Drachenspiele - Jan-Philipp Sendker - E-Book

Drachenspiele E-Book

Jan-Philipp Sendker

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Beschreibung

Ein akribisch recherchierter China-Roman, der sowohl das Verständnis für die fremde Kultur mehrt als auch große Gefühle weckt

Paul hat gelernt, mit dem Tod seines Sohnes zu leben. Geholfen hat ihm dabei Christine, die seine ganze Hoffnung für die Zukunft ist. Sie hatten geplant, auf der kleinen Insel Lamma vor Hongkong zusammenzuleben, doch Christine will davon nun nichts mehr wissen. Ein Wahrsager hat ihr und dem Mann, den sie liebt, eine düstere Zukunft vorausgesagt. Wie viele Chinesen ist Christine nicht religiös, jedoch sehr abergläubisch, und die Prophezeiung verunsichert sie zutiefst. Paul ist verstört und enttäuscht – er glaubt nicht an Schicksal oder die Macht der Sterne.

Als Christine von ihrem während der Kulturrevolution verschollenen Bruder Da Long einen Brief erhält, in dem er dringend ihre Hilfe erbittet, fühlt sie ihre dunklen Vorahnungen bestätigt. Sie überwindet ihre Angst und macht sich zusammen mit Paul auf die Reise zu Da Long in ein Dorf nahe Schanghai, in dem Menschen und Tiere auf rätselhafte Weise erkranken und sterben.

Paul, der rationale Westler, will der Sache auf den Grund gehen – und kommt dabei einem von höchster Stelle gedeckten Verbrechen auf die Spur. Immer tiefer verstrickt er sich in ein Land, das er zu kennen glaubte und das ihm zunehmend fremder wird. Wie sehr er sich und die Menschen, die ihn um Hilfe baten, dabei in Gefahr bringt, bemerkt er zu spät. Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen. Pauls alte Gewissheiten gelten nicht mehr.

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Seitenzahl: 538

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Paul lebt schon so lange in China, dass er glaubt, das Land und die Frau, mit der er sein Leben teilen möchte, zu verstehen. Bis ein Brief aus der Vergangenheit alles verändert und ein Wahrsager seiner Frau Christine und ihm eine düstere Zukunft voraussagt. Immer tiefer verstrickt Paul sich in ein Land, das ihm zunehmend fremder wird. Wie sehr er sich und die Menschen, die er liebt und die ihn um Hilfe bitten, dabei in Gefahr bringt, bemerkt er zu spät. Die Prophezeiung des Wahrsagers scheint sich zu erfüllen, und Pauls alte Gewissheiten gelten nicht mehr.

Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien-Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009) und Herzenstimmen (2012). Seine Romane sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

JAN-PHILIPP

SENDKER

Drachenspiele

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

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Copyright © 2009 der Originalausgabe by Karl Blessing Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München, unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/chungking Satz: Uhl + Massopust, Aalen Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-02772-8V005
www.heyne.de

Für Anna,

PROLOG

Ich bin in die Hölle geraten. Ohne mein Zutun. Ohne Schuld. Ich muss mich verlaufen haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Im Irrgarten des Lebens versehentlich an einer Stelle den falschen Weg genommen, ohne es zu bemerken. Einmal nicht Acht gegeben. An einer Gabelung links statt rechts gegangen. Oder umgekehrt. Ich habe kein Schild gesehen, nichts, das mir Warnung hätte sein können. Ich bin einfach gelaufen, ohne innezuhalten. So wie immer in meinem Leben. Weiter. Immer weiter.

Viele Menschen haben diesen Weg vor mir genommen, ich hätte ihre Spuren sehen müssen auf diesen langen, ausgetrampelten Pfaden Richtung Inferno. Ich hätte ihre Rufe hören können. Ich hätte den Gestank riechen können. Hätte. Was sehen, hören, riechen wir schon? Nur das, was wir wollen.

Ich bin nicht allein hier. Die Hölle ist ein dicht besiedelter Ort. Ein Trost ist das nicht.

Das Leben weicht aus mir, mit jedem Atemzug wird es weniger. Wie ein altes Gemäuer, das abgetragen wird. Stein um Stein. Jeden Tag fehlt ein Stück mehr.

