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Der Journalist Alexander Dorn ist auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen, um seine Frau Claudia abzuholen. Noch ahnt er nicht, dass sich an Bord der British-Airways-Maschine auf dem Rückflug von London nach Frankfurt ein tragischer Zwischenfall ereignet hat. Das Resultat: Drei Passagiere sind tot, und unter ihnen befindet sich auch Claudia Dorn. Als Dorn diese Hiobsbotschaft erfährt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er gibt seinen Job bei der Zeitung auf und beschließt, auf eigene Faust die Hintergründe dieses schrecklichen Vorfalls aufzuklären. Die Kriminalpolizei hat mittlerweile die weiteren Ermittlungen an das LKA abgegeben, und Dorn erfährt nichts mehr. Aber er ahnt bereits, dass noch ganz andere Leute im Hintergrund die Fäden ziehen. Einige zwielichtige Geschäftsleute aus Frankfurt und ein Consulting-Unternehmen aus St. Petersburg scheinen darin verwickelt zu sein und nutzen ihren Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Justiz, um ihre Ziele zu erreichen. Dazu gehört auch der Mordbefehl gegen den Mann, der drei Menschen an Bord tötete, von mutigen Passagieren überrumpelt wurde und nun in Untersuchungshaft sitzt. Er darf nicht ausplaudern, was er weiß – und deshalb wird er zum Schweigen gebracht! Dorn steht erst am Anfang seiner Recherchen, und es wird nahezu unmöglich sein, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Dann bekommt er jedoch ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann: ein Angebot, das es ermöglicht, seine Suche fortzusetzen...
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Seitenzahl: 412
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Über den Autor
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Impressum
Samstagmorgen, neun Uhr.
Der Mann sah aus, als leide er an einem schlimmen Magengeschwür. Ständig wischte er sich mit fahrigen Bewegungen den Schweiß aus der Stirn und blickte sich immer wieder nach allen Seiten um, als sei ihm der Leibhaftige persönlich auf den Fersen. Dabei befand er sich nicht auf dem Weg zur Hölle, sondern lediglich in der Abflughalle des Londoner Flughafens Heathrow. Aber es gab Leute, die behaupteten, der ständige Ansturm Tausender Passagiere habe schon einiges damit zu tun. Denn zu dieser frühen Morgenstunde herrschte bereits eine beachtliche Hektik.
Vor den Check-In-Schaltern hatten sich lange Schlangen gebildet. Ein Mann, der jetzt mit einem lauten Stöhnen seine Koffer auf das Transportband wuchtete und von seiner blassgesichtigen Frau und einem Haufen nörgelnder Kinder begleitet wurde, bestand mehrmals ausdrücklich darauf, dass man ihm und seiner Familie einen Fensterplatz zuteilen müsse. Damit seine Frau auf jeden Fall den Start und die Landung aus nächster Nähe mitansehen könne.
Es gab ein Problem, als die Angestellte der British Airways ihm klarzumachen versuchte, dass alle Fensterplätze bereits ausgebucht seien und er sich mit Sitzplätzen im mittleren Gang des Airbus zufrieden geben müsse. Der Mann blickte drein, als habe ihn der Schlag getroffen, und die Augen seiner Frau funkelten zornig. Was aber nichts daran änderte, dass der Mann das doch schließlich akzeptieren musste.
»Ich werde mich bei Ihrer Fluggesellschaft beschweren!«, stieß er aufgeregt hervor. »Das ist doch kein Service!«
»Selbstverständlich steht Ihnen das frei, Sir«, erwiderte die Angestellte mit einem gezwungenen Lächeln. Sie war aber insgeheim froh, als sie endlich den nächsten Passagier abfertigen konnte.
Harvey Smithfields Hände waren feucht vor Schweiß. Und der Aktenkoffer in seiner rechten Hand fühlte sich an, als transportiere er darin zentnerschwere Lasten. Aber es war nur das Gewicht seiner eigenen persönlichen Verantwortung, das ihm an diesem Morgen zu schaffen machte.
Harvey Smithfield sah nicht nur aus wie ein Buchhalter - er war auch einer. Jemand, der sein Handwerk verstand. Das einzige Problem war die Tatsache, dass das Gehalt, das an jedem Letzten eines Monats auf sein Konto floss, nicht aus legalen Quellen stammte, sondern – vorsichtig formuliert – aus osteuropäischen Wirtschaftskreisen. Smithfield hatte das nicht gewusst, als er seinen Job bei Pattersons Inc. angetreten hatte, denn die Firma besaß im teuersten Stadtteil von London eine repräsentative Villa und hatte auf ihn zu Beginn seiner Anstellung sehr positiv gewirkt. Eine renommierte Unternehmensberatung, bei der vermögende Klienten ein- und ausgingen. Einige von ihnen waren sogar sehr prominent.
Entsprechend verantwortungsvoll war auch Smithfields Job, der gut dotiert war. Somit wäre eigentlich alles in Ordnung gewesen, wenn Smithfield nicht eines Tages ein Problem bekommen hätte. Eigentlich war es kein Problem, sondern nur etwas, was man als menschliche Schwäche bezeichnen konnte. Aber in diesem Fall war es gravierend gewesen.
Smithfield war seit mehr als fünfzehn Jahren verheiratet, hatte aber dennoch besondere geheime Wünsche. Seine Frau konnte ihm das nicht geben. So landete er schließlich im Bett einer Prostituierten, bei der er nicht nur befriedigt, sondern auch heimlich gefilmt wurde.
Das wurde ihm jedoch erst bei seinem nächsten Besuch klar. Ein breitschultriger Mann bat ihn mit einem gutmütigen Lächeln, ihm zu folgen und präsentierte dann ein Video, auf dem zwei nackte, heftig keuchende Menschen zu sehen waren - und einer davon war Harvey Smithfield.
»Ich finde, Ihre Emotionen kommen sehr gut rüber, Sir«, hatte der grinsende Mann gesagt. »Das sollte Ihnen doch einiges wert sein, oder?«
Natürlich hatte Harvey Smithfield gezahlt - und nicht nur einmal. Für dieses Schweigen hatte er sehr viel Geld ausgegeben, aber das Video hatten diese Erpresser ihm dennoch nicht ausgehändigt. Stattdessen waren die Forderungen immer höher geworden, so dass ihm schließlich nichts anderes übrig blieb, als auf andere Weise an Geld zu kommen.
Eigentlich war es leicht, denn als Buchhalter saß er ja an der Quelle. Seine Vertrauensstellung ermöglichte es ihm, zunächst unbemerkt Geld beiseite zu schaffen. Aber dieser grinsende Schweinehund blieb hartnäckig und erpresste Smithfield weiter, und dazu immer häufiger. Also unterschlug der Buchhalter weitere Gelder der Firma - und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt stieß er auf etwas, was ihm die Haare zu Berge stehen ließ.
Eigentlich war es ein dummer Zufall, als er die schwarzen Konten und deren Bewegungen entdeckte. Konten, von deren Existenz selbst er als verantwortlicher Buchhalter bisher gar nichts gewusst hatte. Er begriff zu diesem Zeitpunkt nur wenige Zusammenhänge - aber das, was er bereits mitbekommen hatte, reichte aus, um einen Schlussstrich hinter sein bisheriges Leben zu setzen.
Er sagte seiner Frau nur, dass er für ein paar Tage geschäftlich nach Frankfurt müsse, als er seinen Koffer packte und zum Flughafen fuhr. Er hatte auf ein Konto einer Frankfurter Großbank auf Umwegen bereits vorher eine beträchtliche Summe Geld transferiert. Das, was sich jetzt außerdem noch an Bargeld in seinem Aktenkoffer befand, war im Vergleich dazu nur ein Taschengeld. Beides würde ihm aber einen neuen und sorgenfreien Start ermöglichen - und dann konnte er endlich alles vergessen, was in den letzten Wochen sein Gewissen geplagt hatte.
