewissen Distanz fotografieren zu können.«

Vinzenz kennt Roger nicht persönlich, weiß jedoch von Marcels Schilderungen, um wen es sich handelt: den Krimiautor, der den Alpstein zum Tatort für seine Geschichten macht und der auch das Eigernordwandprojekt in verschiedenen Magazinen in Text und Bild dargestellt hat. Und der Wert darauf legt, dass sein Name wie der des besten Schweizer Tennisspielers ausgesprochen wird – englisch und nicht französisch: »Rotscher«.

»Und wann soll das Projekt durchgeführt werden?«, fragt Vinzenz nach, »denn allzu viele Zeitfenster habe ich nicht mehr frei. Ich kann ja nicht für dich Tage und Wochen blockieren und den Gästen, die mich für Touren buchen wollen, absagen.«

Der Vergleich der beiden Agenden zeigt schnell auf, dass in den Monaten, in welchen eine stabile Wetterlage und passende Windverhältnisse erwartet werden können, nur noch wenige Tage frei sind: deren vier Mitte Juni, sechs Anfang September und zehn in der zweiten Hälfte desselben Monats.

»Damit bleiben uns so oder so noch zwei Monate bis zum ersten Zeitfenster«, rechnet Vinzenz aus, »dann wird es hoffentlich auch etwas wärmer sein als heute.«

Marcel lacht: »Frieren werden wir dann sicher nicht! Obschon wir uns heute nicht beklagen dürfen – oft kann man nicht Mitte April in St. Gallen um diese Zeit im Freien noch ein Bier trinken!«

Mit dem Hinweis, dass er sich wegen einer Rekognoszierungstour noch vor dem ersten festgelegten Termin melden werde, verabschiedet sich Marcel von Vinzenz.

Bollenwees

Noch liegt ein wenig Schnee auf der Bollenwees. Der Fälensee, der drittgrößte See im Alpsteingebiet, ist teilweise noch von Eis bedeckt – mit Ausnahme der ufernahen Zonen beim Berggasthaus und der ersten 300 Meter am nördlichen Ufer, wo das Eis bereits einige Meter zurückgeschmolzen ist.

Grund dafür ist neben der noch schattigen Lage auch der – wie beim Sämtiser- und Seealpsee – unterirdische Abfluss, welcher kaum Bewegungen des Wassers an der Oberfläche bewirkt.

Auch wenn der Winter kein besonders schneereicher und kalter war, bleiben hier, auf der Nordseite des Bollenweeser Schafberges, der Saxer Lücke und des Saxer Firsts, Schnee und Eis lange liegen.

Doch wegen des Schnees bleibt das Berggasthaus »Bollenwees« nicht geschlossen. Anita Streule und ihr Mann Urban wollten eigentlich wie immer an Ostern ihr Gasthaus kurz für einige Tage öffnen. Doch das schlechte Wetter, welches kaum Wanderer in den Alpstein lockte, zwang sie, dieses Vorhaben bereits am Abend des Karfreitags wieder abzubrechen.

Doch am Samstag vor Muttertag, der auf den zweiten Sonntag im Mai fällt, soll es dann definitiv losgehen. Denn das »Plattenbödeli« und die »Staubern« sind schon längst geöffnet – doch bis heute fehlt die »Bolle«, wie das Berggasthaus oft in der Kurzform genannt wird, noch als Einkehrmöglichkeit auf dem beliebten Rundweg mit Start und Ziel in Brülisau und der Route über den Hohen Kasten, die Staubern, die Saxer Lücke, die Bollenwees und das Plattenbödeli.

Deshalb muss sich auch Monika Inauen heute, am Donnerstag nach Ostern, einem trockenen und sonnigen Tag, mit einem Schluck Tee aus der Thermosflasche, die sie in ihrem Rucksack mitgenommen hat, begnügen. Sie ist einmal mehr von ihrem Arbeitsort, dem Berggasthaus »Staubern«, wo sie im Service arbeitet, über den Furgglenfirst und die Saxer Lücke zur Bollenwees abgestiegen, um anschließend die Tour, die sie so gerne und immer wieder macht, über die Rainhütte und den steilen Aufstieg wieder hinauf auf die Staubernkanzel abzuschließen.

