Not Available - Daniel Decker - E-Book

Not Available E-Book

Daniel Decker

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Beschreibung

"Not ­Available" behandelt im Detail die großen und etwas kleineren verlorenen und verlorengeglaubten Werke der Musikgeschichte. Mit von der Partie: The Beach Boys, Faust, 50 Cent, Kraftwerk, Adele, Weezer, Kesha, Prince, Neil Young, The ­Beatles, Beastie Boys, Frank Sinatra, The Who, The Sisters of Mercy, Pink Floyd, Nirvana, sowie mindestens 400 weitere Interpret*innen und Bands. Der Musikjournalist Daniel Decker sondiert ein vermintes Gelände der Popgeschichte, in dem neben Mythen und Anekdoten auch haufenweise Gerüchte um gescheiterte Meisterwerke sowie peinliche Rohrkrepierer kursieren.

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NOT AVAILABLE

PLATTEN, DIE NICHT ERSCHIENEN SINDDANIEL DECKER

Daniel Decker, geb. 1982 in Neuss, studierte Germanistik und Musikwissenschaft und schrieb u. a. für das Intro Magazin, Musikexpress.de und Rollingstone.de. Seit 2009 führt er den Blog Kotzendes Einhorn über Lethargie, Revolution, Liebe und Kultur. 2019 erschien sein Episoden-Roman »Dør«, der von dem gleichnamigen düsteren Bandkollektiv handelt und dessen verschollen geglaubter sechster LP. Als Sänger und Songwriter veröffentlichte er zuletzt das Album »Weißer Wal«. Wenn Decker sich nicht gerade mit fremder und eigener unveröffentlichter Musik beschäftigt, lebt und arbeitet er in Berlin.

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2021Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicherErlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

In Kooperation mit Tapete Records

1. Auflage September 2021

ISBN print 978-3-95575-143-2

ISBN E-Book 978-3-95575-616-1

Lektorat: Jonas Engelmann

Covergestaltung: Oliver Schmitt, unter Verwendung von Fotografien von Regine Ullrich

Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

INHALT

VORWORT

WENN MARKT UND LABEL ÜBER VERÖFFENTLICHUNGEN ENTSCHEIDEN

• Sonny & Cher • Wicked Lester • Kiss • Adam Ant • Bee Gees • JoJo • Dave Davies • Frank Zappa • The Lady of Rage …

(A) Katy Perry und Fingerprints: Der steinige Aufstieg eines Superstars

50 Cents Power of the Dollar: Neun Schüsse vom Bordstein bis zur Skyline

VERTRÄGE UND RECHTSSTREITS

• Bob Dylan • Monthy Python • Todd Rundgren • Lou Reed • Van Morrison • John Lennon • Kesha …

The Beach Boys und Brian Wilson: Weihnachten und süßer Wahnsinn

SSV-NSMABAAOTWMODAACOTIATW: Ein großes »Fuck You« an die Plattenfirma

DIE UNVERÖFFENTLICHTE PLATTE ALS BLAUPAUSE

• Nirvana • Steve Albini • Bruce Springsteen • Cowboy Junkies …

Techno Pop: Der langsame Zerfall von Kraftwerk

Get Back: Wie das Ende der Beatles begann

DAS SCHEITERN AN DEN EIGENEN ANSPRÜCHEN

• Pete Townshend • Robin Gibb • Ryan Adams …

Weezers Songs from the Black Hole: Von der Space-Rockoper zum Seelenstriptease

SMiLE: Das gefrorene Lächeln des Brian Wilson

DIE NICHTVERFÜGBARKEIT ALS KÜNSTLERISCHES KONZEPT

• Padeluun • Rocko Schamoni • Traveling Wilburys • John Cage • Wu-Tang Clan • Jean-Michel Jarre …

Die Tödliche Doris: Die unsichtbare 5. LP und ihre Materialisierung

Song Reader: Becks Album ohne Aufnahmen

PLATTEN, DIE NIE ZUR VERÖFFENTLICHUNG GEPLANT WAREN

• Boards of Canada • The Residents • The Beatles • Frank Sinatra …

Beastie Boys’ Country Mike’s Greatest Hits: Das Eigenleben eines Alter Egos

Waiting Out the Eighties: John Carpenters wahrer Horror

VERSELBSTSTÄNDIGTE MISSVERSTÄNDNISSE, PIETÄT, FEHLENDE ERLAUBNIS, DIEBSTAHL, VERLUST, ZENSUR

• Kraftwerk • ABBA • Sufjan Stevens • Kaas • Deftones • Slut • Green Day • Jimi Hendrix • Die Ärzte • Wizo • Schleim-Keim …

UNRELEASED HITS: SONGS & SINGLES

• The Doors • The Rolling Stones • Micheal Jackson • Judas Priest • The KLF • Britney Spears …

UND SIE DREHT SICH DOCH: PLATTEN, DIE LETZTLICH DOCH NOCH ERSCHIENEN

• John Coltrane • Diana Ross • Death • Television Personalities • Fehlfarben • Carambolage • Brian Eno • The Cult • Q-Tip • J Dilla • Brigitte Bardot & Serge Gainsbourg …

DIE VIELEN UNVERÖFFENTLICHTEN ALBEN VON PRINCE, NEIL YOUNG UND THE WHO

The Vault: Prince’ Tresorraum voll mit Aufnahmen

Träume aus Chrom: Die unveröffentlichten Alben von Neil Young

Auf der Suche nach der universellen Note: Die unveröffentlichten Alben von The Who

DISKOGRAFIE DER UNVERÖFFENTLICHTEN PLATTEN

BIBLIOGRAFIE

»Aber selbst die Dinge, die wahr sind, sind nicht immer so, wie sie scheinen.«

Brian Wilson

VORWORT

Ich kann selbst ein Lied davon singen, was es heißt, Projekte zu verschleppen oder nicht zu realisieren. Die Idee zu diesem Buch kam mir vor zehn Jahren, als ich eine Obsession für unveröffentlichte Platten entwickelte. Ich bereitete ein kleines Exposé vor und schickte es an diverse Verlage. Die, die antworteten, hatten kein Interesse.

Also ging ich mit der Idee zum mittlerweile eingestellten Intro-Magazin, bei dem ich das Projekt als Serie online veröffentlichen wollte. Leider schlief das Ganze ein, da oftmals kein aktueller Aufhänger gefunden werden konnte, was eine Vorgabe des Online-Redakteurs war. Danach erschienen mehrere Texte im Blog Jahrgangsgeräusche, bis auch dort das Ganze ad acta gelegt wurde. Die Idee eines Buchs trug ich weiterhin mit mir, und als Jonas Engelmann einen Text über die Proto-Punkband DEATH für die Anthologie »Damaged Goods« anfragte – eine Platte, die Jahrzehnte auf ihre Veröffentlichung wartete –, ergriff ich die Chance und erzählte von meiner Idee. Und hier stehen wir nun und haben das wohl umfangreichste Werk zu unveröffentlichten Platten, das es derzeit gibt.

Ich rede bewusst von Platten, denn die unveröffentlichte Platte ist eng mit dem Tonträger als physischem Medium verbunden. In Zeiten von Streaming und Downloads ist die Hürde der Veröffentlichung gering in Aufwand und Kosten, und in der zunehmenden, fast schon musealen Historisierung der Popgeschichte werden so manche Masterbänder nach Jahren im Archiv doch noch rausgekramt und veröffentlicht. Es ist also gut möglich, dass dieses Buch bereits bei Veröffentlichung Platten enthält, die nun doch noch erschienen sind.