Mein Körper ist zu einer Höhle geworden. Finster ist es dort, so finster, dass kein Lichtstrahl mich erreicht. Und kalt. Und feucht. Ich friere in der Nacht und mich friert am Tage.

Die äußere Welt ist vor meinen Augen erloschen. Zunächst schwanden die Farben, das Haus, die Felder, das Dorf. Ein Leben in Schwarzweiß. Alles sah aus wie in den alten Filmen, die wir uns so gern angeschaut haben. Dann zerfielen die Konturen, alles um mich herum verschwamm: die Welt durch eine Wand aus Wasser besehen. Kurz darauf brach die Finsternis herein.

Ich schmecke nichts.

Ich rieche nichts.

Von der Ordnung und der Schönheit, die mich einst umgaben, ist nichts geblieben. Außer dir und der Musik. Ihr haltet mich am Leben. Dich vernehme und sehe ich den ganzen Tag. Dein Bild ist mir für immer in die Seele gebrannt. Deine zarten Hände mit den langen, schlanken Fingern. Deine lachenden Augen. Deine Lippen. Wie du tief gebeugt über einer Schüssel Reis sitzt. Ohne dich würde ich diese Pein keine Stunde länger ertragen.

Auch Partituren tauchen in der Dunkelheit vor meinen Augen auf. Ich sehe sie ganz deutlich, fünf dünne, tintenschwarze Linien auf einem blütenweißen Blatt Papier. Kleine schwarze Punkte mit Strichen daran. Wie Kaulquappen in einem Teich. Allegro. Moderato. Adagio. Ich höre jede Note, die hohen und die tiefen, die langsamen und die schnellen. Ich höre den Anschlag des kleinen Hämmerchens auf der Saite. Ich höre den zartesten Strich des Bogens auf der Violine. Fugen. Etüden. Sonaten. Ich höre Orchester. Die Streicher, die Bläser, die Trommler. Ich höre ganze Opern. Mimi, Alfredo, Figaro, die Königin der Nacht sind meine treuen Gefährten. Ich habe sie erst spät entdecken dürfen und deshalb nie genug bekommen können. Die Gier der Hungernden. Verzeih mir. Ich habe Musik im Kopf. Sie lindert die Schmerzen. Sie verscheucht düstere Gedanken, so wie der Wind an einem Herbsttag die Wolken vor sich hertreibt. Ich habe fast alles verloren, aber die Musik, die kann mir niemand nehmen.

KANNST DU MICH HÖREN, LIEBSTE?

Aber ja. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann dir nicht die Hand reichen, wenn ich es möchte, ich kann dir nicht den Kopf zuwenden, ich kann dir nicht danken, aber ich kann dich hören. Jeden Schritt. Jeden Seufzer. Jeden Ton. Jeden Atemzug. Wenn du mit dem Geschirr klapperst. Den Boden fegst. Stühle rückst. Die Schale mit meinen Exkrementen in die Toilette entleerst. Wenn du dich neben mich legst und mir etwas von deiner Wärme gibst. Mich weniger friert. Wie früher. Das sind die Momente, in denen auch ein Leben wie dieses lebenswert ist.

HÖRST DU MICH? WO BIST DU NUR?

Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dir antworten zu können. Es geht nicht. Ich bin gefangen in diesem nutzlosen Körper. Ich mag mit meinen Fäusten in diesem Verlies mit aller Macht gegen die Wände trommeln, ich könnte schreien, so laut ich will, mich hört hier unten niemand. Iiiicccchhhh……llllliiiiiieeeeebbbbbbeeeeee……dddddiiiiiiicccccchhhhh. Es ist nicht lange her, da habe ich versucht, noch einmal die Lippen so zu formen, die Zunge zum Gaumen geführt, hinter die Zähne gelegt, die Luft herausgepresst. Drei Worte noch. Nur drei. Du hast sie nicht mehr verstanden. Du bist mit deinem Ohr ganz nah an meinen Mund gekommen und batest mich zu wiederholen, was ich gesagt habe. Sssssscccccchhhhhh…… Sssssscccccchhhhhh….. Sssssscccccchhhhhh. Mehr wollte mir nicht gelingen, egal, wie oft ich es noch versuchte. Ich war ein Sssssscccccchhhhh geworden. Für ein paar Stunden nur. Dann hat mich die Lautlosigkeit endgültig gefangen genommen und abgeführt. Geblieben ist das Gurgeln, Röcheln und Grunzen, das ich zuweilen von mir gebe. Was für eine Qual für mich, die die menschliche Stimme so liebt.