Auf dem Furgglenfirst gab es noch einige heikle Stellen – hart gefrorener, rutschiger Schnee an exponierten Lagen –, welche sie nur dank der Steigeisen an ihren Schuhen einigermaßen sicher überqueren konnte. Denn genau an diesen Stellen sind die Seilsicherungen noch nicht montiert, und es fehlen Büsche oder Sträucher, welche ein Ausrutschen bremsen oder stoppen könnten. Es herrschen damit nach wie vor schwierige Wanderbedingungen, die auch von erfahrenen Alpsteinwanderern oft unterschätzt werden und schnell zu einem Ausrutschen oder Absturz führen können.

Doch glücklicherweise gibt es bei den rund 70 Einsätzen pro Jahr, mit welchen die Alpine Rettung Ostschweiz ARO verunfallten Wanderern, Bergsteigern, Gleitschirmfliegern oder Skifahrern zu Hilfe kommt, nur selten Tote.

Doch Monika erinnert sich noch an einen Todesfall im Februar 2011. Damals stürzte ein älterer Bergwanderer bei der Teufelskanzel, in den Felsbändern zwischen Seealpsee und Meglisalp, über den Wegrand rund 40 Meter in die Tiefe.

Und im Juli desselben Jahres verunglückte ein 68-jähriger Berggänger beim Aufstieg zum Säntis unterhalb der Tierwies und zog sich tödliche Verletzungen zu. Am beinahe selben Ort rutschte im Juni 2013 eine 54-jährige Bergsteigerin unterhalb des Bergrestaurants »Tierwies« auf einem Schneefeld aus und stürzte über Felsen zu Tode.

Was sie aber noch stärker beschäftigt als diese tragischen Unfälle, sind der Mord, der vor zwei Jahren im »Plattenbödeli« geschah und der Todessturz im letzten Jahr oberhalb des Berggasthauses »Staubern«. Als sie diese Stelle, kurz vor dem Einstieg in den Furgglenfirst, vor knapp zwei Stunden passiert hat, ist Monika wie immer kurz stehengeblieben, hat in die Tiefe und in Richtung Sämtisersee geblickt und versucht, zu verstehen, was damals geschehen ist. Und hat diesen Ort wie immer ohne neue Erkenntnisse wieder verlassen.

Was ihr einmal mehr bestätigt hat, was sie eigentlich schon lange weiß: Dass sie es alleine nie schaffen wird, zu begreifen, was sie in den letzten beiden Jahren hier im Alpstein erlebt hat. Und dass es nur einen Menschen in ihrem Leben gibt, der ihr helfen kann zu verstehen. Und der auch sie versteht: Roger Marty.

Denn Roger hatte diese Vorfälle, die für den Alpstein und seine Idylle untypisch waren in zwei Romanen festgehalten. In Geschichten, in welchen Realität und Fiktion verschmelzen und die mehr neue Fragen aufwerfen, als Antworten liefern.

Doch Monika vermutet, dass Roger mehr weiß, als er bisher gegenüber ihr wie auch der Polizei zugegeben hat. Wobei sie sich auch immer wieder Selbstvorwürfe macht, weil sie in den ausführlichen und intensiven Gesprächen mit Roger oft vermutet, dass er ihr mehr sagen will, als sie aus seinen Botschaften zu hören oder zu lesen vermag.

So wie auch sie vermutet, dass er nie alles verstanden hat, was sie ihm mitteilen wollte, ohne es direkt an- und auszusprechen.

Diese Gedanken begleiten Monika auf jeder Wanderung. Gedanken, die nicht nur Vergangenes verarbeiten, sondern auch bestimmen, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Und muss.

Denn nun ist für Monika der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen will, sich selber klar werden will, was in den letzten beiden Jahren – und nun auch noch vor knapp zwei Wochen – geschehen ist, was mit ihr geschehen ist. Und endlich auch ihr eigenes Verhalten begreifen will.

Denn nach wie vor hat Monika nicht genau erfasst, welchen Einfluss sie auf die Geschichte der letzten Jahre hatte.

