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Jean Pauls 'Dr. Katzenbergers Badereise' ist ein meisterhaftes Werk der deutschen Romantik, das die Leser auf eine faszinierende Reise durch eine vielschichtige Welt der Charaktere und Ideen führt. Das Buch ist in einer reichhaltigen und bildreichen Sprache geschrieben, die den Leser in die romantische Atmosphäre des 18. Jahrhunderts eintauchen lässt. 'Dr. Katzenbergers Badereise' erzählt die Geschichte des exzentrischen Dr. Katzenberger, der auf einer abenteuerlichen Reise voller unerwarteter Wendungen und skurriler Begegnungen konfrontiert wird. Jean Pauls einzigartiger Stil, der von Ironie und tiefer menschlicher Erkenntnis geprägt ist, macht dieses Werk zu einem unvergleichlichen literarischen Erlebnis.
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Seitenzahl: 427
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Books
zum ersten und zweiten Bändchen der ersten Auflage
Mit den Taschenkalendern und Zeitschriften müssen die kleinen vermischten Werkchen so zunehmen – weil die Schriftsteller jene mit den besten Beiträgen zu unterstützen haben –, daß man am Ende kaum ein großes mehr schreibt. Selber der Verfasser dieses Werks (obwohl noch manches großen) ist in acht Zeitschriften und fünf Kalendern ansässig mit kleinen Niederlassungen und liegenden Gründen.
Dies frischte im Jahre 1804 in Jena die Voigtische Buchhandlang an, »kleine Schriften von Jean Paul Friedrich Richter«, ohne mich und ihr Gewissen zu fragen, in den zweiten Druck zu geben.
Sie frischt wieder mich an, ihre kleinen Schriften von J. P., gleichfalls ohne zu fragen, hier ans Licht zu stellen. Gelassen lass' ich hier die Handlung über Nachdruck des Nachdrucks, über Nachverlag des Nachverlags schreien und mache mit diesem Sünden-Bekenntnis gern das Publikum zum heiligen Stroppinus, welcher der Beichtvater Christi ist.1 Denn will Voigt klagen, daß ich ihm seinen Verlagartikel unbrauchbar gemacht und verdorben hätte durch völlige Verbesserung und Umarbeitung des selben: so versetz' ich, daß nur ein Sechstel dieses Buchs aus jenem genommen ist. Das zweite Sechstel sammelte ich aus Zeitschriften, woraus er noch nichts von mir gesammelt.
Das zweite und das dritte Drittel dieses Buchs sind ganz neu, nämlich Dr. Katzenbergers Badreise und Geschichte, so wie die Schluß-Polymeter; aber hierüber sei ein Beichtwort an den Leser vergönnt, würd' es ihm auch schwerer, zum zweiten Male der heilige Stroppinus zu sein. Und doch sind über das folgende leichter vergebende Beichtväter zu haben als Beichtmütter. Es betrifft den Zynismus des Doktors Katzenberger.
Es gibt aber viererlei Zynismen. Der erste ist der rohe in Betreff des Geschlechts, wie ihn Aristophanes, Rabelais, Fischart, überhaupt die alten, obwohl keuschen Deutschen und die Ärzte haben. Dieser ist nicht sowohl gegen Sittlichkeit als gegen Geschmack und Zeit.
Der zweite Zynismus, den die Vernunftlehre annimmt, ist der subtile der Franzosen, der, ähnlich dem subtilen Totschlag und Diebstahl der alten Gottesgelehrten, einen zarten subtilen Ehebruch abgibt; dieser glatte nattergiftige Zynismus, der schwarze Laster zu glänzenden Sünden ausmalt und welcher, die Sünde verdeckend und erweckend, nicht als Satiriker die spanischen Fliegen etwan zu Ableitschmerzen auflegt, sondern welcher als Verführer die Kanthariden zu Untergangs-Reizen innerlich eingibt; dieser zweite Zynismus nimmt freilich, wie Kupfer, bei der Ausstellung ins Freie bloß die Farbe des Grüns an, das aber vergiftet, indes der erste schwere, gleich Blei, zur schwarzen verwittert.
Von dem zweiten Zynismus unterscheidet sich überhaupt der erste so vorteilhaft-sittlich, wie etwan (um undeutlicher zu sprechen) Epikurs Stall von der Sterkoranisten Stuhl, worin das Gottgewordne nicht Mensch wird; oder auch so wie boue de Paris (Lutetiae) oder caca du Dauphin von des griechischen Diogenes offizinellem album graecum verschieden ist.
– Beinahe macht die Rechtfertigung sich selber nötig; ich eile daher zum dritten Zynismus, welcher bloß über natürliche, aber geschlechtlose Dinge natürlich spricht, wie jeder Arzt ebenfalls. Was kann aber hier die jetzt-deutsche Prüderie und Phrasen-Kleinstädterei erwidern, wenn ich sage: daß ich bei den besten Franzosen (z.B. Voltaire) häufig den cû, derriére und das pisser angetroffen, nicht zu gedenken der filles-à-douleur? In der Tat ein Franzose sagt manches, ein Engländer gar noch mehr. Dennoch wollen wir Deutsche das an uns Deutschen nicht leiden, was wir an solchen Briten verzeihen und genießen, als hier hintereinander gehen:
Butler, Shakespeare, Swift, Pope, Sterne, Smollet, der kleinern wie Donne, Peter Pindars und anderer zu geschweigen. Aber nicht einmal noch hat ein Deutscher so viel gewagt als die sonst in Sitten, Sprechen, Geschlecht- und Gesellschaft-Punkten und in weißer Wäsche so zart-bedenklichen Briten. Der reinliche, so wie keusche Swift drückte eben aus Liebe für diese geistige und leibliche Reinheit die Patienten recht tief in sein satirisches Schlammbad.
Seine Zweideutigkeiten gleichen unsern Kaffeebohnen, die nie aufgehen können, weil wir nur halbe haben. Aber wir altjüngferlichen Deutschen bleiben die seltsamste Verschmelzung von Kleinstädterei und Weltbürgerschaft, die wir nur kennen. Man bessere uns! Nur ists schwer; wir vergeben leichter ausländische Sonnenflecken als inländische Sonnenfackeln. Unser salvo titulo und unser salva venia halten wir stets als die zu- und abtreibenden Rede-Pole den Leuten entgegen.
Der vierte (vielleicht der beste) Zynismus ist der meinige, zumal in der Katzenbergerschen Badgeschichte. Dies schließ' ich daraus, weil er bloß in der reinlichsten Ferne sich in die gedachten britischen Fußstapfen begibt und sich wenig erlaubt oder nichts, sondern immer den Grundsatz festhält, daß das Komische jene Annäherung an die Zensur-Freiheiten der Arzneikunde verstatte, verlange, verziere, welche hier, wie natürlich, in der Badgeschichte eines Arztes nicht fehlen konnte. Schon Lessing hat in seinem Laokoon das Komisch-Ekle (das Ekel-Komische ist freilich etwas anderes) in Schutz genommen durch Gründe und durch Beispiele, z.B. aus des feinen Lord Chesterfield Stall- und Küchenstück einer hottentottischen Toilette.
Genug davon! Damit mir aber der gute Leser nicht so sehr glaube: so versichere ich ausdrücklich, daß ich ihn mit der ganzen Einteilung von vier Zynismen gleichsam wie mit heilendem Vierräuberessig bloß vorausbesprenge, um viel größere Befürchtungen vor Katzenberger zu erregen, als wirklich eintreffen, weil man damit am besten die eingetroffnen entschuldigt und verkleinert.
Gebe der Himmel, daß ich mit diesen zwei Bändchen das Publikum ermuntere, mich zu recht vielen zu ermuntern.