Jetzt liegt mir die Zunge nutzlos im Mund wie ein alter verfaulter Dumpling. Die Lippen sind taub. Aber ich spüre deinen warmen Atem auf meiner Wange, wenn du mich am Abend vorsichtig küsst. Der unverwechselbare Atem meines alten, geliebten Mannes. Der Atem unseres gelebten Lebens.

Am schlimmsten sind die Nächte, auch wenn ich längst von Dunkelheit umgeben bin. Es ist die äußere Stille, die ich schlecht ertrage. Das Haus, das Dorf, sie klingen plötzlich nicht mehr. In der Ferne höre ich vereinzelt einen Lastwagen. Hin und wieder bellt ein Hund. Die Katzen sind schon lange tot. In den Stunden nach Mitternacht ist es nur noch dein Luftholen, was mich mit dem Rest der Welt verbindet.

Sie wollen dir einreden, ich sei nur noch eine leere Hülle. Eine alte, faltige, seelenlose Puppe. Sie lassen sich vom äußeren Erscheinen der Dinge blenden. Wie so oft. Wie so viele. Sie tragen Uniformen, weiße Kittel, ich weiß es, auch wenn ich sie nicht sehe. Ich erkenne sie an ihren Stimmen. Die Stimmen von Uniformträgern, egal welcher Couleur, klingen immer gleich. Sie wissen. Sie sind sich sicher. Alle Tests beweisen. Hoffnungslos. Sie haben keine Ahnung, wovon sie reden. Ich höre kein Beben in ihren Stimmen. Hoffnungslos. Kein Mensch, der dieses Wort gelassen ausspricht, weiß, was er sagt. Ein Los ohne Hoffnung. Das gibt es nur im Reich der Toten, und das ist uns verschlossen. Was mussten wir uns in unserem Leben schon alles von Männern und Frauen in Uniformen anhören. Glaube ihnen kein Wort. Sie wissen nichts. Sie sehen nur ein schwarzes Loch, wenn sie die Augen schließen. Sie haben keine Musik im Kopf.

Niemand soll mich bemitleiden. Ich will keine Tränen an meinem Bett. Ich will mich nicht beklagen. Nicht, solange du bei mir bist. Wenn ich es recht bedenke, bin ich nur in einen Vorhof der Hölle geraten. Die Hölle der Lebenden ist einsamen Menschen vorbehalten. Zu denen zähle ich nicht.

Nicht, solange ich am Abend deinen Atem spüre.

I

Du bist ein liebeshungriger Mensch.

Es war das erste Mal, dass er diesen Satz von einer Frau hörte. Liebeshungrig. Er wusste nicht, ob das eine Klage oder ein Kompliment sein sollte. Sind wir das nicht alle?, antwortete er, ohne darüber lange nachzudenken.

Sie lächelte. Manche mehr, manche weniger.

Und ich? Mehr oder weniger?

Mehr. Mehrmehrmehr.

Er nahm sie in den Arm. Diesen schmächtigen Körper, den er manchmal zu zerdrücken fürchtete. Der ihn aufregen konnte, ihn in langen, schlaflosen Nächten um den Verstand brachte wie zuvor kein anderer in seinem Leben. Er atmete tief ein und schloss die Augen.

Mehr. Mehrmehrmehr.

Liebeshungrig. Es hat Menschen in seinem Leben gegeben, die hätten ihn mit diesem Wort verletzen wollen. Und Zeiten, in denen ihnen das gelungen wäre. Er hätte die Behauptung als Affront empfunden und als eine geradezu absurde Unterstellung zurückgewiesen.

