Drachenkristall und Himmelsschlüssel - Gabriele Napierata - E-Book

Drachenkristall und Himmelsschlüssel E-Book

Gabriele Napierata

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Beschreibung

Boney ist ein junges Mädchen, das eine gewöhnliche Kindheit in der englischen Provinz verlebt. Doch als sie eines Tages beim Versteckspiel in einen verlassenen Bergwerksstollen stürzt, findet sie sich unversehens in einer fremden Welt wieder: dem geheimnisvollen Land Malachit. Hier leben die seltsamsten Gestalten: Hexen und Feen, sprechende Tiere und Gnome, die wie Kartoffeln in der Erde wachsen. An der Seite ihres treuen, doch störrischen Begleiters, des blauen Ponys, begibt sich Boney auf eine abenteuerliche Reise durch dieses verwunschene Land. Denn ihr Eigenes und das Schicksal Malachits scheinen untrennbar verbunden. Nur wenn sie es schafft, den gläsernen Drachen zu besiegen, der Malachit tyrannisiert, wird sie einen Weg nach Hause finden können.

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Gabriele Napierata

Drachenkristall und Himmelsschlüssel

Band 1 Wind im Nebel

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2016 FRANKFURTER LITERATURVERLAG FRANKFURT AM MAIN

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

In der Straße des Goethehauses/Großer Hirschgraben 15

D-60311 Frankfurt a/M

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

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Lektorat: Dominic Gaschler

Umschlagbild: Gabriele Napierata

Illustrationen im Innenteil: Gabriele Napierata

ISBN 978-3-8372-1475-8

Inhaltsverzeichnis

Für Anna-Theresa und Alexander-Nicolai

Annas Kellergedicht

Vorgeschichte

Wie alles begann

Im Stollen

Die Begegnung

Die Suche

Die Geschichte des blauen Ponys

Kalksandstein und Rhabarberblätterwald

Ein zweifelhaftes Vergnügen

Eine Einladung und ihre Folgen

Burgenmacht

Burgennacht

Im Nebel gefangen

Ein merkwürdiger Zeitgenosse

Das silberne Glöckchen

Der Abschied und ein neuer Weg

Die Flüchtlinge

Das Haus der verlorenen Schreie

Von Wechselbälgern und Wölfen in Schafspelzen

Die Geröllwüste und ein kleiner Drache

Streitereien

Die rote Treibsandwüste und ein verhängnisvoller Fehler

Der Rubinsee

Der rote See und sein Hüter

Wieder unter der Erde

Die gläserne Flöte und ein bisschen Karpfen

Goldene Binsen und ein Meer

Annas Kellergedicht

Anna, willst du wirklich herunterkommen?

Bist du denn mit den Dummen?

In den dunklen Keller hinein,

hier ist es wirklich nicht fein.

Es haust hier doch ein wahrer Geist,

der dich mit sich reißt.

Hinein in seine dunkle Welt,

wo es dir wirklich nicht gefällt.

Bitte Anna, bleibe oben,

sonst beginnt der Geist zu toben.

Anna bleibe oben,

bleibe, bis die Zeit hat sich verschoben.

Ich schaue mich im Keller um,

bücke mich, mache meinen Rücken krumm.

In die Ecken schau ich gar,

aber Anna, meine Anna,

ist nimmer mehr da.

Vorgeschichte

Er hatte es geschafft. Obwohl er vermutlich zehn Meilen gegen den Wind stank, wie ein Penner aussah und der Schnaps, der ihn zu dem gemacht hatte, was er war, noch in seiner Manteltasche steckte. Er fand sein Abteil und der Schaffner hatte ihm sogar auf dem Gang freundlich zugenickt, was verwunderlich war, denn er konnte sich nur noch torkelnd vorwärts bewegen. Man setzte ihn nicht an die Luft, auch nicht als er schon saß und der Zug noch stand. Sie ließen ihn in Ruhe und trotzdem fühlte er sich miserabel. Timothy Ravenwood litt an Seelenpein und deshalb hatte er beschlossen zu reisen.

Dieser Zug sollte ihn von einem großen Ort aus der Gegenwart zu dem kleinen Ort aus seiner Vergangenheit bringen. Er war sozusagen auf Spurensuche und versuchte den Tim wiederzufinden, der sich noch nicht in seinem Lieblingswhisky ertränkt hatte. Er wollte zurück zu den Tagen reiner Unbeschwertheit, aber auch zu den Tagen unbedachten Leichtsinns und zu einem grenzenlosen Freiheitsdrang, wie ihn nur Kinder verspürten. Es lag eine gewisse Ironie darin, wenn man es genau betrachtete, dennoch musste er sich eingestehen, dass seine Kindheit die schönsten Momente seines bisherigen Lebens barg. Eine schöne und unbeschwerte Zeit, die allerdings unverhofft und abrupt endete und eine gemeine Kerbe in sein Leben schlug, als Boney verschwand. Seit damals war sein Schicksalsgefüge durcheinander geraten, bedingt durch Schuldgefühle, die ihn ständig quälten und die der Psychiater auch nur unzulänglich wegreden konnte. Aber zumindest lernte er seine Schuld zu narkotisieren – mit Alkohol. Um sein Gehirn zu entlasten, begann er, seine Leber zu belasten. Gerne hätte er diesen ungeliebten Abschnitt in seiner Kindheit für immer vergessen gehabt. Nicht ein Gedanke daran sollte bleiben, weder im Bewusstsein noch im Unterbewusstsein.

Nun stand er im 36. Lebensjahr. Die Jahre waren wie heiße Butter über seinen Buckel geglitten und er hatte sich längst dem Suff ergeben. Nicht unangenehm auffallen und alles verbergen. Damit er nicht das verlor, was seinen Alkoholkonsum finanzierte. Jeder private Gedanke päppelte die Heimlichkeiten, um auch weiterhin verbergen zu können. Trotz der Sucht nach Flüssigkeit blendete er auch weiterhin seine Umwelt erfolgreich. Das Laster hätte ihn in ein aufgedunsenes und schwammiges Geschöpf verwandeln sollen, aber egal wie er auch seinen Körper geißelte: Er blieb der zu groß geratene Junge. Die Zeit war eine launische Freundin. Doch schien sie ihn inniglich zu lieben, weil sie sich in all den Jahren fern von ihm gehalten hatte, nun aber erinnerte sie sich anscheinend seiner und das sehr rigoros und auf eine Art und Weise, die ihm auch nicht behagte. Er fühlte immer öfter, wie es ihn zu dem Ort seiner Kinderzeit zog. Seine Vergangenheit war nicht völlig ausgelöscht. Er hatte sich Jahrzehnte lang selbst betrogen und dabei um so vieles gebracht.

Vor etwa einem Jahr begann sein neuerliches Martyrium. Er träumte von ihr. Er träumte von einer Toten. Und just nach diesem Traum begann er sich wieder zu erinnern. Einzelheiten tauchten aus tiefsten Tiefen auf und erschütterten ihn aufs Neue. Dabei war alles schon so lange her.