Baireuth, den 28. Mai 1808
Jean Paul Fr. Richter
Die Badreise wurde 1807 und 1808 schon geschrieben und 1809 zuerst gelesen, in Jahren, wo das alte Deutschland das Blutbad seiner Kinder zu seiner stärkenden Verjüngung gebrauchte; indes wurde das Buch mitten in der schwülen Kurzeit heiter ausgedacht und heiter aufgenommen.
Die neue Auflage bringt unter andern Zusätzen mehre neue Auftritte des guten Katzenbergers mit, welche ich eigentlich schon in der alten nicht hätte vergessen sollen, weil ich durch diese Vergeßlichkeit seinem Charakter manchen liebenswürdigen Zug benommen. Was hingegen die Malerei des Ekels anlangt, an der einige keinen besondern Geschmack finden wollten, so ist sie ganz unverändert geblieben.
Denn wo sollte man aufhören wegzulassen? Die Ärzte – und folglich starke Leser derselben wie ich – schauen im wissenschaftlichen Ätherreich herab und unterscheiden durch ihre Vogelperspektive des untern Unrats sich ungemein von Hofdamen, die alles zu nahe nehmen. Und zweitens kommen denn nicht alle die verschiedenen Leser mit allen ihren verschiedenen Antipathien zum Bücherschreiber, so daß er ringsum von Leuten umstanden ist, deren jedem er etwas nicht schildern soll, dem einen nicht das Schneiden in Kork, dem andern nicht Abrauschen auf Atlas oder Glasklirren, dem dritten nicht (z.B. mir selber) das Abbeißen vom Papier, dem vierten vollends am wenigsten etwa Kreuzspinnen und so fort? – Wenn nun der vierte, wie z.B. der freundliche Tieck im »Phantasus«, mit einem wahren Abscheu gegen die Figur der Kanker dasteht, so muß ihm freilich erbärmlich werden, wenn er dem Dr. Katzenberger zusehen soll, wie dieser die Spinnen vor Liebe gar so leicht verschluckt als ein anderer Fliegen. Und doch könnte der Doktor immer die Seespinnen, die Krebse und die Austern und andere tafelfähige Mißgestalten für sich sprechen lassen und überhaupt nebenher die naturhistorische Bemerkung machen, daß die Tiere desto ungestalter ausfallen, je näher am Erdboden sie leben – so die chaotischen Anamorphosen und Kalibane des Meers und die Erdbohrer des Wurmreichs und die kriechende Insektenwelt – und daß hingegen – wie z.B. die letzte als fliegende und das schwebende Vogelreich und die hochaufgerichteten Tiere bis zum erhabnen Menschen hinauf beweisen – sich im Freien alles verschönere und veredle.
Der Hauptpunkt aber ist wohl dieser, daß das flüchtige Salz des Komischen manche Gegenstände, die wie ketzerische Meinungen in übelm Geruche stehen, so schnell zersetzt und verflüchtigt, daß der Empfindung gar keine Zeit zur Bekanntschaft mit ihnen gelassen wird. Da das Lachen alles in das kalte Reich des Verstandes hinüberspielt: so ist es (weit mehr noch als selber die Wissenschaft) das große Menstruum (Zersetz- und Niederschlagmittel) aller Empfindungen, sogar der wärmsten; folglich auch der ekeln.
– Freilich etwas ganz anderes wär' es gewesen, wenn ich im Punkte des Ekels den zarten Wieland zum Muster genommen hätte und, wie er2 auf einer Vignette, statt unseres Katzenbergers, dem über nichts übel wird, einen Leser hätte aufgestellt, der sich über den Doktor und das Gelesene öffentlich erbricht. Aber zum Glücke ist im ganzen Werke von allen Lesern kein einziger in Kupfer gestochen und kann also die andern auf dem Stuhle seßhaften nicht anstecken.
Baireuth, den 16ten Oktober 1822
Jean Paul Fr. Richter
»Ein Gelehrter, der den ersten Juli mit seiner Tochter in seinem Wagen mit eignen Pferden ins Bad Maulbronn abreiset, wünscht einige oder mehre Reisegesellschafter.« – Dieses ließ der verwittibte ausübende Arzt und anatomische Professor Katzenberger ins Wochenblatt setzen. Aber kein Mensch auf der ganzen Universität Pira (im Fürstentume Zäckingen) wollte mit ihm gern ein paar Tage unter einem Kutschenhimmel leben; jeder hatte seine Gründe – und diese bestanden alle darin, daß niemand mit ihm wohlfeil fuhr als zuweilen ein hinten aufgesprungener Gassenjunge; gleichsam als wäre der Doktor ein ansässiger Posträuber von innen, so sehr kelterte er muntere Reisegefährten durch Zu- und Vor- und Nachschüsse gewöhnlich dermaßen aus, daß sie nachher als lebhafte Köpfe schwuren, auf einem Eilboten-Pferde wollten sie wohlfeiler angekommen sein und auf einer Krüppelfuhre geschwinder.
Daß sich niemand als Wagen-Mitbelehnter meldete, war ihm als Mittelmanne herzlich einerlei, da er mit der Anzeige schon genug dadurch erreichte, daß mit ihm kein Bekannter von Rang umsonst mitfahren konnte. Er hatte nämlich eine besondere Kälte gegen Leute von höherem oder seinem Range und lud sie deshalb höchst ungern zu Diners, Gouters, Soupers ein und gab lieber keine; leichter besucht' er die ihrigen zur Strafe und ironisch; – denn er denke (sagte er) wohl von nichts gleichgültiger als von Ehren-Gastereien, und er wolle ebensogern à la Fourchette des Bajonetts gespeiset sein, als feurig wetteifern mit den Großen seiner Stadt im Gastieren, und er lege das Tischtuch lieber auf den Katzentisch. Nur einmal – und dies aus halbem Scherz – gab er ein Gouter oder Degouter, indem er um 5 Uhr einer Gesellschaft seiner verstorbnen Frau seinen Tee einnötigte, der Kamillen-Tee war. Man gebe ihm aber, sagte er, Lumpenpack, Aschenbrödel, Kotsassen, Soldaten auf Stelzfüßen: so wüßt' er, wem er gern zu geben habe; denn die Niedrigkeit und Armut sei eine hartnäckige Krankheit, zu deren Heilung Jahre gehören, eine Töpfer- oder Topf-Kolik, ein nachlassender Puls, eine fallende und galoppierende Schwindsucht, ein tägliches Fieber; – venienti aber, sage man, currite morbo, d.h. man gehe doch dem herkommenden Lumpen entgegen und schenk' ihm einen Heller, das treueste Geld, das kein Fürst sehr herabsetzen könne.
Bloß seine einzige Tochter Theoda, in der er ihres Feuers wegen als Vater und Witwer die vernachlässigte Mutter nachliebte, regte er häufig an, daß sie – um etwas Angenehmeres zu sehen als Professoren und Prosektoren – Teegesellschaften, und zwar die größten, einlud. Er drang ihr aber nicht eher diese Freude auf, als bis er durch Wetterglas, Wetterfisch und Fußreißen sich völlig gewiß gemacht, daß es gegen Abend stürme und gieße, so daß nachher nur die wenigen warmen Seelen kamen, die fahren konnten. Daher war Katzenbergers Einwilligen und Eingehen in einen Tee eine so untrügliche Prophezeiung des elenden Wetters als das Hinuntergehen des Laubfrosches ins Wasser. Auf diese Weise aber füllte er das liebende Herz der Tochter aus; denn diese mußte nun, nach dem närrischen Kontrapunkt und Marschreglement der weiblichen Visitenwelt, von jeder einzelnen, die nicht gekommen war, zum Gutmachen wieder eingeladen werden; und so konnte sie oft ganz umsonst um sieben verschiedne Teetische herumsitzen, mit dem Strumpf in der Hand. Indes erriet die Tochter den Vater bald und machte daher ihr Herz lieber bloß mit ihrer innersten einzigen Freundin Bona satt.