An seine Frau verschwendete er keinen einzigen Gedanken mehr. Dieses Kapitel war für ihn genauso abgeschlossen wie sein Buchhalterjob bei der renommierten Unternehmensberatung Pattersons Inc., die in Wirklichkeit gar nicht so ehrenwert war, weil die zahlungskräftigen Klienten einzig und allein daran interessiert waren, mit Hilfe dieser Firma systematische Geldwäsche zu betreiben.
Das Schicksal hatte an diesem Samstagmorgen jedoch andere Pläne mit Mr. Harvey Smithfield. Genauer gesagt mit ihm und allen anderen Passagieren des Fluges BA-3703 von London nach Frankfurt.
Aber das wusste selbst der Mann nicht, der sich an einem Süßwarenstand eine Tüte Erdnüsse kaufte und von dort aus hinüber zum Schalter blickte. Sein Interesse galt jedoch nicht Harvey Smithfield, sondern vielmehr einem älteren, dezent gekleideten Mann, der von zwei jüngeren Typen in Maßanzügen begleitet wurde. Aber nur bis zum Flugsteig!
*
»Es ist immer das gleiche!«, beklagte sich der Mann mit den nörgelnden Kindern, die ausgerechnet jetzt auf die Idee gekommen waren, inmitten der wartenden Passagiere Fangen zu spielen. Was nicht nur den Vater nervte, sondern auch einige der anderen Fluggäste, die ihm missbilligende Blicke zuwarfen. »Man zahlt überhöhte Preise für diesen kurzen Flug, und dann wollen sie einem Stammpassagier noch nicht einmal einen Gefallen tun, wenn er ein einziges Mal seine Familie mitnimmt...«
Claudia Dorn interessierte sich nicht dafür, was der Mann ihr zu sagen hatte. Es war purer Zufall, dass sie in der Wartehalle am Flugsteig B 765 neben ihm saß und mit gemischten Gefühlen dem Abflug nach Frankfurt entgegensah. Deshalb zuckte sie nur verlegen mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an - was den aufgebrachten Familienvater jedoch nicht davon abhielt, seiner Wut weiter Luft zu machen.
»Wenn ich in Frankfurt bin, werde ich gleich einen Beschwerdebrief aufsetzen«, fuhr er fort. »Die werden schon sehen, was sie davon haben, zahlende Passagiere so zu behandeln... He, Julian!«, rief er einem der vier Kinder zu. »Lässt du wohl die Tüten in Ruhe? Verdammt, Diana - nun kümmere dich doch darum, dass...«
Claudia Dorn sah, wie zwei der vier Kinder einige der Tüten geöffnet hatten. Darin befanden sich Snacks, die die Fluggesellschaft für die wartenden Passagiere kostenlos bereithielt. Und bevor ihre Mutter sie daran hindern konnte, hatten die Kinder auch schon den Inhalt der Tüten auf den Boden gekippt und lachten über diesen großen Spaß.
Eine Angestellte vom Bodenpersonal kam hinzu, und gemeinsam mit der Mutter schaffte sie es, die Kinder wieder zur Ordnung zu rufen. Claudia Dorn registrierte das jedoch nur am Rande, denn in Gedanken war sie bereits ganz woanders.
Er wird mich abholen kommen, dachte sie. Aber warum freue ich mich nicht darauf?
Es war nicht das erste Mal, dass ihr solche Gedanken kamen. Aber noch niemals zuvor war ihr das so deutlich geworden wie in dieser Minute. Warum eigentlich? Sie war achtundzwanzig Jahre, verheiratet und eigentlich finanziell gut abgesichert. Trotzdem fühlte sie sich allein und verlassen, denn Alex war mehr unterwegs wie zuhause. Im Grunde genommen lebte er für seinen Job, und das hatte sie zu spät begriffen.
Ein Journalist, der eine heiße Story wittert, gibt so lange nicht auf, bis er das herausgefunden hat, was er will, hatte ihr Alex einmal gesagt, als sie ihn zur Rede gestellt hatte. Liebling, du musst das einfach verstehen - es ist doch nicht persönlich gemeint. Lass uns darüber in Ruhe reden, wenn ich die Sache hinter mir habe - einverstanden?
Aber eine Story folgte der anderen - und schließlich hatte Claudia begriffen, dass sie sich im Lauf ihrer nur siebenjährigen Ehe bereits auseinandergelebt hatten. Vielleicht hatte sie auch viel zu früh geheiratet, und bestimmt hätten Kinder etwas ändern können. Aber in dieser hektischen Gesellschaft hatten sie beide zunächst andere Prioritäten gesetzt. Was sich jetzt als Sackgasse herausgestellt hatte!
»Endlich!«, schnaufte der aufgebrachte Familienvater, dessen Stimme sie aus ihren melancholischen Gedanken riss. »Pünktlichkeit ist ja wohl das Mindeste, was man verlangen kann...«
Claudia Dorn erhob sich rasch, griff nach ihrer Handtasche und gesellte sich zu den anderen Passagieren. Sie bemerkte einen älteren Mann mit einer unmodischen Brille und mit schütteren Haaren, der schwitzte und sich nach vorn drängelte. Er konnte es wohl kaum abwarten, an Bord zu gehen.
Ein gut gekleideter Mann war vor ihr, der sie kurz registrierte. Claudia war solche Blicke gewohnt, denn sie war eine attraktive Frau. Mit schulterlangen blonden Haaren und einer schlanken Figur erregte sie immer Aufmerksamkeit. Die ganzen Jahre über hatte sie sich kaum etwas daraus gemacht. Aber eigenartigerweise genoss sie es umso mehr, je deutlicher ihr bewusst wurde, dass ihr eigenes Schicksal jetzt an einem Scheideweg angelangt war. Sie musste etwas ändern, wenn sie wieder zuhause war - und zwar bald!
Vielleicht war dieser Trip nach London der Anfang von etwas Neuem. Sie hatte alte Kontakte aus ihrer Studienzeit wieder neu aufleben lassen und dadurch einige Leute kennengelernt, die ihr bei ihren Modeentwürfen weiterhelfen würden. Durch Beziehungen war vieles leichter.
Ich denke über Beziehungen nach - während meine eigene in Scherben zerbricht, sinnierte sie, als sie an Bord ging und sich von der Stewardess ihren Sitzplatz zeigen ließ. Unglücklicherweise befand er sich nicht weit von dem Familienvater entfernt!
*
Harvey Smithfield war erst dann erleichtert, als sich das Flugzeug endlich in Bewegung setzte und auf die Startbahn zusteuerte. Dennoch huschten seine Blicke immer noch misstrauisch umher. Als wenn er im letzten Moment befürchtete, dass ein Mitarbeiter von Pattersons Inc. jetzt plötzlich herein kam und ihn zur Rede stellte. Aber diese Sorge war unbegründet, denn wenn sie bemerkten, was wirklich Sache war, dann befand er sich längst in Frankfurt. Schließlich war er ein guter Buchhalter - und das hieß vor allem, dass man ihm nicht gleich auf die Schliche kommen würde. Denn sie glaubten, dass er krank war und einige Tage das Bett hüten musste.
Mit einem sanften Ruck hob die Maschine ab und stieg rasch hinauf in den blauen Himmel. Die Gebäude und Abfertigungshallen des weitverzweigten Flughafens von Heathrow waren auf einmal winzig klein. Erst jetzt lockerte Harvey Smithfield seine Krawatte und lehnte sich im Sitz zurück. Er hatte es hinter sich!
Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet der gut gekleidete Mann neben ihm saß, der bis zum Flugsteig von seinen zwei persönlichen Assistenten begleitet worden war. Aber das wusste Harvey Smithfield nicht. Er wäre vermutlich überrascht gewesen, wenn er gewusst hätte, dass ausgerechnet dieser Mann in der Chefetage von Patterson´s Inc. zwei wichtige Termine gehabt hatte. Aber die Buchhaltung befand sich in einem anderen Stockwerk, und er selbst bekam so gut wie nie etwas von den Kunden mit, die bei der Geschäftsleitung ein- und ausgingen.
Smithfield bemerkte nur, wie der Mann neben ihm ein wenig die Nase rümpfte, weil er den Schweiß des Buchhalters roch. Das war Smithfield peinlich, und er blickte betreten zu Boden.
Zwei Sitzreihen hinter Smithfield hockte der schweigsame Mann, der eine halbe Stunde zuvor eine Tüte Erdnüsse gekauft hatte und immer noch daran knabberte. Er sah aus wie ein Geschäftsmann und trug einen tadellos sitzenden Anzug. Er blätterte in einem Wirtschaftsmagazin herum, hob aber immer wieder den Kopf und blickte nach vorn.
Schräg gegenüber von ihm, auf der anderen Seite des Ganges, saß Claudia Dorn und versuchte, ein wenig Ordnung in ihre verwirrten Gedanken zu bringen. Aber irgendwie schaffte sie das nicht. Eine unbeschreibliche Wehmut ergriff sie, als sie an die letzten Tage dachte, die sie in London mit Freunden verbracht hatte - und erneut wurde ihr klar, wieviel sie im Grunde genommen die letzten Jahre über verpasst hatte.
London ist eine Stadt, in der man die Kulturtrends mit beiden Händen greifen kann, kam es ihr in den Sinn. Aber ein neugieriger Journalist wie Alexander Dorn würde sich lediglich für die steigende Verbrechensrate und die Wirtschaftskriminalität interessieren. Deshalb werde ich ihn verlassen - es gibt keinen anderen Weg. Ich möchte zukünftig die schönen Seiten des Lebens sehen. Nicht nur die Abgründe...
In der Tat sollte die Ehe zwischen Alexander Dorn und seiner Frau Claudia ein plötzliches Ende finden. Aber völlig anders, als sich Claudia das erhofft hatte. Denn nur eine Stunde später würde der Tod zuschlagen. Und die junge, jetzt etwas traurig wirkende Frau sollte eines seiner Opfer sein...
*
Der Mann schenkte der Tüte Erdnüsse in dem Moment keine Beachtung mehr, als er sah, wie eine Sitzreihe vor ihm sich ein Fluggast erhob. Er ging weiter nach vorn, wahrscheinlich um die Toilette aufzusuchen.
Das war der Augenblick, auf den der Mann die ganze Zeit gewartet hatte. Rasch erhob er sich ebenfalls von seinem Sitz und machte sich dann für einen kurzen Moment an dem Ablagefach über der Sitzreihe zu schaffen. Als wenn er etwas Wichtiges suchte.
Das einzige, was ihn jedoch interessierte, war der ältere grauhaarige Mann, der zum Greifen nahe war. Ein kurzes Lächeln schlich sich in die Züge des Mannes, als er bemerkte, dass der andere konzentriert in der deutschen Ausgabe der Financial Times herumblätterte und gar nicht mitbekam, wie ein anderer Passagier auf einmal in der Reihe hinter ihm Platz nahm.
Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Alles musste schnell gehen - und zum Glück hatte er die notwendigen Vorbereitungen schon vor dem Abflug getroffen. Er hatte eine bereits aufgezogene Spritze mit einer stark konzentrierten und nicht nachweisbaren Giftlösung in seiner Sakkotasche gehabt.
Carlo Pontani, offiziell ein respektabler Geschäftsmann, der Im- und Exporte mit verschiedenen Waren betrieb, aber in Wirklichkeit einer der vier Mächtigen der hiesigen Frankfurter Mafia-Familie war, ahnte nicht, dass der Tod schon seine Finger nach ihm ausgestreckt hatte. Er litt seit Jahren an einer starken Diabetes und musste sich jeden Tag lebensrettendes Insulin spritzen.
Der Mann hinter Pontani wusste dies - und noch eine ganze Menge mehr. Gleich würde Pontani einen gewaltigen Schock bekommen, der schließlich zum Tod führte. Bei einem Mann seines Alters verlief Diabetes mitunter kompliziert, und man musste immer mit solch einer Situation rechnen. Genau das war der Plan derjenigen, die den Mann beauftragt hatten, Pontani aus dem Weg zu räumen.
In Sekundenschnelle zog er die Spritze heraus, brachte seine rechte Hand zur Rückenlehne und lächelte kalt, als er sah, dass Pontani es ihm sogar noch leichter machte, als er gehofft hatte. Der italienische Geschäftsmann hatte sein Jackett ausgezogen und trug darunter ein Hemd mit kurzen Ärmeln!
Die Hand des Auftragskillers schoss nach vorn, und die Nadel mit der hochkonzentrierten Giftlösung bohrte sich in den Unterarm des Mannes. So schnell und so unerwartet, dass Pontani gar nicht wusste, wie ihm geschah. Er zuckte zusammen und registrierte dann erst den stechenden Schmerz in seinem Arm. Aber da hatte der Mann hinter ihm die Spritze schon längst wieder zurückgezogen, sie in seinem Sakko rasch verschwinden lassen und lehnte sich jetzt gemütlich im Sitz zurück. Er blickte fast gelangweilt aus dem Fenster, während Carlo Pontani auf einmal die Luft zum Atmen knapp wurde.
Der grauhaarige Mann rang keuchend nach Luft, während sein Körper plötzlich unkontrolliert zu zucken begann. Ein furchtbares Röcheln kam aus seiner Kehle, und sein Gesicht nahm eine ungesunde Farbe an. Die Financial Times entglitt seinen Fingern, und er griff verzweifelt nach einer helfenden Hand.
Der einzige in der Nähe war Harvey Smithfield, und der war jetzt so erschrocken, dass er überhaupt nicht begriff, was hier geschah.
»Was...was ist denn?«, entfuhr es ihm mit unsicherer Stimme, als er den Griff seines Sitznachbarn um seinen Arm spürte. »Ist Ihnen nicht gut? Soll ich die Stewardess holen, Sir?«
»Hilfe...«, röchelte Carlo Pontani und verdrehte die Augen. »Ich...«
Er sah hinter sich, als wenn er in diesem Moment ahnte, dass der sportlich wirkende junge Mann hinter ihm dafür verantwortlich war. Aber er konnte nichts mehr sagen, denn sein Kreislauf setzte aus. Nur Sekunden später folgte ein rascher Herztod. Dann brach er von einer Sekunde zur anderen plötzlich zusammen.
Mit dem Oberkörper lag er halb auf dem völlig hilflosen Harvey Smithfield. Ihm wurde übel, als er in die toten Augen des Mannes blickte. In den benachbarten Sitzreihen entstand auf einmal Unruhe, die auch den Stewardessen weiter vorn nicht entgangen war.
Sofort kamen sie herbei geeilt und beugten sich über den Mann, konnten aber auch nur dessen Tod feststellen.
»Nehmen Sie ihn doch endlich weg!«, beklagte sich Harvey Smithfield. »Ich kann es...nicht mehr ertragen!«
Immer noch hielt er seinen Aktenkoffer mit der rechten Hand so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er zog dabei die Aufmerksamkeit fast aller auf sich, so dass niemand bemerkte, wie der andere Mann wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz ging und von dort aus beobachtete, wie sich die Dinge weiter entwickelten.
»Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«, rief jetzt ein hagerer Mann, während die beiden Stewardessen Mühe hatten, die sichtlich nervösen Fluggäste zu beruhigen. Er deutete Smithfield an, sich zu erheben und inspizierte dann den Toten.
»Es... es kam alles so plötzlich«, stotterte Smithfield, als er die fragenden Blicke des Arztes auf sich gerichtet fühlte. »Ich weiß gar nicht, wie das alles...«
»Vermutlich ein Schock«, murmelte der Arzt, als er die Einstichnarben in der Armbeuge des Toten erkannte. »Ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Kommen Sie - fassen Sie mit an. Wir müssen den Toten von hier wegbringen.«
»Was – ich?«, erwiderte Smithfield erschrocken. »Kann das nicht irgendjemand anderes machen?«
Der Arzt runzelte kurz die Stirn angesichts dieser merkwürdigen Antwort des ziemlich verschüchtert wirkenden Mannes. Er dachte sich seinen Teil und sparte sich eine passende Bemerkung.
Das war der Moment, wo die helle Stimme eines kleinen Jungen alles zunichtemachte.
»Papa, der erste Doktor hat dem Mann ja gar nicht geholfen - obwohl er ihm eine Spritze gegeben hat!«
Vorwurfsvoll richtete sich der Finger des neugierigen kleinen Jungen auf den sportlich gekleideten Mann, der zwei Sitzreihen hinter dem Toten Platz genommen hatte.
Die Stimmen der Passagiere verstummten von einer Sekunde zur anderen, und etliche Augenpaare richteten sich nun auf den betreffenden Mann, um dessen Mundwinkel es kurz zu zucken begann.
»Der da war´s!«, rief der Junge in seiner Unwissenheit weiter. »Ich hab´s genau gesehen!«
Obwohl seine Mutter verzweifelt versuchte, den Jungen an seinen vorlauten - und in diesen Sekunden alles andere als hilfreichen - Worten zu hindern, kam sie zu spät. Was der Kleine gesehen hatte, hatte er auch gesagt! Denn man hatte ihm beigebracht, immer ehrlich zu sein und die Wahrheit zu sagen.
Diese löbliche Absicht löste nun eine Kette von sich überschlagenden Ereignissen aus, an dessen Ende zwei Menschen sterben und vier weitere schwer verletzt werden sollten. Und es begann... JETZT!
*
Die Augen des Mannes, der Carlo Pontani getötet hatte, blitzten wütend auf, weil er doch einige Sekunden lang nicht aufgepasst hatte. Dieser kleine Junge hatte ihn tatsächlich dabei beobachtet, wie er seinem Opfer die Spritze verabreicht hatte. Traurig, aber leider nicht mehr zu ändern. Deshalb gab es jetzt für ihn nur noch die Flucht nach vorn.
All dies spielte sich in Bruchteilen von Sekunden in seinem Hirn ab. Dann reagierte der Mann, der sich nicht zum ersten Mal in einer bedrohlichen Situation befand. Urplötzlich sprang er auf und griff sich den Arzt. Er riss ihn an sich und holte gleichzeitig mit der anderen Hand eine Pistole heraus.
»Ganz ruhig!«, sagte er. »Wenn Sie sich ruhig verhalten, wird Ihnen nichts geschehen. Ich will sofort den Flugkapitän sprechen. Wird´s bald?«
Die letzten Worte galten einer der Stewardessen, die fast wie versteinert auf die Pistole blickte, mit der er den keuchenden Arzt bedrohte. Der Lauf war auf seine Stirn gerichtet, und es bestand kein Zweifel daran, dass er auch davon Gebrauch machen würde.
»Hinsetzen, verdammt noch mal!«, fuhr der Mann nun einige andere Passagiere an, die sich ziemlich aufgeregt gaben. »Oder wollt ihr, dass ich den Arzt hier erschieße?«
Die Stimme duldete keinen Widerspruch. Die Menschen taten, was ihnen der Mann sagte. Das ängstliche Wimmern eines Kindes war zu hören, dem eine tiefe Stimme folgte. Dann war alles wieder still.
In der Zwischenzeit war eine der Stewardessen im Cockpit verschwunden und kehrte nur wenige Augenblicke später mit dem Kapitän zurück.
»Bleiben Sie ruhig!«, wandte sich dieser sofort an den Bewaffneten. »Tun Sie dem Mann nichts - wir können über alles reden. Was wollen Sie?«
»Ich wollte in Ruhe gelassen werden«, antwortete der Mann. »Aber dieser Scheißlümmel musste ja unbedingt neugierig sein. Was jetzt geschieht, habt ihr ihm zu verdanken. Ich will, dass ihr euch alle ruhig verhaltet - dann werden wir weitersehen, was geschieht...«
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«, fragte ihn der Kapitän. »Was fordern Sie von uns?«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte der Mann, hinter dessen Stirn jetzt ein verzweifelter Gedanke den anderen jagte. »Auf jeden Fall wird diese Maschine nicht in Frankfurt landen...«
»Nein!«, entfuhr es jetzt dem unscheinbaren Harvey Smithfield, der die ganze Zeit über zur Salzsäule erstarrt gewesen war. »Ich muss unbedingt nach Frankfurt und...«
Weil er jetzt angesichts seiner eigenen persönlichen Lage sämtliche Felle davonschwimmen sah, erhob er sich hastig vom Sitz und gestikulierte dabei wild mit der linken Hand.
Der Mann mit der Waffe reagierte instinktiv. Er nahm den Lauf der Pistole vom Hals des Arztes, zielte kurz auf Smithfield und drückte ab. Die Kugel traf Smithfield in die Brust und schleuderte ihn zurück gegen die anderen Sitze. Mit einem lauten Stöhnen und einem erstaunten Ausdruck im Gesicht brach der Buchhalter zusammen und ließ dabei seinen Aktenkoffer fallen. Er prallte so hart auf dem Boden auf, dass sich das Schloss öffnete und den Inhalt preisgab. Mehrere dicke Geldbündel fielen auf den Gang.
Der Arzt sah das und erkannte die Chance, weil sein Peiniger für wenige Sekunden abgelenkt war. Während Smithfield zusammenbrach und einige der Passagiere jetzt vor Angst zu schreien begannen, versuchte der Arzt diesen kurzen Moment für sich zu nutzen. Er stieß seinen Arm hoch und griff nach der Hand des Mannes, die die Pistole hielt, versuchte sie herumzureißen. Dabei löste sich ein zweiter Schuss, und die Kugel traf ausgerechnet Claudia Dorn!
Zuerst spürte sie nur einen heftigen Schlag in ihrer Bauchgegend und war für Bruchteile von Sekunden völlig fassungslos. Dann aber kam der heiße Schmerz und begann in ihr zu toben.
Claudia Dorn höte jemanden schreien und registrierte gar nicht, dass sie es selbst war. Sie fühlte nur alles um sich herum schwinden. Sie bemerkte nicht, wie zwei andere beherzte Passagiere zusammen mit dem mutigen Arzt den Mann überwältigten und ihm die Waffe entrissen.
Die Stimmen, die an ihr Ohr drangen, wurden immer leiser und schienen sich auf beängstigende Art und Weise zu entfernen - genauso wie der bohrende Schmerz in ihrer Bauchgegend, der allmählich einem schrecklich tauben Gefühl wich, das bereits den gesamten unteren Teil ihres Körpers erfasst hatte.
Mein Gott, schoss ein letzter Gedanke durch ihren Kopf. Geht es denn wirklich so schnell?..
Dann war da nur noch ein tiefer, schwarzer und endloser Schacht, in den sie stürzte, und der alle weiteren Empfindungen auslöschte.
