Down - Torsten Markwirth - E-Book

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Torsten Markwirth

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Beschreibung

Menschen mit Trisomie 21 sind besonders. Sie besitzen ein besonderes Lachen, ein besonderes Empfinden, eine besondere Herzenswärme und Ausstrahlung. Und vieles andere mehr. Jakob hat 'Down'. Er arbeitet im Bettentransportdienst einer Klinik. Jakob lernt Nelly und mit ihr die Liebe kennen. Doch sein Glück wird bedroht. Denn er begegnet einem sehr bösen Menschen ... Ein spannender und emotionaler Roman mit einigen kriminalistischen Finessen, der gleichzeitig in berührender Weise die wunderbaren Eigenschaften dieser besonderen Menschen betrachtet.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

KAPITEL 63

KAPITEL 64

KAPITEL 65

KAPITEL 66

KAPITEL 67

KAPITEL 68

KAPITEL 69

KAPITEL 70

KAPITEL 71

KAPITEL 72

KAPITEL 73

KAPITEL 74

KAPITEL 75

KAPITEL 76

KAPITEL 77

KAPITEL 78

KAPITEL 79

KAPITEL 80

KAPITEL 81

KAPITEL 82

KAPITEL 83

KAPITEL 84

KAPITEL 85

KAPITEL 86

KAPITEL 87

KAPITEL 88

KAPITEL 89

KAPITEL 90

KAPITEL 91

KAPITEL 92

KAPITEL 93

KAPITEL 94

KAPITEL 95

KAPITEL 96

KAPITEL 97

KAPITEL 98

KAPITEL 99

KAPITEL 100

KAPITEL 101

Prolog

„Du bist ja ein Mongo!“

Ihre Stimme schrill.

Gäste drehen die Köpfe.

Jakob steht.

Lächelnd.

Mit nervös zitternden Gliedern.

Aber lächelnd, breit lächelnd.

Jakob ist aufgestanden als sie es betreten hat, das kleine italienische Restaurant.

Elegant ist sie, sehr elegant.

Umgeblickt hatte sie sich, ein wenig unsicher, sich orientierend.

Um dann zu ihm zu kommen, an seinen Tisch zu treten.

Ein Zauber, ein einziger Zauber.

Ihr Gesicht ein einziges Strahlen.

Ihre Augen ein einziges Leuchten.

Binnen eines Augenblicks erstirbt alles.

Der Zauber.

Das Strahlen.

Das Leuchten.

„Du bist ja ein Mongo!“

Stille.

Stille zwischen ihnen.

Stille im ganzen Raum.

Sie dreht sich um. Rasch. Fast panisch.

Flieht.

Die Gäste, Jakob, der ältere Kellner schauen ihr nach.

Die Türe knallt.

Jakob setzt sich, langsam, bedächtig.

Er trinkt seine Cola aus, legt einen Schein neben das Glas.

Du bist ja ein Mongo.

KAPITEL 1

Die alte Kaffeemaschine faucht, herrlicher Duft liegt in der Luft.

Jakob ist wie immer eine Viertelstunde zu früh da.

Er liebt sie, diese Viertelstunde.

Eine Viertelstunde des Ankommens.

Eine Viertelstunde des Seele-Baumeln-Lassens.

Entspannte, ruhige, leise, sanfte Minuten.

Nach und nach trudeln sie ein, seine Kollegen.

Jede und jeder begrüßt ihn herzlich, jede und jeder umarmt ihn innig.

Jakob genießt es, Werktag für Werktag.

Der kleine Aufenthaltsraum füllt sich.

Mit Menschen, mit Leben.

Ein Schnattern, ein Tratschen.

Und immer Lachen.

Jakob ist stolz auf seine Arbeit.

Jeder Mensch sollte stolz auf seine Arbeit sein, oder sagen wir: Fast jeder.

Aber Jakob ist besonders stolz.

Denn seine Arbeit ist wichtig.

Die Patienten müssen transportiert werden, von hier nach da, von da nach dort.

Viele Kilometer legen sie tagtäglich zurück, Jakob und seine Kollegen.

Und manche Menschen verstehen gar nicht, wie wichtig ihre Arbeit ist.

Schauen auf sie herunter, grüßen nicht oder reden herablassend.

Manche sind es nur, die das tun, zum Glück nicht alle.

Manche sind es, die sie für dumm halten, ihn, Jakob und seine Kollegen.

Vielleicht weil sie nicht auf der Universität waren oder kein Abitur oder keine Ausbildung haben.

Aber das macht Jakob nichts.

Er ist stolz auf seine Arbeit, denn er weiß, dass sie wichtig ist.

Und er ist stolz auf seine Kollegen.

Denn er hat sie alle sehr lieb, alle ohne Ausnahme.

Und es ist eine schöne Arbeit.

Auch wenn sie anstrengend ist.

Auch wenn ihm manchen Abend die Füße schmerzen.

Weil er viele Tausend Schritte zurücklegt, Tag für Tag.

Für die Patienten, in ihren Betten, in ihren Rollstühlen.

Und Jakob läuft mehr Schritte als seine Kollegen.

Denn er ist kleiner als die anderen, deutlich

kleiner.

Aber das macht nichts.

Darauf kommt es nicht an im Leben.

Das weiß er.

Roger stürmt zur Tür hinein.

Bevor er irgendjemand anderen begrüßt, umarmt er Jakob.

Ihn, ihren aller Sonnenschein.

Jakob ist aufgesprungen von seinem Platz, drückt sich an ihn, lacht und freut sich, spürt ihn, ihn, den Hünen, fast zwei Meter hoch.

Seine Lederjacke riecht nach Tier, sein Atem nach Nikotin.

Aber das macht Jakob nichts.

Denn er hat ihn lieb, ganz arg lieb.

Roger war früher im Gefängnis.

Jakob weiß nicht warum.

Aber das ist ihm egal.

Denn er hat ihn lieb, ganz arg lieb.

Roger hebt seine riesige Hand zum High-Five.

Jakob schlägt klatschend ein.

„Sind wir heute ein Team?“, fragt Roger.

„Weiß noch nicht. 'Sind noch nicht eingeteilt!“

Das Gros der Mitarbeiter arbeitet in Zweierteams zusammen.

Zwei Kollegen für ein Bett.

Einige sind einzeln unterwegs, sie sind für die Sitzendtransporte, die Rollstühle zuständig.

Jakob arbeitet lieber zu zweit.

Das ist viel unterhaltsamer als allein.

Und er ist so gerne mit seinen Kollegen zusammen.

Sie sind wie eine Familie für ihn.

Sie sind seine Familie.

Raimund tritt durch die Tür, der Leiter des Transportdienstes.

Jakob winkt ihm enthusiastisch von seinem Platz aus.

Als hätte er ihn monatelang nicht gesehen.

Dabei begegnen sie sich jeden Werktag.

Jakob hat ihn lieb.

Und Raimund ist ein lieber Chef.

Raimund, stämmig, Anfang sechzig, lächelt Jakob zu und begrüßt die Runde.

Neben ihm ein neues Gesicht.

Ein junger schlaksiger Mann, ein wenig schüchtern schaut er drein, etwas unsicher spielt er mit seinen Händen.

Vielleicht Anfang zwanzig, schon in Funktionskleidung drapiert.

„Ich möchte euch Marius vorstellen. Er ist Student und macht ab heute vier Wochen Ferienjob hier. Ich denke, er kann uns gut unterstützen, wir sind ja durch die Krankheitsfälle knapp besetzt.“

Marius versucht sich an einem Lächeln.

Jakob findet, er sieht freundlich aus.

Jakob findet eigentlich alle Menschen, die er kennenlernt, zunächst einmal freundlich.

Es ist seine erste Intention.

Und sie ist authentisch.

Sie kommt aus der Tiefe seines Seins.

Nur einige wenige Menschen in seinem Leben findet er nicht freundlich.

Menschen, die böse zu ihm waren.

Und Menschen, die sehr böse zu ihm waren.

Die Tür geht wieder, Helga keucht herein.

Unter Jakobs lieben Kollegen seine Lieblingskollegin.

Er schert sich nicht weiter über Raimunds einführende Worte, sondern stürmt auf Helga zu.

„Bist du wieder gesund? Geht es dir besser?“

Er wirft sich an ihren fülligen Leib, drückt sich an ihren mächtigen Busen.

Helga ist soooo weich und das ist soooo schön.

„War nur ne Erkältung, mein Guter. Geht schon wieder ...“

„Da bin ich soooooo froh!“ Er drückt ihr einen laut schmatzenden Kuss auf ihre Wange.

Der Student staunt.

Die Kollegen nicht.

Denn sie kennen ihren Sonnenschein.

Wissen um die Herzlichkeit seines Wesens, seine Zuneigung zu Menschen.

Wissen, wie er Helga vermisst, wie er sich um sie gesorgt hat.

Und sie wissen, wie Jakob seine Emotionen zum Ausdruck bringt.

Er tut es auf eine andere Weise als es üblich ist.

Er tut es auch mit Worten, ja, aber die Worte sind nicht das Wesentliche.

Jakob zeigt es anders.

Und es ist durch eine Ehrlichkeit und Offenheit geprägt, wie sie tiefer nicht sein könnten.

Raimund hat Jakob und Marius in ein Team eingeteilt. Sie sind für die kardiologischen Stationen zuständig. Er übergibt Jakob das Diensttelefon.

„Ich nehm' das. Ich kenn' mich ja auch schon aus hier!“, lächelt er stolz.

Marius nickt und lächelt zurück.

„Willst du einen Kaffee? Es geht meistens erst kurz vor acht los. Dann bimmelt pausenlos das Telefon und wir müssen los“, erklärt Jakob.