Heute nicht. Obgleich die Worte Hunger und Liebe in seinem Kopf nicht zusammenpassen wollten. Liebe klang für ihn, zumindest mit Christine im Arm, nach Reichtum, Glück, Erfüllung. Hunger hingegen war eine Not. Hunger musste gestillt werden, notfalls um jeden Preis. Hunger kannte nur sich, Liebe nur den anderen. Hungrige Menschen waren schwach, Liebende stark. Wenn Hunger und Liebe etwas verband, war es die Maßlosigkeit, die in beidem steckte.

Er fragte, wie es gemeint war. Ob er es als Beschwerde oder Schmeichelei verstehen dürfe.

Weder noch, antwortete sie. Nur als Feststellung.

Dabei beließen sie es. Zunächst.

Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht hatten die vergangenen drei Jahre tiefere Spuren hinterlassen, als ihm bewusst war. Drei Jahre, in denen er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als allein zu sein. Drei Jahre, in denen ein Tag, an dem er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt hatte, ein guter Tag gewesen war. Eine Zeit, in der seine Welt auf die Größe eines Hauses und einer kleinen, autofreien, kaum bewohnten Insel im Südchinesischen Meer geschrumpft war. Vielleicht war ein Mensch, der sich so zurückziehen musste, der in der Vergangenheit und von Erinnerungen lebte, der nichts und niemanden auf der Welt mehr liebte als einen Toten, vielleicht war so ein Mensch in größerer Not, als Paul es wahrhaben wollte.

Liebeshungrig. Hungrig nach Liebe. Es war die Bedürftigkeit, die in dem Wort mitklang, die ihm nicht gefiel, ohne dass er genau hätte sagen können, warum. Bedürftig sind wir alle, wollte er laut einwenden, und ahnte Christines Antwort. Manche mehr, andere weniger.

Und ich?

Mehr. Mehrmehrmehr.

Er sagte nichts und küsste sie auf die Stirn. Er fuhr mit seinen langen Fingern ihren Nacken entlang und massierte mit sanften rhythmischen Bewegungen ihren Kopf. Sie schloss die Augen, und er strich ihr über das Gesicht und den Mund. Er spürte, wie seine Hände die Lust in ihr weckten, hörte, wie ihr Atem schneller wurde. Nicht viel, aber genug, um ihm zu zeigen, dass es dabei nicht bleiben würde. Er küsste sie auf den Hals, und sie flüsterte, sie wolle ihn lieben. Hier, auf der Terrasse. Jetzt.

Er hörte die Zikaden schnarren, hörte lautes Vogelgezwitscher und aus der Ferne die Stimmen der Nachbarn und wollte einwenden, dass jemand sie überraschen könnte, und ob sie nicht lieber hinauf in sein Schlafzimmer gehen sollten. Aber die Leidenschaft, mit der sie ihn küsste und festhielt, mit der sie ihm zeigte, wie sehr sie ihn begehrte, hier, jetzt, ließ ihn schweigen.

Sie zog einen der Gartenstühle heran, drückte seinen Körper sanft, aber bestimmt auf den Stuhl und setzte sich auf ihn.

Sie trug einen Rock und verlor keine Zeit. Sie bestimmte den Rhythmus und liebte ihn heftiger und wilder, als er es von ihr kannte. Am Ende stieß sie einen kurzen Schrei aus, laut, aber nicht hell und erleichtert wie sonst, sondern dunkel und tief, mit Macht herausgepresst, fast verzweifelt. Als wäre es das letzte Mal.

Sie hielten sich lange fest, klammernd, schweigend, horchend, wie sich ihr Atem allmählich beruhigte.

Bevor sie aufstand, nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und schaute ihm in die Augen. Ob er ahne, wie sehr sie ihn liebe? Was er ihr bedeute? Er nickte etwas überrascht und musste versprechen, das nie zu vergessen.

Er nickte wieder, zu erschöpft, um Fragen zu stellen.

Als er sie später zur Fähre brachte, war sie auf eine beunruhigende Weise schweigsam. Es war ein warmer, feuchter tropischer Abend, sie gingen den Hügel nach Yung Shue Wan hinunter, in den Büschen um sie herum zirpte, fiepte und zischelte es, und er wollte wissen, worüber sie nachdachte.

