Dorfkind... und stolz drauf - Kevin Ray - E-Book

Dorfkind... und stolz drauf E-Book

Kevin Ray

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Beschreibung

Partys in der Scheune, kilometerlange Nach-Hause-Wege oder Klatsch und Tratsch von der Dorf-Oma: Viele, die auf dem Land aufgewachsen sind, haben genau das erlebt. So auch Kevin Ray. Er ist ein echtes Dorfkind, und für ihn steht eines fest: Ich bin stolz darauf! Denn Heimat ist für ihn mehr als nur ein Wort.
Mit viel Humor und einer riesigen Portion Selbstironie zeichnet er die Erlebnisse auf dem Dorf genau nach und erinnert sich an viele Geschichten und Anekdoten aus seiner eigenen Kindheit und Jugend. Flott, charmant und witzig – nicht nur für Dorfkinder!

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Cool, crazy, entertaining!

Partys in der Scheune, kilometerlange Nach-Hause-Wege oder Klatsch und Tratsch von der Dorf-Oma: Viele, die auf dem Land aufgewachsen sind, haben genau das erlebt. So auch Kevin Ray. Er ist ein echtes Dorfkind, und für ihn steht eines fest: Ich bin stolz darauf!

Mit viel Humor und einer riesigen Portion Selbstironie zeichnet er die Erlebnisse auf dem Dorf genau nach und erinnert sich an viele Geschichten und Anekdoten aus seiner eigenen Kindheit und Jugend. Flott, charmant und witzig – nicht nur für Dorfkinder!

Kevin Ray wurde 1990 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Trier geboren. Bereits in der Schule legten seine Lehrer dem Klassenclown nahe, später einmal in die Unterhaltungsbranche zu wechseln. Nach jahrelangem Touren durch Deutschlands Comedy-Shows stand er auf den ersten etablierten Bühnen, z.B. im »Quatsch Comedy Club« oder bei »Nightwash«, und wurde zum festen Bestandteil von »Die Comedy Show« auf ProSieben. Zusammen mit Simon Gosejohann drehte er außerdem das Format »World´s Craziest Competitions«. Mit seinem Soloprogramm »Kevin allein auf Tour« spielte er in ganz Deutschland.

KEVIN RAY

Dorfkind

... und stolz drauf

Mein verrücktes Leben auf dem Land

Vorteil: Jeder kennt jeden

Nachteil: Jeder kennt jeden

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Die Geschehnisse in diesem Buch und alle darin handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Der Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Henning Thies

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Kay Blaschke

Illustrationen: Daniel Wegmann, Motion Pixels Werbeagentur

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-25779-8V001

www.heyne.de

Inhalt

1. Mein erster Kuss

2. Freundschaft fürs Leben

3. Zu jung für Alkohol, zu alt für Cola

4. Ich kenn da ne Abkürzung – dauert aber länger

5. Jugendraum – ein schmaler Grat zwischen guter und keiner Erinnerung

6. Sauer wie ein Center Shock

7. Kennt wirklich jeder »jeden«?

8. Meine schönste Schulwoche

9. Alles Gute zum Geburtstag

10. Wie heißt eigentlich dieser eine Freund mit Vornamen?

11. Eins zu null für Mama

12. Ja. Nein. Vielleicht.

13. Das hier darf man eigentlich keinem erzählen

14. Pünktlich zu spät

15. Erwachsenes Kind

16. Mein erster Schritt zur Comedy

17. Soziale Menschen machen Sozialstunden

18. Legendär

19. Die Polizei, unser Freund und Helfer

1. Mein erster Kuss

Ich weiß, du liest die Überschrift dieses Kapitels und denkst, das kann doch maximal zwei oder drei Wochen her sein. Und ich muss dir sagen, du liegst fast richtig. Allerdings lautet die Überschrift nicht Mein erstes Mal, sondern Mein erster Kuss, daher nur fast.

Bevor ich dir mehr über mich und meinen ersten Kuss erzähle, möchte ich kurz Folgendes festhalten: In meinem Dorf war die Auswahl an Frauen, die man küssen konnte, begrenzt. Der Ärger war an manchen Tagen so groß, dass ich mich hin und wieder mal fragte, ob meine Cousine wirklich zur Verwandtschaft gehörte.

