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"Tekeli-li! Tekeli-li!" - Ein schrecklich-grauenhafter ewiger Schrei ist nur der Beginn eine Reise in unbekannte blasphemische Gefilde deren Wahnsinn an H.P. Lovecraft und Edgar Allen Poe gemahnt. Was mit dem Verschwinden einer guten Freundin beginnt deckt im Verlauf ein uraltes Geheimnis auf. "Die letzte Bewegung ist ein Klang, geschaffen aus Körpern, so wie der Tanz aus Körpern geschaffen wurde. Und sie eröffnen eine neue Welt."
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Seitenzahl: 157
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Daniel Decker
Dør

Ach je Verlag
Traunstein ~AT&Tlantis ~Tschuri
https://ach.je
Dank an Tine, Mika,
Jasper Nicolaisen und Lazer Medusa,
Lennart Thiem, Tobias Vogel, Jonas Engelmann
sowie Stephan Urbach und alle beim Ach je Verlag.
Es muss Ende Januar letzten Jahres gewesen sein, als ich Susann das letzte Mal sah. Petra und Klaus, gemeinsame gute Freunde, riefen mich unabhängig voneinander an und fragten, ob ich in letzter Zeit etwas von ihr gehört hätte. Sie würden sich Sorgen machen, da sie Susann nun schon seit einigen Wochen nicht erreichen konnten. Beide wohnten nicht in Berlin und baten mich, mal bei ihr vorbei zu gehen um zu schauen, ob alles okay sei. Also stand ich am folgenden Montagabend nach der Arbeit vor ihrem Haus und klingelte Sturm. Dicke Regentropfen prasselten auf mich nieder und ich suchte notdürftig Schutz unter dem Türsturz am Eingang. Susann war schon immer etwas eigenbrötlerisch gewesen und krächzte nicht selten durch die Sprechanlage, dass sie zu tun hätte und man doch einfach abhauen sollte. Diesmal öffnete sie die Tür erst gar nicht und kein Mucks kam durch den kratzigen Lautsprecher. Nach wenigen Minuten wurde mir das Ganze zu doof und ich wollte gerade umkehren, als sie mit zwei vollen Einkaufstüten um die Ecke bog. Sie war blass. Blasser als sonst. Und sie sah müde aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab.
»Daniel, was machst Du denn … komm erstmal rein. Bei dem Scheißwetter.«
Beim Aufschließen fiel eine ihrer Einkaufstüten um und einige Sachen purzelten heraus. Als ich ihr half, Malkreide, Salz und Kerzen vom Boden zu sammeln, lächelte sie verschämt. Sie lächelte wie jemand, den man bei einer Peinlichkeit erwischt hat.
Ihre Wohnung war ein Berliner Zimmer. Winziges Duschbad, dazu knapp vierzig Quadratmeter mit Kochnische und einem kleinem Fenster im Seitenflügel zum Hinterhof hinaus. Die Tür zur Vorderhaus-Wohnung, zu der das Zimmer einst gehört hatte, war zugemauert. Die Regale an der Wand waren vollgestopft mit Schallplatten und Büchern. Neben der Stereoanlage stapelten sich CDs. Die Vorhänge waren zugezogen und es stank nach kaltem Zigarettenrauch. Statt die Vorhänge aufzuziehen und Licht durch das Fenster zu lassen, schaltete Susann das Deckenlicht ein und ließ sich auf ihr altes Ledersofa fallen, das aussah, als hätte es bereits den ein oder anderen Kampf mit wilden Tieren durchgemacht. Auf dem Tisch davor quollen die Aschenbecher über und das Leergut stapelte sich in der Ecke.
»Haben SIE dich geschickt?«
In Annahme dass sie mit SIE Petra und Klaus meinte, bejahte ich.
»Dachte ich mir schon, dass sie dich auch noch schicken würden. Sie sind clever. Sie wissen wen sie einspannen müssen. Du weißt also auch bescheid.«
Schnell nahm das Gespräch eine seltsam unangenehme Richtung und Susann beklagte sich, dass ihr seit ihrer Reise nach Norwegen übel mitgespielt wurde.