Auch wenn vereinzelt auf Singles und einzelne Songs eingegangen wird, ist die Geschichte der unveröffentlichten Platten eng mit dem Albumformat verbunden. Demnach muss auch definiert werden, was ein Album überhaupt ist. Noch bevor Columbia Records 1948 die LP als eigenes Format einführte, gab es Musikalben. Diese bestanden aus mehreren Schellackplatten, die in einer buchähnlichen Verpackung zusammengefasst wurden, als Album eben. Bereits 1905 brachte Odeon solche unhandlichen Alben auf den Markt. Insbesondere bei klassischen Werken war dies für Hörer*innen ein Nachteil. Eine Seite einer Schellackplatte fasste gerade mal knapp fünf Minuten Musik, dementsprechend oft musste das Hörerlebnis unterbrochen werden, um die Platten umzudrehen. Die allererste LP von Columbia, »Concerto in E Minor for Violin and Orchestra Op. 64« von MENDELSSOHN mit NATHAN MILSTEIN an der Violine, war dementsprechend natürlich eine Klassik-Veröffentlichung. Zuvor hätte eine Aufnahme dieser Länge auf drei Schellackplatten verteilt werden müssen. Für das neue Format wurde der Name bzw. die Bezeichnung »Album« einfach beibehalten, auch wenn die Aufmachung gänzlich andere Möglichkeiten mit sich brachte.

Doch wir wollen hier in erster Linie von Popmusik sprechen, die wir der Einfachheit halber als Unterhaltungsmusik und damit als Gegenstück zur E-Musik definieren – so strittig die Grenzen auch sein mögen. Wenn wir in der Popmusik nach dem ersten Album suchen, das nicht als bloße Zusammenstellung entstanden ist, müssen wir uns ins Jahr 1940 begeben. Damals nahm WOODY GUTHRIE mit »Dust Bowl Ballads« das erste Konzept-Album auf: semi-autobiografisch und inhaltlich zusammenhängend. In der ersten Fassung des Albums waren alle Songs das Ergebnis einer einzigen Session. Erstmals war es Absicht, ein zusammenhängendes Werk zu produzieren und nicht nur eine lose Sammlung von Singles.

Dennoch ist das Popalbum eng an das Format der LP geknüpft, und so darf auch nicht »In the Wee Small Hours« von FRANK SINATRA aus dem Jahr 1955 unerwähnt bleiben. Hier wurde mit knapp über 48 Minuten die maximale Spielzeit einer LP genutzt. In diesem Fall ist das Album ebenfalls keine bloße Zusammenstellung tatsächlicher oder potentieller Singles. Unter dem Eindruck der Trennung von seiner zweiten Ehefrau, Ava Gardner, entschied sich Sinatra, ausschließlich traurige Liebeslieder aufzunehmen. Auswahl und Anordnung der Stücke übernahm Sinatra dabei selbst, zweifelsohne eine wichtige Platte. Die große Album-Ära sollte jedoch erst später in den 60er Jahren eingeleitet werden. Frühe Popstars wie Elvis Presley setzten weiterhin auf das Single-Format. Der Siegeszug der LP ging nicht so schnell vonstatten wie manche denken mögen. Noch bis in die 70er Jahre wurden Schellackplatten mit 78 Umdrehungen produziert. Und noch zehn Jahre nach Einführung der LP waren Singles das bevorzugte Format der Käufer*innen.

Es ist sicherlich kein einzelnes Album, das den Siegeszug des Formats als eigenständige Kunstform einläutete. Werke wie »Rubber Soul« von den Beatles (1965) und »Pet Sounds« der Beach Boys (1966) waren aber mit Sicherheit Inspirationsquelle für viele Künstler*innen, sich von einzelnen Songs zu lösen und das Album als Gesamtwerk zu sehen. Für viele begann diese Ära aber erst mit »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« der Beatles von 1967, das zusätzlich die Idee eines zusammenhängenden Konzeptes wieder aufgriff.

In diese Zeit fallen mit »Get Back« von den Beatles und »SMiLE« von den Beach Boys zwei der wohl legendärsten unveröffentlichten Alben. In der Musikpresse ist oft von »Lost Albums« die Rede, wenn es um nicht veröffentlichte Werke geht. Und so wie sich in Zeiten von Streaming und Downloads die Masse wieder dem einzelnen Song bzw. eigenen oder automatisch erstellten Playlists widmet, wird es in Zukunft vermutlich weniger große verlorene Alben geben. Mitunter wegen geringerer Hürden bei Vertrieb und Herstellung, da diese sich kostengünstig ins Digitale verschoben haben. Künstler*innen ist es – sofern es die Verträge erlauben – einfacher möglich als zuvor, ihre Werke doch noch an die Hörer*innen zu bringen. Ein gewisser Fetischismus einer Aufarbeitung der an sich noch jungen Popgeschichte sorgt auch zunehmend dafür, dass so manch verworfenes Werk im Rahmen der kommerziellen Verwertung doch noch erscheint. Gerne auch postum, wenn die Urheber*innen keinen Einspruch mehr einlegen können und der Tod die Verkäufe zusätzlich ankurbelt.

Die hauptsächlichen Gründe einer Nichtveröffentlichung eines Albums ordne ich in sechs Hauptkategorien ein. Da wäre das Klischee vom Label, das keinen Hit hört oder aus anderen Gründen eine*n Künstler*in fallen lässt; Vertragsstreitereien, die Künstler*innen dazu treiben, möglichst unhörbares Material zu produzieren; unveröffentlichte Alben, die lediglich Teil des Entstehungsprozesses eines veröffentlichten Werks waren; Musiker*innen, die an ihren selbst gesetzten Zielen scheitern; Platten, die niemals zur Veröffentlichung vorgesehen waren, und die wohl interessanteste Kategorie, in der die Nichtverfügbarkeit einer Platte zum künstlerischen Konzept gehört.

Manchmal sind die Grenzen aber fließend. Nicht unerwähnt bleiben in diesem Buch zusätzlich andere Gründe wie Diebstahl, Verlust und Pietät sowie Platten, die am Ende doch noch erschienen sind, außerdem einige ausgewählte Songs und Singles.

Doch wie erfahren wir überhaupt, dass es unveröffentlichte Alben gibt? Zum Teil sind es die Musiker*innen selbst, die in Interviews und Büchern über ihre Projekte berichten. Eine Erwartung und eine damit verbundene Nachfrage zu schaffen, ist schließlich Teil des Geschäfts. Manchmal gibt es auch Vorabsingles, bei denen der Hinweis »Taken from the forthcoming Album …« auf manch unveröffentlichtes Werk verweist. Außerdem schaltet das Label bereits Anzeigen, verschickt Promoexemplare und die Platte wird trotzdem im letzten Moment zurückgezogen. Mitunter geben auch Katalognummern den Hinweis auf ein unveröffentlichtes Werk. Besonders gut lässt sich das an den Veröffentlichungen des Labels FACTORY RECORDS ablesen, das ab 1978 mit Werken von Joy Divison, New Order und den Happy Mondays Kultstatus erlangte. Eine Besonderheit des Labels war es, allem durch eine eigene fortlaufende Katalognummer, die stets mit FAC begann, seinen Stempel aufzudrücken. Dazu gehörten nicht nur Tonträger, sondern auch Poster und TV-Sendungen. Mit FAC51 hatte auch der eigene Club Hacienda eine Katalognummer, und der Sarg des verstorbenen Labelgründers Tony Wilson trägt mit FAC501 ebenfalls eine eigene Nummer. Umso deutlicher fallen dann die Leerstellen ins Gewicht. FAC109 wäre eine Solo-12” der Durutti-Column-Cellistin CAROLINE LAVELLE gewesen. 1986 erschien die Maxi »Bad Blood« (FAC156) von QUANDO QUANGO nicht, da sich die Band kurz zuvor auflöste. Das gleiche Schicksal ereilte den »Festival of the 10th Summer«-Sampler (FAC186), das Donovan-Cover »Colours« von Happy-Mondays-Sänger SHAUN RYDER (FAC 292), die Compilation »Our Dance Days« (FAC270) und die HAPPY MONDAYS-Single »Staying Alive / Baby Big Head« (FAC352).