»Du nervst, Peter! Kannst Du dich denn nicht selbst mal darum kümmern?«
Alexander Dorns Stimme klang gereizt, und daran war nicht nur der Dauerregen schuld, der gegen die Windschutzscheibe seines silbermetallicfarbenen Mercedes C 190 klatschte. Peter Schaumann hatte ein merkwürdiges Talent, immer zum falschen Zeitpunkt anzurufen. Wie jetzt, als Dorn kurz vor dem Bad Homburger Kreuz auf der mittleren Fahrspur im zähfließenden Verkehr voranschlich.
Der Polizeibeamte im Wagen rechts neben Dorn äugte misstrauisch und gar nicht freundlich zu Dorn hinüber, weil dieser sein Handy benutzte.
»Peter, ich mache jetzt Schluss. Ich rufe dich nachher vom Flughafen aus an. Jetzt geht es einfach nicht!«
Er wartete nicht ab, ob Schaumann ihm noch etwas zu sagen hatte, sondern beendete einfach die Verbindung. Er legte sein Handy rasch auf den Beifahrersitz, sah dabei hinüber zu dem Polizeibeamten auf der anderen Spur und grinste. Der Polizist besaß dagegen nicht so viel Humor, sondern schaute weiterhin verkniffen und unfreundlich drein.
»Dann eben nicht«, murmelte Dorn und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Heute war einer dieser Tage, die er hasste. Es war Wochenende, und es schüttete wie aus Kübeln. Nicht nur, dass er heute früh verschlafen hatte und ohnehin schon spät dran war - jetzt war er auch noch in diesen Stau geraten, den der hiesige Verkehrssender HR 3 natürlich wieder mal nicht rechtzeitig gemeldet hatte. Nun steckte er mittendrin und musste sich notgedrungen gedulden.
Er warf einen kurzen Blick auf die Anzeige der Uhr auf dem Armaturenbrett. In einer knappen Dreiviertelstunde würde Claudias Maschine landen. Normalerweise dauerte es von hier aus noch nicht einmal fünfzehn Minuten, bis er am Flughafen war. Aber wann sich dieser Stau auflöste, das wusste Dorn nicht. Er würde womöglich zu spät kommen.
»Scheiße«, murmelte er und spürte auf einmal eine seltsame Nervosität in sich, die nicht durch den Stau ausgelöst worden war. Auch nicht durch Schaumanns Anruf. Merkwürdig ist das, dachte Dorn. Was ist denn auf einmal nur los mit mir? Oder rege ich mich doch wieder über Schaumanns penetranten Telefonterror auf? Dabei müsste ich mich in all den Jahren doch schon daran gewöhnt haben...
Der fünfzigjährige Ressortleiter der Frankfurter Rundschau besaß wirklich ein besonderes Talent, einen seiner besten Journalisten immer zu den ungünstigsten Zeiten anzurufen. Vor allen Dingen dann, wenn er an einem von Dorns Artikeln etwas auszusetzen hatte - seltsamerweise immer am Wochenende.
Egal, dachte Dorn und atmete erleichtert auf, als der Verkehr weiter vorn sich allmählich aufzulösen begann. Von mir aus kann er von mir denken und halten, was er will. Das kümmert mich ganz und gar nicht. Er soll froh sein, dass jemand für ihn die brenzligen Themen anpackt...
Natürlich klingelte das Handy jetzt erneut, aber Dorn warf diesmal nur einen kurzen Blick darauf. Es war Schaumann. Dorn erkannte die Nummer - und er probierte es hartnäckig weiter. Er ignorierte das Klingeln und schaltete das Handy schließlich ab. Allein der Gedanke, dass Schaumann deshalb in seinem Büro am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand, trug viel dazu bei, um seine schlechte Laune wenigstens zum Teil zu beseitigen.
Nur die Nervosität blieb, und sie steigerte sich noch, je näher er dem Flughafen kam. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte - aber es gefiel ihm nicht. Deshalb gab er Gas, als sich der Stau schließlich ganz auflöste, fädelte sich grob fahrlässig auf die linke Spur ein und ignorierte das Hupkonzert eines Audi A 4, den er knapp geschnitten hatte.
Er näherte sich dem Nordwestkreuz, passierte das Westkreuz Frankfurt und erreichte knapp fünf Minuten später die Abfahrt zum Flughafen. Über einige Zubringer erreichte er schließlich das Parkhaus und war erleichtert, dass er trotz des Wochenendes gleich am Anfang der langen Tiefgaragenstraße einen freien Platz in der ersten Parkbox fand.
Dorn keuchte, als er ausstieg und dabei erneut einen Blick auf die Uhr warf. Genau in diesem Moment musste die Maschine aus London landen - und er war wieder einmal auf die letzte Minute hier!
Deshalb hatte er es jetzt furchtbar eilig, als er eine der Türen aufriss, die hinauf in die oberen Ebenen des Flughafens führten. In solchen Situationen drückte einen der Schuh ganz besonders - und so erging es auch Dorn. Ein erneuter Beweis dafür, dass heute ganz offensichtlich nicht sein Tag war. Wäre die Sache mit Claudia nicht gewesen, dann wäre er im Bett geblieben und nicht vor Mittag aufgestanden. Natürlich klingelte auch zuhause am Wochenende morgens das Telefon - aber Dorn wusste solche Störungen perfekt zu ignorieren. Lästige Anrufe am Wochenende vor zwölf Uhr mittags betrachtete er als persönliche Körperverletzung...
Auf dem Weg zur Ankunftshalle warf er einen Blick auf die große Anzeigentafel und registrierte, dass Claudias Maschine tatsächlich schon gelandet war. Hoffentlich stand seine Frau nicht schon am vereinbarten Treffpunkt und hielt ungeduldig Ausschau nach ihm! Claudia konnte manchmal recht launisch sein, wenn er nicht pünktlich kam. Sie selbst kam dagegen meistens immer eine halbe Stunde zu spät.
»Entschuldigen Sie!«, riss ihn die Stimme eines jungen Mannes mit langen, ungepflegten Haaren aus seinen Gedanken, der sich ihm unerwartet in den Weg stellte und ihm mit einem aufdringlichen Lächeln ein Flugblatt präsentierte. »Darf ich Sie auf unsere aktuelle politische Amnesty-Liste ansprechen und Sie um eine Unterschrift bitten?«
»Selbstverständlich dürfen sie das«, antwortete Dorn ebenfalls freundlich lächelnd und ließ den jungen Mann einfach stehen. Er hastete über die Rolltreppe nach oben und erreichte endlich den A-Bereich des alten Terminals. Er orientierte sich noch einmal, an welchem Flugsteig die Maschine aus London angekommen war und seufzte, als ihm bewusst wurde, dass das am anderen Ende der Halle war. Also beeilte er sich, bis er schließlich sein Ziel erreicht hatte.
Eigentlich waren wartende Menschen vor einem Ankunftsportal nichts Besonderes. Solche Dinge spielten sich am Frankfurter Flughafen jeden Tag ab. Dennoch spürte Dorn, dass heute und hier irgendetwas anders war.
Er sah drei aufgeregte Menschen, die vor dem Schalter neben der noch verschlossenen Tür wild mit den Händen gestikulierten und auf die uniformierte Angestellte einredeten. Die Frau schien etwas blass und verwirrt. Dorn war noch zu weit entfernt, um mitzubekommen, um was es hier ging. Aber der Ausdruck in den Augen der Frau bereitete ihm Sorgen.
»...wollen endlich wissen, was das zu bedeuten hat!«, hörte Dorn nun die aufgeregte Stimme eines untersetzen Mannes. »Warum können Sie uns keine Auskunft geben? Ist etwas passiert?«
»Bitte gedulden Sie sich doch, mein Herr«, erwiderte die Angestellte mit einem unsicheren Lächeln. »Es besteht sicher kein Grund zur Sorge - es hat nur eine kleine Verzögerung bei der Landung gegeben. Aber es ist kein technischer Defekt. Die ersten Passagiere werden sicher jeden Moment den Zoll passieren.«
Der untersetzte Mann brummte etwas Unverständliches vor sich hin und schien sich damit zufrieden zu geben. Trotzdem hing eine eigenartige, fast drückende Spannung über diesem Teil der Ankunftshalle.