„Gerne.“

Jakob holt zwei der humpengroßen Tassen. Fünf Würfelzucker plumpsen in seinen Kaffee. „Ich bin ein Süßer“, kichert er schelmisch.

Marius schmunzelt.

„Was studierst du denn?“

„Germanistik und Journalismus. Das ist ...“

„Oh Deutsch! Da hatte ich ne fünf!“ Jakob lacht lauthals.

„Du … Du warst auf der Schule …? Also auf einer richtigen Schule mit Noten …?“ Marius beißt sich auf die Zunge. Er verschluckt sich, prustet, errötet, erkennt die Peinlichkeit seiner unüberlegten Frage.

Roger und Helga haben den Kopf gehoben, sehen wortlos auf.

Stille im Raum.

Marius wird noch röter, seine Finger werden fahrig, er sucht nach Worten, die es jetzt nicht mehr gibt.

Jakob erlöst ihn.

Denn auch er prustet.

Aber vor Lachen, vor Freude.

Ein Lachen aus tiefster Tiefe.

„Ja natürlich war ich auf der Schule! Auf einer richtigen Schule! Zwar nur auf der Hauptschule, aber immerhin auf einer richtigen Schule mit richtigen Noten!“

Marius ist rot wie ein Puter, Jakob nippt entspannt grinsend an seinem Kaffee.

„Ich hab sogar 'nen richtigen Hauptschulabschluss! Aber ...“ Jakob senkt konspirativ seine Stimme. „Aber er ist nicht so riesig gut … Und geholfen haben sie mir dabei auch noch … So dass es ganz knapp gereicht hat für den Abschluss. Aber immerhin!“

Seine Kollegen lächeln, sie kennen die Geschichte.

„Das … Das ist sehr beachtlich ...“ Marius stottert. „Tut mir leid, es war eine sehr blöde Frage von mir. Sorry ...“

„I wo! Die Frage war doch nicht blöd“, lacht Jakob. „Du konntest das doch nicht wissen!“

Ihr Diensttelefon klingelt.

Station 53 hat einen Patienten für das Herzkatheterlabor.

„Wohnst du bei deinen Eltern?“

Jakob lacht erneut, nicht weniger laut als eben.

Sie sind im Aufzug, sie fahren nach oben auf die Station, den Patienten in seinem Bett abzuholen.

„Verzeihe, aber warum lachst du?“ Marius stockt erneut die Stimme.

„Ich muss lachen, weil mich das fast alle Menschen fragen. Sie fragen es mich, weil sie mich für ein Kind halten.“

Marius beißt sich auf die Unterlippe.

„Aber dabei bin ich ja schon 25!“ Jakob lacht wie trunken.

„Ich glaub, ich weiß, warum die Menschen denken, ich sei ein Kind!“

Marius harrt.

„Weil ich viel kleiner bin als die meisten Erwachsenen!“ Jakob prustet.

Marius zuckt zusammen.

„Im Ernst ...“ Jakobs Stimme wird leise, nüchterner. „Viele glauben, ich sei ein Kind, aber das finde ich gar nicht schlimm. Es ist doch schön, ein Kind zu sein, oder?“

„Sicher, sicher ...“

„Viele halten mich für ein Kind, weil ich oft wie ein Kind bin. Zum Beispiel denke ich manchmal wie ein Kind. Aber das ist oft gar nicht verkehrt! Und zum Beispiel lache ich viel. Viel mehr als die normalen Erwachsenen! Aber ich finde das schön. Mir gefällt das! Ganz viel zu lachen und so sein wie ein Kind!“ Lachend tritt er durch die Aufzugstür.

Sie stehen vor Herrn Behringers Bett.

Herr Behringer blickt sie mit ängstlich geweiteten Augen an.

Aber als er Jakob erkennt, erhellen sie sich und sein ganzes Gesicht beginnt zu strahlen. „Oh, Herr Jakob, das ist aber eine Freude, dass Sie mich heute wieder abholen!“ Jakob drückt ihm die Hand, fest, länger als üblich.

Herr Behringer, er ist Ende siebzig, wendet sich an Marius: „Vor sechs Wochen hatte ich meine erste Katheteruntersuchung. Ich kann Ihnen sagen, ich hatte so dermaßen die Hosen voll. Mein jüngerer Bruder ist dabei verstorben ...“ Seine Augen blicken ernst, er spricht leiser, aber nicht weniger deutlich. „Ich hatte unfassbar große Angst, aber Ihr Kollege hier, Jakob, er hatte mich damals auch abgeholt und er hat mich so ganz wunderbar beruhigt, er hat mir einiges erklärt, er gab mir unglaublich viel Sicherheit und Vertrauen.“ Dankbar blickt er zu Jakob. „Er hat mir meine ganzen Sorgen genommen und es war so ehrlich und aufrichtig. Und er war dabei trotzdem heiter und fröhlich. Das werde ich nie vergessen und das tat so gut ...“ Herr Behringer drückt Jakob dankend die Hand. „Jakob hat mich besser beruhigt als jeder Arzt und jede Pille.“

Jakobs Augen strahlen.

Seine Augen, seine wunderbaren Augen, diese Augen, an denen jedermann erkennen kann, dass er anders ist.

Anders.

Dass er ein Chromosom mehr hat als die gewöhnlichen Menschen.

Dass er aber auch vieles andere mehr hat als gewöhnliche Menschen.

Dass er an vielem reicher ist.

Aber das wissen manche Menschen nicht.

Ihr werdet es wissen.

Bald.

„Liegt die Krankenakte unter dem Kissen?“

Herr Behringer nickt.

„Sind sie nüchtern?“

Erneutes Nicken.

„Die Schwestern haben die Leiste rasiert?“

Nicken.

„Sie haben eine Kanüle im Arm?“

Nicken.

„Dann kann's jetzt losgehen!“ Jakob lächelt und schiebt das Bett an.

Marius blickt staunend.

Er wird es noch häufiger tun.

„Ich frage das immer ab, bevor wir losfahren“, erklärt Jakob. „Das muss alles paletti sein, wenn's ins Katheterlabor geht. Denn wenn was fehlt, schimpfen die da unten ganz arg.“

Marius nickt, einem gelehrigen Schüler gleich.

Sie schieben das Bett über den Gang, verlassen die Station Richtung Aufzüge.

„Hey Jakob! Alles im Lack?“ Schwester Melanie wirft ihm eine Kusshand nach.

„Klaro! Klaro!“

Versonnen blickt er ihr nach.

Sie erreichen das Katheterlabor. „Das letzte Mal hat ja auch alles gut geklappt! Heute wird auch alles gut gehen!“ Jakob reckt seinen Daumen nach oben.

„Wenn Sie's sagen ...“ Herr Behringer blickt zuversichtlich.

„Sie werden es sehen! In 'ner Stunde holen wir Sie wieder ab und alles ist gut!“ Jakob lächelt und es steckt an.

Marius ist fasziniert.

Und lächelt mit, lächelt einfach mit.

Weil man nicht anders kann.

Weil es ansteckend ist.

„Hey Jakob! Supi, dass ihr so flott da seid! Wir haben heute ein Riesenprogramm!“ Die Katheterschwestern nehmen Herrn Behringer entgegen, sein Bett wird neben den Untersuchungstisch geschoben.

Jakob mag die Schwestern und MTAs hier. Und auch die Ärzte.

Auch wenn sie manchmal gestresst sind.

Er hat sie lieb.

Und er bewundert, was sie leisten.

„Jakob, wen hast du denn da dabei? Ist das dein neuer Lehrling?“

Jakob lacht schallend, Marius schmunzelt.

„Das ist Marius! Er ist soooo viel klüger als ich! Er studiert auf der Universität!“ Er lächelt Marius an. „Er ist aber trotzdem nett!“

Alle lachen prustend. Jakob, die Schwestern, der Oberarzt, Herr Behringer und auch Marius.

„Ich hab ihn gern!“, grinst Jakob.

Die Schwestern nicken. Damit ist alles gesagt, damit ist er im Team.

„Und wenn er fertig studiert hat, schreibt er für die Zeitung! Vielleicht sogar mal ein Artikel über mich!“ Jakob lacht wiehernd.

Und alle wiehern mit.

Herr Behringer krabbelt auf den Katheterlabortisch.

Das Lächeln steht ihm immer noch im Gesicht.

Und seine Zuversicht in seinen Augen.

Dankbar winkt er Jakob nach.

Sie sind wieder im Aufzug.

„Ich möchte mich bei dir entschuldigen ...“

„Ja für was denn?“, lächelt Jakob.

„Dass wir uns erst ein paar Minuten kennen und ich dir schon zwei ziemlich blöde Fragen gestellt habe … Das mit der Schule und das mit dem Wohnen bei den Eltern ...“

„Alles gut! Kein Problem!“ Jakob lacht.

„Du … Du lebst also nicht mehr bei deinen Eltern?“ Seine Stimme leise und vorsichtig.

„Nein.“

„Oh. Leben sie woanders?“

„Das weiß ich nicht. Ich kenne sie nicht. Die hatten mich gleich nach meiner Geburt weggegeben. Die wollten mich nicht haben.“

KAPITEL 2

Jakob kommt heim, es ist kurz nach fünf.

Veit ist zu Hause.

Veit ist praktisch immer zu Hause.

Sein Mitbewohner sitzt in seinem Zimmer am Computer.

Sein Mitbewohner sitzt fast immer dort.

Veit arbeitet mit dem Computer.

Was, versteht Jakob nicht.

Und wenn Veit nicht am Computer arbeitet, dann spielt er damit.

Wie das geht, versteht Jakob auch nicht.

Jakob mag keine Computer.

Jakob mag lieber Menschen und Tiere.

Jakob begrüßt seinen Freund.

„Hallo“, sagt Veit.