Letztlich steht im Mittelpunkt dieses Buches ganz bewusst eine Mythologisierung der Popkultur, denn Pop-Geschichtsschreibung ist stets die Reproduktion von Mythen. Ob Popmusik als Konsumfetischismus verteufelt oder zum sozialen Widerstand in kultureller Form erhoben wird, ist dabei letztlich egal, denn so oder so findet Popkultur einfach statt.

Das Tragischste, das einem bisher unveröffentlichten Album passieren kann, ist die Veröffentlichung selbst. Meist wird klar, dass die Vorstellung des Ungehörten viel besser als die Realität war. In einer Zeit, in der der alles, sogar wir selbst, allzeit verfügbar sein muss, wohnt der Unverfügbarkeit ein Zauber inne. Es ist wie mit dem Gemüse im Supermarkt, das gerade nicht verkauft wird. Natürlich haben wir unbändige Lust auf Spargel, sobald die Saison zu Ende ist. Und bei den älteren Musikfans – Hi Boomer! – wird der Fetisch des Exklusiven befriedigt. Sei es nun das Wissen über ein bisher unveröffentlichtes Album oder das rare Bootleg. Es ist die Entdeckung, die den Reiz ausmacht, in einer Zeit, in der sonst Algorithmen vermeintlich passende Hörvorschläge in die Playlist pushen. Das ist aber nun bitte nicht nostalgisch verklärend zu verstehen. Nennen wir es einfach einen Schnappschuss des Istzustands und damit eine Garantie für erweiterte Auflagen dieses Buches.

Der Anspruch dieses Buches ist daher die Kurzweil: eine Sammlung von Anekdoten, Mythen, Recherchen und Lügen, Interessantes aus der jüngeren Musikgeschichte, Geschichten übers Scheitern und Klischees von bösen Plattenfirmen, die der wahren Kunst im Wege stehen oder mit frevelhaften Verträgen neue Werke ebenso verhindern wie provozieren. Mir bleibt die Hoffnung, dass dieses Buch eine unterhaltsame Fakten-Schleuder ist, die für amüsanten Trivia-Talk beim hiesigen Treffen der Musiknerds sorgt.

So gibt es die Geschichte vom Gangsta-Rapper, den sein Label fallen ließ, weil er tatsächlich ein Gangsta war, oder die von dem genialen – Puhh, Genies – Künstler – Ach, nur Männer? –, der verrückt wurde, da er seine Ideen nicht umsetzen konnte, oder die von dem Rolling-Stones-Song, der so schockierend war, dass er niemals erschien. Ergänzt wird das Ganze durch unsichtbare Platten oder der unglaublich käsigen Rockband des Horror-Regisseurs John Carpenter.

Wie anfangs erwähnt, entstand die Idee zu diesem Buch bereits 2008 und einige wenige Inhalte erschienen als Artikelserien bei intro.de und auf dem Blog Jahrgangsgeräusche. Diese wurden zum Teil komplett neu recherchiert, überarbeitet oder verworfen. Dennoch gilt mein Dank diesen beiden Publikationen, die den unveröffentlichten Alben eine erste Plattform boten. Außerdem meiner Familie sowie Jonas Engelmann und dem Ventil Verlag. Nicht zuletzt möchte ich den vielen Personen danken, die mit Rat und Tat zur Seite standen wie Saskia Lavaux, Albert Koch, Wolfgang Müller, Sylvia Decker, Zloty Vazquez, Axel Ganz, Johnny Häusler, Katja Vaders, Tobias Vogel und vielen mehr.

WENN MARKT UND LABEL ÜBER VERÖFFENTLICHUNGEN ENTSCHEIDEN

Es gibt viele Gründe, warum ein Album letztendlich nicht erscheint, doch oft liegt es gar nicht an den Künstler*innen selbst. Schließlich war es lange Zeit das Label, das über die Veröffentlichung einer Platte entschied und sich dabei nicht immer auf das eigene Gespür, sondern vor allem auf die Gesetze des Marktes verließ. Sofern sich etwas verkaufen lässt, wird es auch in die Läden gestellt, und wenn es sich nicht verkaufen lässt, dann eben nicht. So klischeebehaftet der Topos der raffgierigen Tonträgerfirmen als Halunken und der idealistischen Künstler*innen als Held*innen ist, so wenig lässt er sich doch in Gänze abstreiten. Trotz aller Kunst folgt auch das Musikgeschäft den Regeln des Kapitalismus.

Dies bekamen auch Superstars wie SONNY & CHER zu spüren. Nachdem ihr Film »Good Times« 1967 an den Kinokassen floppte, nahmen sich die beiden viel Zeit für ihr nächstes Album, »This Good Earth«. Ein Hit war dringend nötig. Doch gleich mehrere Vorabsingles wie »A Beautiful Story«, »Good Combination«, »Plastic Man« oder »Circus« floppten und besiegelten damit das Ende des Albums. ATCO, ihr damaliges Plattenlabel, zog die Notbremse und »This Good Earth« bleibt bis dato unveröffentlicht. Es war offensichtlich, dass das Album keinen Hit enthielt. Angeblich sind weitere Aufnahmen von Songs wie »Honey Lamb«, »Born To Be With You«, »Just a Little« und »Play Me Some Music« gänzlich verschollen.

Ab 1974 ging das Ehepaar dann vorerst getrennte Wege – privat wie geschäftlich. Zwei Jahre später kam es trotz Rosenkrieg und medialer Schlammschlacht zum Comeback. Mit der »Sonny & Cher Show« wollten sie an die Erfolge ihrer »Sonny & Cher Comedy Hour« anknüpfen, doch nach nur zwei Staffeln wurde die Sendung wegen Erfolglosigkeit eingestellt. Dies besiegelte auch das Ende des Comebacks auf Albumlänge. Insgesamt wurden zwar 15 Songs aufgenommen, doch nur die Single »You’re Not Right for Me / Wrong Number« erschien 1977 bei Warner Bros. Records.

Auch Eugene Klein und Stanley Eisen von WICKED LESTER mussten sich von ihrem Label viel Kritik gefallen lassen, bevor sie zu Weltstars wurden. 1972 lernten sie Ron Johnson kennen. Johnson arbeitete als Toningenieur in den legendären Electric Lady Studios, die 1970 von Jimi Hendrix gegründet wurden, und erlaubte der Band, ungebuchte Zeit in den Studios für eigene Aufnahmen zu nutzen. Erscheinen sollte die Platte dann bei Epic. Doch nachdem sie das Album fertigstellten, sagte Epics A&R Don Ellis, dass er die Platte regelrecht hasse. Gene und Stanley wären aber nie zu denen geworden, die sie heute sind, wenn sie nicht eine eigene Version der Geschichte hätten. In dieser waren sie es, die die Platte in die Tonne schmissen. »Wicked Lester fehlte einfach ein typischer Sound, eine Identität mit Wiedererkennungswert.« In ihrer Version war es also nicht Don Ellis, der das Album zurückhielt, sondern die Band selbst, die nicht nur keinen Hit hörte, sondern sich sicher war, dass sie selbst kein Hit waren.

Ein neues Konzept musste her. Gene und Stanley entschieden sich dafür, die Band umzugestalten und sich Künstlernamen zuzulegen. Von nun an waren sie Gene Simmons und Paul Stanley. Auch die neue Richtung war klar. Weg vom Pop, Folk und Country, hin zum energiereichen Hard Rock Richtung Slade und Humble Pie. Daher mussten die restlichen Bandmitglieder weiterziehen. Über eine Anzeige fanden sie Peter Criss als neuen Schlagzeuger und im November 1972 versuchte die Band nochmals Don Ellis von der Qualität der Band zu überzeugen – weiterhin unter dem Namen Wicked Lester. Gespielt wurden drei Stücke: »Deuce«, »Strutter« und »Firehouse«. Außerdem setzte das Trio auf Showelemente, schminkte seine Gesichter komplett weiß und ließ bei »Firehouse« passend zum Thema eine Alarmglocke erklingen. Angeblich dachte Ellis, dass es sich um einen echten Feueralarm handelte, während Paul Stanley einen mit Konfetti gefüllten Eimer über ihm ausleerte. Sichtlich angefressen stürmte er aus dem Raum, stolperte, fiel hin und wurde vom betrunkenen Bruder von Peter Criss auch noch angekotzt. So eine häufig kolportierte Version der Geschichte. Die Band hörte daraufhin nie wieder ein Wort von Epic. Criss, Simmons und Stanley komplettierten ihr Line-Up mit dem Gitarristen Ace Frehley, benannten sich in KISS um und wurden schnell zur erfolgreichen Gelddruckmaschine. Einige ihrer Wicked-Lester-Songs nahmen sie sogar neu auf. So z. B. »Sunday Driver«, das unter dem Titel »Let Me Know« auf ihrem Debütalbum zu hören ist. Auf »Dressed to Kill« (1975) greifen Stanley und Simmons wiederum auf die Stücke »Love Her All I Can« und »She« zurück.