Nichts Bestimmtes, behauptete sie.

Ob alles in Ordnung sei?

Sie überging seine Frage.

Die letzten Meter mussten sie laufen. Christine durfte die Fähre nicht verpassen, sie hatte ihrem Sohn und ihrer Mutter versprochen, spätestens zum Abendessen zu Hause zu sein.

Er hasste die Rennerei. Die nächste Fähre fuhr in vierzig Minuten, und Paul empfand es als unerträgliche Zumutung, sich von einem Fahrplan zur Hast zwingen zu lassen. Es geschah ihm häufiger, dass er, spät kommend, auf dem Kai gemessenen Schrittes Richtung Anlegestelle ging, während andere Passagiere, angetrieben durch das Klingeln, welches das langsame Schließen der Tore ankündigte, ihn in einem wilden Spurt schnaufend überholten und er am Ende als Einziger das Schiff verpasste. Statt zu fluchen setzte er sich dann in aller Ruhe auf eine kleine Bank, die im Schatten der Pinien vor der Bücherhalle stand, und schaute aufs Wasser. Oder hockte sich auf einen Polder und beobachtete die Gischt unter ihm. Schon als Kind hatte er es geliebt, spritzenden Tropfen mit den Augen zu folgen, es faszinierte ihn zu sehen, wie sie sich aus dem Wasser lösten, für wenige Sekunden eine Form annahmen und durch die Luft wirbelten, um sogleich wieder für immer in der Weite des Ozeans zu verschwinden. Menschen waren wie diese kleinen Tropfen, hatte er sich damals gedacht, sie tauchten auf und verschwanden wieder in jener Unendlichkeit, aus der sie kamen. Sie hörten zu existieren auf und blieben doch Teil eines Ganzen. Irgendwie hatte dieser Gedanke für den Zehnjährigen etwas Tröstendes gehabt. Seinem Vater gefiel dieses Bild, allerdings fand er, dass Menschen endeten wie Tropfen, die auf eine heiße Platte fielen: Mit einem kurzen Zischen lösten sie sich in nichts auf. Ein Vergleich, den der junge Paul alles andere als tröstlich empfand.

Er sah gern den Wellen zu, wenn sie mit den Fischerbooten spielten und auf die Steine vor ihm schwappten. Er hörte die Stimmen des Meeres. Manchmal passierte es, dass er auf diese Weise selbst die folgende Fähre verträumte.

Du hast auch keinen Sohn, der auf dich wartet, hatte Christine gesagt, als er einmal davon erzählte.

Nein, den hatte er nicht. Sein Sohn war tot.

Sie hatte sich sofort entschuldigt. Sie habe nur sagen wollen, dass er keine familiären oder beruflichen Verpflichtungen kenne, keinen Chef, keine Geschäftspartner, die auf Pünktlichkeit bestanden, niemanden, der auf ihn wartete, außer ihr selbst. Und sie würde ihm eine Verspätung im Zweifelsfall nachsehen.

Auch da hatte sie Recht. Obschon, wie er anmerkte, ihre Nachsicht, was Unpünktlichkeit betraf, von ihm bisher nicht in Anspruch genommen worden war. Wenn sie verabredet waren, wollte er die Fähre unter keinen Umständen verpassen und kam fünfzehn, zwanzig Minuten früher an den Anleger als nötig. Freiwilliges Warten machte ihm nichts aus. Für ihn war diese Zeit ein Geschenk an sich selbst.

Christine verabschiedete sich in aller Eile mit einem flüchtigen Kuss. Er sah, wie sie über die Gangway lief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, wenige Sekunden später war sie im Bauch des Schiffes verschwunden. Er blieb auf dem Pier stehen, winkte in die Dunkelheit und blickte der Fähre nach, bis sie hinter der Inselspitze nicht mehr zu sehen war.