Auch für seine Person war Katzenberger kein Liebhaber von persönlichem Umgang mit Gästen: »Ich sehe eigentlich«, sagte er »niemand gern bei mir, und meine besten Freunde wissen es und können es bezeugen, daß wir uns oft in Jahren nicht sehen; denn wer hat Zeit? – Ich gewiß nicht.« Wie wenig er gleichwohl geizig war, erhellt daraus, daß er sich für zu freigebig ansah. Das wissenschaftliche Licht verkalkte nämlich seine edeln Metalle und äscherte sie zu Papiergeld ein; denn in die Bücherschränke der Ärzte, besonders der Zergliederer, mit ihren Foliobänden und Kupferwerken leeren sich die Silberschränke aus, und er fragte einmal ärgerlich: »Warum kann das Pfarrer- und Poetenvolk allein für ein Lumpengeld sich sein gedrucktes Lumpenpapier einkaufen, das ich freilich kaum umsonst haben möchte?« –
Wenn er vollends in schönen Phantasien sich des Pastors Göze Eingeweidewürmerkabinett ausmalte – und den himmlischen Abrahams-Schoß, auf dem er darin sitzen würde, wenn er ihn bezahlen könnte – und das ganze wissenschaftliche Arkadien in solchem Wurmkollegium, wovon er der Präsident wäre –, so kannte er, nach dem Verzichtleisten auf eine solche zu teuere Brautkammer physio- und pathologischer Schlüsse, nur ein noch schmerzlicheres und entschiedeneres, nämlich das Verzichtleisten auf des Berliner Walters Präparaten-Kabinett, für ihn ein kostbarer himmlischer Abrahams-Tisch, worauf Seife, Pech, Quecksilber, Öl und Terpentin und Weingeist in den feinsten Gefäßen von Gliedern aufgetragen wurden samt den besten trockensten Knochen dazu; was aber half dem anatomischen Manne alles träumerische Denken an ein solches Feld der Auferstehung (Klopstockisch zu singen), das doch nur ein König kaufen konnte?-
Der Doktor hielt sich daher mit Recht für freigebig, da er, was er seinem Munde und fremdem Munde abdarbte, nicht bloß einem teuern Menschen-Kadaver und lebendigen Hunde zum Zerschneiden zuwandte, sondern sogar auch seiner eignen Tochter zum Erfreuen, soweit es ging.
Diesmal ging es nun mit ihr nach dem Badorte Maulbronn, wohin er aber reisete, nicht um sich – oder sie – zu baden, oder um da sich zu belustigen, sondern sein Reisezweck war die
Reisezwecke
Katzenberger machte statt einer Lustreise eigentlich eine Geschäftreise ins Bad, um da nämlich seinen Rezensenten beträchtlich auszuprügeln und ihn dabei mit Schmähungen an der Ehre anzugreifen, nämlich den Brunnen-Arzt Strykius, der seine drei bekannten Meisterwerke – den Thesaurus Haematologiae, die de monstris epistola, den fasciculus exercitationum in rabiem caninam anatomico-medico-curiosarum3 – nicht nur in sieben Zeitungen, sondern auch in sieben Antworten oder Metakritiken auf seine Antikritiken überaus heruntergesetzt hatte.
Indes trieb ihn nicht bloß die Herausgabe und kritische Rezension, die er von dem Rezensenten selber durch neue Lesarten und Verbesserung der falschen vermittelst des Ausprügelns veranstalten wollte, nach Maulbronn, sondern er wollte auch auf seinen vier Rädern einer Gevatterschaft entkommen, deren bloße Verheißung ihm schon Drohung war. Es stand die Niederkunft einer Freundin seiner Tochter vor der Türe. Bisher hatte er hin und her versucht, sich mit dem Vater des Droh-Patchens (einem gewissen Mehlhorn) etwas zu überwerfen und zu zerfallen, ja so gar dessen guten Namen ein bißchen anzufechten, eben um nicht den seinigen am Taufsteine herleihen zu müssen. Allein es hatte ihm das Erbittern des gutmütigen Zollers und Umgelders4 Mehlhorn nicht besonders glücken wollen, und er machte sich jede Minute auf eine warme Umhalsung gefaßt, worin er die Gevatterarme nicht sehr von Fangkloben und Hummerscheren unterscheiden konnte. Man verüble dem Doktor aber doch nicht alles; erstlich hegte er einen wahren Abscheu vor allen Gevatterschaften überhaupt, nicht bloß der Ausgaben halber – was für ihn das Wenigste war, weil er das Wenigste gab –, sondern wegen der geldsüchtigen Willkür, welche ja in einem Tage zwanzig Mann stark von Kreißenden alles Standes ihn anpacken und aderlassend anzapfen konnte am Taufbecken. Zweitens konnt' er den einfältigen Aberglauben des Umgelders Mehlhorn nicht ertragen, geschweige bestärken, welcher zu Theoda, da unter dem Abendmahl-Genuß gerade bei ihr der Kelch frisch eingefüllt wurde5, mehrmal listig-gut gesagt hatte: »So wollen wir doch sehen, geliebts Gott, meine Mademoiselle, ob die Sache eintrifft und Sie noch dieses Jahr zu Gevatter stehen; ich sage aber nicht bei wem.« – Und drittens wollte Katzenberger seine Tochter, deren Liebe er fast niemand gönnte als sich, im Wagen den Tagopfern und Nachtwachen am künftigen Kindbette entführen, von welchen die Freundin selber sie sonst, wie er wußte, nicht abbringen konnte. »Bin ich und sie aber abgeflogen,« dacht' er, »so ists doch etwas, und die Frau mag kreißen.«
Ein Reisegefährte
Wider alle Erwartung meldete sich am Vorabend der Abreise ein Fremder zur Mitbelehnschaft des Wagens.
Während der Doktor in seinem Mißgeburten-Kabinette einiges abstäubte von ausgestopften Tierleichen, durch Räuchern die Motten (die Teufel derselben) vertrieb und den Embryonen in ihren Gläschen Spiritus zu trinken gab: trat ein fremder feingekleideter und feingesitteter Herr in die Wohnstube ein, nannte sich Herr von Nieß und überreichte der Tochter des Doktors, nach der Frage, ob sie Theoda heiße, ein blaueingeschlagenes Briefchen an sie; es sei von seinem Freunde, dem Bühnen-Dichter Theudobach, sagte er. Das Mädchen entglühte hochrot und riß zitternd mit dem Umschlag in den Brief hinein (die Liebe und der Haß zerreißen den Brief, so wie beide den Menschen verschlingen wollen) und durchlas hastig die Buchstaben, ohne ein anderes Wort daraus zu verstehen und zu behalten als den Namen Theudobach. Herr von Nieß schaute unter ihrem Lesen scharf und ruhig auf ihrem geistreichen beweglichen Gesicht und in ihren braunen Feuer-Augen dem Entzücken zu, das wie ein weinendes Lächeln aussah; einige Pockengruben legten dem beseelten und wie Frühling-Büsche zart- und glänzend-durchsichtigen Angesicht noch einige Reize zu, um welche der Doktor Jenner die künftigen Schönen bringt. »Ich reise«, sagte der Edelmann darauf, »eben nach dem Badeorte, um da mit einer kleinen deklamierenden und musikalischen Akademie von einigen Schauspielen meines Freundes auf seine Ankunft selber vorzubereiten.« Sie blieb unter der schweren Freude kaum aufrecht; den zarten, nur an leichte Blüten gewohnten Zweig wollte fast das Fruchtgehänge niederbrechen. Sie zuckte mit einer Bewegung nach Nießens Hand, als wollte sie die Überbringerin solcher Schätze küssen, streckte ihre aber – heiß und rot über ihren, wie sie hoffte, unerratenen Fehlgriff – schnell nach der entfernten Türe des Mißgeburten-Kabinettes aus und sagte: »Da drin ist mein Vater, der sich freuen wird.«
Er fuhr fort: er wünsche eben ihn mehr kennen zu lernen, da er dessen treffliche Werke, wiewohl als Laie, gelesen. Sie sprang nach der Türe. »Sie hörten mich nicht aus« – sagte er lächelnd -»Da ich nun im Wochenblatte die schöne Möglichkeit gelesen, zugleich mit einer Freundin meines Freundes und mit einem großen Gelehrten zu reisen:« – Hier aber setzte sie ins Kabinett hinein und zog den räuchernden Katzenberger mit einem ausgestopften Säbelschnäbler in der Hand ins Zimmer. Sie selber entlief ohne Schal über die Gasse, um ihrer schwangern Freundin Bona die schönste Neuigkeit und den Abschied zu sagen.