»Sie wollen mich an meiner Arbeit hindern«, ließ sie mich wissen und steckte sich mit nervösen Handbewegungen eine Zigarette an, »Sie wollen nicht, dass sie erscheint. Mein Text für die 23. Ausgabe der testcard. Der wurde auch abgelehnt. Die letzte Bewegung. Ich weiß nicht wie sie das hinbekommen haben. Vielleicht haben sie die Mails abgefangen und den Anhang ausgetauscht.«
Ich betrachte die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und nahm in Gedanken eines der aufgeschlagenen Bücher an mich und blätterte darin. Fragend las ich den Titel vor, »Skala der Sinnen?« Esoterischer bis okkulter Kram über Portale zu anderen Dimensionen. »Vielleicht solltest du dich weniger mit solchem Zeug beschäftigen.«
Susann zog hastig an ihrer Zigarette.
»Daniel, genau das wollen sie ja. Dass ich aufhöre mich damit zu beschäftigen. Aber ich habe die Wahrheit bereits gesehen. Ich muss wieder zu ihr gelangen. Ich habe keine Angst vor dem Fremden, ich sehne es herbei. Niemand wird mich daran hindern!«
»Ist alles okay mit Dir? Ich mach’ mir ein wenig Sorgen. Petra und Klaus übrigens auch.«
»Ich hab alles aufgeschrieben. Alles was passierte. Ich hab recherchiert und archiviert. Hier …«, sie hob einen Stapel Fotokopien hoch, »Polizeiakten aus Bergen und mit Inge hab ich mich auch getroffen. Sie war nicht dabei, aber sie konnte sich gut erinnern und das Tagebuch ihres Vaters hatte sie auch noch. Aber das wichtigste Beweisstück fand ich im Leibniz-Institut in Gatersleben. Es erklärt alles. Ich habe die Teile zusammengefügt. Das Puzzle gelöst.«
»Wovon redest du, Susann? Was für Akten und wer ist Inge? Was für ein Puzzle?«
Sie sah mich überrascht und prüfend an, als hätte ich all das wissen müssen. Dann nahm sie einen Zug von der Zigarette, lehnte sich zurück und schien kurz nachzudenken.
»Du scheinst noch nicht vollends ins Spiel integriert zu sein, du musst mir etwas versprechen. Du hast deine Versprechen mir gegenüber stets gehalten. Wenn mir etwas passiert, sorge dafür, dass die Leute alles erfahren. Alle müssen lesen woran ich gearbeitet habe. Es ist wichtig! Es ist wirklich wichtig! Versprichst du mir das?«
Sie stieß den Rauch aus, den sie inhaliert hatte. Die Situation begann mich zu überfordern. Mit Susann stimmte eindeutig etwas nicht. Was war bitte so wichtig an ihrer Arbeit? Sie war doch lediglich Popkultur-Autorin. Eine verdammt gute, aber dennoch. Wieso sollte ihr etwas passieren? Dennoch versprach ich ihr zu tun was sie verlangte, schon alleine der Freundespflicht wegen. Wenn ihr etwas zustöße, würde ich mich selbstverständlich kümmern, versicherte ich ihr.