Die Tür zu den Kellerräumen seiner Erinnerung war aufgestoßen und blieb offen. Die finstere Tiefe lockte und die Träume aus der Vergangenheit blieben ihm auch in Zukunft hartnäckig erhalten. Sie hatten ihn doch nur allesamt betrogen. Der Psychiater, der Alkohol und auch die Zeit. Er hatte so hart und mit nahezu verbissener Ausdauer daran gearbeitet, diesen wunden Punkt aus seiner Vergangenheit zu tilgen. Viele, viele Liter von dem rostbraunen Saft waren seine Kehle hinabgeflossen und wenn er erst an die teuren Sitzungen dachte, die ihn anstrengten, weil ihm das Heucheln nicht so leicht fiel. Sie alle hatten ihm dabei helfen sollen, auszumerzen was nicht geschehen sein durfte. Doch der Trick mit dem Alkohol funktionierte nicht mehr so gut, sein Konsum stieg stetig an und der Nervendoktor erreichte ihn ebenso wenig – den Letzteren schoss er ab. Die Träume kehrten das Unterste in ihm zuoberst, deren Beharrlichkeit war schwerlich etwas entgegenzusetzen. Manchmal wünschte er sich, er würde sterben. Irgendwann wusste er sich nicht mehr zu helfen, fasste nach Strohhalmen und war erneut zu den Ärzten gelaufen. Die hatten ihm dann endlich geholfen. Er kam nun ganz legal an diverse Pillen heran. Nun war er nicht nur Alkoholiker, sondern blieb fortan auch noch dem Rezeptblock des verschreibenden Arztes ausgeliefert. Monate der Qual und fast ein Jahr, in dem er seinen Selbstmord mehrmals probte und er lebte immer noch. Niemand und nichts hatte ihm tatsächlich helfen können. Denn wer konnte schon einen Schläfer daran hindern zu träumen, wenn der immer wiederkehrende Traum stärker war als alles andere auf der Welt.

Die Tür stand einladend offen. Die Leichen im Keller warteten längst. Letztendlich hatte er sich selbst auf den Weg begeben. Er musste sich erinnern. Zu diesem Zeitpunkt der Erkenntnis ruhte sein kleines Geheimnis allerdings noch zusammen mit anderen unglückseligen Erinnerungen eingesperrt in einer der vielen Schachteln aus Pappe, die in dem entlegensten Winkel seines Gehirns wohl verwahrt wurden und deren Titelköpfe so verstaubt waren, dass man sie erst entstauben musste, um die Schriftzüge lesen zu können. Dort tauchte nach seinem ersten Traum auch das ramponierte Kästchen aus gepresstem Altpapier mit dem unliebsamen Erlebnis wieder auf, versehen mit einer Titelaufschrift in der ungelenken Handschrift eines noch halben Kindes.

„Böse Erinnerungen oder wirkliche Katastrophen im Leben“, stand dort zu lesen, mit einer zusätzlichen Aufschrift, kindlich übertrieben und als Warnhinweis gekennzeichnet. „Sicherheitsverwahrung: Auf gar keinen Fall öffnen“

Wie ein Raubtier aus Pappe, aber schon zum Sprung bereit, lauerte das schäbige, ins Abseits gedrängte Schächtelchen, dem die Schärfe der papierenen Ränder durch das Verrinnen der Zeit bereits genommen war, trotzdem scheinbar ungeduldig auf seine baldige Öffnung.

Warum war dieses wilde, dort in diesem Winkel des Vergessens wartende Tier aus Presspappe noch nicht erlegt? War das Vergangene nicht längst vernichtet, in tausend Schnipsel zerrissen und in die Tonne gedrückt? Er sollte sich schleunigst bei dieser schlampigen Verwaltung in seinem Gehirn beschweren. Die Tür indes stand immer noch offen und er wagte, einen Schritt vorwärts zu gehen. Lieber Himmel noch einmal! Dabei lag dieses Trauma schon so lange zurück. Damals waren sie noch Kinder gewesen, als er dieses Mädchen, seine erste kleine, große Liebe, verlor.

Wie hatte er alles, was damit zusammenhing, so gewaltsam verdrängen können? Die halbvolle Flasche in der Manteltasche erinnerte ihn gerne daran. Nur für einen Augenblick wollte er die Tür wieder schließen. Warum ging diese nur nicht wieder zu? Ach. Da hatte er doch das, was er brauchte. Der Griff in die Tasche war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er genehmigte sich einen Schluck aus seiner Flasche und stellte fest, dass er schwitzte. Er schwitzte den Alkohol aus. Der Zug fuhr und fuhr, wollte überhaupt nicht irgendwo ankommen. Landschaften sausten an seinem Abteilfenster vorbei und ließen ihn erschauern. Was war er nur für eine verkommene Gestalt? Keiner der Fahrgäste hatte sich in sein Abteil getraut, obwohl der Zug übervoll war. Als sie ihn hinter den verglasten Scheiben entdeckten, waren sie weiter geeilt. Einige starrten ihm, bevor sie verschwanden, ins Gesicht, rümpften ihre feinen englischen Näschen und wandten sich dann ab. Der Alkoholdunst musste durch die Ritzen zum Gang nach draußen gekrochen sein. Vehement bohrte er seinen Rücken in das Polster und entspannte sich dann.

Es war ein einschneidendes Erlebnis gewesen – damals. Ein Geheimnis war entstanden und das Geschehen hatte den gesamten damaligen Sommer überschattet, hatte sein späteres Leben geprägt. War es da nicht verständlich, dass er nur vergessen, sich jeden Gedanken daran verweigern wollte?

Und dann war Boney in seinen Träumen erschienen. Eigentlich sollte er über diese nächtlichen Heimsuchungen eines kleinen Mädchens lachen. Hätte er auch liebend gerne, wenn nicht dieser winzige, bohrende Schmerz in ihm gewesen wäre, der den eitlen Drang verspürte, der nahezu besessen davon schien, zu wachsen und zu wachsen, in die Unermesslichkeit zu sprießen. So träumte er Nacht für Nacht weiter von ihr und die Träume wurden von Mal zu Mal intensiver. Er konnte ihr Gesicht zwar nicht sehen, ein Schleier schien wie ein Hauch über ihrem Antlitz zu liegen. Aber obwohl er ihr Gesicht nicht genau erkennen konnte, wusste er doch tief in seinem Herzen ganz genau, dass es nur Boney sein konnte, die ihn aus der Ferne traktierte. Sie erschien ihm nicht ohne Grund, das wusste er jetzt. Es musste einen Grund geben und er glaubte auch zu wissen, was sie von ihm verlangte. Sie brauchte seine Hilfe. Er musste zurück zu ihr, sonst würde er wirklich noch verrückt werden. Deshalb saß er in dem Zug. Deshalb hatte er sich auf den Weg gemacht und wollte zurück in seine Heimatstadt.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und seufzte. Der Zug ratterte unablässig. Es war warm. Es war Sommer, wie damals, nur eben 22 Jahre später. Eine Fliege flog dicht an seiner Nase vorbei. Sie surrte aufdringlich, näherte sich in ihrer Penetranz erneut seinem Gesicht, auf dem der Schweiß stand. Er versuchte sie mit der Hand zu erhaschen. Doch das Insekt war schneller, wollte absolut nicht sterben, ärgerte ihn scheinbar wissentlich und führte ihn bei seinen Versuchen, sie zu erlegen, an der Nase herum. Lästiges Vieh. Tim ergriff härtere Maßnahmen, tauchte auf aus seinen alkoholisierten Nebelträumen und schmierte das Insekt schließlich mit viel Geschick an das vormals sauber glänzende Abteilfenster. Anklagend, aber nachweislich stumm, blieb das zu Brei geklopfte kleine Insekt an der Scheibe kleben.