Mit dem Erfolg von KISS erinnerten sich Geschäftsmänner bei Epics Schwesternlabel Columbia wieder an Wicked Lester und den kleinen Schatz, den sie in ihrem Giftschrank liegen hatten. Um an dem Erfolg der Band mitzuverdienen, sollte das geschasste Debüt 1977 doch noch erscheinen. Ron Johnson mischte die zehn Stücke neu ab, zur Veröffentlichung kam es dennoch nie.

Neil Bogart, Präsident von Casablanca Records, bei denen KISS unter Vertrag standen, kaufte in Absprache mit der Band die Bänder, um sie verschwinden zu lassen. So bleibt dieses Frühwerk weiterhin in den Tiefen der Archive.

Ebenfalls an der Nachfrage scheiterte DAVE DAVIES. 1967 wollten Pye Records, die damals die KINKS betreuten, den Leadsänger als Solokünstler aufbauen und brachten den Song »Death of a Clown« als Solosingle heraus. Dabei war das Stück ein Kinks-Song, geschrieben von Ray Davies und mit der gesamten Band eingespielt. Daher ist der Song auf dem im selben Jahr erschienenen Kinks-Album »Something Else« ebenfalls zu finden. Für Pye war die Single, die den zweiten Platz der britischen Charts erreichte, jedoch ein voller Erfolg. Im November erschien daher mit »Susannah’s Still Alive« abermals ein Kinks-Song als Dave-Davies- Solo-Single. Da die Verkäufe dieses Mal enttäuschend waren, legte Pye die Idee eines ganzen Soloalbums vorerst auf Eis. Weitere Singles sollten zeigen, ob die Fans wirklich Interesse an einer solchen Platte haben würden. Dies war nicht ungewöhnlich für Pye Records, die viel mehr an Singleverkäufen interessiert waren als an Alben. Aufgrund eines Interviews mit Davies bekam das in Planung befindliche Album 1968 sogar einen launischen Titel: »A Hole in the Socks of Dave Davies«.

Im August 1968 erschien mit »Lincoln County« ein weiterer Flop. Als letzter Appetithappen für die LP kam dann im Januar 1969 »Hold My Hand« heraus. Aufgrund der geringen Resonanz wurde das Projekt Solokarriere abgeblasen. Nicht unwahrscheinlich, dass der gleichzeitige Misserfolg der Kinks keine unwesentliche Rolle bei der Entscheidung für Pye Records spielte, denn auch diese hatten mit schlechten Verkäufen zu kämpfen.

Kommerzialität ist der häufigste Grund, warum ein Label sich gegen seine Künstler*innen entscheidet. 1991 musste selbst ein Major-Artist wie ADAM ANT ein komplett fertiges Album hinter sich lassen. Sicherlich waren bei der für MCA eingespielten Platte »Persuasion« mehrere Faktoren entscheidend, doch die schlechten Verkäufe des Vorgängers »Manners & Physique« dürften eine wesentliche Rolle gespielt haben. Nach der Übernahme durch die japanische Firma Matsushita Electric wurden alle Künstler*innen aus ihren Verträgen entlassen, deren letztes Album keinen Gold-Status erreichte. Damit ließ MCA auch Ant fallen. Besonders bitter für Ant war allerdings, dass das Label die Masterbänder des bereits aufgenommenen Albums nicht rausrücken wollte und sich kein Label fand, das eine Ablöse zahlen wollte. Dabei wurde sogar eine ganze Tour geplant, um »Persuasion« zu promoten. Ant selbst bezeichnete das Album als eines der besten, das er seit langer Zeit aufgenommen hatte: eine tanzbare Rock-Pop-Platte mit expliziten, sexuell aufgeladenen Texten. Das Album, an dem Ant mit Bernard Edwards von Chic sowie Larry Blackmon von Cameo arbeitete, bleibt dennoch bis dato unveröffentlicht.

Auch bei den BEE GEES war es der Misserfolg des Vorgängeralbums, der die Veröffentlichung einer weiteren Platte verhinderte. »Life in a Tin Can« von 1973 brachte lediglich eine Single hervor, die gerade mal Platz 94 in den US-Charts erreichte. Robert Stigwood, Chef von RSO Records und gleichzeitig Manager der Band, lehnte den Nachfolger mit dem wunderschönen Titel »A Kick in the Head Is Worth Eight in the Pants« ab, nachdem die Vorabsingle »Wouldn’t I Be Someone« floppte. Einige der aufgenommen Songs schafften es dann immerhin auf spätere Single-B-Seiten.

Ganze zehn Jahre wiederum versuchte die Sängerin JOJO ihr drittes Album zu veröffentlichen. Mit 13 Jahren war sie die jüngste Solokünstlerin mit einer No. 1 Single in den US-Charts, doch nach ihrem zweiten Album im Alter von 16 Jahren wurde es still um sie. Drei verschiedene Fassungen spielte sie von ihrem dritten Album »All I Want Is Everything« ein, doch ihr Label Da Family Entertainment weigerte sich immer wieder, es zu veröffentlichen und verschob den Release-Termin so oft, dass JoJo letztendlich klagte, um aus dem Vertrag entlassen zu werden. Aber auch bei ihrem nächsten Label Blackground Records erschien das Album – nun unter dem Titel »Jumping Trains« – nicht. Vielmehr noch, das Label reagierte irgendwann gar nicht mehr auf die Anfragen der Sängerin, die daraufhin wieder Klage einreichte. Label und Künstlerin einigten sich außergerichtlich und JoJo wurde abermals aus ihrem Vertrag entlassen. Durch all die Rechtsstreite mit ihren Labels konnte sie erst zehn Jahre nach ihrem zweiten Album ihr drittes Werk veröffentlichen.

Letztendlich trifft die Frage nach dem Hit meist größere Stars. Eben dort, wo große Marketingbudgets und Kosten wieder eingespielt werden müssen. Da ist es mitunter billiger, bereits fertig aufgenommene Werke komplett zu verwerfen, statt Mitarbeiter*innen der Plattenfirma mit Promotion, Tourplanung, Videodrehs und weiteren kostspieligen Aktionen zu beschäftigen.