Nachdem ich ging, musste ich an den merkwürdigen Brief denken, den sie mir damals aus Norwegen geschickt hatte. Rückblickend war dieser bereits seltsam, doch Susann hatte manchmal einen recht verschrobenen Humor, weswegen ich mir zuerst keine Gedanken machte und alles für einen ihrer merkwürdigen Witze hielt. Einige Tage später verschwand sie. Sie war einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Sie schien nichts aus ihrer Wohnung mitgenommen zu haben, keinen Koffer, keine Kleidung, keine persönlichen Gegenstände, nichts. Als ich ihren Eltern bei der Wohnungsauflösung half, sah es fast genauso aus wie bei meinem letzten Besuch. Die Pfandflaschen, die überquellenden Aschenbecher und der selbe kalte Rauch, der sich über alles gelegt hatte. Nur die Farbe an der Wand, dort an der Stelle wo einst die Tür zum Vorderhaus war, war abgeblättert. So als hätte jemand versucht, sie mit bloßen Händen abzukratzen. Kratzer die sich auf dem schweren Dielenboden vor dieser für immer verschlossenen Tür fortsetzten und Spuren in der verschmierten Kreide und dem verschütteten Salz dort hinterließen. Dort wo die Kratzer aufhörten, lagen lose Blätter herum, teilweise in einem Bogen angeschnitten, als wäre ein kreisrundes Beil von der Decke gestürzt. Natürlich hatten Susanns Eltern die Polizei informiert. Was ich für die Spuren eines Kampfes hielt, war aber laut ihrer Aussage nichts als Unordnung.
Ein paar Wochen später erreichte mich ein Paket. Ich erkannte sofort ihre Handschrift. In der Sendung lagen unzählige lose Blätter, CD-Roms, USB-Sticks und zwei Festplatten. Unendlich viele Materialien. Einige Monate hoffte ich, dass Susann wieder kommen würde und ließ die Sachen unbeachtet liegen. Doch mit der Zeit musste ich mir eingestehen, dass ihr vermutlich etwas zugestoßen war. Vielleicht wollte sie das Ganze auch selbst beenden. Ich kann es nicht ausschließen. Auch wenn ich noch nicht alle Materialien gesichtet habe, es ist an der Zeit mein Versprechen einzuhalten. Dies ist das Vermächtnis von Susann Jakobus-Drechsler.
Wie du weißt, habe ich meine Reise nach Norwegen lange geplant, nachdem ich vor einigen Monaten in einem kleinen Forum für Sammler obskurer Schallplatten auf die Band Dør gestoßen bin und sofort fasziniert von ihr[JE1] war. Ich begann, die Musik und alten Geschichten zu studieren, die ich in Heften mit Titeln wie ‘Kveld’ oder ‘De Store Gamla’ fand. Dør waren nicht das weichgespülte, mit faschistoidem Mummenschanz angereicherte Zeug, das Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts durch die brennenden Kirchen Norwegens in die Welt hinaus getragen wurde. Ich machte mich auf die Suche nach altem Wissen.
Zwischen 1966 und 1968 veröffentlichte das Kollektiv, bestehend aus wohl bis zu 20 Mitgliedern, sechs Alben mit bis dato unerhörter Musik. Nahezu jedes dieser Alben war meiner Meinung nach genredefinierend, wenn man sie überhaupt einem solchen zuordnen konnte. Ein jedes erschien ohne Label in einer Auflage von jeweils 333 Stück und war dementsprechend schwer zu bekommen. Dennoch konnte ich bereits fünf Alben mein eigen nennen, aber die letzte Veröffentlichung fehlte mir. Ich suchte diese eine Platte.
Es hieß, sie sei nie erschienen, da die Band bei den Aufnahmen ums Leben kam. In ihrem abgelegenen Studio sei ein Feuer ausgebrochen, bei dem alle Band-Mitglieder starben. Doch ich hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass dies nur die Hälfte der Wahrheit war.
Auch ohne offiziellen Release gab es die Platte. Und es war genau genommen kein Unfall gewesen: Die Musiker hatten sich mit Benzin übergossen und sich selbst in Brand gesetzt. Die dabei entstandenen Aufnahmen dokumentierten ihren Todeskampf und machten die Agonie zum Bestandteil ihres letzten Werkes. Und ja, in großer Auflage wurde die Platte nie gepresst, aber ihr Manager ließ einige Acetate herstellen, bevor die Hinterbliebenen der Band ihn an einer Veröffentlichung hinderten und das Werk wie auch die Band mit den Jahren in Vergessenheit geriet.