Einige Minuten fixierte Tim den schmierigen Fleck, als würde er befürchten, einer Auferstehung beiwohnen zu müssen und das Ärgernis begänne von vorne, oder schlimmer noch, die auferstandene Fliege könnte das Wirken ihres vorhergehenden Lebens an Boshaftigkeit noch übertreffen wollen. Aber nein. Der gelbe Fleck verzierte auch weiterhin das Abteilfenster und nichts geschah. Die Fliege blieb dem Tod erhalten. Und wenn er es Recht besah, war das gut so wie es war. Er dachte dabei gar nicht mehr an die Fliege.

Tote pflegten nicht einfach so aus ihren Gräbern zu steigen. Die hatten gefälligst dort zu bleiben, wo man sie verscharrt hatte. Seine Gedanken glitten zu dem braunhaarigen Mädchen. Das einzige, das er noch mit Sicherheit wusste. Sie hatte braune Haare besessen, braune Haare, die im Sonnenlicht kupferrot aufleuchteten. Er schloss die Augen, und wieder einmal versuchte er, sich das Gesicht von Boney ins Gedächtnis zurückzurufen, um endlich den Schleier zu lüften, um die Gestalt dahinter klarer erkennen zu können.

Ganz und gar nicht einfach – 22 Jahre standen dazwischen, aber er war ein Mann. Er wollte sich nicht mehr verstecken. Er wollte sich erinnern und die Erinnerung, das spürte er nun, wollte zu ihm fließen. Er würde sie willkommen heißen, sie nicht mehr in Träumen verbergen. Er wollte aufwachen aus diesem Alptraum und sich stellen. Hingegen, eines blieb ihm verwehrt. Obwohl mit dem Fluss der Erinnerungen jedes einzelne noch so kleine Detail des schrecklichen Geschehens sich wieder und wieder wie ein Film vor seinem geistigen Auge abspulte, blieb das Bild über das Aussehen der damaligen Hauptakteurin auch jetzt in dem verblichenen Drama wie verwischt – nur einzelne Erinnerungsfetzen an dieses verlorengegangene Geschöpf waren erhalten geblieben. Und natürlich das Gefühl, das sich mit ihr verband, wenn er an sie dachte. Aber denken konnte anstrengend sein, besonders hier, in der allzu warmen Enge des Abteils, wo er mit seinen Gedanken alleine war. Der Zug ratterte unablässig und dieses monotone Geräusch lullte ihn ein. Es war sehr warm und schließlich besiegte ihn der Schlaf.

Wie alles begann

Es war noch nicht lange hell. Tau lag in der Luft, auf den Grashalmen der Parkanlage, auf den Blumen in den Rabatten, auf Metall und Stein. Es versprach ein schöner, warmer Tag zu werden, so riefen es sich jedenfalls die Amseln auf den von ihnen besetzten Dachfirsten zu. Auch die Tauben konnten das Gurren nicht lassen und priesen den jungen Morgen. Ein leichter Wind trieb sich umher und fuhr raschelnd zwischen die Blätter. Die Welt regte sich. Frühaufsteher waren längst unterwegs – nur die Faulen lagen noch in ihren Betten.

Jugend bedeutete Unrast, den Drang zu entdecken, Provokation. Das Leben schmeckte im zarten Alter besonders süß. Es schienen keine Grenzen zu existieren und wenn doch, so setzte man sich eben darüber hinweg – alles musste getestet und ausgekostet werden –, auch wenn das nur heimlich geschehen konnte. Nur die Gegenwart zählte. Vergangenheit, was war das noch?

Die zwei Mädchen und drei Jungen saßen auf dem breiten Rand des imposanten Brunnens unmittelbar vor der kleinen Schule in dem kleinen grauen Ort, der irgendwo in Englands ehemaligen Erzfördergebieten lag und der als einziges Überbleibsel ganz bewusst noch an eine dunkle Zeit der Ausbeutung zu erinnern versuchte. Jenes Unterfangen bezüglich der Geschichte Englands schien vergebliche Liebesmühe zu sein, denn dieser Brunnen wurde schon lange nicht mehr von allen bemerkt, obwohl er doch zweifelsfrei nach wie vor seinen angestammten Platz beanspruchte. Und so ließen diese Mädchen und Jungen in grober Selbstverständlichkeit ihre Beine von dem Brunnenrand baumeln, nahmen nicht einmal mehr die Skulptur aus Gusseisen in seinem Inneren wahr, sahen nicht die schwarze eiserne Lore mit dem kleinen Pony davor, welches das schwere Gefährt schon seit einer halben Ewigkeit zog, sahen auch nicht die abgezehrten Gestalten, die kleinen Kinder, die in eiserne Lumpen gekleidet den Kippkarren anschoben, sahen nicht den Rost, an der aufwendig gestalteten Skulptur und sahen auch nicht den Taubendreck auf ihr, weil dieses Bild zu ihrem Alltag, ihrem Leben gehörte, längst seinen Platz in ihren Gehirnen eingenommen hatte und keine neuerlichen, kritischen Gedanken mehr entstehen ließ.

Die wenigsten Kinder gingen gerne zur Schule. Meistens verstärkte sich diese Abneigung noch mit zunehmendem Alter. Gerade wenn man zwischen Kinderzeit und Jugend noch festhing, hatten diese Zwitterwesen es bekanntlich besonders schwer. Dieser Platz am Brunnenrand war für die Fünf der beliebteste Treffpunkt, weil ihn jeder kannte und man sich partout nicht verfehlen konnte – auch wenn man es darauf anlegte. Auch jetzt hatten sie sich alle eingefunden. Im Grunde war es eine kleine Feier wert. Sie hatten endlich schulfrei – verheißungsvolle, scheinbar honiggesüßte noch vor ihnen liegende Ferien und das für einen nahezu unverschämt langen Zeitraum. Jede Menge Zeit also, um etwas anzustellen.

„Kommst du nun mit?“ Tim verzog sein Gesicht zu einer freundlichen Grimasse und betrachtete den Schopf des Mädchens vor ihm. Sein Blick war hoffnungsvoll ausgerichtet. Der Junge erinnerte sich nur zu gut an heiße Tage und an eine pralle Sonne, die, wenn ihre Strahlen auf diese Mähne trafen, die langen braunen Haare in ein Feuermeer verwandelten und rot und golden aufflammen ließen. Noch bewachten das Gestirn und das Mädchen ihr Geheimnis, um die Mittagszeit würde es bereits jeder wissen. Der Blick des Jungen wanderte tiefer und blieb an einer von sieben, täglich mit frischer Buttermilch eingeriebenen Sommersprossen hängen. Die braunen Punkte, die sich nicht unterkriegen ließen, präsentierten sich auf einer zierlichen Nase mit einem frechen Stups.