Mitunter ist es aber auch der massive künstlerische Output, der dem Label ein Dorn im Auge ist. Schließlich ist es finanziell nicht zuträglich, wenn der Fan eine*r Künstler*in sich zwischen zwei Alben entscheiden muss, die zeitnah erschienen. PRINCE konnte davon nicht nur Lieder singen, sondern ganze Alben (nicht) veröffentlichen. Dazu aber an anderer Stelle mehr. Auch FRANK ZAPPA musste viel Material für sich behalten. Als er dem Rolling Stone 1968 von seiner 3-LP-Box »No Commercial Potential« erzählte, hätte man seine Ausführung zur Box für einen Witz halten können. Allerdings erschienen einige der beschriebenen Songs später tatsächlich: zum einen auf dem Mothers-of-Invention-Album »Cruising with Ruben & the Jets« und zum anderen als Doppel-LP unter dem Titel »Uncle Meat«, die gleichzeitig Soundtrack zu einem gleichnamigen Film war, der allerdings erst 1987 in unvollendeter Form veröffentlicht wurde. Zappa äußerte sich laut seinem Biografen Barry Miles zu »Ruben & the Jets« sowie »Uncle Meat« wie folgt:

»Es ist alles ein einziges Album. Das komplette Material aller Alben hat einen inneren Zusammenhang, und wenn ich sämtliche Masterbänder hätte und sie mit einer Rasierklinge auseinanderschneiden und neu montieren würde, dann würde das wieder ein komplettes Stück hörenswerter Musik ergeben. […] Das Material hat definitiv einen Zusammenhang.«

1976 unterschrieb Zappa zudem einen Vertrag mit Mercury-Phonogram für eine 4-LP-Box namens »Läther«. Doch er hatte noch eine vertragliche Verpflichtung mit Warner Bros. einzulösen. In einem Rutsch lieferte er vier LPs an das von ihm verhasste Label. Doch keine der Platten wurde von Warner bezahlt und lediglich das Album »Zappa in New York« wurde zur Veröffentlichung angekündigt. Also stellte Zappa dann für Mercury seine legendäre 4-LP-Box »Läther« zusammen. Wohlgemerkt zu großen Stücken aus dem Material, das er zuvor Warner Bros. zur Erfüllung seines Vertrags lieferte. 300 Testpressungen ließ das Label herstellen, bis Warner Bros. dem Ganzen einen Riegel vorschob, da sie schließlich die Rechte besaßen und Teile der Box identisch mit dem angekündigten Album »Zappa in New York« waren. Da Zappa weder bezahlt worden war, noch eines seiner vier zuletzt abgelieferten Alben bis dato veröffentlicht wurde, ging er davon aus, dass Warner auf seine Option verzichtete und die Rechte an dem Material damit wieder an ihn zurückfallen würden. Letztendlich verhinderte dieser Irrtum aber ein ambitioniertes Werk. Ob die 1996 postum veröffentlichte Version von »Läther« der Vision Zappas entspricht, wird bis heute hart debattiert. So fehlt bei der CD u. a. der Song »Baby Snakes« und die Reihenfolge der Stücke soll ebenfalls von Zappas geplanter Abfolge abweichen. Andererseits stimmt das Tracklisting mit dem der Testpressung von Mercury überein.

Letztendlich reden wir bei aller Kunst hier von einem Geschäft. Auch in der Musikbranche geht es um Geld und Gewinnmaximierung. Daher ist der Zukauf von Firmen auch hier keinesfalls unüblich. Ein Label gehört plötzlich einer anderen Firma, und die hat womöglich ganz andere Prioritäten als die vorherigen Besitzer*innen. Oder: Ein Weltstar beschließt kurzfristig ein neues Werk zu veröffentlichen. Ein solches Unterfangen bindet womöglich die keineswegs unendlichen finanziellen wie personellen Ressourcen eines Labels. Auch bei einem Major wird da mitunter wirtschaftlich konservativ investiert und der garantierte Verkaufshit eines Stars eine*r Newcomer*in vorgezogen.

Manchmal verlieren auch die zuständigen A&Rs den Job. Das heißt noch lange nicht, dass die Bands oder Sänger*innen, die mit ihrer Hilfe gesignt wurden, ihre Verträge verlieren. Oft heißt es aber, dass sich die Ansprechtpartner*innen ändern. Aber dass die neuen Zuständigen die gleiche Leidenschaft für die Künstler*innen aufbringen wie ihre Vorgänger*innen ist nicht immer der Fall.

Genauso bestimmen Trends das Verhalten von Labels. Boy Bands sind ein großer Erfolg? Signt jede Boy Band, die ihr bekommen könnt. Wenn dann der Hype abflaut, sitzt die Band womöglich dort mit ihrem Vertrag und hat noch nicht mal eine einzige Single veröffentlicht. Da Boy Bands nun aber out sind, wird es auch nicht mehr dazu kommen. So gibt es Gerüchte, dass Labels potentielle »Konkurrenzprodukte« lediglich unter Vertrag genommen haben, um sie vom Markt fernzuhalten. Schließlich könnte ein weiteres Produkt für die gleiche Zielgruppe den Erfolg ihres Zugpferdes schmälern. Ein einziger Justin Bieber verkauft eben mehr Platten als fünf Justin Bieber.

Letztlich ist die Musikindustrie, wie der Name bereits sagt, vor allem eins: eine Industrie. Sie gehorcht den Gesetzen des Marktes und so werden auch bei Labels immer wieder Kosten reduziert, um die Firma rentabel zu halten. Das kann, wie bereits erwähnt, Ansprechpartner*innen oder die Künstler*innen selbst treffen. Wieso sollte wirtschaftlich an jemandem festgehalten werden, der die größten Hits vor zig Jahren lieferte oder womöglich gar ein One-Hit-Wonder ist? Auch in dieser Branche wird mit dem Rotstift gearbeitet. Kunst hin oder her.

Insbesondere weibliche Künstlerinnen sind häufig von diesen Regeln des Marktes betroffen, denn sie müssen hinter ihren männlichen Labelkollegen zurückstecken, wenn sie aufgrund der sexistischen Strukturen des Musikgeschäfts weniger der Verwertungslogik entsprechen. Als klassisches Beispiel wäre die Hip-Hop-Künstlerin THE LADY OF RAGE alias Robin Allen zu nennen. Sie war lange die einzige Frau unter den Männern bei Suge Knights Death Row Label. Rage war nicht nur auf einigen Songs des Dr. Dre Klassikers »The Chronic« zu hören, sondern rappte die ersten Zeilen auf Snoop Doggy Doggs »Doggystyle«. Eigentlich wäre ihr Debütalbum »Eargasm« das nächste geplante Release geworden, doch Death Row setzte auf die Zugkraft von Snoop Dogg und veröffentlichte neben zwei Soundtracks erst mal ein Album von Snoops alter Gruppe Tha Dogg Pound. Immer wieder wurde Rages Album verschoben, da die männlichen Rapper Vorrang hatten. Als Dre Death Row im Streit verließ, war »Eargasm« ebenfalls gestorben, das Album war Dres Vision für Rage, die er immer wieder ins Studio holte, um sie auf diversen Beats rappen zu lassen. Rage hatte auf die Veröffentlichungen wenig Einfluss. Tatsächlich war sie sogar dagegen, dass ihr Hit »Afro Puffs« erschien, da sie wenig begeistert vom G-Funk-Sound war. Sie verortete sich stilistisch eher am Eastcoast-Sound. Als 1997 endlich ihr Debütalbum »Necessary Roughness« erschien, war der Hype um Death Row abgeflacht. Zugpferde wie Dre und Snoop Dogg hatten das Label verlassen und Rage konnte wegen der Streitereien zwischen East- und Westcoast nicht die Produzenten bekommen, die sie gerne gehabt hätte.

Doch manchmal sieht ein Label in Künstler*innen etwas, was noch nicht vollends erblüht ist. Der sprichwörtliche Rohdiamant, der nur noch geschliffen werden muss. So arbeitete Lady Gaga vor ihrem Erfolg mit verschiedenen Produzenten und Labels, bis sie letztendlich zu der Kunstfigur wurde, die wir kennen. Auch Carole King schrieb zunächst Songs für andere Künstler*innen, bevor sie eine eigene Karriere startete. Ähnlich erging es Katy Perry …

(A) KATY PERRY UND FINGERPRINTS: DER STEINIGE AUFSTIEG EINES SUPERSTARS

Dass KATY PERRY mal bei der Vereidigung eines Präsidenten ihren eigenen Song singen würde, hätte sie 2006 bestimmt nie gedacht. Zum dritten Mal wurde sie von einem Label fallengelassen, trug die abgelegten Kleider ihrer Freundinnen auf und betete bei jedem ausgestellten Scheck, dass er gedeckt ist. Vor ihrem großen Durchbruch mit »I Kissed a Girl« und dem dazugehörigen Album »One of the Boys« im Jahr 2008 lag ein steiniger Weg. Bereits sieben Jahre zuvor veröffentlichte Perry mit gerade mal 17 Jahren ihr Debütalbum beim Label Red Hill Records, damals allerdings noch unter ihrem tatsächlichen Namen Katy Hudson. Und auch ihre Musik war extrem anders. Die Tochter eines Pastors spielte ereignislosen christlichen Pop-Rock. Zu ihren damaligen Vorbildern gehörte die Sängerin Amy Grant, eine der ersten Künstler*innen der Contemporary Christian Music, die den Sprung in den Mainstream geschafft hatte. Hudson alias Perry gelang dieser Sprung allerdings nicht. Gerade mal 200 Einheiten ihres Debüts wurden verkauft und machen die CD zu einem gesuchten Sammlerstück. Doch wie wurde aus der erfolglosen Katy Hudson der Megastar Katy Perry? Wie wurde aus dem Mädchen, das einen christlichen Gospel-Rock-Song namens »Faith Won’t Fail« schrieb, die Frau, die darüber sang, andere Mädchen zu küssen?