Veit spricht meist nicht viel.

Seit zwei Jahren wohnen sie beide zusammen, in dieser hellen, geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, nahe der Stadtmitte, die Bushaltestelle unmittelbar vor dem Mehrparteienhaus.

„Was sollen wir heute essen? Soll ich was bestellen oder was kochen?“

„Spaghetti.“

Jakob kichert. Das ist eigentlich keine richtige Antwort auf meine Frage …

Er ist kein großer Koch, aber einfache, schlichte Gerichte bekommt er ganz gut und schmackhaft zustande.

Und er findet kochen viel schöner als was zu bestellen.

„Dann muss ich nochmal runter in den Supermarkt. Kommst du mit?“

Veit zuckt zusammen.

Und schüttelt sich.

Jakob fragt an der Fleischtheke nach frischem Hackfleisch.

Die Bedienung kennt ihn und schenkt ihm ein Lächeln.

Er steht an der Regalzeile mit den Gewürzen.

„Wo sind denn deine Eltern?“

Die Stimme barsch.

Ein älterer Herr, mit Hut und missbilligender Miene.

Jakob war kurz erschrocken, dann lacht er, lacht aus vollem Hals.

Nicht wenige Menschen würden unwirsch, vielleicht sogar böse reagieren.

Auf solche bösen Worte.

Aber Jakob nicht.

Jakob empfindet die Worte gar nicht als böse.

Und Jakob ist eine Frohnatur.

Sein Gemüt ist heiter, seine Seele ist hell.

Jakob lacht im Leben viel mehr als andere Menschen.

Wahrscheinlich lacht er viel mehr als viele andere Menschen zusammen.

Und sein Lachen kommt aus der Tiefe, sein Lachen ist authentisch.

Was andere als Beleidigung auffassen,

bringt Jakob zum Lachen.

„Wo sind deine Eltern?“

Der Herr wird grimmig.

„Ja, wenn ich das wüsste!“

Jakob lacht und greift nach einem Tütchen mediterraner Gewürzmischung.

An der Kasse rechnet er das Wechselgeld nach.

Das dauert ein bisschen, aber das macht er so gerne.

Denn er kann es.

Natürlich bin ich im Rechnen nicht so fit wie Veit … Oh, der kann ja so wahnsinnig gut rechnen!

Aber dafür kann er anderes nicht so gut.

So ist das im Leben.

Jeder Mensch kann manche Sachen gut und andere Sachen nicht so gut.

So gleicht sich irgendwie alles aus.

Niemand ist besser oder schlechter als der andere.

Pfeifend und fröhlich die Einkaufstüte schwenkend tanzt Jakob nach Hause.

Das Hackfleisch brutzelt, das Nudelwasser kocht.

„Hast du großen Hunger?“

„Ja.“

„Wir essen aber heute zusammen in der Küche, okay?“ Jakob hebt den Zeigefinger, wie ein Vater zu seinem kleinen Kind. Allerdings lächelt er dabei.

„Ja.“

Es ist keineswegs selbstverständlich.

An manchen Tagen, man weiß nicht warum, nimmt Veit sein Essen und geht kommentarlos in sein Zimmer, vor seinen Computer.

Man versteht es nicht.

Jakob stört sich nicht daran.

Veit ist eben anders als andere Menschen.

So wie ich auch.

Es schmeckt herrlich.

Jakob hat einen Bolognespritzer auf den Wangen.

Er erzählt von seinem Arbeitstag, von Marius, dem 'Neuen'.

Veit hört kauend zu.

Es ist schwer einzuschätzen, wie er die Worte aufnimmt.

Nur sehr selten kommentiert er etwas.

Aber sie genießen es, das Essen in der heimeligen Küche.

„Nachher kommt ein toller Film! Schaust du ihn mit mir?“ Jakob strahlt und streckt einladend seine Hände aus wie ein Zirkusdirektor.

In Veit arbeitet es. „Mal sehen ...“

Jakob schaut gerne fern.

Vielleicht ein bisschen zu viel …

Vielleicht bin ich deshalb ein bisschen moppelig … Er grinst.

Aber ich habe ja genug Bewegung. Beim Arbeiten laufe ich sooooo weit …

Die Nachrichten.

Die interessieren Jakob gar nicht.

Und er mag sie auch nicht.

Manche versteht er nicht.

Und viele sind so traurig, so schlimm.

Die Unglücke, die Kriege.

Aber jetzt kommt das Wetter und gleich geht’s los!

„Ein Film von Rosamunde Pilcher! Die mag ich soooooo sehr! Die sind soooo romantisch!“ Jakob klatscht freudig in die Hände.

Veit sitzt ungerührt, neben ihm auf dem Sofa, zuckt kurz mit den Schultern.

„Ah! Endlich ...“ Der Film beginnt.

Die Handlung spielt in den Bergen, Jakobs Augen leuchten, sein Herz geht auf.

Veit greift nach einer Schale mit Gummibärchen.

„Sooooo schön! Gefällt es dir auch?“

Veit zuckt mit den Achseln. „Ich versteh ihn nicht so ganz ...“

„Wie? Du verstehst den Film nicht?“

Er nickt.

Dann steht er wortlos auf und geht in sein Zimmer.

Jakob lässt sich die Stimmung nicht verderben.

Er kennt ja seinen treuen Freund.

Es ist immer wieder merkwürdig …

Veit hat studiert!

Und dann versteht er einen so schönen Film nicht!

Mein Gehirn ist viiiiel kleiner als seins!

Und ich kann manches besser als Veit!

Aber ich hab ihn trotzdem ganz arg lieb!

Jakob genießt den Film.

Er ist melodramatisch.

Vielleicht kennt Jakob das Wort nicht.

Aber er besitzt ein Herz, das ihn mitschwingen lässt.

Er besitzt ein Herz, das zu sehen vermag.

Zum Ende rinnen Tränen seine Wangen herab.

Das Liebespaar küsst sich vor einem Sonnenuntergang.

Jakob schaut ergriffen und spürt sie.

Die Sehnsucht, die tiefe, tiefe Sehnsucht.

KAPITEL 3

„Wie lange musst du eigentlich noch studieren?“

Jakob und Marius sind wieder zu einem Team eingeteilt.

„Noch zwei Jahre. Wenn alles gut geht ...“

„Uiiiii! Das wäre mir zu lang! Sooooo viel lernen! Das wär nichts für mich!“,

lacht Jakob.

Marius lächelt zurück. Mit dem Mund und mit den Augen.

„Dazu wäre ich zu dusslig! Ich bin ja nicht so der Hellste mit meiner Hauptschule ...“ Jakob lacht immer noch. „Obwohl ...“ Sein Antlitz wird einen Augenblick eigentümlich ernst. „Obwohl das für Menschen wie mich ganz ganz viel ist ...“

„Du hast dafür andere Fähigkeiten ...“, antwortet Marius leise.

Er schaut tief in Jakobs Augen.

„Fähigkeiten, die man nicht auf einer Universität lernt ...“, flüstert er weiter, kaum hörbar.

Das Telefon klingelt. Ein Patient soll aus dem Herzkatheterlabor abgeholt werden.

Gezeichnet sieht er aus, der sechzigjährige Mann in seinem Bett.

Schweißperlen auf seiner Stirn, spitz seine Nase.

Jakob begrüßt ihn freundlich, behutsam und sanft, er sieht, dass es ihm nicht gut geht.

Herr Abel heißt er, der Patient, er brummelt eine Antwort, leise und unverständlich.

Sie fahren das Bett in einen Transportaufzug, der für Klinikbesucher gesperrt ist.

Mit einem Schlüssel können sie ihn öffnen. „Das ist gut so! Weil sonst müssten wir immer soooo lang warten. Und kämen mit der Arbeit nicht mehr nach ...“

„War die Untersuchung schlimm?“, fragt Marius.

Herr Aber nickt nur.

Der Aufgang kommt, sie schieben das Bett in die Kabine.

„Hallo? Was ist? Wie geht es Ihnen?“ Jakobs Stimme ist lauter als gewöhnlich.

Herr Abel antwortet nicht.

Sein Kopf ist zur Seite gefallen.

Wie bei einem Bewusstlosen.

„Hallo!“ Jakob tätschelt ihm die Wange.

Keine Reaktion.

„Mist.“ Jakob greift ihm ans Handgelenk. Sein Gesicht ist ernst, sehr ernst.

Marius steht nur da und harrt der Dinge.

„Ich kann fast keinen Puls mehr fühlen, nur noch ganz schwach!“

Marius drückt den Knopf für den 5. Stock, seine Finger zittern. „Was … Was ist mit ihm …?“

Jakob blickt konzentriert, hochkonzentriert.

Marius schaut ihn an.

Noch nie hat er ihn so gesehen.

Er, Jakob, sonst und zu aller Zeit immer Sonnenschein und Frohnatur, jetzt mit ernstem, angespanntem Antlitz.

„Die Leiste … Wir müssen auf die Leise sehen ...“ Jakob schlägt Herrn Abels Decke zurück, aus seiner Kitteltasche greift er ein paar Handschuhe, streift sie sich über. „Die machen den Herzkatheter über die Schlagader dort ...“ Er löst die Pflaster des Verbandes, hebt ihn ab. „Da … Da ist es ...“

Marius schaut völlig unverständig. „Ja was denn? Was …?“

„Kuck!“ Jakobs Finger zeigt auf eine fast kindskopfgroße Schwellung. „Er blutet da unten ein. Deshalb ist der Blutdruck jetzt so niedrig!“

Marius zittert am ganzen Körper, auf seiner hohen Stirn stehen Schweißperlen.

Bing! 5. Stockwerk.