Den Tag meines ersten Kusses werde ich definitiv nicht vergessen. Es war irgendwann im August 1997 oder 1998. Wir hatten ein Schulfest! Du weißt, wovon ich spreche. Alle Eltern kamen vorbei und kümmerten sich ehrenamtlich um verschiedene Stände. Ich war meiner Mutter während ihrer Schicht nicht von der Seite gewichen. Okay, um ehrlich zu sein, ging es mir einzig und allein um die Bratwürstchen, für die meine Mutter zuständig war.

Irgendwie war unser Schulfest öde. Nicht mal Fußball durften wir spielen. Am Anfang hatte unsere Klassenlehrerin Frau Hockland sogar noch mitgespielt, aber dann brach sie das Spiel schlagartig ab und nahm uns den Ball weg. Einfach so. Unsere Frage nach dem »Warum« überhörte sie bewusst.

Vielleicht hatte es etwas mit ihren fehlenden fußballerischen Fähigkeiten zu tun, vielleicht aber auch damit, dass sie alleine einschussbereit vor dem leeren Tor stand und ich auf sie lossprintete, um sie in letzter Sekunde mit einer meisterlichen Blutgrätsche davon abzuhalten. Zugegeben, wir alle haben die kreisenden Sternchen über ihrem Kopf gesehen – so wie bei Bugs Bunny, wenn er vom Himmel auf den Boden fällt –, aber das war noch lange kein Grund, das Spiel wie eine beleidigte Leberwurst abzubrechen. Kurz nachdem sie wieder zu sich kam, schrie sie mich an: »Bist du noch ganz knusper, Junge?! Was war das denn?« – »Das war Ball gespielt, internationale Härte«, sagte ich fast schon ein bisschen stolz. Sie schaute mich an und signalisierte mir, dass sie mich am liebsten verprügelt hätte. Diese Art von Kommunikation gefiel mir. Also schaute ich sie zuerst ernst an, drehte mich zu meiner Mutter, schaute zu ihr rüber, schaute wieder zu Frau Hockland, wieder zu meiner Mutter, und wieder zurück zu Frau Hockland. Und grinste.

Um ehrlich zu sein, war meine Abwehr vor dem eigenen Tor nicht äußerst charmant, zumal wir 7:0 führten, aber ich war zu ehrgeizig dafür, ein 7:1 einfach so zuzulassen.

So hing ich also bei meiner Mutter am Bratwurststand ab. Ich trug ein weißes Shirt, auf dem man so viele Ketchup-Flecken zählen konnte, dass sich vermuten ließ, ich wäre Teil eines brutalen Mordes gewesen.

Meine Blicke richteten sich die letzten 30 Minuten auf ein Mädchen: Emelie. Sie war meine Grundschulliebe und das einzige Mädchen, mit dem ich meine Capri Sonne geteilt hätte. Ein altes Sprichwort besagt: Wenn man seine Capri Sonne teilt, muss es wahre Liebe sein. Ich hätte Emelie stundenlang beobachten können. Sie war so hübsch, dass ich mich nicht einmal traute, sie anzusprechen. Ich träumte vor mich hin. Vertieft in meinen Gedanken malte ich mir den perfekten Flirt aus. Ich stellte mir vor, wie sie zu mir an den Bratwurststand rüberkommt und ich sie ganz cool anschaue und sage: »Hey Girl, willst du eine Bratwurst? Vielleicht kann ich was für dich raushandeln. Meine Mama grillt die.«

Kennt ihr das, wenn ihr plötzlich wach werdet und gerne gewusst hättet, wie euer Traum zu Ende gegangen wäre? So fühlte ich mich, als Freddi mich in die Realität zurückholte. Na toll. Ich wusste nicht, was Emelie gesagt hätte. »Keeeeeeevin, sag mal Klettergerüst!« Du weißt, wie der Spruch weitergeht. Ich frage mich heute noch, wie man sich von so einem Spruch ärgern lassen konnte.

Freddi und ich unterhielten uns über Themen, über die sich Sieben- bis Achtjährige eben unterhalten: Pokémon-Sammelkarten, Dragonball und Koks. Spaß, natürlich haben wir uns nicht über Dragonball unterhalten.