Zwei nie erschienene Alben, die sie zwischen 2003 und 2007 aufnahm, sind der fehlende Part in dieser Geschichte. Kurz nach ihrer ersten CD beschloss Katy Hudsen, alles auf eine Karte zu setzen und nach Los Angeles zu ziehen, um dort ein Popstar zu werden. Um nicht mehr mit der Schauspielerin Kate Hudson verwechselt zu werden, wählte sie den Geburtsnamen ihrer Mutter als Künstlernamen und wurde zu Katy Perry.

Glen Ballard sollte ihr bei ihrem Plan helfen. Perry sah den Produzenten in einer Doku über »Jagged Little Pill« von Alanis Morissette und war beeindruckt. Tatsächlich konnte sie bei Ballard vorstellig werden und die beiden kamen ins Geschäft. Er half ihr nicht nur, neue Songs zu schreiben, sondern auch ein neues Image zu kreieren. Die beiden weckten damit das Interesse von Island Def Jam, die wiederum das Produzententeam THE MATRIX mit ins Boot holten, die dem Pop-Rock von Perry erstmals einige zeitgemäßere elektronische Elemente hinzufügten. Jedoch hatte Def Jam vorerst kein Interesse, Perry als Solokünstlerin aufzubauen. Viel mehr war Perry jetzt Sängerin einer Band und das fertige Album wäre unter dem Namen The Matrix erschienen.

Ohne Solovertrag arbeitete Perry dennoch weiter an einem eigenen Album und es wirkte so, als würde die Platte 2005 erscheinen. In einem Artikel im Blender-Magazin von 2004 wurde Perry als Next Big Thing vorgestellt und machte im Interview dazu klar, dass sie nichts mehr mit der Kate Hudson von früher zu tun hatte: »Mein Album wird rockiger sein, vermutlich denken meine Eltern, dass ich dafür in die Hölle komme.«

So ganz hatte sich Perry aber noch nicht von ihren christlichen Wurzeln gelöst. Denn mit im Team war mittlerweile der Gitarrist der christlichen Rockband Relient K. Auch Songtitel wie »It’s Okay to Believe« klingen noch recht religiös. Für die christliche Metal-Band P.O.D. steuerte sie zudem Backing-Vocals zu »Goodbye for Now« bei und war auch im dazugehörigen Musikclip zu sehen. Nachdem Def Jam zwei Musikvideos (»Diamonds« und »Long Shot«) produzierte, löste es den Vertrag mit Perry auf. Das Label hatte einfach keine Idee, wie es Perry vermarkten sollte. Dabei stand bereits ein Veröffentlichungsdatum für das vermutlich »(A) Katy Perry« benannte Majordebüt fest, das bereits zu 80 Prozent fertig war.

Perry wurde von ihrem Label fallengelassen und war pleite. Die ganze Zeit über war das alles eine Hängepartie für den angehenden Weltstar. Um an Geld zu kommen, gab sie ihre eigenen Songs nun an andere Künstler*innen. Aus ihrem für ihr eigenes Album aufgenommenen »Hook Up« wurde somit Kelly Clarksons Top-20-Hit »I Do Not Hook Up«, und auch »Long Shot« war ursprünglich ein Song von Katy Perry.

Mit dem nächsten Labeldeal gelang abermals kein Durchbruch. Columbia Records brachte zwar den Song »Simple« auf dem Soundtrack zu dem durchaus erfolgreichen Film »Eine für Vier« (2005) unter, ließ der Künstlerin aber ansonsten wenig freie Hand. Auch hier erschien »(A) Katy Perry«, das im Sommer 2006 veröffentlicht werden sollte, nicht. Immerhin schafften es die Stücke »Box« und »Fingerprints« auf eine Promo-Compilation des Labels, die neue Künstler*innen vorstellte. »Fingerprints« war dann auch der neue Titel für das geplante Album, dessen Veröffentlichung für den Frühling 2007 vorgesehen war. Letztendlich verlor aber auch Columbia das Interesse an Perry. Zum Glück hatte sie mit Angelica Cob-Baehler, zuvor Chefin der Presseabteilung bei Columbia, eine Verbündete gefunden. Cob-Baehler, die nun bei Capitol arbeitete, setzte sich für Perry ein und überzeugte ihren Chef Jason Flom, sie unter Vertrag zu nehmen. Außerdem kauften Capitol gleich noch die Masterbänder von Columbia. Innerhalb von sieben Jahren hatte Perry also ihren vierten Plattenvertrag. Bei Capitol arbeitete sie nun mit Lukasz Gottwald alias Dr. Luke sowie dem Hit-Komponisten Max Martin zusammen, die mit ihr die späteren Hit-Singles »I Kissed a Girl« sowie »Hot n Cold« schrieben. Genau das, was dem fast fertigen Album noch fehlte. Nach all den Jahren harter Arbeit erschien mit »One of the Boys« endlich das Debüt Perrys und feierte riesige Erfolge.

(A) KATY PERRY (2006)

01. Box

02. Diamonds

03. Hook Up

04. LA Don’t Take It Away

05. Long Shot

06. Oh Love Let Me Sleep

07. It’s Okay to Believe

08. Sherlock Holmes

09. Simple

10. Takes One to Know One

11. Wish You the Worst

12. The Better Half of Me

13. Weigh Me Down

Die Authentizität des Tracklistings, das im Netz zirkuliert, ist nicht gesichert.

FINGERPRINTS (2007)

Es ist nur bekannt, dass die offiziell veröffentlichten Songs »Box« und »Fingertips« höchstwahrscheinlich auf dem Album gewesen wären. Vermutlich zusätzlich noch das Stück »Thinking of You«, für das bereits 2007 ein Musikvideo von Walter May gedreht wurde. Im Vergleich zur später erschienenen Version auf »One of the Boys« unterscheidet sich das Arrangement des Stückes deutlich. Auch der Song »Self Inflicted« war damals auf der Webseite von Perry vorab zu hören.

»(A) Katy Perry« und auch »Fingerprints« bleiben indes unveröffentlicht. Vielleicht müssen beide Platten auch als Zwischenschritt zu ihrem Debütalbum »One of the Boys« gesehen werden. Perry selbst sieht es so und sagt, dass sie über 70 Songs seit ihrem 18. Lebensjahr für »One of the Boys« schrieb. Da aber zwei Labels ein (fast) fertiges Album nicht veröffentlichten, greift hier eher, dass die Labels wohl keinen Hit hörten, die Veröffentlichungen daher zurückstellten und Verträge aufkündigten. Wer die bekannten Aufnahmen zu »(A) Katy Perry« und »Fingerprints« zu Ohren bekommt, stellt fest, dass die älteren Aufnahmen auch weit rockiger klingen als das spätere Material Perrys. Tatsächlich hält sich das Hit-Potential in Grenzen. Vermutete Überschneidungen zwischen »(A) Katy Perry« und »Fingerprints« zu »One of the Boys« sind ebenfalls eher marginal, weswegen jedes Album als eigenständiges Werk gesehen werden kann. Zwar erschienen einige ältere Songs als Bonus-Tracks auf einigen Editionen von »One of the Boys«, aber ansonsten besteht die Platte weitestgehend aus Stücken, die vermutlich auf keinem der beiden vorherigen Alben gelandet wären.