„Wir müssen die Infusion voll aufdrehen!“ Jakob dreht am Stellrädchen des Plastikschlauchs. „Und ich muss abdrücken! Fest abdrücken!“ Er kniet sich ins Bett und drück mit beiden Fäusten mit aller Kraft auf die Leiste, auf den Fußball, der sich da gebildet hat und weiter wächst.

In Marius' Augen steht das Entsetzen.

„Dass es nicht weiter blutet!“, ruft Jakob.

„Ja, ja!“ Marius nickt heftig.

„Fahr' das Bett in Kopftieflage!“

Marius nickt wieder, hantiert an den Bedienelementen des elektrisch verstellbaren Betts, froh, einen hilfreichen Beitrag zu leisten.

„Und jetzt drück die '1'!“ Jakobs Augen weisen auf die Stockwerke.

„Warum, der Patient muss doch auf die ...“

„Er muss jetzt sofort auf die Intensiv. Die ist im ersten Stock, also drück bitte die '1'.“

Der Aufzug setzt sich wieder in Bewegung, wieder nach unten.

Herr Abel liegt weiter wie leblos, sein Kopf ist noch immer zur Seite gerichtet, seine Gesichtsfarbe aschgrau.

„Können wir das einfach so entscheiden? Einen Patienten umleiten und einfach auf die Intensivstation fahren?“, flüstert Marius.

„Natürlich. Es geht um ein Menschenleben.“ Jakob drückt noch fester in die Leiste.

Die Aufzugstür öffnet sich.

„Du musst von hinten alleine schieben, ich muss drücken!“

Sie erreichen die Schleuse der Intensivstation, sie ist geschlossen, man muss klingeln.

„Intensiv, Schwester Doris!“, tönt es blechern.

„Ich bin's, der Jakob. Notfall!“

Die Schleuse öffnet sich prompt.

Marius staunt, staunt immer mehr und schiebt an.

Marius schiebt, Jakob drückt, Herr Abel liegt leblos.

Schwestern, Pfleger, Doktor Gideon, der zuständige Arzt, eilen herbei, umringen sie auf dem Gang.

„Wir haben den Patienten grad aus dem Katheterlabor geholt. Der war dort schon schweißig. Im Aufzug ist er bewusstlos geworden! Ich bin sicher, er blutet aus der Arterie.“ Jakob blickt kurz nach unten, ein Dutzend Augenpaare blicken mit ihm dort hin, auf die groteske Schwellung unter seinen Fäusten. „Wir haben ihn in Schocklage gelegt, die Infusion aufgedreht und ich drücke seitdem ab!“

Ein kräftiger Pfleger löst Jakob bei der Kompression ab.

Erschöpft tritt er zur Seite, massiert sich seine steifen Finger.

Doktor Gideon gibt mit ruhiger Stimme Anweisungen. „Funkt den Gefäßchirurgen an. Bitte nehmt Kreuzblut ab und bestellt vier Erythrozytenkonzentrate. Zentraler Zugang vorbereiten, wir brauchen jetzt viel Volumen. Intubation und Beatmungsmaschine fertig machen.“

Professionelle Geschäftigkeit entsteht.

Jakob und Marius verabschieden sich leise.

Doktor Gideon läuft ihnen ein Stück nach. „Warten sie noch kurz ...“

Sie drehen sich um.

„Jakob ...“ Doktor Gideon scheint nach passenden Worten zu suchen. „Wenn Herr Abel das hier überlebt, dann sind Sie es, der ihm das Leben gerettet hat.

Danke für Ihr umsichtiges und kompetentes Handeln.“

Jakob hebt abwehrend die Hände und lächelt.

„Doch. Ihnen gebührt größte Anerkennung. Danke, Jakob.“

Doktor Gideon eilt zurück zu Herrn Abels Bett.

„Mann oh Mann ...“ Marius atmet tief durch. Sein Kasack ist völlig verschwitzt. „Letztes Jahr hab ich mit dem Rauchen aufgehört. Jetzt könnt' ich grad eine brauchen ...“

„Ach was … Das stinkt doch so arg und ist sooooo ungesund!“ Jakob lacht.

„Du hast ihm das Leben gerettet. Der Doc hat's gesagt! Im Talmud steht 'Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.' Du hast das grandios gemacht, es war eine große Leistung.“

„Nee … Es war nichts Großartiges. Es war etwas ganz Einfaches.“

„Doch. Es war großartig von dir.“

„Hm … Es kann aber auch ganz einfach sein, etwas Großartiges zu tun.“

„Woher wusstest du so rasch, was Herrn Abels Problem ist? Woher wusstest du, was zu tun ist? Du hast doch wie fast alle Kollegen vom Transportdienst keine medizinische Ausbildung?“

„Manchmal ist das Leben Ausbildung genug.“ Jakob lächelt.

KAPITEL 4

„Ohhhhhh! Das ist sooooo lecker!“ Bierschaum ziert sein breites Grinsen.

Ihr zweites Kilkenny.

Es ist früher Abend, Marius hatte vorgeschlagen, nach der Arbeit im Irish Pub den Tag ausklingen zu lassen.

„Wollte dein Kumpel wirklich nicht mitkommen?“

„Der Veit? Oh nein! Das würde ihm hier gar nicht gefallen. Viel zu viele Menschen für ihn.“

Marius nickt. Von Begegnung zu Begegnung staunt er mehr. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Immer!“ Bierschaumlachen.

„Für deine Leistung heute … Spürst du da Stolz?“

„Stolz? Oh nee!“ Jakob schüttelt heftig den Kopf. Beinahe wie ein Clown.

„Stolz? Stolz bin ich eigentlich nie!“ Er lacht noch breiter und trinkt einen Schluck Kilkenny. „Und heute? Auch heute bin ich nicht stolz! Aber ich bin glücklich! Ich bin sehr glücklich! Dass es dem Herrn Abel wieder besser geht! Der Arme!“

Bevor sie die Klinik verließen, hatten sie sich auf der Intensivstation erkundigt. Herr Abel ist an der Schlagaderblutung operiert worden und hat alles gut überstanden.

„Du … Du bist eigentlich ziemlich oft glücklich im Leben, oder?“ Marius blickt ihm tief in die Augen. „Ich glaube, du bist glücklicher als normale Menschen ...“

Jakob lacht wiehernd. „Aber ich bin doch auch ein normaler Mensch!“

Sie prosten sich zu, auch Marius lächelt jetzt, seine Augen leuchten, sein Gesicht ist erhellt.

„Schau, ich arbeite, ich esse, ich trinke Bier, ich freue mich am Leben – ich mache alles, was normale Menschen auch machen!“ Jakob grinst breit, leckt sich den Kilkennyschaum von der Oberlippe.

„Verzeihe … Ich habe das etwas blöde formuliert … Ich habe … Seit ich dich kennenlernen durfte, ein bisschen nachgelesen, ein bisschen recherchiert über … über dieses ...“

„Down-Syndrom!“ Jakob strahlt wie ein Kandidat in einer Quiz-Show bei der entscheidenden richtigen Antwort.

Laut hatte er das Wort ausgerufen, einige Gäste drehen die Köpfe nach ihnen.

„Ja … Ja, genau. Ich habe gelesen, dass Menschen mit Trisomie 21 häufig ein viel sanfteres Gemüt haben und einen heiteren Charakter besitzen … Sie sind ehrlicher, sie sind direkter. Sie empfinden stärker ...“

„Das ist schön ...“ Jakobs Stimme ist wieder leiser geworden. „Ich hab's mir nicht ausgesucht. Ich bin, wie ich bin.“

„Entschuldige, mich beschäftigt da noch eine andere Frage. Ich habe gelesen, es gäbe in diesem Zusammenhang auch so genannte genetische Mosaike, Menschen, die nur teilweise einen Chromosomensatz mit Trisomie 21 aufweisen. Du bist, verzeihe, wenn ich das so sage, weit selbstständiger und geistig reger als andere Menschen mit Trisomie 21 … Bist du ...“ Marius Finger werden fahrig, er stammelt nach geeigneten Worten. „Bist du tatsächlich ein Mensch mit einem kompletten Down-Syndrom?“

„Aber klar doch! Ich bin down von Kopf bis Fuß!“ Lächelnd und stolz hebt Jakob sein Glas.

Sie bestellen ein weiteres Kilkenny.

„Machst du eigentlich so eine Art Interview mit mir?“ Seine Worte nicht böse, nicht kritisch. Er lächelt, lächelt wie fast immer. „Komme ich dann auch in die Zeitung?“

„Äh, nein … Entschuldige bitte, wenn das so rüberkam ...“ Marius trinkt einen großen Schluck. „Weißt du … Du interessierst mich einfach ...“

Jakob trinkt ebenfalls und blickt plötzlich ernster. „Das ist schön.“ Seine Worte sind leise, aber fest. „Das ist schön … Denn es gibt nicht viele Menschen, die das tun ...“

„Was?“

„Sich für mich interessieren.“

Eine kurze Pause.

Die Worte wirken.

Marius trinkt einen Schluck. „Hast du außer deinem WG-Mitbewohner noch andere Freunde? Du musst doch auch Verwandte haben ...“

„Verwandte? Nee, hab' ich keine?“ Jakob schüttelt wieder vehement den Kopf.

Marius schluckt.

„Freunde? Den Veit, den mag ich arg! Auch wenn er ein bisschen anders ist … Ich bin ja auch ein bisschen anders ...“ Jakob findet sein Lächeln wieder.

Und es steckt an.

„Ich mag viele Menschen.“ Jakob trinkt lächelnd. „Frau Brunner zum Beispiel, die mag ich sogar sehr! Sie arbeitet auf dem Jugendamt und sie hat mir früher viel geholfen und viel für mich gemacht! Jetzt bin ich ja kein Kind mehr … Und Frau Brunner ist nicht mehr für mich zuständig … Aber sie ist immer noch für mich da, wenn ich irgendwas brauche oder irgendwas nicht verstehe … So mit Papieren und so. Versicherungen und Steuer und lauter so Sachen. Da hilft sie mir, wenn ich zu ihr komme.“ Jakob blickt versonnen.