Wie aus dem Nichts kam Pascal plötzlich angelaufen. Er nahm uns zur Seite und flüsterte uns so leise ins Ohr, dass wir zunächst nur seinen Atem spürten. »Was hast du gesagt?«, fragte ich. Wieder flüsterte er so leise, als wären seine Worte ein Staatsgeheimnis, aber zumindest verstanden wir ihn jetzt: »Wahrheit, Wahl oder Pflicht. In zehn Minuten treffen wir uns hinter dem Getränkewagen.« Mein Puls war auf 180. Wahrheit, Wahl oder Pflicht war das mutigste Spiel für einen Sieben- bis Achtjährigen. »Alles klar, los geht’s!«, dachte ich mir. Wir schlichen uns möglichst unauffällig hinter den Getränkewagen. Das Spiel der Spiele stand auf dem Plan. Ich schaute mich um. Pascal, Freddi, Steven und ich hatten es ohne Ermahnung hinter den Getränkewagen geschafft. »Worauf warten wir?«, wollte ich wissen. »Wir müssen uns noch zwei Minuten gedulden, Anne und Emelie kommen noch«, sagte Pascal und versuchte dabei seine Stimme rauchig klingen zu lassen. Es gelang ihm nicht.

Nach außen hin strahlte ich pure Coolness aus, aber innerlich drehte sich mein Magen, mein Herz raste, und meine innere Stimme schrie lauter als Frau Hockland. EMELIEEEEE?!

Meine Gedanken spielten mal wieder einen kurzen Film ab: »Wenn Emelie mich fragen würde, woher die roten Flecken auf meinem weißen Shirt kämen, würde ich eiskalt sagen: ›Wenn ich dir das sage, müsste ich dich leider AUCH töten.‹« Es war so weit. Wir waren vollständig. Kannst du dich noch an deine Wahrheit, Wahl oder Pflicht-Zeit erinnern?

Wahrheit sah folgendermaßen aus. Die Mitspieler ließen es so aussehen, als würden sie tief in ihrem Fragenkatalog nach einer zufälligen Frage suchen. Mit Blicken in die Luft und offensichtlichen »Ääähm«s verliehen die anderen dem Spiel zumindest einen spontanen Charakter. Aber im Endeffekt stand die Frage schon lange vor Spielbeginn fest: In wen bist du verliebt? Sobald das Thema geklärt war, war es fast unmoralisch, noch mal Wahrheit zu wählen. Schließlich hatten sich die anderen für keine weiteren Informationen interessiert.

Für Pflicht hatte man sich nur entschieden, wenn man dumm war. Man war verpflichtet, die genannte Aufgabe zu bewältigen, und zwar ohne Wenn und Aber. Die Kategorie Wahl hatte dagegen mehrere Optionen. Zwar ging es ebenfalls um eine Aufgabe, aber immerhin konnte man zwischen drei Aufgaben entscheiden. Die zwei beschissensten Aufgaben fielen also automatisch weg.

Freddi war an der Reihe. Er drehte die Flasche. Der Flaschenkopf zeigte auf mich. Wahrheit hatte ich ausgeschlossen. Das Risiko, dass Freddi mir die Frage stellen würde, die in 100 Prozent aller Fälle gestellt wird, wollte ich nicht eingehen. Schließlich war Emelie dabei. Ich war um alles in der Welt noch nicht bereit, diesen Schritt zu wagen. Es wäre definitiv der falsche Zeitpunkt gewesen, vor ihr zuzugeben, dass ich meine Capri Sonne mit ihr teilen würde. Na ja. Pflicht war, wie gesagt, für Dumme. Mir blieb also nur noch Wahl.

Mit einem einzigen Wort verkündete ich meine Entscheidung. »Wahl«, sagte ich selbstbewusst.

»Okay. Hmmm. Küss Pascal für drei Sekunden auf den Mund. Küss Steven für drei Sekunden auf den Mund. Oder küss Emelie für eine Sekunde auf den Mund«, sagte Freddi. Ihm war deutlich anzusehen, wie beeindruckt er von seiner Idee war. Alles, was ich dachte, war: »Du elendiger Hund!«

Heute weiß ich, er wollte mir nur zu meinem Liebesglück verhelfen. Damals wusste ich schon: Freddi ist ein Freund fürs Leben. Auch wenn Freddi mir quasi die Wahl ließ, war ich irgendwie gezwungen, mich für diesen einen Kuss zu entscheiden. Und so kam es dann zu meinem ersten Kuss. Mit Pascal.