50 CENTS POWER OF THE DOLLAR: NEUN SCHÜSSE VOM BORDSTEIN BIS ZUR SKYLINE

Als 50 CENT die Weltbühne betrat, bediente er das Image des Gangsta- Rappers. Dass er tatsächlich eine Historie als Drogendealer hatte und nur wenige Jahre zuvor von neun Kugeln niedergestreckt wurde, half der Street Credibility. Nicht ohne Grund trat Curtis Jackson, so der bürgerliche Name von 50 Cent, mit schusssicherer Weste auf.

Am 24. Mai 2000 saß Jackson auf der Rückbank des Autos eines Freundes vor dem Haus seiner Großmutter, bei der er damals lebte. Plötzlich fuhr ein Wagen heran und hielt. Jemand stieg aus, trat an das Auto von Jacksons Freund und feuerte ab. Eine Kugel traf 50 Cent mitten ins Gesicht und schlug ihm einen Weisheitszahn aus. Ein weiterer Schuss ging quer durch die Hand. Die meisten Kugeln trafen die Beine und zerschmetterten die Knochen. Auch Jacksons Freund, Curtis Brown, wurde getroffen. Die beiden hatten Glück im Unglück. Jacksons Großmutter hörte die Schüsse und rief sofort einen Krankenwagen.

Jackson musste sich einer mehrstündigen Operation unterziehen. Er hatte Schmerzen, seine Hüfte war gebrochen und wegen des Schusses ins Gesicht hatte er Klammern im Mund. Dennoch ließ er sich direkt am Tag nach der OP Papiere an sein Bett bringen. Er musste sie unbedingt unterschreiben. Es war ein mit 250.000 Dollar dotierter Verlagsdeal für sein Major-Debütalbum »Power of the Dollar«– die Hälfte für seine Unterschrift und die andere Hälfte nach Erscheinen seiner ersten Platte.

Bis zu diesem Zeitpunkt war es gar nicht schlecht für ihn gelaufen. Drei Tage nach dem Überfall hätte er ein Musikvideo zu seiner neuen Single »Thug Love« drehen sollen. Einem Song, den er zusammen mit DESTINY’S CHILDaufgenommen hatte. Doch daraus wurde nichts mehr. Sein Label ließ ihn nach dem Anschlag fallen und »Power of the Dollar« kam niemals in die Plattenläden.

POWER OF THE DOLLAR (2000)

01. Intro

02. The Hit

03. The Good Die Young

04. Corner Bodega

05. Your Life’s on the Line

06. That Ain’t Gangsta

07. As the World Turns (ft. Bun B. of UGK)

08. Ghetto Qu’ran

09. Da Repercussions

10. Money by Any Means (ft. Noreaga)

11. Material Girl 2000

12. Thug Love (ft. Destiny’s Child)

13. Slow Doe

14. Gun Runner

15. You Ain’t No Gangsta

16. Power of the Dollar

17. I’m a Hustler (ft. Jay-Z & Jadakiss)

18. How to Rob (ft. The Madd Rapper)

Bereits 1996, vier Jahre zuvor, entdeckte Jam Master Jay von Run-DMC Jackson und nahm ihn unter seine Fittiche. Zusammen schrieben die beiden Songs und produzierten ein ganzes Album. Für Jay, der das Potential Jacksons erkannte, waren diese Aufnahmen lediglich eine Übung: noch nicht gut genug, um kommerziell auf dem Markt zu erscheinen, einfach Material, das Jackson voranbringen und als Songwriter reifen lassen sollte. Jackson selbst sah das anders und war enttäuscht von seinem Mentor. Er war bereit für den Erfolg. Also trennte er sich von Jay und wechselte Anfang 1999 zu dem erfolgreichen Produzenten-Team Trackmasters, die schon für Jay-Z, R. Kelly und Will Smith Hits produziert hatten. Ganze 36 Stücke nahmen Samuel »Tone« Barnes und Jean-Claude »Poke« Olivier mit Jackson auf. 18 davon sollten letztendlich auf seinem Major-Debüt »Power of the Dollar« bei Columbia Records erscheinen.

Und es lief wirklich nicht schlecht für ihn. Die ersten Singles kamen gut an und Jackson konnte sich von seinem bisherigen Leben als Crack-Dealer verabschieden. Seitdem er Notorius BIG das erste Mal rappen hörte, träumte er davon, sein Geld mit der Musik zu verdienen und das harte Leben als Kleinkrimineller hinter sich zu lassen. In seiner Autobiografie »Dealer, Rapper, Millionär« bekommen die Leser*innen einen Eindruck davon, was es heißt, wenn die einzigen Möglichkeiten der Armut zu entkommen Kriminalität oder eben Rap sind. Als junger Vater wollte Jackson der Kriminalität entfliehen, doch nur wenige Monate später lag er im Krankenbett und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Sein Label stellte sich tot und war nicht mehr für ihn zu erreichen.

Doch es gab keinen Plan B für ihn. Entweder die Musik oder wieder Crack in der Hood verticken. Er hatte nie einen richtigen Job und auch Arbeitspapiere besaß er nicht. Es war klar, dass die Musik seine einzige Chance war, all dem zu entkommen.

Obwohl 50 Cent den Vorschuss von Columbia bekam, sollte »Power of the Dollar« nicht erscheinen. Das Label bekam kalte Füße und wollte keine schlechte Presse.

Da signt ein Major einen Gangsta-Rapper und lässt ihn dann fallen, weil der tatsächlich angeschossen wird? Vermutlich ist der Grund sogar noch zynischer. Schließlich wurde Jackson ernsthaft verwundet und musste sich über Monate von den körperlichen Folgen erholen. Die ersten Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt nutzte er eine Gehhilfe und wegen des Kugelfragments in seiner Zunge behielt er einen kleinen Sprachfehler. Ein Rapper mit Gehhilfe? War dies der Grund, warum Columbia die Reißleine zog? Rückblickend war es für 50 Cent ironischerweise gut, dass sein Vertrag aufgelöst wurde. Denn sein früheres Label Columbia hatte für relativ wenig Geld eine Option auf acht Alben erworben, aber die Richtung, die das Label mit ihm einschlug, hatte wenig mit dem zu tun, was 50 Cent selbst vorschwebte.

Ohne Deal kümmerte sich Jackson also selbst um seine Karriere. Nachdem er es wortwörtlich wieder auf die Beine schaffte, veröffentlichte er 2002 das Mixtape »Guess Who’s Back?«, auf dem auch Songs von »Power of the Dollar« zu hören waren. Nur eine Woche nach der Veröffentlichung schwärmte Eminem in einem Radiointerview von 50 Cent. Für einen siebenstelligen Dollar-Betrag nahmen Dr. Dre und er Jackson dann für ihre eigenen Labels, »Shady Records« und »Aftermath Records«, unter Vertrag. Sein 2003 tatsächlich erschienenes Major-Debüt »Get Rich or Die Tryin’« verkaufte sich weltweit über 15 Millionen Mal. In den USA war es das meistverkaufte Album des Jahres. Auf dem Cover ist Jackson mit entblößtem Oberkörper zu sehen – vor ihm eine durchschossene Glasscheibe.