„Das darf ich immer und deshalb hab ich sie lieb.“

Marius berührt es. Er trinkt. Einen größeren Schluck.

„Dann war ich in einer Theatergruppe, den 'Downies'. Es sind lauter Menschen wie ich, also so mit einem Chromosom zu viel ...“

„Das hört sich toll an!“

„Ist es aber nicht immer ...“ Jakob blickt ernst, eine Spur traurig. „Viele dort sind viel eingeschränkter in ihrem Leben als ich. Manche können kaum sprechen, viele brauchen dauerhaft Pflege und Betreuung. Einige sind auch körperlich sehr krank, sie haben schwere Herzfehler ...“

Marius nickt unmerklich. Er hatte es bei seiner kurzen Recherche gelesen.

Menschen mit einer Trisomie 21 weisen eine vielfach höhere Rate an angeborenen Herzfehlern auf. Einer von mehreren Gründen für die deutlich reduzierte Lebenserwartung.

Marius spürt eine Träne.

Und er sieht eine Träne.

In Jakobs Augen, in diesen wunderbaren Augen.

„Aber weißt du, was mich am allermeisten traurig gemacht hat dort in der Theatergruppe?“ Jakob schnieft. „Am meisten traurig macht mich, dass alle Downies in der Gruppe von ihren Eltern hingebracht und wieder abgeholt wurden. Bei manchen bleiben die Eltern auch die Stunde über dabei und schauen zu und klatschen.“ Jakob spielt mit dem Bierdeckel. Er trennt einen kleinen Schnipsel ab. „Ich bin der total einzige, der allein hinkommt, allein da ist und allein wieder heimfährt ...“ Er zupft weitere Schnipsel ab. „Jo, das ist natürlich auch was Gutes … Nämlich, dass ich es kann, dass ich alleine mit dem Bus fahren kann und so … Das können viele in der Gruppe nicht ...“ Jakob dreht sein Kilkenny in dem Arrangement aus Bierdeckelpuzzleteilchen. „Die Eltern von den anderen stören mich natürlich nicht, oh nein, die sind auch nett und so ...“ Jakob schaut Marius tief an, sehr tief. „Ich freue mich für die anderen, dass sie Eltern haben ...“ Sein Blick wandert nach unten, auf die Tischplatte. Aus seinen Augen kullern Tränen.

Marius schluckt.

„Ich spür da keinen Neid. Ich spüre nur Traurigkeit.“

Marius schluckt erneut.

„Traurigkeit, weil ich keine Eltern hab.“

Marius greift über die Tischplatte, drückt ihm die Hand.

„Ich hab ja schon Eltern, also so biologische … Aber die wollten mich ja nicht mehr ...“

Marius drückt fester die Hand.

„Und die … Die Ersatzeltern … Das … Nee Nee Nee ...“ Jakob trinkt.

Hektisch.

Marius drückt sie noch fester.

Sie laufen zusammen zur Bushaltestelle.

Jakob hätte sich am liebsten bei Marius eingehakt.

Es ist ein angenehmer, lauer Abend.

„Was möchtest eigentlich machen, wenn du fertig studiert hast?“ Jakob hat sein Lächeln wieder gefunden.

„Hm. Ich würde gerne bei einer Zeitung arbeiten. Investigativer Journalismus betreiben. Das … äh … Das heißt, dass man viel recherchiert, dass man nachbohrt und nachhakt und Missstände aufdeckt. Ich würde gerne bei einer Zeitung arbeiten, die sich für soziale und für menschliche Gerechtigkeit einsetzt.“

„Oh, das hört sich gut an!“ Jakob klatscht begeistert in die Hände. „Die Zeitung möchte ich dann auch lesen!“ Er strahlt.

Sie warten zusammen auf den Bus.

„Hast du Ziele im Leben?“, fragt Marius leise.

Jakob blickt erstaunt. „Ziele? Hm ...“ Er grübelt, kratzt sich am Kopf. Dann strahlt er. „Vielleicht sollte ich es besser Wunsch nennen und nicht Ziel.“

„Okay ...“

„Ich hätte gerne einen Menschen, der mich ganz ganz arg lieb hat.“

Er schaut zu einem Trio junger Mädchen im Wartehäuschen.

Sie tuscheln zischend.

Und lachen feixend über ihn.

KAPITEL 5

„Heute gehen wir in die Pilze!“

Veit lässt vor Schreck sein Marmeladenboden fallen.

Es klatscht auf den Parkettboden, verkehrt herum, wie immer verkehrt herum.

Es ist Sonntagmorgen, sie sitzen am Frühstück in der Küche.

„Das Wetter ist optimal dafür!“

„Warum das?“ Veit klaubt das Brot wieder auf, beißt ab.

„Na weil es zwei Tage geregnet hat und seit gestern mild ist. Der allerallerbeste Zeitpunkt zum Sammeln! Zu trockenes Wetter ist nix, und wenn es zu lange geregnet hat, ist der Wasseranteil im Pilz zu hoch und er verfault zu schnell.“ Jakob hebt den Zeigefinger, stolz.

„Hm.“

„Komm schon, Veit! Wir machen einen schönen Ausflug in den Wald! Du musst mitkommen!“ Jakob strahlt ihn an.

Veits Augen blicken unstet. Fahrig mümmelt er am Marmeladenbrot.

Er denkt nach, Jakob weiß das.

Er kennt ihn ja schon länger, seinen lieben Freund.

„Meinetwegen ...“ Ein Stöhnen.

„Hurra! Das wird klasse! Und heute Abend zaubere ich dann was gaaaaaanz Leckeres zum Essen!“ Jakob klatscht in die Hände.

„Aber wir fahren nicht mit dem Bus.“ Veit hebt jetzt auch seinen Zeigefinger. Wie ein strenger Vater.

„Ja, wie denn sonst? Wir nehmen die Linie R3 zum Rathausplatz, steigen dort in die R8 um und schwuppdiwupp sind wir draußen im Wald!“

„Nicht mit dem Bus.“ Veits Zeigefinger bleibt erhoben. Wie bei einer Statue.

„Wenn wir nach dem Frühstück gleich losziehen, sind wir wahrscheinlich die einzigen im Bus! Es ist Sonntag! Und wenn doch ein, zwei Leutchen drin sitzen, setzen wir uns auch ganz weit weg von denen!“

„Nicht mit dem Bus.“ Veit schüttelt heftig den Kopf, der Zeigefinger bleibt mahnend erhoben.

Jakob sieht sie.

Die Angst in Veits Gesicht.

Jakobs Augen sind anders.

Anders als bei Menschen mit 46 Chromosomen.

Jakobs Augen sehen nicht nur anders aus.

Sie sehen auch anders.

Sie sehen Dinge, die die gewöhnlichen Menschen oft nicht sehen.

Jakob sieht Veits Angst nicht nur, er weiß um sie.

Er kennt ihn ja schon länger.

Jakob diskutiert nicht weiter, streitet nicht.

Jakob wird nicht grantig, nicht böse.

Jakob lässt sich auch seine gute Laune nicht trüben, nicht eine Spur.

Jakob versteht Veits Angst nicht.

Aber das ist ja ganz oft so, dass man Ängste nicht versteht.

Jakob reagiert sanft darauf.

Er drückt seinen Freund und nach dem Zähneputzen machen sie sich auf den Weg.

Veit trägt den Rucksack mit dem Proviant. Zwei Flaschen Sprudel, belegte Stullen, zwei Äpfel, eine Tüte Chips.

Jakob hat einen großen Korb unter dem Arm. Er schaut damit aus wie ein Mütterchen, das auf den Markt geht.

„Der Korb muss sein“, erläutert Jakob. „Denn die gesammelten Pilze dürfen es nicht zu eng haben. Das mögen die gar nicht. Sonst werden die gequetscht und bekommen Druckflächen und verderben schneller. Man soll sie nicht in einen Beutel oder eine Tasche stopfen. Der Korb ist am besten! Da haben die Pilze Platz zum Atmen und werden sanft transportiert!“

Veit nickt. „Du bist der Experte ...“

Zwei Stunden Fußweg liegen vor ihnen.

Es ist noch früh, die Straßen sind menschenleer.

„Gut so ...“, flüstert Veit zu sich selbst, sein Gesicht wird entspannter.

Es ist später Vormittag, als sie den Rieder Forst erreichen. Auf dem Flurbereinigungsweg werden sie von Treckern und gelegentlich einem Auto mit Ausflüglern überholt.

„Wir müssen weit weg von den befahrenen Straßen, da die Pilze Giftstoffe aus Abgasen verstärkt aufnehmen und speichern.“

Veit ist es recht.

Sie biegen in einen ungeteerten Waldweg ein, es duftet frisch.

Eine fröhlich plappernde Wandergruppe kommt ihnen entgegen. Veit zuckt verängstigt zusammen, verlässt den Weg und stellt sich nahe an ein Unterholz. „Was wollen die hier alle?“, fragt er flüsternd.

„Da in der Richtung ist ein Weiher mit einem Biergarten ...“

Veits Augen weiten sich entsetzt.

„Keine Angst, da gehen wir ja nicht hin. Wir haben ja unseren Proviant dabei und außerdem haben wir ja was ganz anderes vor!“

„Da vorne rechts verlassen wir den Weg. Da war ich schon mal und hab ganz viel gefunden.“

Veit atmet auf. Erleichtert.

Sie bahnen sich den Weg durch dichtes Gestrüpp, mitten in den dunklen Wald hinein.