Sie mußte aber jubeln und stürmen. Denn sie hatte vor einiger Zeit an den großen Bühnendichter Theudobach – der bekanntlich mit Schiller und Kotzebue die drei deutschen Horatier ausmacht, die wir den drei tragischen Curiatiern Frankreichs und Griechenlands entgegensetzen – in der Kühnheit des langen geistigen Liebetrankes der Jugendzeit unter ihrem Namen geschrieben, ohne Vater und Freundin zu fragen, und hatte ihm gleichsam in einem warmen Gewitterregen ihres Herzens alle Tränen und Blitze gezeigt, die er wie ein Sonnengott in ihr geschaffen und gesammelt hatte. Selig, wer bewundert und den unbekannten Gott schon auf der Erde als bekannten antrifft! – Im Briefchen hatte sie noch über ein umlaufendes Gerücht seiner Badreise nach Maulbronn gefragt und die seinige unter die Antriebe der ihrigen gesetzt. Alle ihre schönsten Wünsche hatte nun sein Blatt erfüllt.
Bona
Bona – die Frau des Umgelders Mehlhorn – und Theoda blieben zwei Milchschwestern der Freundschaft, welche Katzenberger nicht auseinandertreiben konnte, er mochte an ihnen so viel scheidekünsteln, als er wollte. Theoda nun trug ihr brausendes Saitenspiel der Freude in die Abschiedstunde zur Freundin; und reichte ihr Theudobachs Brief, zwang sie aber, zu gleicher Zeit dessen Inhalt durchzusehen und von ihr anzuhören. Bona suchte es zu vereinigen und blickte mehrmals zuhorchend zu ihr auf, sobald sie einige Zeilen gelesen: »So nimmst du gewiß einen recht frohen Abschied von hier?« sagte sie. »Den frohesten«, versetzte Theoda. – »Sei nur deine Ankunft auch so, du springfedriges Wesen! Bringe uns besonders dein beschnittenes aufgeworfnes Näschen wieder zurück und dein Backenrot! Aber dein deutsches Herz wird ewig französisches Blut umtreiben«, sagte Bona. Theoda hatte eine Elsasserin zur Mutter gehabt. – »Schneie noch dicker in mein Wesenchen hinein!« sagte Theoda. »Ich tu' es schon, denn ich kenne dich«, fuhr jene fort. »Schon ein Mann ist im ganzen ein halber Schelm, ein abgefeinerter Mann vollends, ein Theaterschreiber aber ist gar ein fünfviertels Dieb; dennoch wirst du, fürchte ich, in Maulbronn vor deinem teuern Dichter mit deinem ganzen Herzen herausbrausen und – platzen und hundert ungestüme Dinge tun, nach denen freilich dein Vater nichts fragt, aber wohl ich.«
»Wie, Bona, fürcht' ich denn den großen Dichter nicht? Kaum ihn anzusehen, geschweige anzureden wag' ich!« sagte sie. »Vor Kotzebue wolltest du dich auch scheuen; und tatest doch dann keck und mausig«, sagte Bona. – »Ach, innerlich nicht«, versetzte sie.
Allerdings nähern die Weiber sich hohen Häuptern und großen Köpfen – was keine Tautologie ist – mit einer weniger blöden Verworrenheit als die Männer; indes ist hier Schein in allen Ecken; ihre Blödigkeit vor dem Gegenstande verkleidet sich in die gewöhnliche vor dem Geschlecht; – der Gegenstand der Verehrung findet selber etwas zu verehren vor sich – und muß sich zu zeigen suchen, wie die Frau sich zu decken; – und endlich bauet jede auf ihr Gesicht; »man küßt manchem heiligen Vater den Pantoffel, unter den man ihn zuletzt selber bekommt«, kann die jede denken.
»Und was wäre es denn,« fuhr Theoda fort, »wenn ein dichter tolles Mädchen einem Herder oder Goethe öffentlich auf einem Tanzsaale um den Hals fiele?« –
»Tu es nur deinem Theudobach,« sagte Bona, »so weiß man endlich, wen du heiraten willst!« – »Jeden – versprech' ich dir –, der nachkommt; hab' ich nur einmal meinen männlichen Gott gesehen und ein wenig angebetet: dann spring' ich gern nach Hause und verlobe mich in der Kirche mit seinem ersten besten Küster oder Balgtreter und behalte jenen im Herzen, diesen am Halse.«
Bona riet ihr, wenigstens den Herrn von Nieß, wenn er mit fahre, unterwegs recht über seinen Freund Theudobach auszuhorchen, und bat sie noch einmal um weibliche Schleichtritte. Sie versprachs ihr und deshalb noch einen täglichen Bericht ihrer Badreise dazu. Sie schien nach Hause zu trachten, um zu sehen, ob ihr Vater den Edelmann in seine Adoptionloge der Kutsche aufgenommen. Unter dem langen festen Kusse, wo Tränen aus den Augen beider Freundinnen drangen, fragte Bona: »Wann kommst du wieder?« – »Wenn du niederkommst. – Meine Kundschafter sind bestellt. – Dann laufe ich im Notfalle meinem Vater zu Fuße davon, um dich zu pflegen und zu warten. O, wie wollt' ich noch zehnmal froher reisen, wär' alles mit dir vorüber.« – »Dies ist leicht möglich«, dachte Bona im andern Sinne und zwang sich sehr, die wehmütigen Empfindungen einer Schwangern, die vielleicht zwei Todespforten entgegengeht, und die Gedanken: dies ist vielleicht der Abschied von allen Abschieden, hinter weinende Wünsche zurückzustecken, um ihr das schöne Abendrot ihrer Freude nicht zu verfinstern.
Herr von Nieß
Wer war dieser ziemlich unbekannte Herr von Nieß? Ich habe vor, noch vor dem Ende dieses Perioden den Leser zu überraschen durch die Nachricht, daß zwischen ihm und dem Dichter Theudobach, von welchem er das Briefchen mitgebracht, eine so innige Freundschaft bestand, daß sie beide nicht bloß eine Seele in zwei Körpern, sondern gar nur in einem Körper ausmachten, kurz eine Person. Nämlich Nieß hieß Nieß, hatte aber als auftretender Bühnen-Dichter um seinen dünnen Alltagnamen den Festnamen Theudobach wie einen Königmantel umgeworfen und war daher in vielen Gegenden Deutschlands weit mehr unter dem angenommenen Namen als unter dem eignen bekannt, so wie von dem hier schreibenden Verfasser vielleicht ganze Städte, wenn nicht Weltteile, es nicht wissen, daß er sich Richter schreibt, obgleich es freilich auch andre gibt, die wieder seinen Parade-Namen nicht kennen. Gleichwohl gelangten alle Mädchenbriefe leicht unter der Aufschrift Theudobach an den Dichter Nieß- bloß durch die Oberzeremonienmeister oder Hofmarschälle der Autoren; man macht nämlich einen Umschlag an die Verleger.