Dank eines Tipps im Plattensammler-Forum von einem Nutzer namens »SaladinSennkern«, mit dem ich mich öfter über Dør austauschte, war ich nun also in Knarvik angekommen. Einer knapp 50.000 Einwohner zählenden Stadt in der Provinz Hordaland, nicht unweit von Bergen. Sennkern hatte mir in einer privaten Nachricht geschrieben, ich könne die gesuchte Platte hier finden. Also betrat ich vor wenigen Tagen den kleinen Plattenladen in der Kvernhusmyrane, von dem mir Sennkern berichtet hatte. Mit zittrigen Fingern blätterte ich in dem Fach, über dem ‘Norsk’ geschrieben stand. Und da war sie, mein Herz pochte. Vorsichtig zog ich die vergilbte handbeschriftete Hülle heraus. ‘Den sjette nøkkelen’ - ich hatte nicht mehr daran geglaubt, sie in meinen Händen zu halten. Zu viel an der Geschichte von Dør klang erdacht und ersponnen. Die Erzählungen von diesem losen Kollektiv, Schüler von Gurdjieff, die qualvolle Melodien und unheimliche Klänge ausarbeiteten und in orgiastischen Shows präsentierten. Niklas Andersen, Kopf des Kollektivs, soll gar zu den Suchern der Wahrheit gehört haben, dem sagenumwobenen Zirkel um Gurdjieff, der Ende des 19. Jahrhunderts die Welt bereiste, um geheimes Wissen zu studieren und den Orient mit dem Okzident zu vermählen. Dabei stießen die Beiden auf ein Geheimnis, das womöglich größte Geheimnis, welches es zu entdecken gab.
War das alles nur Spinnerei oder war ein Fünkchen Wahrheit an diesen mythischen Erzählungen? Ich brauchte Gewissheit. Eine Gewissheit, die sich nur mit allen sechs Alben herstellen ließ. Und die mich jetzt an diesen Flecken im Norden Europas geführt hatte. Ohne viel Aufsehen erregen zu wollen nahm ich das Acetat, suchte als Alibi noch eine Platte mit norwegischen Schlagern und zahlte hastig an der Kasse. Erst in der gemieteten Hütte im Wald kam ich dazu, meinen Kauf vollends zu begutachten. Ich mag es mir eingebildet haben, doch mir schien die Hülle nach verbranntem Holz zu riechen, nach Asche und Ruß. Ansonsten war sie vollkommen unspektakulär. Name der Band und der Platte waren in krakeliger Handschrift, schlecht lesbar, auf die gewöhnliche, leicht vergilbte Papphülle geschrieben. Und wie Sennkern mir vorhergesagt hatte, fand ich in der Hülle neben der Platte einen Brief, in kaum lesbarer, krakeliger, hastiger Handschrift. Es war eine Anleitung, und sie schien alle Gerüchte zu bestätigen. Eine Zeichnung zeigte auf, wie sechs Plattenspieler aufzustellen seien. Gegen den Uhrzeigersinn auf jedem Teller eines der Werke von Dør. Dazwischen je eine schwarze Kerze. Dazu die Notiz, alle drei Minuten eine Platte zu starten. Es war so wie Sennkern es prophezeihte. Ich war vorbereitet und baute in der Hütte die sechs portablen Spieler auf, die ich vorsorglich mitgebracht hatte. Dann legte ich eine Platte nach der anderen auf die Teller und positionierte die Nadel an den Anfang der Tonrille, indem ich mit der Hand die Scheiben vorsichtig vor und zurück drehte, bis ich der Ansicht war, den jeweils ersten Ton erwischt zu haben. So ging ich mit allen sechs Platten vor. Ich nahm mein Smartphone und stellte den Timer auf drei Minuten. Es war soweit. Ich startete das erste Werk zeitgleich mit dem Timer. Ein monotoner Beat entfaltete