Die Angesprochene kräuselte nachdenklich die Stirn. „Wirklich! Begeistert bin ich nicht... Wenn ich mitkomme, darf meine Mutter auf keinen Fall erfahren, dass ich auf dem Berg war. Verstehst du, Tim? Wenn Mutter es spitz kriegt, dass ich doch gegen ihr Verbot verstoßen habe, sind für mich die Ferien gelaufen.“

Der Junge schüttelte beschwichtigend den Kopf. „Warum sollten wir dich verpetzen?“ Er sprang von der Mauer. Die anderen Jungen folgten seinem Beispiel. Dann, zu den Anderen gewandt, etwas zu laut: „Und Bobby verplappert sich natürlich auch nicht mehr.“ Er fixierte dabei sehr streng seinen dunkelhaarigen Nachbarn, den diese Rüge sichtlich nervös machte. Ein verschämter Augenaufschlag, ein weiteres nervöses Blinzeln und schon senkte sich ein schuldbewusster Blick, kroch Richtung Boden, erklomm staubige Schuhspitzen und suchte in ihnen die Rettung. Unsicher trat der nun öffentlich zur Schau gestellte Unglückswurm von einem Fuß auf den anderen und schien sich bald, wie selbiges Getier, unter den tadelnden Blicken seiner Freunde zu winden.

„Ein einziges Mal habe ich einen Fehler begangen. Nun hängt es mir ein Leben lang an.“ quetschte der vermeintliche Missetäter zwischen seinem Zahnpelz hervor. Der kaum hörbare Kommentar klang unwirsch und keineswegs reuevoll. Trotzig streckte der korpulente Junge sein Kinn nach vorne.

Tim hatte feine Ohren, und auch wenn das eben Gehörte nicht für selbige bestimmt war, so reagierte er nur zu gerne darauf. „Na, rede mal noch so blöd daher. Warst du es nicht, der uns das letzte Mal alles eingebrockt hat?“

Der größere Junge war auf dem besten Weg, richtig böse zu werden. So viel Uneinsichtigkeit konnte er kaum ertragen. Insgeheim gestand er sich ein, dass er nur zu gerne einen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Er hatte Bobby immer noch nicht wegen der alten Geschichte verziehen. Zugegebenerweise war er doch sehr nachtragend. Er schnaubte, wie ein genervter Stier in der Arena vor dem Angriff auf einen menschlichen Gegner.

Aber als er den tadelnden Blick von dem Mädchen mit den braunen Haaren bemerkte, beruhigte er sich, jedoch nur widerwillig. „Na gut. Dann bin ich eben ruhig“, knurrte er leise und bemerkte dabei aus den Augenwinkeln, dass ihn die Anderen verständnislos anstarrten.

Wie konnte das sein? Seine Freunde schienen allesamt mit Gedächtnisschwund geschlagen zu sein. Er jedoch vergaß selten etwas. Ihm lag noch so manches auf der Zunge, was er gerne losgeworden wäre. Besonders die drei Wochen Hausarrest für ihn hätte man seiner Meinung nach durchaus erwähnen können. Doch um nicht sein Gesicht zu verlieren, oder vielleicht auch nur, um seiner Anführerrolle gerecht zu werden, reagierte der große Junge anders, als man erwartet hätte. Er schluckte seine Empörung hinunter und begann vor aller Augen mit dem Strom zu schwimmen.

Mit betonter Langsamkeit strich sich Tim eine blonde Haarsträhne aus dem gebräunten Gesicht. „Also gut, Bobby. Schwamm drüber. Sheila, Kevin, kommt ihr auch mit?“

„Aber immer doch!“ Kevin grinste dabei die stattliche Sheila an. Die beginnenden Spannungen hatten sich scheinbar wieder verflüchtigt und das bevorstehende Abenteuer lockte. Innerlich atmeten sie alle auf. Die Gegenwart von Streit hatte schon die Luft beschwert. Nun waren sie noch einmal drumherum gekommen. Wo es doch noch so viele andere Möglichkeiten gab, um Energien zu entladen, als sich zu prügeln. Kevin klatschte vor Erleichterung in die Hände. Er wusste, dass er ein albernes Bild abgab. Aber lieber den Hanswurst geben, als mit blau geschlagenen Augen den Eltern unter die Augen treten. Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad begann er plötzlich, mit übertriebenen, albernen Bewegungen um ein imaginäres Lagerfeuer zu tanzen. „Wo wir doch alle Ferien haben“, jaulte er verzweifelt. „Was solltet ihr denn sonst ohne uns machen?“

Der Wald hüllte sich an diesem Tag mit Beharrlichkeit in sein düsteres Schattengewand. Hatten die Amseln auf den Dächern gelogen? Wie eine mit Geheimnissen angefüllte Schatulle, deren Deckel klemmte, öffnete er sich ihnen zur zögerlich. Der Pfad, den sie nutzten, war sehr schmal und die fünf Kinder mussten hintereinander gehen, sodass sie wie eine getreue Gänseherde ihrem blonden Anführer folgten. Die Bäume des Laubwaldes standen sehr dicht und das heller werdende Licht der aufsteigenden Sonne erreichte vorerst kaum den Boden. Doch je mehr Zeit verstrich, umso öfter kam es vor, dass sich ein einzelner Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk stahl und den Waldboden in ein goldgelbes, flackerndes Lichtermeer tauchte.

Licht und Schatten wechselten ab und verwandelten den vormals düsteren, so abweisenden Wald des Morgens in einen lichten Wald voller Heimlichkeiten. Hinter jedem dickeren Baumstamm, hinter jedem zerzausten Strauch, tief drinnen im lauernden Schatten verborgen, schienen Waldelfen nur darauf zu warten, aus ihrer Deckung hervorzuspringen, um die jugendlichen Eindringlinge mit ihrem Schabernack kräftig zu foppen.

Der Geruch von zersetzten Blättern vom letzten Herbst stieg den Kindern in die Nasen und füllte ihre Lungen. Harzduft mischte sich mit dem Gestank von Verwesung. Regen hatte es lange nicht gegeben und so war die oberste Schicht der abgefallenen Blätter, die längst vergessene Last alter Baumriesen, knochentrocken. Das getrocknete Blattwerk wurde von den zügig Dahinschreitenden aufgewirbelt – Schritt für Schritt. Taumelnd regnete es aus geringer Höhe wieder herab und geriet gleich darauf vor dem nächsten Fußpaar aus der Gänseherde in Bedrängnis. Zur Belohnung wurde es dort gnadenlos plattgetreten. Knisternd und raschelnd zerfiel es unter den vielen vorwärtsstrebenden Füßen. Die Kinder hatten ihren Spaß. Mit reichlich Geraschel und den knackenden, berstenden Geräuschen von trocknem Reisig unter den Schuhsohlen bahnten sie sich auf dem weichen, nachgebenden Waldboden, wie auf Wolken laufend, den Weg auf dem beständig ansteigenden Pfad nach oben.

Die schmale Bresche zwischen den hohen Bäumen schlängelte sich scheinbar endlos an duldsamen Baumriesen vorbei, wurde für eine Zeitlang etwas breiter, verengte sich schließlich jedoch erneut, als würde sich der Wald das zurücknehmen wollen, was er vorher so freigiebig gegeben hatte. Langsam aber stetig ging es immer weiter bergauf. Obwohl jedes der Kinder mehr als einmal den Weg beschritten hatte, blieben sie dicht beieinander, aus Angst davor, sich zu verlieren.