Eine knappe Viertelstunde verging, und die Türen blieben immer noch verschlossen. Die Wartenden wurden wieder unruhig - und erneut musste die Angestellte tröstende Worte finden. Sie fühlte sich aber dabei nicht wohl in ihrer Haut. Dass etwas nicht stimmte, fiel spätestens in dem Moment auf, als ein weiterer Flughafenbediensteter an den Schalter eilte und dort stehenblieb. Er redete kurz mit seiner Kollegin, die heftig nickte und dann ebenfalls nervös wurde.
Gerade als Dorn zum Schalter gehen wollte, öffneten sich die Türen, und die ersten Passagiere kamen heraus. Aber nicht mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht. Stattdessen wirkten ihre Mienen ernst, verschlossen und teilweise eingeschüchtert. Eine ältere Frau, die bekannte Gesichter in der wartenden Menge erblickte, erlitt plötzlich einen Weinkrampf und musste von zwei anderen Passagieren so lange gestützt werden, bis sie von ihren Verwandten geholfen bekam.
Dorn sah das, und seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Er biss sich nervös auf die Unterlippe und fuhr mit der rechten Hand immer wieder durch sein volles schwarzes Haar. Dann ging er zum Schalter.
»Ich warte auf meine Frau. Claudia Dorn ist ihr Name«, sagte er rasch zu der Angestellten. »Auch wenn ich mich irren sollte - aber mir kommt es so vor, als wären die Passagiere mit den Nerven am Ende. Das sind doch die Passagiere aus London, oder?«
Bevor die Frau etwas sagen konnte, trat jetzt ihr resolut wirkender Kollege einen Schritt nach vorn.
»Wie war noch mal Ihr Name, mein Herr?«
»Dorn, Alexander Dorn«, wiederholte dieser und registrierte dann zu seinem Erstaunen, dass der Mann ihn mit einer kurzen Geste aufforderte, nach hinten zu kommen.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Herr Dorn?«, bat er ihn mit gezwungener Ruhe.
»Und warum sollte ich das? Ich warte doch nur auf meine Frau und...«
»Bitte, Herr Dorn«, fiel ihm der andere ins Wort. »Kommen Sie mit...« Diesmal klang seine Stimme fast flehend.
»Hören Sie mal, was ist hier eigentlich los?«, bohrte Dorn weiter, packte den Mann einfach am linken Arm und riss ihn heftig herum. »Ich möchte endlich eine Antwort haben. Das sieht doch ein Blinder, dass etwas nicht stimmt!«
»Ich bringe Sie ins Büro des Security-Managers«, antwortete der Angestellte mit eingeschüchterter Stimme. »Herr Clausen wird alle Ihre Fragen beantworten. Wenn Sie mich jetzt bitte loslassen würden?«
Dorn tat ihm den Gefallen.
*
Das seltsame Gefühl verstärkte sich noch, als Dorn in Clausens Büro noch zwei weitere Männer erblickte. Sie nickten ihm nur zu und schwiegen, während der Security-Manager nun auf Dorn zuging und dessen Hand ergriff.
»Es tut mir außerordentlich leid, Herr Dorn«, rückte er dann mit der Wahrheit heraus. »Aber ich befürchte, ich habe eine sehr schlechte Nachricht für Sie. Wollen Sie sich nicht lieber erst einmal setzen?«
»Claudia«, antwortete Dorn stattdessen. »Was ist mit meiner Frau. Ist sie... tot?«
Die letzten Worte waren fast ein Flüstern, und seine Stimme zitterte ein wenig. Er schluckte, als er sah, wie Clausen seinen Blicken auswich und schließlich nickte.
»Es war ein bedauernswerter Zwischenfall an Bord, Herr Dorn«, antwortete Clausen und suchte verzweifelt nach den passenden Worten. »Ihre Frau wurde versehentlich von der Kugel eines Verrückten getroffen, der eine Geisel nahm und dann um sich zu schießen begann. Er hat noch einen weiteren Passagier getötet, bevor man ihn schließlich überwältigen konnte...«
Dorn hörte nur mit halbem Ohr zu, was der Security-Manager ihm zu sagen hatte. Stattdessen kreisten seine Gedanken einzig und allein um Claudia. Der Schock über diese schlimme Nachricht saß noch so tief, dass er immer noch nicht glauben wollte, was man ihm gerade hatte begreiflich machen wollen. Claudia sollte tot sein? Seine Frau? Das war doch unmöglich - bestimmt lag hier ein Irrtum vor und...
»Ein Arzt an Bord versuchte noch zu helfen, Herr Dorn«, fuhr Clausen nun fort. »Aber die Verletzung war zu schwer. Sie starb, bevor die Maschine landete. Ich möchte Ihnen im Namen der British Airways und der Flughafen AG mein Beileid aussprechen.«
Dorns Miene war jetzt wie versteinert, als er den Kopf hob.
»Wo ist sie jetzt? Ich meine...«
»Sie können mit uns kommen«, meldete sich nun einer der beiden Männer zu Wort. »Ich bin Kommissar Rath, und das ist mein Mitarbeiter Jürgens. Ihre Frau ist...im Hospital des Flughafens.«
»Natürlich«, nickte Dorn schwer und erhob sich. Alles weitere nahm er dann irgendwie ganz undeutlich wahr. Er wusste, dass ihn die beiden Beamten jetzt über Gänge und Treppen in einen anderen Gebäudetrakt führten. Aber wie er dorthin gelangt war - daran erinnerte er sich später nicht mehr. Einer der beiden Beamten sprach währenddessen kurz auf ihn ein, aber Dorn reagierte nicht. Stattdessen spürte er den beißenden Schmerz in seiner Seele, der immer deutlicher Gestalt annahm. Weil nun gleich der Augenblick kam, den er am meisten fürchtete.
Sie erreichten die Ambulanz, und ein weiß gekleideter Mann führte Dorn und die beiden Beamten in einen kleinen Raum am Ende eines schmalen Ganges. Das Zimmer war leer bis auf ein Bett, in dem ein Körper lag. Zugedeckt mit einem weißen Laken.
In seiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß, als er dieses schrecklich endgültige Bild sah. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als der Mitarbeiter der Ambulanz sich jetzt dem Kopfende des Bettes näherte und die beiden Kriminalbeamten fragend anschaute.
»Wir können Ihnen das jetzt nicht ersparen, Herr Dorn«, ergriff Kommissar Rath das Wort. »Sie müssen Ihre Frau identifizieren. Es ist Vorschrift. Sind Sie jetzt dazu in der Lage?«
»Ja«, erwiderte Dorn knapp, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass seine Hände leicht zu zittern begannen. Mit schweren Schritten näherte er sich dem Bett und nickte dem Mann am Kopfende kurz zu. Der hob daraufhin das Laken und schlug es soweit zurück, dass der Blick auf das frei war, was sich darunter befand.
Dorn trat einen Schritt näher heran und blickte in das unnatürlich bleiche Gesicht seiner Frau. Die Züge wirkten entspannt, aber auch gleichzeitig seltsam entrückt. Als wenn sie alle bisherigen Probleme jetzt hinter sich gelassen hatte. Sie sah aus, als wenn sie tief und fest schlief - aber es war ein Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr geben würde. Niemals mehr!
»Ist das Ihre Frau Claudia Dorn?«, hörte er Kommissar Rath fragen.