Hier gefällt es Veit besser, viel besser.

Keine Menschen.

„Es gibt essbare, ungenießbare, leicht giftige und sehr giftige Pilze“, referiert Jakob zwischen den Fichten. „Manche essbaren Pilze haben ungenießbare oder giftige Doppelgänger. Da muss man arg aufpassen, um die zu unterscheiden.“ Jakob hebt wieder den Zeigefinger. „Wenn man unsicher ist, soll man die gesammelten Pilze beim Forsthaus oder einer Beratungsstelle einem Experten vorlegen. Aber ich bin ja mittlerweile selbst einer!“ Jakob lacht schallend.

„Ich vertraue dir. Ich hab vor deinen Pilzen keine Angst.“

Das brauchst du auch nicht, lieber Veit.

Du hast ja genug Angst in deinem Leben.

Vor den Menschen, du hast vor den Menschen Angst, sooooooo viel Angst ...

„Schau mal, da stehen Fliegenpilze!“

Eine ganze Gruppe ist um eine Fichte drapiert.

Wie im Märchenbuch.

Ihre großen Hüte in sattem Rot leuchtend, ihr Fleisch einen angenehm würzigen Duft verströmend.

„Auch die giftigen Pilze erfüllen wichtige ökologische Funktionen im Wald!

Daher sollte man sie nicht achtlos zertreten.“ Sie machen einen Bogen um die Gruppe.

„Ich hab die Fliegenpilze gern! Denn da wo sie stehen, findet man oft in der Nähe Steinpilze!“

„Ist das so?“, murmelt Veit.

„Jep! Guck mal da vorn! Da sind schon welche!“ Jakob kniet sich nieder, seine Hand streicht zärtlich über ein eindrucksvolles Exemplar. „Das ist typisch für den Steinpilz, dass der so glänzt und ein bissle klebrig ist. Er riecht so wunderbar nussig.“

Veit steht und staunt.

Jakob schneidet den Pilz knapp oberhalb des Bodens ab. Vorsichtig befreit er ihn von Erdkrumen und legt ihn sanft in den Korb.

Zwei Bäume weiter entdecken sie eine ganze Gruppe. Jakob jubelt.

„Faule oder von Tieren angeknabberte Pilze sollte man stehen lassen.“ Pilz für Pilz wandert in den Korb. „Man sollte auch nicht alle Exemplare von einer Stelle abernten. Man sollte immer einige übriglassen, das ist besser für den Nachwuchs.“

„Sind Pilze eigentlich Tiere oder Pflanzen?“

„Weder das eine noch das andere. Pilze sind Pilze!“ Jakob lacht.

Sie bahnen sich weiter ihren Weg, immer tiefer in den dunkler werdenden Wald.

„Da!“ Veit schreit fast auf.

Zwei Dutzend Meter vor ihnen ein älteres Ehepaar, ebenfalls mit Korb und Pilzmesser. Sie grüßen freundlich.

Jakob lacht ihnen beschwingt zu. „Wir haben schon ein Pfund Steinpilze!“

Stolz schwenkt er den Korb.

„Das freut uns für Sie!“ Der ältere Herr kommt ein Stück auf sie zu, mit einem Stofftaschentuch wischt er sich Schweiß von der hohen Stirn. Er mustert sie neugierig. „Passt dein Begleiter auch auf? Dass nichts Falsches ins Körbchen gerät?“ Der Herr blickt zu Veit, der ängstlich hinter einem Fichtenstamm steht.

„Er?“ Jakob lacht lauthals. „I wo! Das ist mein Freund Veit! Ich hab ihn sehr gern! Aber von Pilzen hat er keine Ahnung, wirklich gar keine!“

„Oh ...“ Das Gesicht des Herrn zeigt Erschrecken, dann Sorge. „Das … Das heißt, du sammelst die Pilze …?“

„Ja sicher!“ Jakob hält ihm grinsend seinen Korb hin. „Ich mach das schon ewig. Ich kann das. Ich weiß, was ich hier in den Korb reinlege!“

„Darf ich mal?“, fragt der Herr höflich und inspiziert den Korb. Einige der Pilze nimmt er in die Hand, besieht sie sich von allen Seiten. „Die … Die sind fürwahr alle in Ordnung.“ Er tritt einen Schritt zurück, sieht Jakob in die Augen.

Die Augen, die jedermann zeigen, dass Jakob anders ist.

Dass Jakob ein Chromosom dreimal besitzt.

„Verzeihe die Frage … Kannst du das wirklich? Vielleicht solltest du deinen Fund nachher zur Sicherheit der Pilzstelle im Forstamt vorlegen.“

„Er kann das wirklich. Er braucht die Pilze niemandem vorzulegen.“

Veits Stimme war kräftig, fast laut.

Er hatte hinter seinem Baum gesprochen.

„Mein Freund ist ein kleines bisschen schüchtern...“, wispert Jakob lächelnd.

„Er bleibt immer gern im Hintergrund ...“

„Aha, aha ...“ Der Herr wischt sich nochmals über die Stirn. „Na denn …

Dann wünsche ich euch weiter viel Erfolg!“

„Ebenso! Und einen schönen Sonntag!“

Staunend stapft der Herr zurück zu seiner Frau.

Jakob macht für ihn eine Führung. Veit war ja schon sooooo lange nicht mehr dabei! Bestimmt hat er alles vergessen!

Er zeigt ihm Grünspan-Träuschlinge, ungenießbar, aber von exotischem Aussehen. Ihr bläuliches Grün, in denen ihre stolzen Hüte leuchten.

Als habe sie jemand koloriert.

Enthusiastisch erklärt er, wie man den nicht essbaren Gallenröhrling vom täuschend ähnlichen Steinpilz unterscheiden kann.

Sie treffen auf giftige Pantherpilze, die putzig aussehen mit ihren weißen Flecken auf ihrem Hut. Mit einer Handbewegung kann man sie abwischen.

„Und schau mal da! Der Giftigste der Giftigsten!“

Vor ihnen ein grüner Knollenblätterpilz.

„Sein Hut ist meist ei- oder glockenförmig. Unterschiedliche Olivtöne sind für die Färbung typisch. Am Stil ist ein Zick-Zack-Muster zu erkennen.“

Auch Veit geht in die Knie, betrachtet das Exemplar interessiert aus der Nähe.

Sie atmen tief ein.

Sein Fleisch riecht angenehm nussig.

„Selbst eine kleine Menge ist tödlich.“ Jakob flüstert. „Man stirbt, weil die Leber kaputt geht. Meistens erst so zwei oder drei Tage nach dem Essen.“

Veits Augen funkeln fasziniert.

Mittagspause.

Auf einer abgelegenen Lichtung.

Stille, wunderbare Luft.

Sie sitzen auf dem feuchten Boden, an Baumstämme angelehnt, mampfen schweigend.

Dann schließen sie die Augen.

Sie schlafen gleichzeitig ein, dämmern einfach weg, an diesem wunderbaren Ort.

Auf dem Rückweg machen sie noch einen Glücksfund.

Ein ganzes Beet unzähliger Waldchampignons.

Als hätte sie jemand für sie angepflanzt.

Jakob füllt den Korb.

Er nimmt nur so viele, wie sie brauchen.

Sie erreichen wieder den geteerten Waldweg.

Sie klopfen ihre Kleider ab.

Ihre Beine sind schwer.

Zwei Stunden Rückmarsch liegen noch vor ihnen.

Zwei junge Frauen vor ihnen, plötzlich. Hübsch, äußert hübsch.

Sie rennen, sie sind verschwitzt.

Und völlig außer Atem

In modischer Sportkleidung. Joggerinnen.

Laufschuhe, Pulsuhr.

Jakob bestaunt sie, Veit erschrickt ängstlich, tritt zwei Schritte zurück.

Sie bleiben vor ihnen stehen.

Jakob bestaunt noch mehr, Veit erschrickt noch mehr. Denn die beiden sprechen sie an.

„Sorry! Habt ihr vielleicht einen Hund gesehen? Einen Beagle? Er ist uns ausgebüxt! Vor fünf Minuten! Wir hatten ihn abgeleint, sind vom Auenhof Richtung Forst gelaufen ...“ Das größere der beiden Mädchen hat die Worte atemlos ausgestoßen, ihre sonnenblonden Haare fallen ihr ins schweißbedeckte Gesicht, mit einer hektischen Geste streicht es sie hinter ihr Ohr.

Jakob blickt sie an, fasziniert, völlig fasziniert.

Was für ein Wesen …

Ein Sonnenwesen …

Ihm bleibt die Spucke weg.

Veit wagt nicht zu atmen, er zittert am ganzen Leib.

„Wir waren Pilze sammeln. Weg von den Wegen, tief im Wald drin. Wir haben leider keinen Hund gesehen.“

„Mist ...“ Das Mädchen stützt die Hände auf die Knie, atmet tief durch. Im Ausschnitt ihres T-Shirts ist der Ansatz ihrer Brüste zu sehen.

Jakob schaut und ihm wird schwindlig.

„Ruuuufus!“ Das kleinere Mädchen hat die Hände zu einem Trichter geformt. Ihr Ruf echot durch den Wald.

„Er ist noch ziemlich jung, wir haben ihn erst ein halbes Jahr. So was hat er noch nie gemacht!“ Die Größere. Mit den Händen auf den Knien. Mit den Ansätzen ihrer Brüste im Ausschnitt.

„Vielleicht hat er Wild gewittert. Einen Hasen oder ein Reh.“ Jakobs Stimme aufgeregt belegt, sein Puls rast.

„Wahrscheinlich … Was sollen wir nur machen?“ Tränen in ihren Augen.

„Wie sollen wir ihn wiederfinden? Der Wald ist ja so riesig!“ Sie schluchzt.