Nun hatte Nieß als ein überall berühmter Bühnen-Dichter sich längst vorgesetzt, einen Badeort zu besuchen, als den schicklichsten Ort, den ein Autor voll Lorbeeren, der gern ein lebendiges Pantheon um sich aufführte, zu erwählen hat, besonders wegen des vornehmen Morgen-Trinkgelags und der Maskenfreiheiten und des Kongresses des Reichtums und der Bildung solcher Örter. Er erteilte dem Bade Maulbronn, das seine Stücke jeden Sommer spielte, den Preis jenes Besuches; nur aber wollt' er, um seine Abenteuer pikanter und scherzhafter zu haben, allda inkognito unter seinem eignen Namen Nieß anlangen, den Badegästen eine musikalische deklamatorische Akademie von Theudobachs Stücken geben; und dann gerade, wenn der sämtliche Hörzirkel am Angelhaken der Bewunderung zappelte und schnalzte, sich unversehens langsam in die Höhe richten und mit Rührung und Schamröte sagen: endlich muß mein Herz überfließen und verraten, um zu danken; denn ich bin selbst der weit überschätzte Theater-Dichter Theudobach, der es für unsittlich hält, so aufrichtige Äußerungen, statt sie zu erwidern, an der Türe der Anonymität bloß zu behorchen. Dies war sein leichter dramatischer Entwurf. In einigen Zeitungen veranlaßte er deshalb noch den Artikel: der bekannte Theater-Dichter Theudobach werde, wie man vernehme, dieses Jahr das Bad Maulbronn gebrauchen.
Da es gegen meine Absicht wäre, wenn ich durch das Vorige ein zweideutiges Streiflicht auf den Dichter würfe: so versprech' ich hier förmlich, weiter unten den Lauf der Geschichte aufzuhalten, um auseinanderzusetzen, warum ein großer Theater-Dichter viel leichter und gerechter ein großer Narr wird als ein andrer Autor von Gewicht; wozu schon meine Beweise seines größern Beifalls, hoff' ich, ausreichen sollen.
Nieß wußte also recht gut, was er war, nämlich eine Bravour-Arie in der dichterischen Sphärenmusik, ein geistiger Kaisertee, wenn andere (z.B. viele unschuldige Leser dieses) nur braunen Tee vorstellen. Es ist überhaupt ein eignes Gefühl, ein großer Mann zu sein – ich berufe mich auf der Leser eignes – und den ganzen Tag in einem angebornen geistigen Cour- und Kuranzuge umherzulaufen; aber Nieß hatte dieses Gefühl noch stärker und feiner als einer. – Er konnte sein Haar nicht auskämmen, ohne daran zu denken, welchen feurigen Kopf der Kamm (seinen Anbeterinnen vielleicht so kostbar als ein Gold-Kamm) regle, lichte, egge und beherrsche, und wie ebenso manches Gold-Haar, um welches sich die Anbeterinnen für Haar-Ringe raufen würden, ganz gleichgültig dem Kamm in Zähnen stecken bleibe als sonst dem Mexiko das Gold. – Er konnte durch kein Stadttor einfahren, ohne es heimlich zu einem Triumphtor seiner selber und der Einwohner unter dem Schwibbogen auszubauen, weil er aus eigner jugendlicher Erfahrung noch gut wußte, wie sehr ein großer Mann labe – und sah daher zuweilen dem Namen Registrator des Tors stark ins Gesicht, wenn er gesagt: Theudobach, um zu merken, ob der Tropf jetzt außer sich komme oder nicht. – Ja er konnte zuletzt in Hotels voll Gäste schwer auf einem gewissen einsitzigen Orte sitzen, ohne zu bedenken, welches Eden vielleicht mancher mit ihm zugleich im Gasthofe übernachtenden Jünglingseele, die noch jugendlich die Autor-Achtung übertreibt, zuzuwenden wäre, wenn sie sich daraufsetzte und erführe, wer früher dagewesen. »O, so gern will ich jeden Winkel heiligen zum gelobten Lande für Seelen, die etwas aus meiner machen – und mit jedem Stiefelabsatze auf dem schlimmsten Wege wie ein Heiliger verehrte Fußstapfen ausprägen auf meiner Lebensbahn, sobald ich nur weiß, daß ich Freude errege.«
Sobald Nieß Theodas Brief erhalten – worin die zufällige Hochzeit der Namen Theoda und Theudobach ihm auf beiden Fußsohlen kitzelte –, so nahm er ohne weiteres mit einer Hand voll Extrapostgeld den Umweg über Pira, um der Anbeterin, wie ein homerischer Gott, in der anonymen Wolke zu erscheinen; und sobald er vollends in der vorletzten Station im Piraner Wochenblatte die Anzeige des Doktors gelesen: so war er noch mehr entschieden; dazu nämlich, daß sein Bedienter reiten und sein Wagen heimlich nachkommen sollte.
In diesen weniger geld- als abgabenreichen Zeiten mag es vielleicht Nießen empfehlen, wenn ich drucken lasse, daß er Geld hatte und darnach nichts fragte, und daß er für seinen Kopf und für seine Köpfe ein Herz suchte, das durch Liebe und Wert ihn für alle jene bezahlte und belohnte.
Mit dem ersten Blick hatte er den ganzen Doktor ausgegründet, der mit schlauen grauen Blitz-Augen vor ihn trat, den Säbelschnäbler streichelnd; Nieß legte – nach einer kurzen Anzeige seiner Person und seines Gesuchs – ein Röllchen Gold auf den Nähtisch mit dem Schwure: »nur unter dieser Bedingung aller Auslagen nehm' er das Glück an, einem der größten Zergliederer gegenüber zu sein.« – »Fiat! Es gefällt mir ganz, daß Sie rückwärts fahren, ohne zu vomieren; dazu bin ich verdorben durch die Jahre.« Der Doktor fügte noch bei, daß er sich freue, mit dem Freunde eines berühmten Dichters zu fahren, da er von jeher Dichter fleißig gelesen, obwohl mehr für physiologische und anatomische Zwecke und oft fast bloß zum Spaße über sie. »Es soll mir überhaupt lieb sein,« fuhr er fort, »wenn wir uns gegenseitig fassen und wie Salze einander neutralisieren. Leider hab' ich das Unglück, daß ich, wenn ich im Wagen oder sonst jemand etwas sogenanntes Unangenehmes sage, für satirisch verschrien werde, als ob man nicht jedem ohne alle Satire das ins Gesicht sagen könnte, was er aus Dummheit ist. Indes gefällt Ihnen der Vater nicht, so sitzt doch die Tochter da, nämlich meine, die nach keinem Manne fragt, nicht einmal nach dem Vater; mißlingt der Winterbau, sagen die Wetterkundigen, so gerät der Sommerbau. Ich fands oft.«
Dem Dichter Nieß gefiel dieses akademische Petrefakt unendlich, und er wünschte nur, der Mann trieb' es noch ärger, damit er ihn gar studieren und vermauern könnte in ein Possenspiel als komische Maske und Karyatide. »Vielleicht ist auch die Tochter zu verbrauchen in einem Trauerspiele«, dacht' er, als Theoda eintrat, die von nachweinender Liebe und von Jugendfrische glänzte, und die durch die frohe Nachricht seiner Mitfahrt neue Strahlen bekam. Jetzo wollte er sich in ein interessantes Gespräch mit ihr verwickeln; aber der Doktor, dem die Aussicht auf einen Abendgast nicht heiter vorkam, schnitt es ab durch den Befehl, sie solle sein Kästchen mit Pockengift, Fleischbrühtafeln und Zergliederungzeuge packen. »Wir brechen mit dem Tage auf,« sagte er, »und ich lege mich nach wenigen Stunden nieder. Sic vale!«
Der Menschenkenner Nieß entfernte sich mit dem eiligsten Gehorsam; er hatte sogleich heraus, daß er für den Doktor keine Gesellschaft sei – leichter dieser für ihn. Allerdings äußerte Katzenberger gern einige Grobheit gegen Gäste, bei denen nichts Gelehrtes zu holen war, und er gab sogar den Tisch lieber her als die Zeit. Es war für jeden angenehm zu sehen, was er bei einem Fremden, der, weder besonders ausgezeichnet durch Gelehrsamkeit noch durch Krankheit, gar nicht abgehen wollte, für Seitensprünge machte, um ihn zum Lebewohl und Abscheiden zu bringen; wie er die Uhr aufzog, in Schweigen einsank oder in ein Horchen nach einem nahen lautlosen Zimmer, oder wie er die unschuldigste Bewegung des Fremden auf dem Kanapée sogleich zu einem Vorläufer des Aufbruchs verdrehte und scheidend selber in die Höhe sprang, mit der Frage, warum er denn so eile. Beide Meckel hingegen, die Anatomen, Vater und Sohn zugleich, hätte der Doktor tagelang mit Lust bewirtet.