Dorn nickte nur stumm. Er brauchte einige Sekunden, bis er etwas sagen konnte.
»Kann ich...einen Augenblick mit ihr allein sein?«, fragte er die beiden Beamten. »Bitte!«
»Selbstverständlich«, stimmte Kommissar Rath zu und gab seinem Assistenten und dem Ambulanzmitarbeiter einen kurzen Wink. »Wir warten dann solange draußen.«
»Danke«, murmelte Dorn und wartete ab, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann konnte er seine Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Eine gigantische Welle schmerzlicher Emotionen und unendlicher Trauer spülte über ihn hinweg und riss ihn einfach mit sich. Er fiel auf die Knie und griff nach der Hand seiner Frau.
Sie war kalt - schrecklich kalt und leblos, aber Dorn streichelte sie so sanft, als habe er Angst, sie in ihrem ewigen Schlaf zu stören. Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Kehle, und salzige Tränen verschleierten seinen Blick. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er zum letzten mal so sehr geweint hatte wie jetzt - aber er musste es tun. Denn mit jeder weiteren Sekunde wurde ihm umso schmerzlicher bewusst, dass das Schicksal ihm seine Frau entrissen hatte.
»Warum nur?«, stammelte er leise vor sich hin. »Ich hätte dir noch soviel sagen müssen, Claudia...«
Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich wieder an einige Dinge in solch einer Klarheit, dass er darüber fast erschrak. Es war nicht unbedingt eine perfekte Ehe, die Claudia und er miteinander geführt hatten. Der Zwang des Alltags hatte beide geformt und sicher auch beeinflusst. Sie hatte begonnen, sich allmählich von ihm zu entfernen - und er hatte nichts dagegen tun können. Er war ohnmächtig der Dynamik gegenüber gewesen, die sich bereits vor einiger Zeit in Bewegung gesetzt hatte. Er hatte die stille Hoffnung gehabt, dass die Reise nach London Claudia vielleicht half, wieder zu sich selbst zu finden und für sich eine richtige Entscheidung zu treffen.
Stattdessen hatte sie ein Verrückter umgebracht. Ein Flugzeugentführer oder ein Geiselnehmer? Dorn hatte nur halb zugehört, was ihm Clausen darüber gesagt hatte. Es änderte ja ohnehin nichts mehr daran, was geschehen war. Claudia lebte nicht mehr!
An diesem verregneten Samstagmittag geriet das Leben von Alexander Dorn aus den Fugen, als er vor seiner toten Frau kniete und leise weinend von ihr Abschied nahm. Etwas zerbrach in ihm, was ein Bestandteil von ihm gewesen war. Etwas, was nie mehr zurückkehren würde...
Dorn wusste nicht, woher er die Kraft nahm, die nächsten Tage durchzustehen. Es musste noch so viel erledigt werden bis zur Beerdigung. In der Redaktion hatte er angerufen und kurz mit Schaumann gesprochen. Der hatte ihm mit bedrückter Stimme sein Beileid ausgesprochen und ihm nahe gelegt, anschließend erst einmal Urlaub zu machen. Dorn hatte nicht widersprochen.
Das Schwierigste war das Gespräch mit Albert Morand gewesen, Claudias Vater. Der siebenundsechzigjährige Fabrikant aus Bad Homburg hatte einst ein Unternehmen in der Elektrotechnik-Branche geleitet. Als sich dann herausgestellt hatte, dass Claudia andere Wege gehen wollte, hatte Morand die Fabrik noch zu einem akzeptablen Preis an ein Bankenkonsortium verkaufen können und lebte seitdem ganz gut von den Zinsen.
Zunächst hatte er gar nichts gesagt, als Dorn ihn angerufen hatte. Es war beklemmend still am anderen Ende der Leitung gewesen. Dann hatte Claudias Vater geantwortet - und seine Stimme hatte schrecklich alt geklungen.
»Komm her.« Nur diese beiden Worte - aber es reichte aus, dass sich Dorn sofort in den Wagen setzte und nach Kronberg fuhr.
Als er Albert Morand dann gegenüber stand und in seine Augen blickte, erkannte er den Schmerz. Morand, ein ansonsten agiler und lebensfreudiger Mensch, war innerhalb kürzester Zeit zu einem alten Mann geworden. Bitterkeit hatte sich in seine Gesichtszüge eingegraben, als er sich anhörte, was ihm sein Schwiegersohn zu erzählen hatte.
Daran erinnerte sich Dorn jetzt wieder, als er in der Friedhofshalle stand und sah, wie sich draußen allmählich die ersten Trauergäste einfanden. Aber er registrierte nur ganz beiläufig, wer alles gekommen war - denn seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. So lange, bis der Pfarrer ihn mit einem leisen Räuspern wieder in die grausame und schmerzerfüllte Wirklichkeit zurückholte.
Dorn hob den Kopf und nickte schwach. Dann seufzte er tief, um die letzten Reste seiner Selbstbeherrschung aufrecht zu erhalten, denn bald näherte sich ein sehr schlimmer Moment. Nämlich dann, wenn er vor dem Grab stand und hinunter in die Tiefe blickte. Er kannte das zwar, als seine Eltern vor vielen Jahren gestorben waren - aber das machte es nicht besser.
Während der Pfarrer einige Verse aus dem Psalm 23 vorlas, setzte ein leichter Nieselregen ein. Dorn registrierte es nicht, sondern musste stattdessen seinen jetzt sehr gebrechlich wirkenden Schwiegervater stützen, den es sichtliche Überwindung kostete, auf diese Weise Abschied zu nehmen.
Zusammen traten sie ans Grab, blickten hinunter, und während es in den faltigen Zügen des alten Mannes zu arbeiten begann, blieb dagegen Dorns Miene verschlossen. Er hatte keine Tränen mehr.
Schaumann war gekommen, und mit ihm auch einige Kollegen aus der Redaktion. Sie gaben ihm alle die Hand und zeigten ihm dadurch, dass sie mit ihm fühlten. Dorn nickte nur, sah aber durch sie hindurch. Andere sprachen ihm ihr Beileid aus. Meist Menschen, die er nur flüchtig oder gar nicht kannte. Sie mussten zu Claudias Freundeskreis gehören - ein Beweis dafür, dass sie ihre eigenen Wege gegangen war.
Eine gute Stunde später war die Trauerzeremonie vorbei.
Die Menschen verließen den Friedhof. Zurück blieben Dorn und sein Schwiegervater, der immer noch nicht gehen wollte.
»Es ist Zeit«, sagte der Pfarrer und trat neben sie. »Man muss irgendwann loslassen können. Ich weiß nicht, ob es Sie tröstet - aber solange man über einen geliebten Menschen spricht und an ihn denkt - solange lebt er weiter...«
Morand nickte und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Er bedankte sich bei dem Pfarrer für den Trost und nickte dann Dorn zu. Gemeinsam verließen die beiden den Kronberger Friedhof.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Morand, während Dorn die Beifahrertür seines Mercedes öffnete.
»Wie meinst du das?«
»Man muss etwas tun«, murmelte der alte Mann. »Du hast doch einen Beruf, wo man alles herausfinden kann, wenn man sich bemüht, Alexander. Ich will wissen, warum das alles wirklich geschehen musste. Versprich mir, dass du es herausfinden wirst!«
In seiner Stimme klang etwas an, was Dorn aufhorchen ließ. Aber er begriff nicht, warum das so war.