2. Freundschaft fürs Leben

Wir alle haben sie, wir alle haben diese Freunde fürs Leben! Hast du dir mal vorgestellt, du seist an einem ganz anderen Ort aufgewachsen und hättest deine besten Freunde niemals kennengelernt? Eigentlich kaum vorstellbar, oder? Natürlich hätte ich dann heute andere Freunde, und auch wenn ich nie erfahren werde, wer diese anderen Freunde gewesen wären, eines steht fest: Meine besten Freunde sind nicht zu toppen. Ich glaube, ich spreche auch für dich, wenn ich sage, dass ohne unsere besten Freunde etwas in unserem Leben fehlen würde.

Es würde sich anfühlen wie Chicken McNuggets ohne Süß-Sauer-Soße, Dragonball ohne Son-Goku oder ein Schützenfest ohne Abenteuerland. Man stirbt zwar nicht davon, aber warum sollte man freiwillig auf die Süß-Sauer-Soße verzichten, wenn sie doch schon erfunden wurde? Meine Süß-Sauer-Soße heißt Freddi! Zugegeben, war das nicht immer so, aber alle guten Freundschaften beginnen doch mit Hass, oder? Freddi und ich konnten uns im Kindergarten überhaupt nicht leiden. Allerdings hatte dies auch seinen Grund. Es nervte mich, dass er jeden Tag aufs Neue versuchte, den höchsten Turm zu bauen. Denn ich war mit 36 Bauklötzen der Rekordhalter. Dieses Projekt hatte mich Blut, Schweiß und Tränen gekostet. Ich hatte jedoch keine Bedenken, dass er mir den Titel nehmen könnte. Schließlich konnte er sich nicht einmal selbst den Arsch abwischen. Gut, ich zwar auch nicht, aber darum ging es nicht. Es nervte mich einfach.

Danach herrschte also erstmal dicke Luft zwischen uns beiden. Doch wir hatten uns beide im Griff, zumindest im nüchternen Zustand. Sobald wir aber den Kleber inhaliert hatten, hatte der Revierkampf begonnen.

Du kennst doch sicherlich die Filme aus Amerika, in denen Gangs aus verschiedenen Vierteln Bandenkriege führen, oder? Einer aus der Gang hatte immer das Sagen. So war das auch bei Freddi und mir. Freddi und ich landeten nach einigen Monaten in zwei getrennten Gruppen. Dies geschah aber völlig zufällig, da die Gruppe irgendwann so groß wurde, dass die Kindergartenleiterin sich dazu entschied, die Gruppe zu splitten. Na ja. Zurück zu unseren Gangs. Freddis Viertel war Knirpsenhausen, mein Viertel dagegen Stinkersheim. Wir beide bekamen jeweils Respekt von unseren Gangs, weil Freddi der größte Knirps in seinem Viertel war und weil ich der einzige Stinker war, der sich im Kindergarten noch nie in die Hose gemacht hatte. Jedenfalls war eine Eskalation beider Gruppen vorprogrammiert. Dies war allein schon der Tatsache geschuldet, dass Knirpsenhausen ein Klettergerüst im Zimmer hatte. Wir bekamen im Gegenzug das Bällebad, was im Vergleich zum Klettergerüst echt lächerlich war. Aber wie es im Leben so ist, möchte man immer genau das, was man vermeintlich nicht haben kann.

Sobald wir den Klang der Triangel hörten, durften wir immer unsere Schuhe und Jacken anziehen und draußen im Sandkasten spielen. Oft lag dieser Zeitpunkt bei allen Gruppen nah beieinander. Normalerweise wollten unsere Erzieherinnen uns ein gemeinsames Spielen ermöglichen, doch für Freddi und mich war der Ring eröffnet.

Freddi und ich hatten mehr auf der Strafbank gesessen als jeder Eishockeyspieler in seiner gesamten Karriere. Immer wenn wir uns unbeobachtet fühlten, mutierten wir zu einem sogenannten Frechdachs. Freddi hatte mir mal eine Schaufel über den Kopf gezogen, und zwar so heftig, dass das Blechteil danach verbogen war. So was ließ ich schon damals nicht auf mir sitzen, also hatte ich ihm ans Bein gepisst. Damit meine ich nicht, dass ich ihn verpetzte, sondern wortwörtlich: Ich hatte ihm ans Bein gepisst.