Jakob würde sie gerne trösten.

Sie fest in seine Arme nehmen.

Aber ich trau mich nicht.

Jakob steht betroffen.

Sein Puls galoppiert noch schneller.

Sie ist so traurig!

Bestimmt hat sie ihren Rufus ganz arg lieb!

Ich würde sie so gerne einfach drücken, einfach fest drücken.

„Wir laufen noch ein großes Stück durch den Wald. Zurück Richtung Südstadt. Vielleicht finden wir ihn ja!“

Das Mädchen nickt und schnieft.

„Was sollen wir machen, falls wir ihm begegnen? Rufus wird nicht auf uns hören!“

„Habt ihr ein Handy dabei?“ Das Mädchen zerrt einen Fetzen Papier aus ihrer Brusttasche und kritzelt eine Nummer darauf.

Sie gibt ihn Jakob.

Unter ihren Zahlen steht Claudia.

„Ich wünsche euch ganz viel Glück und hoffe ganz fest, dass ihr Rufus bald wieder bei euch habt.“ Jakobs Augen leuchten.

„Danke … Meldet euch bitte, wenn ihr ihn sehen solltet.“

Die beiden Mädchen rennen wieder los, in die andere Richtung.

Jakob blickt ihnen versonnen nach.

Er blickt ihr versonnen nach.

Sie hat an meinen Augen gesehen, dass ich anders bin.

Aber sie hat mich nicht anders behandelt.

Sie hat mich normal behandelt.

Sie, das Sonnenwesen.

Sie setzen ihren Weg fort.

Das Rufen nach Rufus hallt durch den Wald.

Die Mädchen rufen.

Jakob ruft.

Sogar Veit ruft mit, wenn auch verhalten.

Claudia.

Er konnte nur noch an Claudia denken.

Bei jedem Schritt.

Auf dem langen Weg nach Hause.

Ihr Gesicht, ihr Sonnengesicht.

Noch immer vor ihm stehend.

Ihre verschwitzten Haare.

Noch immer duftend.

Ihr trauriger Blick.

Noch immer in seinem Herzen.

Claudia.

Bei jedem Schritt.

Jakob spricht nichts, keine Silbe.

Träumt nur.

Veit stört es nicht.

Veit, der Freund der Stille.

Rufus haben sie nicht gesehen.

Gerufen hatten sie bis sie heiser wurden.

Erfolglos.

Sie erreichen das Stadtzentrum.

Veit wird nervöser, ängstlicher.

Es sind weit mehr Menschen auf den Straßen als am frühen Morgen.

Spaziergänger, einzelne und Paare. Cafébesucher, Familien mit Kindern.

Alle machen ihm Angst, alle.

Jakob bemerkt es, er nimmt seinen Freund in den Arm.

Aber auch jetzt hat er nur sie vor sich.

Claudia.

Sie war sooooooo traurig …

Bestimmt hat sie ein ganz großes Herz.

Wenn man sooooo traurig ist um seinen Hund, muss man ein ganz großes Herz haben.

Ich hab's gesehen, ganz deutlich.

In ihren Augen.

Die sind sooooo schön.

Jakob tritt auf die Straße und läuft fast in ein Auto.

Veit hat ihn im letzten Moment aufs Trottoir zurück gerissen.

„Träumst du?“

„Jaaaaaaaa ...“

Er lächelt.

Glückselig.

Claudia …

Wie wäre es …?

Statt mit Veit mit Claudia in die Pilze zu gehen?

Ich hab Veit sehr lieb, aber er ist immer so schweigsam und draußen so ängstlich …

Mit Claudia durch den Wald …

Oh, das wäre soooooo schön …

Oder mit ihr in den Zoo gehen!

Ich gehe doch soooooo gerne in den Zoo!

Bestimmt mag sie den auch!

Bestimmt liebt sie Tiere, sie liebt ja auch Rufus und weint ganz arg um ihn!

Oder mit ihr zu Abend essen …

Uns dabei gegenseitig vom Tag erzählen.

Was wir erlebt haben, was schön war und was traurig, was hell war und was dunkel.

Immer einer, der erzählt und immer einer, der zuhört, ganz fest zuhört.

Mit dem guten Veit ist es immer so zäh mit dem Reden.

Aber er könnte ja mit dabei sein!

Genau!

Zu dritt miteinander zu Abend essen und erzählen.

Das wäre soooooo schön …

Claudia …

Es wäre soooooo schön …

Und nach dem Abendessen, nach dem Erzählen …

Vielleicht würde sie dann noch da bleiben …

Bei mir …

Jakob muss sich in den Schritt fassen. Ordnend.

Es prickelt, es prickelt ganz fest.

Er spürt einen Taumel, einen wunderbaren Taumel.

Sie schließen die Wohnung auf.

Jakob sieht nur sie.

Ihren schlanken, sportlichen Körper.

Ihr wunderschönes Gesicht, ihre tiefen Augen.

Bestimmt hat sie auch ein wunderschönes Lächeln …

Ich weiß es nicht, sie hat ja nicht gelächelt, sie war ja so ganz arg traurig.

Aber ich bin mir sicher, dass ihr Lächeln gaaaaaaanz wunderschön ist ...

Bestimmt kann ich sie zum Lächeln bringen!

Jakob kann soooooo viele Menschen zum Lächeln bringen!

Jakob reinigt die Pilze.

Mit zarter Hand fährt er über sie, berührt sie sanft und vorsichtig.

Er streichelt sie.

Und denkt an Claudia.

Und spürt es wieder.

Wow …

Er setzt Nudelwasser auf, brät die Steinpilze kurz an, gibt gehackte Zwiebeln, Kräuter und Schmand hinzu.

Veit kommt in die Küche, guckt neugierig.

„Hast schon Hunger, gell?“

Veit nickt und lächelt zart, ganz zart.

Das tut er so selten, der liebe Veit … Viel zu selten im Leben.

Aber ich kann ihn dazu bringen, wenn auch nur ab und zu.

Wahrscheinlich bin ich der einzige, der das kann.

Es ist doch so wichtig, Menschen zum Lächeln zu bringen, und zum Lachen.

Es ist doch viel wichtiger als viele andere Sachen.

Als ein Doktortitel oder als viel Geld zu haben.

Die Tagliatelle sind bissfest, die Steinpilze herrlich.

Veit hilft beim Abräumen und beim Abwasch.

„Danke, Jakob“, sagt er leise.

„Für was?“

„Für den Tag.“

Er liegt in seinem Bett, er ist müde, und morgen ist Montag und er muss wieder früh raus.

In der Hand hält er das kleine Stückchen Papier.

Er betrachtet die Nummer und gibt sie in sein Adressverzeichnis ein.

Im WhatsApp ploppt ihr Profilbild auf.

Eine Nahaufnahme.

Sie lächelt ein Sonnenlächeln.

Er schaut es an, lange, ganz lange Zeit.

Er liegt nur und schaut.

Claudia, ich kenn dich ja nur ganz kurz …

Aber ich hab dich lieb.

Ungezählte Zeit liegt er schauend und träumend.

Dann fasst er Mut.

Atmet tief durch.

Schreibt.

„Liebe Claudia,

habt ihr Rufus wiedergefunden?

Ich hoffe und wünsche es ganz arg.

Du warst so besorgt und traurig.

Ich hab es in Deinen Augen gesehen.“

Er hält kurz inne.

Sein tippender Zeigefinger zittert.

Soll ich es schreiben?

Ich trau mich nicht …

Aber es ist doch so!

Es ist nichts Falsches!

Und es ist ja auch nichts Schlimmes!

Nochmals atmet er tief durch.

Im ganzen Körper bebend tippt er weiter.

„Ich denk an Dich.

Jakob“

Sein Herz rast.

So schnell wie noch nie.

Claudia …

Was bist du für ein wunderbares Mädchen …

Ich …

Biep! Ein Signalton.

Eine Antwort.

Von ihr.

„Hallo Jakob,

ja, wir haben ihn wiedergefunden.

Grüße, Claudia.“

Er zittert am ganzen Leib.

Das ist schön, dass sie Rufus wieder …

Aber diese Nachricht …

So ganz kurz … So ganz kurz …

Er lässt sich in die Kissen zurückfallen.

Neben ihm sein großer Elefant.

Bandi.

Er drückt sich fest an ihn.

Vielleicht ist sie ja gerade in Eile …

Und hatte gar keine Zeit, lange zurückzuschreiben …

Vielleicht ist sie grad unterwegs oder beschäftigt. …

Da kann man nicht so lange Antworten schreiben …

Jakob nickt zufrieden und wird wieder ruhiger.

Ein bisschen zumindest.

Claudia …

Wieder betrachtet er ihr Profilbild. Mit dem Sonnenlächeln.

Wieder steht sie ihm vor Augen.

Sie stehen beide zusammen.

Im Zoo.

Vor dem Elefantengehege.

Seinem Lieblingsort dort.

Sie stehen Hand in Hand.

Sie ist ganz warm, ganz sanft, ihre Hand.

In der anderen Hand haben sie jeder ein Eis.

Es tropft von der Waffel.

Sie lachen.

Und Claudia beugt sich zu ihm und küsst ihn, vor allen Leuten …

Er ist glückselig.

Er fasst wieder Mut.

Er tippt.

„Das freut mich ganz arg!

Wo war Rufus denn gewesen?

Habt ihr mit ihm geschimpft?

Schimpft bitte nicht zu arg mit ihm.

Er ist doch noch jung. Wie ein kleines Kind!

Wir haben viele leckere Pilze gesammelt.

Es sind noch ganz viele übrig.

Magst du morgen Abend zum Essen kommen? Ich kann lecker kochen.

Das wäre bestimmt sehr schön.

Jakob.“

Es rast wieder, sein Herz, noch schneller als vorher.