»Ja...natürlich«, antwortete er rasch. »Es sind ja noch einige Fragen offen, die man uns nicht beantwortet hat, Albert. Aber ich weiß nicht, wie ich...«
»Du bist Journalist - nicht ich«, hielt ihm Morand entgegen. »Wenn du es noch nicht einmal weißt - wer dann? Also was ist: wirst du dich um die Sache kümmern? Ich will jetzt dein Wort darauf!«
»Gut«, stimmte ihm Dorn zu, während er sich ans Steuer seines Wagens setzte und mit einem kurzen Händedruck diese Vereinbarung besiegelte. Er hätte einiges dafür gegeben, wenn er jetzt die Gedankengänge seines Schwiegervaters hätte erkennen können. Keine Ahnung, was ihm in dieser Minute durch den Kopf ging und ihn dazu trieb, seine Bitte so vehement vorzutragen.
»Dann ist ja alles in Ordnung«, antwortete Morand knapp. »Fahr mich jetzt nach Hause - ich bin schrecklich müde...«
Dorn tat das und war erstaunt, als sein Schwiegervater es ablehnte, dass er ihn ins Haus begleitete. Seit dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren lebte Albert Morand recht zurückgezogen in der alten Villa am Stadtrand von Kronberg - und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
»Ich rufe dich morgen wieder an«, rief ihm Dorn nach, als der alte Mann sein Grundstück betrat. Aber Morand erwiderte nichts darauf. Er blickte nicht mehr zurück und war wenige Minuten später im Inneren seines Hauses verschwunden.
Noch am gleichen Abend erlitt er einen schweren Herzanfall!
*
Eine entsetzliche Leere erfasste Dorn, als er auf den schwach atmenden Albert Morand blickte, der auf der Intensivstation lag und an zahlreiche Geräte und Schläuche angeschlossen war. Er wirkte so zerbrechlich und schwach... wie nie zuvor.
»Lassen wir ihn schlafen«, ermahnte ihn die Stationsschwester zur Vernunft und gab Dorn dadurch zu verstehen, dass es besser war, dem Patienten jetzt seine Ruhe zu gönnen. »Er kann Sie ohnehin nicht hören...«
Dorn nickte und erhob sich. Er war sofort losgefahren, als man ihn früh am Morgen angerufen hatte - und beinahe wäre es für den alten Mann zu spät gewesen.
Es musste eine Fügung des Schicksals sein, dass Morand nicht gleich gestorben war. Wenn ihn sein Nachbar Ernst Berger nicht gefunden hätte, der zufällig gegen Abend mit seinem Hund die Straße entlang ging und dabei einen Blick in Morands Garten geworfen hätte, dann wäre alles zu spät gewesen. So aber hatte er ihn vor einen dichten Rhododendronbusch reglos liegen sehen und hatte sofort den Notarzt alarmiert.
»Es war ziemlich knapp bei Ihrem Schwiegervater«, klärte ihn der zuständige Stationsarzt Dr. Holm wenige Minuten später auf. »Nur eine halbe Stunde später - und wir hätten nichts mehr tun können. Mit einem Herzinfarkt ist bekanntlich nicht zu spaßen...«
»Ich glaube, er wollte sterben«, murmelte Dorn. »Gestern haben wir meine Frau beerdigt, und das hat ihn ziemlich mitgenommen. Ich vermute, dass er den ganzen Kummer nicht verarbeiten konnte und einfach auf diesen Moment gewartet hat.«
»Das ist schrecklich, Herr Dorn«, meinte der Arzt. »Aber wir werden unser Bestes tun, um ihn wieder auf die Beine zu kriegen. Die nächsten beiden Wochen wird er aber hier verbringen müssen. Ich möchte ganz sicher sein, dass sich kein zweiter Infarkt ankündigt.«
In diesem Moment kam die Stationsschwester herein und meldete, dass Herr Morand gerade aufgewacht sei.
»Kann ich ihn sehen?«, fragte Dorn sofort. Die Schwester sah kurz zu Dr. Holm. Der nickte.
»Aber nur ein paar Minuten«, warnte ihn der Arzt. »Mehr können wir ihm im Moment nicht zumuten.«
Dorn versprach, darauf zu achten und folgte der Schwester zurück in den Raum, wo sein Schwiegervater lag. Als er ins Zimmer kam, bemerkte das Morand sofort. Er hob schwach die linke Hand zum Gruß - zu mehr war er im Moment noch nicht fähig.
»Sie haben Dr. Holms Bitte nicht vergessen, oder?«, ermahnte ihn die resolute Schwester nochmals. »Zwei Minuten Zeit - mehr nicht. Dann bin ich wieder hier.«
»In Ordnung«, nickte Dorn und wartete ab, bis die Schwester gegangen war. Dann trat er rasch zum Bett seines Schwiegervaters, ergriff dessen Hand und drückte sie kurz.
»Was machst du denn für Sachen?«, fragte ihn Dorn kopfschüttelnd. »Du hast verdammt viel Glück gehabt...«
»Ich weiß nicht, ob das Glück ist, Alexander«, antwortete Morand mit schwacher Stimme. »Ich wollte einfach sterben - das ist alles. Aber selbst das hat nicht so geklappt, wie ich es mir erhofft habe. Die Pumpe hat nur ein wenig gestreikt...«
Er versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.
»Hör mir zu«, fuhr er fort. »Vergiss dein Versprechen nicht - das ist alles, worum ich dich bitte. Du wirst bald Bescheid von meinem Anwalt erhalten. Dann wirst du begreifen, was ich meine - für den Fall, dass ich das hier doch nicht überstehen sollte...«
»Schluss jetzt!«, unterbrach die Schwester das Gespräch und deutete Dorn mit einer unmissverständlichen Geste an, dass ihrer Geduld Grenzen gesetzt waren. »Sie können Herrn Morand gerne morgen wieder besuchen. Im Augenblick braucht er Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen...«
Dorn erhob sich und verließ mit gemischten Gefühlen die Intensivstation. Die letzten Worte seines Schwiegervaters hatten sehr merkwürdig geklungen. Notgedrungen musste er sich jetzt bis morgen gedulden. Heute war nicht der Tag, um Antworten auf die vielen Fragen zu bekommen, die sich Dorn stellten.
*
»Mensch, Alex! Wenn das ein Scherz sein soll, dann kann ich darüber nicht lachen!«
Peter Schaumann blickte wie ein Fisch drein, der urplötzlich ins Trockene geraten war und nun verzweifelt nach Luft schnappte. Schaumann verstand auf einmal die Welt nicht mehr, und sowas machte ihn wütend.
»Es ist kein Scherz. Peter«, erwiderte Dorn. »Hier hast du meine Kündigung...«
Mit diesen Worten zog er einen Umschlag aus seiner Jackentasche und legte ihn auf den Schreibtisch seines Ressortleiters. Schaumann schaute so misstrauisch darauf, als habe ihm Dorn jetzt eine Briefbombe gegeben und schüttelte dabei immer wieder fassungslos den Kopf.
»Hör mal, ich kann gut verstehen, was du jetzt durchmachst«, versuchte er es auf die kameradschaftliche Art. Er erhob sich aus seinem wuchtigen Stuhl, ging zu Dorn und legte ihm seine rechte Hand auf die Schulter. »Wir alle kommen mal an den Punkt, wo wir glauben, dass es nicht mehr weitergeht. Dass du verdammt viel durchgemacht hast, weiß ich. Und dass dein Schwiegervater daran beinahe auch gestorben wäre, verstehe ich auch. Aber warum zum Teufel gibt dir das einen Grund, jetzt einfach zu kündigen? Mann, ich brauche dich und...«
»Jeder ist zu ersetzen, Peter«, fiel ihm Dorn ins Wort. »Ich glaube, das waren deine Worte auf der letzten Verlagskonferenz vor einem Monat. Ich bin sicher, dass du dich daran noch erinnerst, oder?«
»Vergiss es!«, brummte Schaumann missmutig. »Nenne mir endlich einen vernünftigen Grund, warum du gehen willst - und ich versuche es zu verstehen.«