Die Zeit verging. Lebhaftes Vogelgezwitscher erfüllte die Luft inzwischen und einige Buchfinken gaben so nachdrücklich immer wieder dieselben Laute von sich, dass sie den schwitzenden Kindern schon nach kürzester Zeit auf die Nerven gingen. Zwei von drei der männlichen Bergbezwinger fingen ernsthaft an, darüber nachzudenken, ob es sich lohnte, bei dem nächsten Waldbesuch die Zwillen mitzunehmen, um ihren Mordgelüsten Genüge zu tun.

Tim, der selbsternannte Wortgeber der Fünf, der während ihrer gesamten Expedition den weitgehend schweigsamen Trupp anführte, nahm seine Chefrolle sehr ernst. Der Junge hielt in unregelmäßigen Abständen an und vergewisserte sich, ob seine Freunde ihm noch alle folgten. Schließlich war der Ausflug seine Idee gewesen. Und wenn er sich für etwas verantwortlich fühlte, dann wollte er gefälligst auch all seine Schäflein hübsch beieinander und in Sicherheit wissen.

So waren sie manch schweißbringende Stunde gelaufen und immer tiefer in den Forst eingedrungen und dabei immer höher gelangt als sie endlich zu einer Waldlichtung kamen. Schlagartig standen sie im gleißendem Tageslicht. Von dem grellen Sonnenlicht überrascht, hatten sie im ersten Moment Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Mit der Zeit ließ das Geblendetsein jedoch nach und sie fanden sich heftig blinzelnd am Rande einer sanft ansteigenden Rodung wieder – Traumwandlern gleich, die tief im Schlaf versunken plötzlich aus ihrer unbewussten Reise erwachten.

Die Rodung war im oberen Teil von hohen, dunklen Tannen umrandet, die trutzig und wehrhaft mit Nadeln bestückt zu den jungen Besuchern hinüber starrten und allein durch ihre Gegenwart die Kinder einschüchterten. Ein unnahbarer Wald, der auf sie hinabblickte. Das bedrohliche Nadelgehölz wies nur dort Lücken auf, wo man ihm durch Kahlschlag vor langer Zeit zu Leibe gerückt war. An jenen Stellen mussten sich einmal breite, befahrbare Wege befunden haben. Sie mochten weiter den Berg hinaufgeführt haben, waren aber längst nicht mehr nutzbar. Verschollene Wege hinauf, verschollene Wege hinab ins Tal – nichts was der Mensch schuf, schien von Dauer zu sein.

Einige schmalere Wege verliefen sich auf der Rodung kreuzförmig in alle Himmelsrichtungen, ließen den Eintritt in das Tannengehölz noch nicht einmal mehr erahnen und bewegten sich von der Lichtung fort. Auf dieser Spur wucherten hohes Gras, gewaltige Brombeerbüsche und wilde Heckenrosen in Symbiose. Die Natur hatte das getan, was in ihrem Vermögen lag, und schon vor langer Zeit damit begonnen, sich das zurückzuerobern, was man ihr einst abgezwungen hatte.

Auf der Lichtung selbst standen halb verfallene Schuppen, jede Menge verrostetes eisernes Gerät und diverse zurückgelassene, vorsintflutlich erscheinende Maschinen, die die fünf Kinder nicht einzuordnen wussten, auf denen man aber herrlich herumturnen konnte. Efeu und Ackerwinden, vereinzelt auch wieder Brombeeren, wucherten zwischen diesen von Menschenhand errichteten Gerätschaften und versuchten sich in luftige Höhen zu hangeln.

Tim grinste Boney glücklich an: „So. Da wären wir.“ Und zu den Anderen gewandt, in weniger schmeichelndem Tonfall: „Ich sage es wahrscheinlich zum x-ten Mal und ich sage es auch diesmal wieder. Ab jetzt passt auf, wo ihr hintretet. Überall unter uns verlaufen uralte, marode Stollen. Wir bewegen uns hier auf Sperrgebiet. Ihr wisst es nur zu gut. Unser guter Berg ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse.“

Den Spielverderber zu mimen, stand ihm nicht gut. Verlegen fuhr sich Tim durch sein Haar, lächelte. Er meinte es ernst. Es durfte nichts passieren. Trotzdem konnte er mit seiner Moralpredigt die geradezu ausgelassene Stimmung der Freunde nicht dämpfen. Der Verstand hatte bei ihnen bereits ausgesetzt und die Vernunft rangierte an diesem Ort sowieso an letzter Stelle. Sie benahmen sich wie wilde Tiere, deren Käfige man für kurze Zeit öffnete. Zu gerne waren sie hier, denn nur hier waren sie wirklich frei – befreit für wenige Stunden an Tagen, die sie sich stahlen, befreit vom Schul-einerlei für viele Wochen, befreit von den ständigen Mahnungen der Eltern. Das Leben konnte schon schön sein, auch wenn es nur wenige Momente gab, die es belebten.

„Wer fängt an?“, fragte der zwölfjährige Kevin und stotterte vor Aufregung. Fahrig wischte er sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn.

„Immer der, der fragt“, kicherte Boney. Sie schüttelte ihre braune Mähne und lächelte Kevin aufmunternd zu. Ihr Haar fing Feuer.

„Okay gut, dann los. Ich zähle bis 120, dann beginne ich zu suchen.“ Er ging zu dem nächstbesten Baum, um mit dem Zählen zu beginnen. „Eins, zwei, drei...“

Wie in ein summendes Bienennest gestochen, stoben die verbliebenen vier Kinder, begleitet von lautem Grölen, auseinander, um sich auf der Waldlichtung zu verstecken. Alle Vorsicht war vergessen. Jetzt ging es nur darum, das beste Versteck zu erwischen. Auch Tim strafte seine Ermahnungen Lügen, verhielt sich nicht anders als seine scheinbar kopflos gewordenen Freunde. Rote Gesichter, schwitzende Leiber. Der Kampf um das begehrteste Versteck hatte begonnen.

Orte auf der von Menschenhand drangsalierten Lichtung, an denen man sich verbergen konnte, gab es genug. Doch es galt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Schließlich waren sie nicht das erste Mal hier. Hier kannten sie sich aus. Jeder halbwegs sichere Fleck auf dem alten Bergwerksgelände war ihnen inzwischen bekannt und so wussten sie natürlich auch um die begehrtesten Schlupfwinkel. Einen dieser sicheren Unterschlupfe, wo man nicht so schnell entdeckt wurde, (weil es für den Suchenden schier unmöglich war, jedes der Verstecke zu kontrollieren), galt es zu ergattern.

Boney kümmerte sich diesmal nicht um die anderen Spielkameraden. Sie hatte bereits ihre eigene Vorstellung davon, wo sie sich verstecken würde. Auch wenn es den Anderen gegenüber nicht unbedingt fair war. Sie würde betrügen. Ja, die fleischgewordene Ehrlichkeit würde tatsächlich zu schummeln versuchen. Noch fühlte sie sich nicht besonders schuldig. Das Gegenteil war der Fall. Sie fühlte sich befreit – so befreit, dass sie kicherte.

Das Mädchen lief mit eingezogenem Hals in Windeseile quer über die gesamte Lichtung direkt auf den langen Schatten des gegenüberliegenden Tannenwaldes zu. Sie wusste, dass das verboten war. Die Kinder hatten einander geschworen, auf der Lichtung zu bleiben, und ihretwillen konnte Tim auch weiterhin gerne mit Engelszungen reden wie gefährlich es hier doch sei. Durfte sie nicht auch einmal etwas riskieren?