sich. Erst leise, dann lauter. Ich kannte dies, ich hatte es oft zuvor gehört. Bisher hatte ich mich stets von dem Beat des vornehmlich perkussiven Werkes treiben lassen, der immer hypnotischer wurde, doch hier war die Anspannung größer. Auf eine kurze Melodie antwortete ein ansapalnisches Echo. Drei Minuten. Die zweite Platte. Eine kräftige Kirchenorgel ergänzte das rhythmische Treiben um flächige Harmonien. Weiteres Schlagwerk erschuf eine Polyrhythmik, die der europäischen Musik so fremd scheint. Die verschiedenen Melodien rangen miteinander und schufen in ihrem Zusammenspiel Mikrointervalle, wie ich sie sonst nur aus fremden Musikkulturen kannte, wie zum Beispiel bei den sieben persischen Dastgāhs. Drei Minuten, die dritte Platte. Es war das Werk, welches am bekanntesten war. Proto-Metal, noch vor Black Sabbath. Durch diese Platte war ich auf Dør aufmerksam geworden und hätten sie nicht Norwegisch gesungen sondern Englisch, vielleicht wären sie bekannter geworden. Die doomigen schweren Gitarren arbeiteten gegen die ersten beiden Scheiben und ergänzten das Gewirr dennoch in genialster Weise. Drei Minuten, die vierte Platte. Chöre wie aus gregorianischen Gesängen schufen ein psychedelischen Tohuwabohu. Niemand wusste, welche Sprache da gesungen wurde. Einige behaupteten, es sei ein erdachtes Kauderwelsch. Aber in den alten Heften war die Rede von einem kryptischen Text aus einem Folianten aus dem 16. Jahrhundert. Und auch wenn die einzigen bekannten Tonaufnahmen eines Kastraten 1904 mit Alessandro Moreschi getätigt wurden, war ich mir sicher, auch hier diese hohen, sopranen und zugleich kräftigen Stimmen rauszuhören, die im krassen Kontrast zu dem standen, was einer sonst von gregorianischen Gesängen gewohnt war. Drei Minuten, die fünfte und vorletzte Platte. Heute wäre das Werk als Mischung aus Noise und Ambient beschrieben worden. Es fügte dem infernalen Krach eine Eiseskälte hinzu, und ich meinte, diese Kälte körperlich wahrnehmen zu können. Die Haare an meinem Arm stellten sich auf und ein frostiger Hauch glitt über meinen Nacken, als würde ein riesiges Geschöpf mit eisigen Lungen seinen Atem darauf legen. Drei Minuten. Es war soweit. Ich drückte die Start-Taste des letzten Plattenspielers. Plötzlich Stille. Abrupt endeten die Stücke. Das Knistern der sechs Scheiben klang wie ein loderndes Feuer im Kamin ohne jedoch die Kälte im Raum zu verjagen. Mit einem Schlag setzten plötzlich alle Platten auf einmal wieder ein. Wie aus unzähligen Posaunen dröhnte es von dem Spieler mit dem mis bisher unbekannten Werk. Ein Tritonus ohne Auflösung. Ein Akkord, der mehr als nur die zwölf Töne einer Oktave enthielt. Eine bis dato ungehörte Kakophonie des Grauens schien alle wahrnehmbaren Dissonanzen in sich zu vereinen. Ich erschrak, stolperte, und es muss dieser Zeitpunkt gewesen sein, dass ich eine der Kerzen umstieß. Aber ich erschrak nicht wegen des Gehörten. Ich erschrak wegen dem was ich sah. In der Mitte des Raumes. Zwischen den Plattenspielern. Vor mir öffnete sich ein Loch und ich sah in eine absolute Finsternis. Ein ewiges Schwarz, ein endloses Nichts. Ein grenzenloser, unvorstellbarer Raum voller undurchdringlicher Dunkelheit, eine lauschende Leere.