Es wäre GANZ SICHER sehr schön, wenn sie …

Bling. Die Antwort.

„Nein, das geht nicht. Sorry.“

Er sinkt wieder in die Kissen.

Kuschelt sich wieder an seinen Elefanten.

Das ist soooooo schade …

Mit Claudia hier zum Essen … Wir könnten uns doch soooo gut unterhalten …

Sie könnte Rufus mitbringen!

Dann könnte ich ihn mal kennenlernen.

Und ihm erklären, dass man nicht einfach wegrennen darf, wenn man draußen ist!

Aber ich würde nicht schimpfen … oder nur ein winziges bisschen …

Und dann würde ich ihm ein Hundeleckerli geben, ich weiß, wo die im Supermarkt stehen …

Und dann würde ich ihm was ganz Liebes sagen …

Nämlich, dass er ein ganz Lieber ist!

Weil ich ja nur durch ihn die liebe Claudia kennengelernt habe …

Er tippt wieder.

Er ist beschwingt, er ist zuversichtlich.

Seine Augen strahlen.

„Das ist schade, dass es morgen nicht klappt.

Die Pilze sind aber ganz gut haltbar.

Möchtest Du an einem anderen Tag zum Pilze Essen kommen?

Ich würde mich arg freuen.

Jakob.“

Er wartet.

Vielleicht war ich unhöflich und hätte auch ihre Freundin einladen sollen?

Oder war das ihre Schwester?

Vielleicht wäre es zu viert viel besser, weil ja Veit …

Bling.

„Nein. Das möchte ich nicht.“

Als hätte man ihn geschlagen.

Ein bestialischer Schmerz durchzuckt seinen bebenden Körper.

Er ist schlimmer.

Als nach einem Schlag.

Und ich weiß, was Schläge sind, ich weiß ja, wie ...

Jakob starrt auf den kleinen Bildschirm und der Schmerz brennt noch schlimmer, noch tiefer.

Es ist verschwunden.

Ihr Profilbild.

An dessen Stelle ein stilisierter Kopf.

Jakob weiß, was das heißt.

Sie hat ihn blockiert.

Den Kontakt abgebrochen.

Die Brücke eingerissen.

Im fällt das Smartphone aus der Hand.

Er drückt sich an Bandi, seinen Elefanten.

Vergräbt sich.

Zieht die Bettdecke über den Kopf.

Weint leise, ungesehen, ungehört.

KAPITEL 6

Er kommt in sein Zimmer.

Es ist nicht sein alleiniges Zimmer, er teilt es mit Tobi.

Seinem kleinen Bruder.

Das heißt, Tobi ist nicht sein echter, nicht sein biologischer Bruder.

Aber dennoch ist es sein Bruder.

Er hält eine kleine Tüte in die Höhe.

„Samstag-Gutzjes!“ Er grinst breit.

Jakob grinst nicht, lächelt nicht.

Er freut sich auch nicht.

Jedes andere Kind würde sich über die Tüte Karamellbonbons freuen, ja, sicher.

Aber Jakob nicht.

Er weiß, was sie bedeuten.

Er schließt die Türe hinter sich ab, steckt den Schlüssel in die Hosentasche.

Er schließt sie immer ab, wenn er mit den Samstag Gutzjes kommt.

Den Schlüssel wird er später, danach, wieder mitnehmen.

Klar.

Jakob und Tobi sind ja noch viel zu klein, um einen Schlüssel haben zu dürfen.

Jakob setzt sich auf sein Bett.

„Spielst du ein bisschen mit dem Papa?“ Er grinst, legt die Bonbontüte neben Jakob.

Er ist nicht mein Papa.

Das weiß ich.

Er heißt Heimo. Heimo Legleitner.

Er ist der Ersatzpapa.

Der, der für den da ist, der mich nicht haben wollte.

Jakob nickt stumm.

Er öffnet seine Hose.

Sein Ding ist schon ganz groß.

„Streichle es!“

Jakob denkt an Tobi.

Tobi ist drei Jahre jünger.

Er spielt gerade, jetzt in diesem Moment mit den Nachbarjungen auf dem Spielplatz.

Darüber ist Jakob froh.

Denn dann lässt er ihn in Ruhe.

Heute.

Jakob beschützt Tobi.

Mit all seiner Kraft.

Aber oft reicht sie nicht.

Eigentlich reicht sie nie.

Eigentlich kann er ihn nicht beschützen.

Vor ihm.

„Und jetzt lutsch ihn!“

Heute schmeckt er besonders unangenehm.

Nach Pippi und dem weißen Zeug, diesen grauen Krümeln, da an der Spitze.

Er grunzt.

Jakob hört Stimmen aus der Küche.

Heidi und Karina.

Seine Schwestern.

Auch sie sind Ersatz-Schwestern.

Sie haben zusammen das andere Kinderzimmer.

Ihnen bringt er keine Samstags-Gutzjes.

Die bringt er nur Tobi und ihm.

„Tiefer! Steck ihn tiefer rein!“

Jakob würgt.

Das Ding ist groß, wirklich groß.

Jakob muss es gut machen, das weiß er.

Oh weh, wenn er es nicht gut macht, oh weh, dann wird’s ganz schlimm.

Außerdem …

Je besser er es macht, desto schneller ist es fertig.

Jakob hört seine Mama, also seine Ersatz-Mama, sie johlt mit den Mädchen.

Ob sie von den Samstag-Gutzjes weiß?

Er bringt sie ja oft, wirklich sehr oft, manchmal sogar auch noch sonntags.

Er sagt, dass müsse unbedingt ihr Geheimnis bleiben, niemand, absolut niemand dürfe davon was wissen.

„Jetzt mach dich nackig!“

Jakob gehorcht.

Langsam zieht er sich aus.

Zitternd.

Nicht weil es kalt wäre.

Jakob muss immer zittern dabei.

Er kann es nicht vermeiden.

Obwohl es doch schon so oft geschehen ist.

So viele Male.

Er fasst ihm zwischen die Beine.

Grob quetscht er seine riesige Faust zusammen.

Um sein kleines Glied.

Es tut weh, es tut immer weh.

Aber nichts sagen, nichts zeigen!

„Ein Kuss für Papa!“

Er packt Jakobs Kopf und presst ihn auf seine Lippen.

Seine Zunge dringt in ihn ein.

Sie ist so eklig.

Wie ein Schlangentier.

Gierig, schleimig.

Sie schmeckt nach Alkohol.

Jakob hat noch nie Alkohol getrunken, natürlich nicht, er ist ja noch ganz klein.

Aber er weiß, dass der Ekelgeschmack aus seinem Mund vom Alkohol kommt.

Er trinkt immer davon, bevor er mit den Samstag-Gutzjes kommt.

Man sieht es auch an seinen Augen, sie sind dann ganz glasig und rot.

Jakob versucht an andere Dinge zu denken, an schöne.

Das macht er immer so.

Ein bisschen hilft es, ein kleines bisschen.

Jakob denkt an den Zoo, das ist etwas Schönes, etwas ganz arg Schönes.

An den letzten Besuch dort.

Oh, den Zoo, den liebt er so sehr!

So vieles gibt es dort zu sehen!

Die Affen! Die sind so lustig, die bringen ihn immer so zum Lachen!

Die Schlangen! Die erstaunen ihn so sehr, wie verwurstelt und verknotet sie daliegen!

Aber am allermeisten gefallen ihm die Elefanten!

Das sind seine absoluten Lieblinge!

Sie sind so groß und so stark und so mächtig.

Und dennoch sind sie so ruhig und so sanft.

Und sie haben so klitzekleine Augen!

Und sie schauen klug, diese kleinen Augen.

Vielleicht sind sie klüger als die Menschenaugen.

Jakob sieht sie, die lieben Elefanten.

Sie gucken immer ganz fest zu mir!

Sie schauen mich immer ganz genau an!

Denn sie kennen mich!

Und sie mögen mich ganz arg, das weiß ich, das sehe ich ihnen an.

Er packt fester zu.

Jakob wird aus seinen Gedanken geschüttelt.

Er reißt an Jakobs Ding herum.

Das ja noch viel kleiner ist als seines.

Jakob tut es ganz arg weh.

Aber er weint nicht.

Denn das wäre schlimm.

Denn das gefällt ihm gar nicht, überhaupt nicht.

Am Anfang, ja, da musste er ab und zu weinen.

Oh weh, das war ganz arg schlimm.

Und da wurde er sehr böse.

Und alles dauerte viel länger.

Deshalb nicht weinen, nie, nie weinen!

Einfach aushalten, es dauert nicht mehr lange, bald ist es ja vorbei.

Jakob denkt jetzt an die Schule.

Seit einem halben Jahr ist er nämlich dort.

Und die Schule ist schön.

Kurz nach seinem achten Geburtstag bekam er eine Schultüte mit so vielen Sachen darin und einen richtigen Schulranzen.

Er war so stolz, so ganz arg stolz.

Es ist eine Sonderschule, Jakob weiß das.

Aber das ist nicht wichtig.

Jakob gefällt sie so sehr.

Sie spielen ganz oft, sie machen Musik, sie sind oft draußen.

Und die Lehrerin, Frau Berner, ist sehr lieb.

Und sie lernen auch richtig!

Auch richtige Buchstaben.

Und Jakob kommt gut mit, besser als manche andere der Kinder, die große Schwierigkeiten haben.

Jakob versteht sie gut, die Buchstaben und auch die Zahlen und Frau Berner lobt ihn ganz oft und streicht ihm über den Kopf und das ist so schön, oft das Schönste am Tag.

„Dreh dich um!“

Jakob zuckt zusammen.

Er kennt es.

Aber er tut wie befohlen.

Legt sich auf den Bauch.

Er