Es war ein dunkler Abend, das Meer lag tiefschwarz vor ihm, in der Ferne funkelten die Lichter von Cheung Chau und Lantau. Eine Dschunke mit Sonntagsausflüglern schipperte dicht an Lamma vorbei, er konnte das monotone Stampfen des Dieselmotors hören, ausgelassenes Kindergeschrei und die mahnenden Worte eines Erwachsenen. Von der Uferpromenade in Yung Shue Wan drangen Stimmen und Gelächter zu ihm herüber, er schlenderte die Mole entlang, genoss die milde, warmfeuchte Luft, sanft wie Seide, setzte sich in die Green Cottage direkt ans Wasser und bestellte einen frisch gepressten Apfel-Karotten-Ingwer-Saft. Niemand außer ihm war allein unterwegs. Er vermisste Christine. Schon jetzt, obwohl ihre Fähre gerade erst in den Hongkonger Hafen einlief.

Vor vier Wochen hatten sie an dieser Stelle gesessen, auf die dümpelnden Fischerboote geblickt, die roten Lampions, die sich im Wasser spiegelten und zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob sie zu ihm ziehen solle. Ihr Sohn könnte die Fähre zur Schule nehmen, sie eine etwas spätere ins Büro. Platz gab es im Haus genug. Zumindest räumlich. Würde er es ertragen, ein anderes Kind in Justins Zimmer zu sehen? Die Idee war so ungeheuerlich wie verlockend für ihn. Der Versuch einer Familie, mit dreiundfünfzig Jahren, nachdem der erste gescheitert war. Einen weiteren hätte er nicht.

Der Gedanke hatte ihn seitdem nicht losgelassen, er hatte heute mit Christine darüber reden wollen, aber sie war seinen Fragen ausgewichen und den ganzen Tag über sehr still gewesen, in sich gekehrt. Liebeshungrig. Wie war sie darauf gekommen? Warum ausgerechnet heute? Hatte er ihr einen Anlass gegeben? Er versuchte sich zu erinnern, wie die Worte aus ihrem Mund geklungen hatten. Sie hatte es zärtlich gesagt. Glaubte er. Jetzt kamen ihm Zweifel.

Sie rief jeden Sonntagabend an, bevor sie ins Bett ging, sagte, dass sie gut zu Hause angekommen sei, wie sehr sie die Stunden mit ihm genossen habe, dass sie ihn bereits jetzt vermisse, und er erklärte, dass es ihm genauso gehe. Ihr Sonntagabendritual. Für andere Paare vielleicht nichts als eine simple Gewohnheit im Zusammenleben, wie die gemeinsamen Frühstücke und Abendessen, Abschiede, Wiedersehen, Gute-Nacht-Wünsche, die immer gleichen Ich-liebe-dich-Versicherungen. Für Paul Leibovitz bedeutete das viel mehr.

Es waren die kleinen Dinge, denen er jetzt Beachtung schenkte.

Er hatte begonnen, der Schönheit in ihr Versteck zu folgen. Zum ersten Mal in seinem Leben.

Der Tod seines Sohnes war sein Lehrmeister gewesen. Ein grausamer, unbarmherziger Lehrmeister. Einer, der keinen Fehler verzieh und keinen Widerspruch duldete. Als sein Schüler hatte Paul eine der wichtigsten Lektionen gelernt: niemals wieder etwas für selbstverständlich zu halten.

Früher hatte er geglaubt, es sei selbstverständlich, dass aus Säuglingen Kinder, aus Kindern Jugendliche und aus Jugendlichen Erwachsene werden.

Er hatte geglaubt, dass blaue Flecken auf kleinen Körpern auf nichts anderes hinweisen als auf einen Sturz oder Stoß.

Er hatte geglaubt, dass Kinder, die krank werden, auch wieder zu Kräften kommen.

Die Zerbrechlichkeit des Glücks.

Die Willkür des Unglücks.

Nichts war selbstverständlich. Wer das einmal begriffen, nein, dachte Paul, wer diesen banalen, oft so unbedacht dahingesagten Satz als existenzielle Wahrheit erfahren und nicht wieder vergessen hatte, der war für immer zu einem Grenzgänger geworden. Ein Heimatloser. Der konnte Pläne schmieden, Kinder zeugen, Häuser kaufen, Entscheidungen für die Zukunft treffen und wusste doch zur selben Zeit, dass er sich einer Illusion hingab; dass Zukunft lediglich ein Versprechen war, auf das man sich niemals verlassen durfte, dass Sicherheit nie von Dauer sein konnte, sondern nur für kurze, unendlich kostbare Momente existierte.