Brave Boney. Liebe Boney. Einmal würde sie nicht genau das machen, was man von ihr verlangte. Einmal, nur ein einziges Mal wollte sie so richtig unartig sein und sich das beste und größte Tortenstück ertrotzen. Schließlich war sie bald erwachsen und dann wäre es auch um den letzten Rest von Spaß geschehen. Sie musste ihre Chance nutzen. Sie würde sich das beste Versteck erobern. Keiner würde sie finden. Alles andere war langweilig.

Auch das Spiel war langweilig. Alles wiederholte sich. Kevin würde die anderen Freunde wie gewöhnlich ziemlich schnell entdecken und damit wäre das Spiel auch schon vorbei. Vielleicht gäbe es noch einen zweiten, oder eventuell sogar einen dritten Durchlauf. Aber es würde längst nicht so wie bei dem Ersten sein, weil die Suchenden wechselten und Kevin nun einmal der schnellste war. Der schnellste Läufer und der gewiefteste Finder von guten Plätzen. Sprich, nach diesem ersten Spiel würde der Kampf um die Verstecke nur noch härter werden, weil Kevin dann beim aktiven Spiel dabei wäre. Wenn sie aber gleich zu Anfang von der Bildfläche verschwand, würde sich Kevin tüchtig anstrengen müssen, um sie zu finden. Sie lachte schadenfroh. Der flinke Junge würde sich an ihr die Zähne ausbeißen.

Boney lief auf den dunklen Waldabschnitt, diesen dunklen Moloch zu, sah seine Schwärze, die sie überholt hatte, ihr vorauseilte und die nur auf sie zu warten schien, und das Herz rutschte ihr in die Hose. Zögerlich schlüpfte sie durch eine klaffende Lücke zwischen zwei Büschen, die sich scheinbar nur für sie aus dem Nichts geöffnet hatte und verschmolz mit der Dunkelheit des Waldes. Äste und Zweige, die sie aufhalten wollten, die sie kratzten, Dornen, die sie stachen. Dahinter war etwas Platz. Eine winzige Schutzzone inmitten der Wildnis. Notgedrungen blieb sie stehen, fest verschweißt mit der Natur und schöpfte nach Atem. Ihr ganzer Körper juckte. Sie hielt Ausschau nach Spinnen, sah aber nur ihre Netze. Mit obskur anmutenden Bewegungen versuchte sie, ihre langen Haare aus den Fängen des Buschwerks zu befreien. Von dem kleinen Kampf war sie schon bald erschöpft. Der Schweiß stand ihr bereits auf der Stirn. Vor sich sah sie die schwarzen Schatten der dicht beieinander stehenden Bäume und ein weiteres, vermeintlich undurchdringliches Gestrüpp. Sie schluckte ergeben, weigerte sich aber, gleich zu Beginn ihres ersten richtigen Aufstandes die Flinte ins Korn zu werfen. Mit einem Stoßseufzer machte sie sich wieder ans Werk und zwängte sich mit viel Mühe durch den nächstbesten, ebenso widerspenstigen Abschnitt. Erneut merkte sie sehr schnell, dass vor dem Lohn der Schweiß stand. Wäre sie doch nur auf der Lichtung geblieben.

Es war ein außerordentlich unfreundlicher Waldabschnitt, den sie sich ausgesucht und betreten hatte. Sie schnaubte vernichtend und fühlte sich persönlich angegriffen, weil man ihr das Leben so unnötig schwer machte. Ja, sie war tödlich beleidigt, weil man ihr den Anschein vermittelte, dass man sie hier nicht wollte. Auf dieser Seite des Waldes wucherte das Buschwerk, als hätte man es noch zusätzlich gedüngt. Es erschien ihr immens dicht und viel gesünder, kräftiger, regelrecht in seinen Säften schwellend und beinahe wie von einem eigenen Willen beseelt, als das was sie auf der anderen Seite, auf der Seite von der sie gekommen waren, kennengelernt hatte. Reine Wildnis sollte sie auch weiterhin umgeben und machte ihr das Leben schwer. Immer wieder blieb ihr Haar an Zweigen hängen. Diese Verbindung riss ihren Kopf gewaltsam mit einem schmerzenden Ruck in den Nacken, noch während sie vorwärts schritt. Sie ließ Haare. Mehr als eine Strähne blieb als Opfergabe zurück. Bald fühlte sie sich wie ein Huhn, dessen Federn man bei lebendigem Leib rupfte. Vielleicht hatte sie sich doch zu viel zugemutet? Würde sie ihrem Ego damit nicht einen vernichtenden Schlag erteilen, wäre sie vermutlich umgekehrt.

Je tiefer sie in den Forst eindrang, umso mulmiger wurde dem Mädchen zu Mute. Das unbekannte Terrain, der dunkle Wald, den sie nicht kannte, die lastende Stille um sie herum – kein Vogelgezwitscher, keine Buchfinken, keine Tauben und seltsamerweise auch keine anderen tierischen Laute – nur jene Geräusche, die sie selbst verursachte, waren zu vernehmen und diese Tatsache flößte ihr Furcht ein. Spielende Kinder waren nicht leise, das war gegen ihre Natur, aber kein noch so ausgelassener Jauchzer oder gefälliges Johlen drang von der Lichtung zu ihr hinüber. Boney spürte einen Kloß im Hals, der immer mehr an Größe zunahm. Der unheimliche Wald hatte sie förmlich verschluckt.

„Kehr um. Geh zu den anderen zurück. Noch ist es Zeit und nicht zu spät“, hörte sie es überlaut in ihrem Kopf dröhnen. Doch sie gab ihrer inneren Stimme, die sie so nachdrücklich mahnte umzukehren, nicht nach – und so kämpfte sie sich schon fast in kriegerischer Verbissenheit immer weiter durch das Gehölz. Ja, wenn sie wollte, konnte Boney einen gehörigen Dickkopf ihr eigen nennen – auch sich selbst gegenüber war sie dann unerbittlich. Und diesmal konnte sie wirklich Stolz auf sich sein. Erfolgreich widerstand sie der kleinlichen Stimme in ihrem Inneren und rang um jeden weiteren Meter Boden. Sie hatte sich schon ein ansehnliches Stück in den Wald hineingearbeitet als es passierte.

Das Unglück kündigte sich mit einem kaum hörbaren Knirschen an, einem wirklich hässlichen Geräusch. Das leise Knirschen wuchs viel zu schnell zu einem dumpfen Grollen. Für Handlungen schien es zu spät. Steine polterten, Erde rutschte. Dann gab der Boden unter dem Kind nach. Mit einem schrillen Schrei stürzte Boney in die gefräßige Tiefe.