Und dann erschrak ich erneut – wegen der Schreie. Sie kamen von der sechsten Platte. Es waren die Schreie der verbrennenden Musikerinnen und Musiker, doch sie verhallten im Nichts, welches sich mitten im Raum meiner kleinen Unterkunft auftat. Immer lauter und immer wilder stieg das Kreischen und Wimmern aus den Boxen. Und all dies schien die Neugier von etwas zu wecken. Ich spürte, wie es mich ansah. Durch das Nichts. Mit Neugier und absolutem Terror. In der tiefen Finsternis, die mich anstarrte, wurde ich mir meiner selbst bewusst. Wie wir taumeln auf diesem Flecken im Universum, dessen Grenzen unendlich sind. Ich erkannte die Grenzen, die uns gesetzt sind und die wir uns selbst setzen. Mein Tun und mein Handeln war in diesem kosmischen Kontext vollkommen unbedeutend und doch stand ich dort und wurde mit Neugier und Schrecken betrachtet aus der Dunkelheit, die sich immer weiter ausbreitete und alles Licht verschluckte. Als Teil des Ganzen, aus dem wir kamen und zu dem wir wieder verschmelzen. Ich wich zurück und taumelte. Erst jetzt merkte ich, dass die Hütte in Flammen stand.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich nach draußen und sah, wie das Feuer alles verschlang. Es war alles wahr. Es war das Schönste, was ich je hören durfte. Es war ein Versprechen, das es einzulösen gilt. Ich weiß nun, was vor dieser Welt war und ich weiß, was nach ihr kommen wird. Ich habe es gesehen, und es sah mich. Ich habe keine Angst vor dem Fremden. Ich sehne es herbei.
Vierzig Movements versprach Georges Gurdjieff seinen Schülerinnen und Schülern. Am 11. Oktober 1949 choreographierte er seine offiziell letzte Bewegung, die Nummer 39. Schwerkrank wollte der Tanzlehrer, der sein Wissen angeblich von verborgenen lebenden Derwischen erhalten hatte, sein Versprechen einlösen und sein Werk vollenden. Nur wenige Tage nach Vollendung der neununddreißigsten Bewegung brach er vor den Augen seiner Schülerinnen und Schüler, die gerade diese Choreographie mit ihm einübten, zusammen. Sein Haus zu verlassen war dem von Krankheit gezeichneten Meister kaum noch möglich.
Am Abend des 26. Oktobers wurde er dann in das American Hospital in Neuilly eingewiesen und sollte es nicht mehr lebend verlassen. Drei Tage später starb er eines Samstagmorgens um 10:30 Uhr. Es überraschte viele, allen voran seine treue Schülerin Jeanne de Salzmann, dass die unfertigen Entwürfe der vierzigsten Bewegung einem den inneren Kreis weitestgehend Unbekannten vermacht wurden, dem Norweger Niklas Andersen. Zu gerne hätte Salzmann als Ballett-Lehrerin selbst das Werk ihres Lehrmeisters vollendet, das neben der Movements zudem vier Bücher und etwa 300 Klavierstücke umfasste. Und tatsächlich hatte ihr Gurdjieff noch auf dem Totenbett die Aufgabe übertragen, eine Kernmannschaft zusammenzustellen, die sich um seinen Nachlass kümmern sollte. Sterbend hatte er ihr befohlen, über 100 Jahre alt zu werden, um seine Lehren verbreiten zu können. Nach seiner Beerdigung versammelte de Salzmann zu diesem Zweck fünfzig der ältesten und treuesten Schülerinnen und Schüler des Esoterikers um sich. Es war just an diesem bedeutsamen Abend, dass Andersen auftauchte, um sein Erbe anzutreten. Doch Andersen war nicht irgendwer, auch wenn Salzmann ihn nicht kannte. Er war ein Reisender, der ebenso wie Gurdjieff auf der Suche nach der Wahrheit bis dato unbekannte Kloster und Schulen im Orient aufgesucht hatte. Er gehörte zu dem ausgewählten Kreis der Wahrheitssuchenden, über die Gurdjieff unter anderem in seinem Werk »Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen« berichtete. Andersen selbst indes wurde in keiner Aufzeichnung des Tanzlehrers erwähnt.
Dennoch gilt es als sicher, dass Andersen ein treuer Begleiter Gurdjieffs war und so sein Vertrauen gewinnen konnte.