Fortsetzung der Abreise durch Fortsetzung des Abschieds
Am Morgen tat oder war Theoda in der weiblichen Weltgeschichte nicht nur das achte Wunder der Welt – sie war nämlich so früh fertig als die Männer –, sondern auch das neunte, sie war noch eher fertig. Gleichwohl mußte man auf sie warten – wie auf jede. Es war ihr nämlich die ganze Nacht vorgekommen, daß sie gestern sich durch ihren Freudenungestüm und ihre reisetrunkne Eilfertigkeit bei einem Abschiede von einer Freundin vollends versündigt, deren helle ungetrübte Besonnenheit bisher die Leiterin ihres Brauseherzens gewesen – so wie wieder die Leiterin des zu überwölkten Gattenkopfs – und welche ihre versteckte Wärme immer bloß in ein kaltes Lichtgeben eingekleidet; – und von dieser Freundin so nahe an der Klippe des weiblichen Lebens eilig und freudig geschieden zu sein – dieser Gedanke trieb Theoda gewaltsam noch einmal in der Morgendämmerung zu ihr. Sie fand das Haus offen (Mehlhorn war früh verreiset), und sie kam ungehindert in Bonas Schlafgemach. Blaß wie eine von der Nacht geschlossene Lilie ruhte ihr stilles Gesicht im altväterischen Stuhle umgesunken angelehnt. Theoda küßte eine Locke – dann leise die Stirn – dann, als sie zu schnarchen anfing, gar den Mund.
Aber plötzlich hob die Verstellte die Arme auf und umschlang die Freundin: »Bist du denn schon wieder zurück, Liebe,« – sagte wie traumtrunken Bona –, »und bloß wohl, weil du deinen Dichter nicht da gefunden?«
»O, spotte viel stärker über die Sünderin, tue mir recht innig weh, denn ich verdiene es wohl von gestern her!« antwortete sie und nannte ihr alles, was ihr feuriges Herz drückte. Bona legte die Wange an ihre und konnte, vom vorfrühen Aufstehen ohnehin sehr aufgelöset, nichts sagen, bis Theoda heftig sagte »:Schilt oder vergib!«, so daß jener die heißen Tränen aus den Augen schossen, und nun beide sich in einer Entzückung verstanden. »O jetzo möchte ich«, sagte Theoda, »mein Blut, wie dieses Morgenrot, vertropfen lassen für dich. Ach, ich bin eigentlich sosanft; warum bin ich denn so wild, Bona?« – »Gegen mich bist du gerade recht,« erwiderte sie; »nur einmal das beste Wesen kann dein wildes verdienen. Bloß gegen andere sei anders!« – »Ich vergesse«, sagte Theoda, »bloß immer alles, was ich sagen will oder leider gesagt habe; nur ein Ding wie ich konnte es gestern zu sagen vergessen, daß ich mich am innigsten nach der erleuchteten Höhle in Maulbronn wie nach dem Sternenhimmel meiner Kindheit sehne, meiner guten Mutter halber.« Ihr war nämlich ein unauslöschliches Bild von der Stunde geblieben, wo ihre Mutter sie als Kind in einer großen, mit Lampen erhellten Zauberhöhle des Orts – ähnlich der Höhle im Bade Liebenstein – umhergetragen hatte.
Beide waren nun ein ruhiges Herz. Bona hieß sie zum Vater eilen – wiederholte ihren Rat der Vorsicht mit aller ihr möglichen Ruhe (ist sie fort, dachte sie, so kann ich gerührt sein, wie ich will), vergaß sich aber selber, als Theoda weinend mit gesenktem Kopfe langsam von ihr ging, daß sie nachrief: »Mein Herz, ich kann nur nicht aufstehen vor besonderer Mattigkeit und dich begleiten; aber kehre ja deshalb nicht wieder um zu mir!« Aber sie war schon umgekehrt und nahm, obwohl stumm, den dritten Abschiedkuß; und so kam sie mit der Augenröte des Abschiedes und mit der Wangen- und Morgenröte des Tags laufend bei den Abreisenden an.
Fortgesetzte Fortsetzung der Abreise
Da der Doktor neben dem Edelmanne auf ihre Ankunft wartete: so ließ er noch ein Werk der Liebe durch Flex ausüben, seinen Bedienten. Er griff nämlich unter seine Weste hinein und zog einen mit Branntwein getränkten Pfefferkuchen hervor, den er bisher als ein Magen-Schild zum bessern Verdauen auf der Herzgrube getragen: »Flex,« sagte er, »hier bringe mein Stärkmittel drüben den untern Gerberskindern; sie sollen sich aber redlich darein teilen.« – Der Edelmann stutzte.
»Meiner Tochter, Herr von Nieß,« sagte er, »dürfen Sie nichts sagen; – sie hat ordentlich Ekel vor dem Ekel – wiewohl ich, für meine Person, finde hierin weder einfachen noch doppelten nötig. Alles ist Haut am Menschen, und meine am Bauche ist nur die fortgesetzte von der an den Wangen, die ja alle Welt küßt. Vor den Augen der Vernunft ist das Pflaster ein Pfefferkuchen wie jeder andere im Herzogtume, ja mir ein noch geistigerer.«
»Ich gestehe,« – versetzte der sich leicht ekelnde Dichter schnell, um nur dem bösen Bilde zu entspringen – »daß mich Ihr Bedienter mit seinem langen Schlepp-Rocke fast komisch interessiert. Wie ich ihm nachsah, schien er mir ordentlich auf Knien zu gehen, wie sonst ein Sieger zum Tempel des Jupiter capitolinus, oder aus der Erde zu wachsen.«
Freundlich antwortete Katzenberger: »Ich habe es gern, wenn meine Leute mir oder andern lächerlich vorkommen, weil man doch etwas hat alsdann. Mein Flex trägt nun von Geburt an glücklicherweise kurze Dachs-Beine, und auch diese sogar äußerst zirkumflektiert, daß, wenn sein Rock lang genug ist, sein Steiß und sein Weg, ohne daß er nur sitzt, halb beisammen bleiben. Diesen komischen Schein seiner Trauerschleppe nütz' ich ökonomisch. Ich habe nämlich einen und denselben längsten Lakaienrock, den jeder tragen muß, Goliath wie David. Diese Freigebigkeit entzweiete mich oft mit dem Piraner Prosektor, sonst mein Herzensfreund, aber ein geiziger Hund, der Leute en robe courte – aber nicht en longue robe – hat, und denen er die Röcke zu kurzen neumodischen Westen (nicht zu altmodischen) einschnurren läßt. Setz' ich nun seinem Geize mein Muster entgegen: so verweiset er mich auf die anatomischen Tafeln, nach denen unter den Gegenmuskeln der Hand der Muskel, der sie zuschließe, stets viel stärker sei als der, welcher sie aufmacht, und zu jenem Muskel gehöre noch die Seele, wenn Geld damit zu halten sei. Daher die Freunde auch die Hände leichter gegen ein ander ballen als ausstrecken. Etwas ist daran.«
Als Theoda kam, hatte der Doktor, der im Vordersitz wartete, daß er durch einen Hüften-Nachbar fester gepackt würde, den verdrüßlichen Anblick, daß das Paar nach langer Session-Streitigkeit sich ihm gegenübersetzte. Die Tochter tat es aus Höflichkeit gegen Nieß und aus Liebe gegen ihren Vater, um ihn anzusehen und seine Wünsche aufzufangen. Zuletzt sagte dieser im halben Zorn: »Du willst dich sonach an das Steißbein und Rückgrat des Kutschers lehnen und läßt ruhig deinen alten Vater, wie ein Weberschiffchen, von einem Kissen zum andern werfen, he?«
Da erhielt er endlich an seiner hinüberschreitenden Tochter seinen Füllstein, zur höchsten Freude des rücksässigen Edelmanns, dessen Blicke sich nun wie ein Paar Fliegen immer auf ihre Augen und Wangen setzen konnten.