Appenzell, Hirschengasse

Die Wohnung ist einfach, aber gemütlich. Auch wenn durch die sechsteiligen Fenster, wie sie typischerweise zu den Appenzeller Häusern im Dorfkern gehören, nur wenig Licht in die niedrigen Räume einzudringen vermag, hat sich Bruno Fässler schnell an seinem neuen Wohnort eingelebt. Was nach beinahe 30 Jahren in der gleichen Wohnung nicht selbstverständlich ist. Doch nachdem ihn im letzten Jahr seine Frau verlassen hatte, brauchte er diesen sprichwörtlichen Tapetenwechsel, einen symbolischen Neuanfang. Den er nun am letzten Samstag im März mit dem Einzug in seine neue Wohnung vollzogen hat.

In nur acht Minuten erreicht er von hier aus sein Büro im Unteren Ziel, wo er auch – da im Dorfkern kaum Parkplätze zur Verfügung stehen – sein Auto stehen lassen kann. Bei einem Einsatz ist er damit beinahe gleich schnell am Tatort wie vorher; muss es schneller gehen, können ihn seine Kollegen der Kriminalpolizei Innerrhoden vor der Haustür in der Fussgängerzone Appenzells abholen.

Bruno Fässler sitzt im Esszimmer seiner kleinen Zweieinhalbzimmerwohnung auf der fest eingebauten Eckbank, vor dem großen Kruzifix in der Ecke. Auch wenn er nicht zu den eifrigsten Kirchgängern zählt, so gehören doch Symbole seines katholischen Glaubens – wie bei der Mehrheit der Innerrhoder Bevölkerung – zu seinem täglichen Leben.

Obwohl das gesamte Appenzellerland ursprünglich auf Initiative des Klosters St. Gallen besiedelt wurde, führte die Glaubensspaltung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer klaren Trennung zwischen Anhängern der alten Lehre, des katholischen Glaubens, der sich in den Inneren Rhoden durchsetzte, und den Neugläubigen, den Protestanten in den Äusseren Rhoden. Noch heute ist diese Trennung erkennbar, wenn die Ausserrhoder Gemeinden Urnäsch, Herisau, Hundwil, Stein, Waldstatt, Schwellbrunn und Schönengrund am 13. Januar den »Alten Silvester« als letztes Überbleibsel eines selbstbewussten Widerstands gegen die gregorianische Kalenderreform von 1584 feiern.

Und das wird aller Voraussicht nach so bleiben. Auch wenn der Landteilungsbrief von 1597 ausdrücklich eine Wiedervereinigung als jederzeit möglich erwähnte, war und ist diese kein Thema. Der damalige Schiedsspruch verhinderte während Jahrhunderten größere Konflikte, grenzte jedoch die Fronten klar ab und ließ in Inner- wie auch Ausserrhoden eine eigenständige Entwicklung zu. Und selbst wenn die einst fast unüberwindbaren Glaubensschranken heute weitgehend bedeutungslos sind – die Mentalitäten in den beiden Halbkantonen werden weiterhin als sehr unterschiedlich empfunden.

Doch Bruno Fässler bekennt sich nicht nur zu seinem christlichen katholischen Glauben, sondern glaubt auch an das, worüber man in Innerrhoden lieber hinter vorgehaltener Hand redet, obwohl es alle wissen: an Heiltätige, medizinische Laien, die mithilfe von altüberlieferten und geheimen Sprüchen und Segensformeln Kranke heilen. Die Gebetsheilenden verstehen ihre Tätigkeit als Gebet oder üben diese in enger Verbindung mit Gebeten aus, lindern Schmerzen und Fieber, stillen Blutungen, vertreiben Warzen oder bringen mit ihrer »Hitz ond Brand«-Therapie Entzündungen zum Abklingen. Diese Fähigkeiten sehen die Heilenden als gottgegeben und sich als Mittel zum Zweck für die göttliche Heilung. Dass sie ihr Wissen an eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger weitergeben müssen, gilt als ungeschriebenes Gesetz.

Auch Bruno hat deren Dienste schon mehrfach in Anspruch genommen. Von Freunden, die bereits selbst gute Erfahrungen gemacht hatten, wurde ihm ein Gebetsheiler vermittelt, der seine Tätigkeit wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen im Geheimen und als Nebenbeschäftigung ausübt. Und kostenlos, denn Lohn dürfen diese Leute für ihre Behandlungen nicht verlangen, da sonst die Heilkraft verloren ginge. So konnte sich Bruno nur mit einem kleinen Geschenk für die erfolgreiche Behandlung bedanken und behielt dies auch vor seinen Arbeitskollegen geheim. Denn diese hätten die Heilung, die auch bei ihm eintrat, wohl als schwarze Magie abgetan, die unvereinbar mit ihrem christlichen Glauben ist.