Schon im Kindergarten hatte ich also gelernt, das Sprichwort »Was sich liebt, das neckt sich«, zählt nicht nur für Junge und Mädchen. Auch wenn man den Moment, jemandem ans Bein zu pissen, nicht unbedingt Liebe nennen würde.

Meine Mutter wurde natürlich immer über unseren Ärger informiert, wobei sie auch von alleine darauf gekommen wäre, dass Freddi für meine Platzwunde am Kopf verantwortlich war. Um ehrlich zu sein, hatte es sie sogar kaum gewundert. »Zwei Löwen, typisch! Beide wollen nicht nachgeben«, sagte sie jedes Mal. Und sie hatte recht! Nachgeben war für uns keine Option. Es beruhigte mich sogar ein bisschen, zu wissen, dass mein Horoskop mich in Schutz nahm. Ich konnte einfach nichts dafür.

Und mit dieser Einstellung nahm der Kindergartenkrieg seinen Lauf. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem unsere Erzieherin uns beide zur Seite genommen hatte, um das Kriegsbeil in Frieden zu begraben. »Kommt, Jungs, muss das sein? Hört doch mal auf damit. Denkt immer daran: Der Klügere gibt nach!« Mit diesen Worten erhoffte sie sich Einsicht. Daraufhin meinte ich: »Tja, und ich bin dumm!« Es hatte keine Sekunde gedauert, da konterte Freddi mit: »Und ich bin noch dümmer!« Und damit wollte er mich bekämpfen? »Ich bin immer einmal mehr dumm wie du!«, entgegnete ich siegessicher. Freddi hob seine Faust. Und ich rannte ihn um, ehe er mich boxen konnte. »Es heißt als du, nicht wie du«, korrigierte unsere Erzieherin mich und half Freddi dann erst vom Boden.

Heute weiß ich, wir hatten beide recht! Wir waren beide nicht die hellsten Kerzen auf der Torte.

Auch wenn ich mir gewünscht hätte, noch einige Jahre im Kindergarten bleiben zu können, stand die Einschulung vor der Tür. Wer kommt in die A, und wer kommt in die B? In der A-Klasse waren alle Kinder aus dem Dorf, und in der B-Klasse waren alle Kinder, die von außerhalb kamen. Heute habe ich auch gute Freunde aus den Nachbardörfern, aber als Kind dachte ich immer: »Die sind komisch!«

Der erste Schultag stand an. Ich war mit Absicht die letzten 24 Stunden nicht auf der Toilette gewesen, für den Fall eines Streits. Auch aus Freddis Rucksack schaute nicht zufällig eine Schaufel heraus. Bevor du dir vor lauter Spannung das nächste Mikrowellen-Popcorn besorgst oder dir die Fingernägel abkaust, nehme ich dir mal lieber die Spannung raus. Es kam zu keiner Auseinandersetzung. Auch in den darauffolgenden Wochen passierte nichts, kein aggressives Verhalten, nicht mal ein Streit, einfach nichts.

Kurz vor den Herbstferien verkündete unsere Klassenlehrerin, Frau Hockland, wohin unser erster Schulausflug führen würde. Kannst du dich noch an deinen ersten Schulausflug erinnern? Ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Trier. Als Kind war Trier aber ganz schön weit weg. Dorthin also ging unsere Reise am zweiten Tag nach unseren Herbstferien. Mit einem gemieteten Doppeldecker-Bus fuhren die ersten beiden Jahrgangsstufen in die Trierer Innenstadt. Du glaubst gar nicht, wie aufregend das war! Als wir Trier erreichten und nacheinander aus dem Bus stiegen, fühlte ich mich, als hätte ich soeben Atlantis entdeckt.

Zuallererst stand Sightseeing auf dem Programm. Von der Porta Nigra hast du bestimmt schon mal gehört, oder? Während der gesamten Führung freute ich mich am meisten auf die Essenspause. Zuvor warf ich nämlich einen Blick in meinen Rucksack, daher wusste ich genau, was mich an diesem Tag erwartete: fünf Päckchen Capri Sonne, ein belegtes Schinken-Käse-Brötchen mit Remouladensauce, zwei Knoppers, und anstelle des gewohnten Apfels gab es eine Rosinenschnecke mit reichlich Zuckerguss. Ja, es war ein Lunch-Paket, mit dem meine Mutter jedem Drei-Gänge-Menü Konkurrenz machte.