Beschluß der Abreise
Sie fuhren ab...
.... Aber jetzo fängt für den Absender der Hauptpersonen, für den Verfasser, nicht die beste Zeit von Lesers Seite an; denn da dieser nun alle Verwicklungen weiß, so wird er mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit die sämtlichen Entwickelungen in den nächsten Druckbogen haben wollen und die Foderung machen, daß in den nächsten Summuln der Rezensent ausgeprügelt werde, dessen Namen er noch nicht einmal weiß – daß Herr von Nieß seine Larve, als sei er bloß ein Freund Theudobachs, abwerfe und dieser selber werde – und daß Theoda darüber erstaune und kaum wisse, wo ihr der Kopf steht, geschweige das Herz. Tu' ich nun dem Leser den Gefallen und prügle, entlarve und verliebe, was dazu gehört: so ist das Buch aus, und ich habe erbärmlich in wenig Summuln ein Feuerwerk oder Luftfeuer abgebrannt, das ich nach so großen Vorrüstungen zu einem langen Steppenfeuer von unzähligen Summuln hätte entzünden können. Ich will aber Katzenberger heißen, entzünd' ichs nicht zu einem.
Von jetzt an wird sich die Masse meiner Leser in zwei große Parteien spalten: die eine wird zugleich mich und die andere und diesen Druck-Bogen verlassen, um auf dem letzten nachzusehn, wie die Sachen ablaufen; es sind dies die Kehraus-Leser, die Valetschmauser, die Jüngstentag-Wähler, welche an Geschichten wie an Fröschen, nur den Hinterteil verspeisen und, wenn sie es vermöchten, jedes treffliche Buch in zwei Kapitel einschmelzten, ins erste und ins letzte, und jedem Kopfe von Buch, wie einem aufgetragnen Hechte, den Schwanz ins Maul steckten, da eben dieser an Geschichten und Hechten die wenigsten Gräten hat; Personen, die nur so lange bei philosophierenden und scherzenden Autoren bleiben, als das Erzählen dauert, wie die Nordamerikaner nur so lange dem Predigen der Heidenbekehrer zuhorchen, als sie Branntwein bekommen. Sie mögen denn reisen, diese Epilogiker. Was hier bei mir bleibt – die zweite Partei –, dies sind eben meine Leute, Personen von einer gewissen Denkart, die ich am langen Seile der Liebe hinter mir nachziehe. Ich heiße euch alle willkommen; wir wollen uns lange gütlich mit einander tun und keine Summuln sparen – wir wollen auf der Bad-Reise die Einheit des Ortes beobachten, so wie die des Interesse, und häufig uns vor Anker legen. Langen wir doch nach den längsten verzögerlichen Einreden und Vexierzügen endlich zu Hause und am Ende an, wo die Kehraus-Leser hausen: so haben wir unterwegs alles, jede Zoll- und Warntafel und jeden Gasthofschild, gelesen und jene nichts, und wir lachen herzlich über sie.
Halbtagfahrt nach St. Wolfgang
Theoda konnte unmöglich eine Viertelstunde vor dem Edelmanne sitzen, ohne ihn über Inner- und Äußerlichkeiten seines Freundes Theudobach, von dem Zopfe an bis zu den Sporen, auszufragen. Er schilderte mit wenigen Zügen, wie einfach er lebe und nur für die Kunst, und wie er, ungeachtet seiner Lust spiele, ein gutmütiges liebendes Kind sei, das ebensooft geliebt als betrogen werde; und im Äußern habe er so viel Ähnlichkeit mit ihm selber, daß er darum sich oft Theudobachs Körper nenne. Himmel! mit welchem Feuer schauete die Begeisterte ihm ins Gesicht, um ihren Autor ein paar Tage früher zu sehen! »Ich habe doch in meinem Leben nicht zwei gleichähnliche Menschen gesehen,« sagte Theoda, der einmal in einem glänzenden Traume Theudobach ganz anders erschienen war als sein vorgebliches Nachbild. »Soll er meiner Tochter gefallen,« bemerkte der Doktor, »so muß die Nasenwurzel des Poeten und die Nasenknorpel samt dem Knochenbau etwas stärker und breiter sein als bei Ihnen, nach ihren phantastischen Voraussetzungen aus seinen Büchern.« Wenn also der Schleicher etwa, wie ein Doppeladler, zwei Kronen durch seine Namen-Maske auf den Kopf bekommen wollte, eine jetzige und eine künftige: so ging er sehr fehl, daß er den Menschen ein paar Tage vor dem Schriftsteller abgesondert vorausschickte; denn jener verhärtete in Theodas Phantasie und ließ sich spröde nicht mehr mit diesem verarbeiten und verquicken, indes umgekehrt bei einer gleichzeitigen ungeteilten Vorführung beider das Schriftstellerische sogleich das Menschliche mit Glimmer durchdrungen hätte.
Nieß warf ohne Antwort die Frage hin, wie ihr sein beziehlichbestes Stück: »Der Ritter einer bessern Zeit« gefallen, mit welchem er eben in Maulbronn die deklamatorische Akademie anfangen wolle. Da ein Autor bei einem Leser, der ihn wegen eines halben Dutzend Schriften anbetet, stets voraussetzt, er habe alle Dutzende gelesen: so erstaunte er ein wenig über Theodas Freude, daß sie etwas noch Ungelesenes von ihm werde zu hören bekommen. Sie mußte ihm nun – so wenig wurd' er auf seinem Selberfahrstuhl von Siegwagen des schönen Aufzugs satt – sagen, was sie vorzüglich am Dichter liebe; »großer Gott,« versetzte sie, »was ist vorzüglich zu lieben, wenn man liebt? Am meisten aber gefällt mir sein Witz – am meisten jedoch seine Erhabenheit – freilich am meisten sein zartes heißes Herz – und mehr als alles andere, was ich eben lese.« – »Was lesen Sie denn eben von ihm?« fragte Nieß. »Jetzo nichts«, sagte sie.