In den letzten Jahren hat sich auch Bruno Fässler wieder öfters Kraft aus dem Glauben, aus Gebeten, geholt. Er hatte Mühe, mit Geschehnissen, die er als persönliche Niederlagen empfand, zurechtzukommen und diese zu verarbeiten. Zuerst die beiden Fälle, für die er als Leiter der Kriminalpolizei Appenzell Innerrhoden die Verantwortung innehatte und die er nicht oder nur teilweise klären konnte, dann seine Frau, die ihn verlassen hat, weil sie seine Unzufriedenheit nicht länger ertragen wollte und konnte.

Es ist jedoch nicht nur die Vergangenheit, die Bruno Fässler beschäftigt – es fehlt ihm auch weitgehend die Zuversicht, dass sich seine Situation wieder verbessern wird. Weniger privat, denn damit, mit dem Alleinsein, kommt er zurecht. Doch beruflich prägt die Angst, erneut nicht erfolgreich zu sein, sein Denken und Handeln. Was sich in zögerlichen Entscheiden, Zurückhaltung und Sturheit widerspiegelt.

Von seinem Stellvertreter und engsten Mitarbeiter, Max Dörig, muss er sich immer wieder sagen lassen, dass sein Verhalten nichts mehr mit klaren Zuständigkeiten, die Bruno ebenso liebt, wie er Einmischungen und Vermischungen hasst, zu tun habe. Und dass er es in seinen Aussagen auch an der Klarheit und Unmissverständlichkeit missen lasse, für die er bis vor Kurzem bekannt war und die an ihm so geschätzt wurden.

Bruno Fässler macht, was er machen muss – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dienst nach Vorschrift. Kein außerordentliches Engagement, kein inneres Feuer.

In seiner Freizeit bleibt er meist im Halbdunkel seiner Wohnung, sinniert vor sich hin, lässt sich von den zahlreichen Kanälen seines Fernsehers berieseln, ohne wirklich dem, was auf den Bildschirm flimmert, zu folgen. Bücher lesen mag er nicht – die wenigen Versuche führten nie über die ersten 20 Seiten hinaus. Zuerst hatte er noch gedacht, dass es vielleicht an der falschen Auswahl liegt, doch auch andere Bücher als Roger Martys Kriminalromane vermochten ihn nicht zu fesseln.

Das Essen hat er längst auf Nahrungsaufnahme beschränkt, von Genuss und Genießen kann keine Rede mehr sein. Auch nicht bei seinem steigenden Rotweinkonsum, der Bruno einzig dazu dient, seine Gedanken etwas zu betäuben, um einschlafen zu können. Was wenigstens den Vorteil hat, dass er am Morgen einigermaßen ausgeschlafen – wenn auch nicht ausgeruht – im Büro erscheint.

Im Alpstein war er schon lange nicht mehr – aus beruflicher Sicht glücklicherweise. Doch auch privat zieht es ihn nicht mehr in die Höhe und in eines der zahlreichen Berggasthäuser, in denen er früher so gerne Gast war. Auch nicht zu seiner Schwester ins »Plattenbödeli«.

Wie ein Fluch, wie eine dunkle schwarze Wolke liegt das, was er in den letzten beiden Jahren dort oben erlebt hat, über dem Bergmassiv und über seinen Gedanken. Gedanken, in denen auch immer wieder Roger Marty auftaucht, von dem Bruno Fässler bis heute noch nicht weiß, welche Rolle dieser wirklich in seiner persönlichen Lebensgeschichte spielt.

Furgglenhöhle

Mehrere kleine Lichtpunkte bewegen sich im Dunkeln von der Alp Furgglen in Richtung Rainhütte, folgen zuerst dem Weg, um dann nach gut 500 Metern diesen zu verlassen, und steigen über das offene und steile Gelände Richtung Furgglenfirst hinauf. Die Punkte, deren unruhige Bewegungen auf Stirnlampen hinweisen, scheinen nicht zusammenzugehören, aber alle das gleiche Ziel anzusteuern. Sie bewegen sich in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Personen, in verschiedenen Abständen und nach dem Verlassen des Weges auf nur geringfügig verschiedenen Routen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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