Unendlich lange kam ihr der Fall vor, endlos lange. Boney verspürte einen Strudel von Gefühlen, der sie nicht nur wie der Sturz in die Tiefe riss und über ihrem Kopf zusammen schlug, sondern der ihr auch die Gedanken verwirrte. Schon bald glaubte sie, sie würde überhaupt niemals mehr aufhören zu fallen. Das ganze Leben schien nur noch aus Löchern und Fallen und ihrem Sturz in grauenhafte Tiefen zu bestehen. Sie stürzte durch die Schwärze und tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf – keiner sollte lange bleiben. Ein Luftzug. Viel frische Luft und noch mehr. Ein Luftstrom, in dem sie floss, der durch sie floss. Wind, durch die Fallgeschwindigkeit hervorgerufen, zischte, kitzelte ihre Nase als sie durch die Schwärze der Unendlichkeit sauste und zauste ihre Haare. Sie gewöhnte sich schnell an das gleichbleibende Gefühl der Schwerelosigkeit, genoss es sogar und fiel doch nur wie ein Stein in die Tiefe. Gedankenbruchstücke überfielen sie blitzartig, waren kaum noch zu fassen und verschwanden genau so schnell wie sie gekommen waren. Ein einziger Gedanke blieb, ein einziger Gedanke erreichte ihren Verstand, blieb dort hängen, verbiss sich in ihm. Dieser Gedanke begann sie zu quälen, war aber nicht ohne Selbstironie.

Auf der ganzen Welt versteckten sich Kinder, spielten Verstecken an den unmöglichsten Orten, ohne das besonders nennenswerte Dinge geschahen. Warum passierte denn ausgerechnet dann etwas, wenn sie sich einmal beweisen wollte?

Nach diesem einzigen, konkreten Gedanken kam die Angst. Es war schrecklich zu spüren wie die Ängste ihr Herz zu umklammern begannen. Wie ein eisernes Band hatten sich diese um den pulsierenden Muskel gelegt und schnürten ihn ab. Ein Stahlband geschaffen aus Furcht, das immer enger wurde und das Leben zu exorzieren versuchte. Abrupt wurde sie je aus diesem Prozess gerissen. Sie hörte auf zu fallen – es hörte alles auf. Die Reise in eine Welt ohne Boden war zu Ende. Schlagartig wurde es dunkel um Boney.

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Bobby hatte sein Versteck schnell gefunden. Mit einer Geschwindigkeit, die man ihm gar nicht zutrauen würde, war er zu einem kleinen, windschiefen Schuppen gelaufen, der mit seiner nicht zu übersehenden Hinfälligkeit den Mittelpunkt der Waldlichtung zu beherrschen schien.

Der Junge war mit seinen kurzen Armen und Beinen und dem gedrungenen Rumpf nicht gerade ein Anblick von Sportlichkeit. Er lieferte seinem Umfeld vielmehr ein groteskes Bild, weil bei ihm keine Proportion stimmte und er eben zu sehr an einen mit Gelee gefüllten Luftsack mit Ausbuchtungen erinnerte. Bobby wirkte bequem und unflexibel. Das feiste Gesicht, auf dem Sommers wie Winters immer ein feiner Schweißfilm zu finden war, und kleine schnaufende Laute, die ihn schon aus der Entfernung verrieten, wenn er nahte, verstärkten den Eindruck von Unsportlichkeit noch. Das schwarze, immer leicht fettige Haupthaar ließen ihn zudem auch noch ungepflegt erscheinen. Nein, Bobby war nicht sportlich, nicht im Geringsten gelenkig und auch nicht besonders interessant, aber er war der zuverlässigste Lückenbüßer, den es geben konnte. Und wider Erwarten, man glaubte es kaum: Wenn es um etwas ging, da konnte er auch laufen. Er lief wie ein Weltmeister.

Im dem baufälligen Schuppen stand eine Leiter, die hinauf zur Dachluke führte. Das Dachfenster fehlte. Es war wohl vor Jahren von einem Sturm fortgerissen worden, oder aber es war einfach mit der Zeit verrottet, hatte sich in Nichts aufgelöst. Denn hier hatte schon lange keiner mehr gearbeitet, geschweige denn etwas repariert. Das Bergwerk war vor mehr als zwanzig Jahren stillgelegt worden.

Bobby kletterte eifrig, aber umständlich, die Leiter nach oben. Jeder Tritt war ein Wagnis, jede neue Sprosse eine Herausforderung. Holz knirschte und verkündete nahendes Unheil. Die Kletterpartie dauerte an und als er endlich oben war, ließ auch dort seine Wachsamkeit nicht nach. Die Umgebung wurde mit Argwohn bedacht. Vorsichtig schaute er über den Rand der Dachluke. Er hatte Glück und keiner war zu sehen. Der korpulente Junge quetschte sich mit Mühe durch die Luke und die begleitenden Geräusche dieser Aktion ließen sein Herz schneller schlagen. Er schwitzte, sein Atem rasselte und in dieser Verfassung schob er sich, die Bewegungen einer Robbe nachahmend, auf das Dach. Hui! Das war heiß.

Es ging auf Mittag zu. Die Vormittagssonne hatte die schwarze Dachpappe auf dem Schuppendach bereits aufgeheizt. Seine Unterlage aus Pappe war heiß, aber nicht so unerträglich heiß, dass man es überhaupt nicht aushalten konnte, darauf zu liegen. Bobby verfluchte trotzdem seine Wahl. Er hätte sich auch ein zugänglicheres Versteck aussuchen können. Wem wollte er eigentlich imponieren? Den Mädchen vielleicht? Er wusste es selber nicht.

Hielt das Gebälk seinem Gewicht auch stand? Er meinte plötzlich zu spüren, wie der Schuppen unter ihm schwankte. Oder wurde ihm nur wieder schwindelig? Der Junge suchte verzweifelt nach Halt und legte sich flach auf das Dach. Er versuchte sich leichter zu machen als er war und horchte dabei argwöhnisch auf jedes verdächtige Geräusch in seinem unmittelbaren Umfeld. Erleichtert atmete er auf. Das Dach schien zu halten. Nun kam die Gemütlichkeit an die Reihe. Aber nur dabei nicht leichtsinnig werden. Der dicke Junge schnaufte verhalten und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Über mehr Komfort hätte er sich gefreut. Nach einigen vorsichtigen Stellungswechseln traute er sich endlich, zufrieden vor sich hin zu grinsen. Nun durfte er sich ausruhen und schauen. Das hier war ein gutes Versteck. Sein Versteck war das Beste überhaupt. Es bereitete ihm Vergnügen, die Lorbeeren dafür nun ernten zu können. Kevin würde hoffentlich einige Mühe haben, ihn zu finden. Schwarzsuchen sollte der sich!

Bobby war an sich kein schlechter Kerl. Er konnte ja auch nichts für sein Aussehen. Denn sein Aussehen hatte ihn geprägt und in ihm eine perfide Ader geweckt. Wenn einen niemand mochte und wenn man nur gemieden wurde, konnte man sehr leicht böse werden. Er war die Hänseleien so leid. Die Umwelt machte ihn mürbe. Seinen wenigen Freunden gegenüber verhielt er sich loyal – meistens jedenfalls. Sie waren ja schließlich die Einzigen, die ihn duldeten. Leider verfolgte ihn auch das Pech und er verfügte über die schlechte Angewohnheit, in möglichst jeden Fettnapf zu treten, der sich ihm bot. Vornehmlich dann, wenn er sich nicht gerade nett anderen Artgenossen gegenüber verhielt. So auch vor einem halben Jahr.

Sie waren vorher die allerbesten Freunde gewesen. Bis auf kleinere Streitereien, die in jeder Gruppe von Kindern vorkommen konnten. Man hätte glauben mögen, sie wären unzertrennbar. Diese anderen Kinder mochten ihn wirklich und scherten sich nicht um sein Aussehen.