VERTRÄGE UND RECHTSSTREITS

Guter rechtlicher Beistand ist für die Karriere als Popstar durchaus empfehlenswert. Künstler*innenverträge werden vermutlich genauso oft gelesen wie die Nutzungsbedingungen des neuesten Social-Media- Hypes. Dabei können rechtliche Differenzen Alben zurückhalten wie auch provozieren. Oftmals pochen Labels eher darauf, dass sie noch weitere Alben von ihren Künstler*innen bekommen müssten, da die abgeschlossenen Verträge mehrere Alben umfassen. Um früher aus solchen Verträgen zu kommen, behalfen sich einige damit, ein Best-of oder ein Livealbum anstelle von neuem Material abzuliefern. Manchmal wird aber auch einfach auf bisher unveröffentlichtes Material aus vorherigen Sessions zurückgegriffen. So entstand 1973 z. B. »Dylan« von BOB DYLAN. Columbia nahm einfach einige nicht für Platten genutzte Studio-Aufnahmen, ausschließlich Cover-Songs und Traditionals, aus den Sessions zu »Self Portrait« und »New Morning«, und brachte die Platte ohne Beteiligung von Dylan selbst auf den Markt. Dieser war kurz zuvor zu Asylum gewechselt und kündigte seine erste Tour seit 1966 an. Manche sagen, dass Columbia Dylan mit der von ihnen zusammengestellten Platte eins auswischen wollte. Immerhin stand das knapp zwei Monate vor seinem eigentlichen neuen Album »Planet Waves« erschienene Cover-Album in direkter Konkurrenz zum Asylum-Werk. Andere vermuten, dass Columbia einfach nur noch einmal Geld mit dem Künstler scheffeln wollte und den Wirbel um die anstehende Tour und das neue Studioalbum für sich nutzte.

Monty Python’s Contractual Obligation Album (1980). Links unten: »Can T.G. do a nice eye-catching cover to help it sell? E.I./Not really worth it – T.J.«

Auch MONTY PYTHON griffen auf Outtakes zurück, als sie 1980 ihren Vertrag mit Charisma Records erfüllten und machten keinen Hehl daraus, dass sie eigentlich gar keinen Bock auf ein neues Album hatten. Folglich nannten sie die Platte, die weitestgehend aus ungenutzten Aufnahmen und neu aufgenommenen alten Sketchen bestand, »Monty Python’s Contractual Obligation Album«. John Cleese kam erst gar nicht ins Studio und ist dementsprechend nur auf drei bis dato unveröffentlichten Aufnahmen zu hören. Terry Gilliam war fast gar nicht an der Platte beteiligt. Die Pythons sahen die Situation mit Humor und gestalteten ein Non-Cover, das aussah wie eine Innenhülle und versahen diese mit einer Notiz von Eric Idle, ob Terry Gilliam nicht ein tolles Cover gestalten könne, damit sich die Platte besser verkaufe. Terry Jones schrieb dann »Not really worth it« dazu. Die Platte sei es nicht wert. Trotz aller Mühen wurde das Album aber dennoch veröffentlicht. Ganz im Gegensatz zu »The Hastily Cobbled Together for a Fast Buck Album«, das Produzent Andre Jacquemin 1987 aus den Outtakes vom »Contractual Obligation Album« zusammenstellte. Nachdem Virgin die Rechte an den Aufnahmen des Charisma-Backkatalogs erwarb, wollte das Label noch eine neue Platte veröffentlichen. Statt »The Hastily Cobbled Together for a Fast Buck Album« erschien dann letztlich »The Final Rip Off«. Eine Compilation mit weitestgehend bekanntem Material.

Ähnlich wie die Pythons verkündete TODD RUNDGREN seinen Unmut gleich im Albumtitel. »The Ever Popular Tortured Artist Effect« war eine vertragliche Verpflichtung, in die Rundgren nur wenig Zeit und Arbeit investierte. Dennoch wurde das Album wohlwollend aufgenommen und war relativ erfolgreich.

Mitunter versuchen Musiker*innen ihrem Label möglichst unkommerzielles Material vor die Nase zu setzen, um ihnen eins auszuwischen und dennoch ihren Vertrag zu erfüllen. Nicht wenige Kritiker*innen nahmen an, dass LOU REED sein »Metal Machine Music« nur aufnahm, um aus seinem Vertrag mit RCA zu fliegen. Das ist vermutlich genauso falsch wie die Behauptung, dass Labels nach Veröffentlichung des berüchtigtlärmigen Werks damit begannen, »Metal Machine Music«-Klauseln in ihre Verträge zu schreiben, um Künstler*innen daran zu hindern, derart unverträgliche Kost zu kredenzen.

Fakt hingegen ist, dass die ROLLING STONES mit dem »Schoolboy Blues« – besser bekannt als »Cocksucker Blues« – ihren verhassten Vertrag mit Decca erfüllten und absichtlich ein nicht veröffentlichbares Werk lieferten. Mehr dazu später.

Ein Reinfall wurde diese Taktik für den ehemaligen THEM-Sänger VAN MORRISON. Sein Plattenvertrag mit dem Label Bang Records verlangte von ihm für ein Jahr jeden Monat drei exklusive Songs. Zu allem Überfluss veröffentlichte Bang Records nach dem Top 10 Erfolg der Single »Brown Eyed Girl« das Album »Blowin’ Your Mind«, ohne Morrison davon in Kenntnis zu setzen. Dieser nahm an, dass sein aufgenommenes Material ausschließlich für Singles gedacht sei. Der Haussegen hing schief und Van Morrison wollte unbedingt aus dem Vertrag raus. Zu seinem Glück wurde Warner Bros. auf ihn aufmerksam und zahlte Bang Records eine Ablösesumme. Nur die Klausel mit den Songs hatte weiterhin Bestand, und so musste Van Morrison dem verhassten Label noch 31 exklusive Titel nachliefern. Also setzte er sich 1967 hin und nahm diese 31 Songs komplett improvisiert in nur einer Session auf.

Ein großes »Fuck You« schmetterte er seinem ehemaligen Partner entgegen und spielte komplett nicht zu vermarktendes Zeug ein. Anfangs verfolgte er ein striktes Schema mit den Stücken »Twist and Shake«, »Shake and Roll«, »Stomp and Scream«, »Scream and Holler« und »Jump and Thump«. Doch dann wurde es zunehmend abstruser. So sang er darüber, wie sehr er sein Label hasste, über Ringwürmer, Nasenbluten und einem Typen namens George widmete er gleich vier Titel (»Hold On George«, »Here Comes Dumb George«, »Goodbye George« und »Dum Dum George«). Morrison sang über sich selbst, George Ivan Morrison. Schließlich war er nicht ganz unschuldig an der Misere, in die er geraten war. Seine Naivität war es, die dazu führte, dass er einen Vertrag unterschrieb, den er nicht sorgfältig durchgelesen hatte. Zuerst ging der Plan von Morrison auch auf und das Material blieb unveröffentlicht, aber ab den 90er Jahren fanden sich legal lizensiert einige der Songs auf Compilations. Letztendlich wurden 2002 dann »The Complete Bang Sessions« als Doppel-CD veröffentlicht, die auf der zweiten CD das gesamte Material dieser vertraglich erzwungenen Aufnahmen enthalten. Und so kann man hören, wie die Songs immer skurriler werden und die Gitarre immer verstimmter.

Eine ähnliche Klausel hatte übrigens auch BEN FOLDS in einem Vertrag, der über das Fließband-Songwriting das Stück »One Down« schrieb:

»[…] I get paid much finer / For playin’ piano and kissin’ ass / This is one I wrote just an hour ago / And three-point-six at last«

Eine drohende Klage zwang JOHN LENNON hingegen, das Album »Rock ’n’ Roll« aufzunehmen. Nachdem Lennon in einem Interview zugab, dass er Teile von »Come Together« bei Chuck Berrys »You Can’t Catch Me« abgekupfert hatte, verklagte der Rechteinhaber des Songs, Morris Levy, Lennon. Die beiden einigten sich außergerichtlich. Ein Vergleich vom 12. Oktober 1973 sah vor, dass Lennon für seine nächste LP drei Songs aus dem Musikkatalog von Levy übernehmen sollte. Daraus wurde dann gleich ein ganzes Album mit Cover-Songs.

Im Falle der Popkünstlerin KESHA