Der Edelmann brauchte kaum die Hälfte seiner feinen Fühlhörner auszustrecken, um es dem Doktor abzufühlen, daß er mit seinem verschränkten Gesichte ebensogut unter dem Balbiermesser freundlich lächeln könnte als unter einem für ihn so widerhaarigen Gespräche; er tat daher- um allerlei aus ihm herauszureizen, worüber er bei der künftigen Erkennszene recht erröten sollte – die Frage an ihm, was er seines Orts vom Dichter für das Schlechteste halte. »Alles,« versetzte er, »da ich die Schnurren noch nicht gelesen. Mich wunderts am meisten, daß er als Edelmann und Reicher etwas schreibt; sonst taugen in Papiermühlen wohl die groben Lumpen zu Papier, aber nicht die seidnen.« Nieß fragte: ob er nicht in der Jugend Verse gemacht? »Pope« – gab er zur Antwort – »entsann sich der Zeit nicht, wo er keine geschmiedet, ich erinnere mich derjenigen nicht, wo ich dergleichen geschaffen hätte. Nur einmal mag ich, als verliebter Geßners-Schäfer und Primaner, so wie in Krankheiten sogar die Venen pulsieren, in Poetasterei hineingeraten sein, vor einem dummen Ding von Mädchen – Gott weiß, wo die Göttin jetzt ihre Ziegen melkt. – Ich stellte ihr die schöne Natur vor, die schon dalag, und warf die Frage auf: sieh, Suse, blüht nicht alles vor uns wie wir, der Wiesenstorchschnabel und die große Gänseblume und das Rindsauge und die Gichtrose und das Lungenkraut bis zu den Schlehengipfeln und Birnenwipfeln hinauf? Und überall bestäuben sich die Blumen zur Ehe, die jetzt dein Vieh frißt! – Sie antwortete gerührt: wird Er immer so an mich denken, Amandus? Ich versetzte wild: Beim Henker! an uns beide; wohin ich künftig auch verschlagen und verfahren werde, und in welchen fernen Fluß und Bach ich auch einst schauen werde – es sei in die Schweina in Meiningen – oder in die Besau und die Gesau im Henneberg – oder in die wilde Sau in Böhmen – oder in die Wampfe in Lüneburg – oder in den Lumpelbach in Salzburg – oder in die Sterzel in Tirol – oder in die Kratza oder in den Galgenbach in der Oberpfalz – in welchen Bach ich, schwör' ich dir, künftig schauen werde, stets werd' ich darin mein Gesicht erblicken und dadurch auf deines kommen, das so oft an meinem gewesen, Suse. – Jetzt freilich, Herr von Nieß, sprech' ich prosaischer.«
Nieß griff feurig nach des Doktors Hand und sagte: »Das scherzhafte Gewand verberge ihm doch nicht das weiche Herz darunter.« – »Ich muß auch durchaus früherer Zeit zu weich und flüssig gewesen sein,« – versetzte dieser – »weil ich sonst nicht gehörig hart und knöchern hätte werden können; denn es ist geistig wie mit dem Leibe, in welchem bloß aus dem Flüssigen sich die Knochen und alles Harte erzeugt, und wenn ein Mann harte Eiszapfenworte ausstößt, so sollte dies wohl der beste Beweis sein, wieviel weiche Tränen er sonst vergossen.« – »Immer schöner!« rief Nieß; »o Gott nein!« rief Theoda im gereizten Tone.
Der Edelmann schob sogleich etwas Schmeichelndes, nämlich einen neuen Zug von Theudobach ein, den er mit ihm teile, nämlich den Genuß der Natur. »Also auch des Maies?« fragte der Doktor; Nieß nickte. Hierauf erzählte dieser: Darüber hab' er seine erste Braut verloren; denn er habe, da sie an einem schönen Morgen von ihren Maigenüssen gesprochen, versetzt, auch er habe nie so viele gehabt als in diesem Mai wegen der unzähligen Maikäfer; als er darauf zum Beweise einige von den Blättern abgepflückt und sie vor ihren Augen ausgesogen und genossen: so sei er ihr seitdem mehr greuels- als liebenswürdig vorgekommen, und er habe durch seine Röselsche Insektenbelustigungen Brautkuchen und Honigwochen verscherzt und vernascht. Nieß aber, sich mehr zur Tochter schlagend, fuhr kühn mit dem Ernste des Naturgenusses fort und schilderte mehre schöne Aussichten ab, die man sah, und von manchen erhabenen Wolken-Partien lieferte er gute Rötelzeichnungen; – als endlich die Partien zu regnen anfingen und selbst herunterkamen. Sogleich rief der Doktor den langröckigen Flex in den Wagen herein als einen Füllstein für Nieß. Diesem entfuhr der Ausruf: »Dies zarte Gefühl hat auch unser Dichter für seine Leute, Theoda!« – »Es ist«, antwortete ihr Vater, »zwar weniger der Mensch da als sein langer Rock zu schonen; aber zartes Gefühl äußert sich wohl bei jedem, den der Wagen verdammt stößt.« Bald darauf kamen sie in St. Wolfgang an.
Mittags-Abenteuer
Gewöhnlich fand der Doktor in allen Wirtshäusern bessere Aufnahme als in denen, wo er schon einmal gewesen war. Nirgends traf er aber auf eine so verzogne Empfangs-Physiognomie als bei der verwittibten, nett gekleideten Wirtin in St. Wolfgang, bei der er jetzt zum zwölften Male ausstieg. Das zweitemal, wo sie in der Halbtrauer um ihre eheliche Hälfte und in der halben Feiertags-Hoffnung auf eine neue ihrem medizinischen Gaste mit Klagen über Halsschmerzen sich genähert, hatte dieser freundlich sie in seiner Amtsprache gebeten: sie möge nur erst den Unterkiefer niederlassen, er wolle ihr in den Rachen sehen. Sie ging wütig-erhitzt und mit vergrößerten Halsschmerzen davon und sagte: »Sein Rachen mag selber einer sein; denn kein Mensch im Hause frißt Ungeziefer als Er.« Sie bezog sich auf sein erstes Dagewesensein. Er hatte nämlich, zufolge allgemein-bestätigter Erfahrungen und Beispiele, z.B. de la Landes und sogar der Demoiselle Schurmann – welche nur naturhistorischen Laien Neuigkeiten sein können –, im ganzen Wirtshause (dem Kellner schlich er deshalb in den Keller nach) umhergestöbert und – gewittert, um fette runde Spinnen zu erjagen, die für ihn (wie für das oben gedachte Paar) Landaustern und lebendige Bouillon-Kugeln waren, die er frisch aß. Ja er hatte sogar – um den allgemeinen Ekel des Wirtshauses, wo möglich, zurechtzuweisen – vor den Augen der Wirtin und der Aufwärter reife Kanker auf Semmelschnitte gestrichen und sie aufgegessen, indem er Stein und Bein dabei schwur – um mehr anzuködern –, sie schmeckten wie Haselnüsse.
Gleichwohl hatte er dadurch weit mehr den Abscheu als den Appetit in Betreff der Spinnen und Seiner-Selbst vermehrt, und zwar in solchem Grade, daß er selber der ganzen Wirtschaft als eine Kreuz-Spinne vorkam, und sie sich als seine Fliegen. Als er daher später einmal versuchte, dem Kellner nachzugehen, um unten aus den Kellerlöchern seine mensa ambulatoria, sein Kanarienfutter zu ziehen: so blickte ihn der Pursche mit fremdem, wie geliehenem Grimme an und sagte: »Fress' Er sich wo anders dick als im Keller!« –
Nichts bekümmerte ihn aber weniger als sauere Gesichter; der gesunde Sauerstoff, der den größeren Bestandteil seines in Worte gebrachten Atems ausmachte, hatte ihn daran gewöhnt.
Die Wirtin gab sich alle Mühe, unter dem frohen Gastmahle ihn von Theoda und Nieß recht zu unterscheiden zu seinem Nachteile; er nahm die Unterscheidung sehr wohl auf und zeigte große Lust, nämlich Eßlust; und ließ, um weniger der Wirtin als seinen Leuten etwas zu schenken, diesen nichts geben als seine Tafelreste. Die Wirtin ließ er zusehen, wie er mit derselben Butter zugleich seine Brotscheiben und seine Stiefel-Glatzen bestrich, und wie er den Zuckerüberschuß zu sich steckte, unter dem Vorwande, er hole aus guten Gründen den Zucker erst hinter dem Kaffee nach im Wagen.