Dann war eine unselige Sache in der Toilette der Schule passiert, an die er sich eigentlich überhaupt nicht mehr erinnern wollte. Eine Sache, die ihm um Haaresbreite einen Schulverweis eingebracht hätte und bei der er zum Schluss alles vermasselt hatte, was zu vermasseln war. Er war ein Verräter. Der Verrat lief ihm wie ein Schatten hinterher, lief ihm hinterher, weil er das Reden nicht hatte lassen können. Er prahlte nun einmal gerne und verriet sich damit. Die Leidtragenden damals waren eigentlich nur Boney, Tim und er selber gewesen und das auch nur, weil er sich bei seiner Mutter verbrabbelt hatte. Ganz unabsichtlich natürlich. Seine Mutter hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr Leid der besten Freundin zu klagen. Von seinen Schandtaten zu erzählen, zu erzählen wie schwer sie es doch als alleinerziehende Mutter mit einem so dicken Jungen hatte, den niemand mochte und dem nun zusätzlich auch noch die Erziehungsanstalt drohte. Brühwarm hatte sie es ihrer Freundin erzählt. Ihre beste Freundin war Boneys Mutter. Nach einer Abreibung, die ein halbes Jahr andauerte, fühlte er sich geläutert. Er wurde noch gemeiner. Das Wort Erziehungsanstalt fiel immer öfter.

Dass in seiner kleinen Familie den Mund niemand halten konnte, war bekannt und Neuigkeiten neigten dazu, schnell die Runde zu machen. Er hatte einen neuerlichen Stempel und sein Fett weg und selbst seine Freunde Tim und Boney hatten am Ende das bekommen, was er durch seine Sprechlust gesät hatte. Die Eltern der anderen Freunde, Sheila und Kevin, zeigten sich nachsichtiger, ordneten den Vorfall zwar unter unliebsame Schulerfahrungen ein, sahen aber von den eigenen Ideen einer zusätzlichen Bestrafung der Sprösslinge ab. Der Schulrektor war in dieser Sache schon tätig gewesen. Die Eltern von Boney, Tim und auch von Bobby handelten ganz im Sinne des Rektors, der verschärfte Erziehungsmaßnahmen, wie eine Vision für ein gelungenes Exempel, klar und deutlich vor sich sah.

Ihnen wurden üble Sanktionen erteilt und alles nur, weil er die zu winzig kleinen Papierschnipseln zerrissenen Schulhefte eines ungeliebten Schülers (sein Tischnachbar) durch die Schultoilette gespült und somit der Kanalisation übergeben hatte. Dummerweise verstopfte er mit seinem Streich das Klo, sodass er bei seiner Vernichtungsaktion sehr schnell den gesamten Toilettenraum unter Wasser setzte. Unglücklicherweise verspürte der Rektor der Schule just zu diesem Zeitpunkt das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern und musste dazu natürlich ausgerechnet den Raum aufsuchen, in dem Bobby gerade seine Schandtat beging. Der Junge wurde auf frischer Tat ertappt und da seine Freunde vor der Toilette auf ihn gewartet hatten, kamen auch sie nicht davon, ohne vorher gehörig Federn zu lassen. Trotz aller Beteuerungen glaubte man ihnen nicht, dass sie von Bobbys Treiben nichts gewusst hatten.

Tim hatte nur noch alles schlimmer gemacht, als es wirklich war. Der Freund musste sich mit Bobbys Mutter abgesprochen haben – die triezte ihn seit einem halben Jahr und konnte nicht vergessen. Demnach war er in Bobbys Augen auch der wahre Schuldige. Hätte der blonde Junge, den sowieso alle liebten, sich nicht so zum Rächer aufgespielt, dann wären die Freunde auch nicht volle zwei Monate zerstritten gewesen. Es hatte noch einmal einen ganzen Monat gedauert, bis sie alle wieder zusammen gespielt hatten. Diese drei Monate hätte er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er war seiner Mutter voll und ganz ausgeliefert gewesen, denn es gab niemanden mehr, der ihn ablenkte. Der Freund allerdings gab auch jetzt noch keine Ruhe und stichelte weiter.

Es war noch lange nicht so wie früher. Würde es vielleicht auch nie wieder werden. Ein Spalt hatte sich in ihrer Freundschaft aufgetan und dieser hatte sich bislang nicht wieder schließen können. Wie denn auch? Wenn es jemanden gab, der ständig daran erinnerte.

Der Blick des dicklichen Jungen klärte sich. Er nahm seine Umgebung wieder war. Die wasserblauen Augen begannen zu suchen. Sein Blick glitt über die Lichtung, streifte die verrosteten Gegenstände, taxierte ihre Schatten – niemand zu sehen. Ein rätselhaftes Lächeln huschte über das aufgequollene Gesicht. Das Leben war so ungerecht. Er unternahm ungemeine Anstrengungen, als er sein Gesicht zu einer wehmütigen Fratze zu verziehen versuchte und es auch noch glücklich schaffte. Wenig später zuckte er zusammen. Was musste er dort mit ansehen?

Anfangs war sie für ihn nicht mehr als ein Schatten, der sich bewegte. Ein huschender Schatten im Zwielicht der Maschinen und Büsche. Seine Augen erfassten eine Szenerie, ein bewegliches Objekt auf dem unübersichtlichen Bergwerksgelände. Boney! Die brave Boney befand sich auf Abwegen. Diese Tatsache schockte ihn. Der Mund blieb ihm offen stehen. Er sah gerade noch wie das braunhaarige Mädchen, das mit fliegenden Haaren quer über die Lichtung gelaufen kam, blitzschnell auf der anderen Seite der Waldlichtung im Dickicht des dunklen Gehölzes verschwand.

„Nun. Diese Ziege betrügt. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut“, murmelte er. Sollte er sich darüber Gedanken machen? Sinnend blieb Bobby auf dem Schuppendach liegen und bohrte beunruhigt mit einem Finger im Ohr, danach nahm er sich seine Nasenlöcher vor. Das Ergebnis war erstaunlich. Er schaffte es aber nicht mehr seine Ausbeute ihrer Bestimmung zuzuführen. Denn er hörte Kevin brüllen.

„118, 119, 120. Ich komme und wenn ich euch finde, geht es euch schlecht!“ Was natürlich eine maßlose Übertreibung, ein Scherz war und die anderen Kinder wussten das auch. Niemand lief hier mit gezücktem Messer durch die Gegend und stach Andere nieder. Aber ein bisschen Bange machen, das konnte nicht schaden. Schließlich befanden sie sich in der Wildnis und wollten ein Abenteuer erleben.

Im Stollen

Sie erwachte aus tiefster Bewusstlosigkeit. Ganz langsam setzten ihr Wahrnehmungsvermögen und ihre Empfindungen wieder ein. Es war pechrabenschwarz um sie herum und es war sehr kalt – so bitterkalt. Sie fror und sie hatte Angst. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand, bis sie das Licht, das aus einer anderen Welt zu kommen schien, bemerkte. Boney schaute über sich nach oben. Ganz weit in der Ferne, sah sie ein schwaches Licht, das nicht bis zu ihr drang. Was war mit ihr geschehen? Wo befand sie sich nur? Irritiert fing sie an, sich vorsichtig abzutasten.

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