Alle Kinder, die dieses lieblose Toastbrot mit ein bisschen Nutella dabeihatten, das so trocken war, dass es staubte, wenn man reinbiss, hassten mich. Andreas aus der B war so ein Kind. Natürlich habe ich ihn nicht tatenlos zusehen lassen. »Hey, Andreas, willst du ne Capri Sonne?« – »Na klar!«, antwortete er mit strahlenden Augen. Er konnte sein Glück kaum fassen. »Alles klar, macht dann fünf Euro.«

Dass diese Geschäftsidee sich als so große Geldquelle erwies, hätte ich nie für möglich gehalten. Im Laufe meiner Grundschulzeit wurde ich zum besten Dealer, von dem die Schüler je gehört hatten. Ich verkaufte alles. Egal, ob Brötchen, Capri Sonne oder Bleistifte. Ich war so gut, ich schaffte es sogar mal, eine Perspektive zu verkaufen.

Zurück zum Schulausflug. Im Anschluss an die historische Führung versprach Frau Hockland uns eine Belohnung. Die Belohnung kostete mich allerdings 4,50 Euro, denn das Popcorn übernahm unsere Klassenkasse leider nicht. Du ahnst es schon. Richtig, es ging ins Kino. Genauer gesagt, in die Kinder-Late-Night-Vorstellung um 15.30 Uhr.

Wir warteten im Foyer, bis der Saal eröffnen sollte. Meine Popcorn-Tüte war bereits zur Hälfte leer. Was jetzt passierte, muss vom lieben Gott so vorgesehen worden sein! Ich weiß bis heute nicht, was Freddi gemacht oder gesagt hatte. Aber er wurde verkloppt, und zwar von zwei komischen Kindern aus der B-Klasse. Vielleicht hatte er es verdient, aber wenn jemand Freddi verkloppt… oder anpinkelt, dann ich!

Wann habt ihr euren ersten James-Bond-Film gesehen? Ich muss gestehen, den ersten James Bond habe ich gesehen, als ich noch nicht mal laufen konnte. Was war dein erstes Wort? »Mama«? »Papa«? Oder »Kaka«? Ich überraschte direkt mit zwei Wörtern: »James Bond«! Dementsprechend war ich top motiviert, Freddi zu helfen. Denn James Bond hätte zwei gegen eins niemals zugelassen. Ich eilte zu Freddi und fragte einen der beiden Jungs aus der B, ob er mein Popcorn festhalten könnte. Im Grunde genommen gab ich ihm keine Wahl, denn ich drückte ihm einfach die Tüte in die Hände und wusste, er würde sie nicht fallen lassen.

Der Junge schaute mich perplex an. Dieser Moment war perfekt. Er war machtlos, denn er hatte keine Hand mehr frei. BÄÄÄM! Ich schlug ihm mit meiner Rechten ins Gesicht. Er lag am Boden. Auf ihm verteilt lag das Popcorn. Mit blutiger Nase fragte er mich: »Wer bist du überhaupt?« – »Ray. Kevin Ray«, antwortete ich und zupfte an meinem Shirt, um stilgetreu meinen imaginären Anzug zu richten – wie James Bond eben.

Freddi war sprachlos. Er hätte mit allem gerechnet, nur nicht mit einer Rettung aus Stinkersheim.

Ehe Freddi dem zweiten Jungen aus der B eine verpassen wollte, hatte der die Flucht ergriffen, um einen Lehrer zu holen. Ein klassisches Mitläufer-Kind, das den Kampf niemals alleine begonnen hätte. Wie klar, dass ausgerechnet Frau Hockland dem Jungen zum Tatort folgte. »Was ist hier los?«, brodelte sie vor Wut. Freddi wusste genau, was er zu sagen hatte: »Wonach sieht’s denn aus? Die beiden wollten Kevin das Popcorn klauen. Als wir es zurückhaben wollten, ist er hingefallen!«

Auch im Lehrerzimmer machte die verfeindete Beziehung zwischen Freddi und mir bereits die Runde. Dass wir keine Freunde waren, war demnach auch Frau Hockland bekannt. Warum sollte also ausgerechnet er mich in Schutz nehmen? Freddis Lüge war so gut getarnt wie Jackie Chan in einem vollen China-Imbiss.

Unser Verhalten blieb auch von meiner Mutter nicht unkommentiert: »Zwei Löwen, typisch!«