Als hinge nicht alles Glück dieser Welt an einem zum Zerreissen gespannten Faden. So dünn, dass die meisten Menschen ihn nicht einmal bemerkten.

Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen. Mit diesen Worten hatte der Arzt Pauls Faden zerschnitten. Für immer und ewig, wie sein Sohn es ausgedrückt hätte. Es gab kein Zurück. In diesem Glauben hatte Paul sich eingerichtet. Bis er Christine traf.

Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl. Das waren die ersten Sätze von ihr, die ihm in Erinnerung blieben. Er hatte sie zunächst nicht ernst genommen. Er hatte sich insgeheim ein wenig gewundert über so viel Naivität bei einer erwachsenen Frau. Bis dahin war er überzeugt gewesen, dass Misstrauen etwas sehr Nützliches war, etwas, das uns schützte und, war es in ausreichendem Maße vorhanden, vor allzu großen Enttäuschungen bewahrte. Sie kamen, so dachte er, aus zwei sehr unterschiedlichen Welten, Christine Wu, die Träumerin, und Paul Leibovitz, der Realist.

Wie soll ein Mensch vertrauen können, dem das Wichtigste auf der Welt genommen worden war. Über Nacht. Schuldlos und ohne Grund. Der mit ansehen musste, wie weiße Blutkörperchen einfach nicht aufhören wollten, sich zu vermehren, wie ihre Zahl stieg und stieg, und es kein Medikament auf der Welt gab, das sie daran hindern konnte? Auf was sollte er sich noch verlassen können? Auf was, Christine?

Sie hatte ihm diese Frage nicht mit Worten beantwortet. Sie hatte zu ihm gehalten, auch als er sie wegstieß. Sie hatte ihm vertraut, mehr als er sich selbst. Vertrauen kann ansteckend sein, hatte sie ihn gewarnt. Und Recht behalten.

Es war kurz nach Mitternacht. In Yung Shue Wan waren die Stimmen des Abends längst verstummt, die Lichter der meisten Restaurants erloschen, Lamma hatte sich zur Ruhe begeben. Paul öffnete die große Schiebetür zum Garten und trat hinaus. Wie laut die Nacht in den Tropen war. Die Zikaden schnarrten unermüdlich, von einem nahen Tümpel drang das aufdringliche Gurren der Kröten herüber, vor ihm im Gebüsch raschelte es heftig, eine Rattenschlange auf der Jagd vermutlich. Der Bambus bog sich sanft in einer leichten Brise. Wie oft hatte er diesem gleichmäßigem Knarren und Ächzen gelauscht und war dabei eingeschlafen.

Normalerweise hätte Christine um diese Zeit längst angerufen. Ihm eine gute Nacht gewünscht. Er hatte sich mehrfach vergewissert, ob sein Telefon eingeschaltet und auf laut gestellt war, ob der Akku noch genug Strom hatte. Er konnte sich an keinen Sonntag erinnern, an dem sie sich nicht mehr gemeldet hatte. Hatte ihr Sohn sie zu sehr in Beschlag genommen? Oder ihre Mutter? Vielleicht hatte sie sich einfach nur für einen Moment aufs Bett gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Er sehnte sich nach ihrer Stimme und hatte mehrfach überlegt, ob er sie anrufen sollte. Aber das wäre nicht das Gleiche gewesen. Er brauchte die Geste.

Liebeshungrig. Vielleicht hatte sie Recht.

Er beschloss, ihr eine SMS zu schicken.

Mein Liebes, mein Liebstes,

warum habe ich gar nichts mehr von dir geh

Nein, er wollte ihr keine Vorwürfe machen.

Mein Liebes, mein Liebstes,

wo steckst Du? Ich hätte mich sehr über einen Anr

Auch keine versteckten.

Mein Liebes, mein Liebstes,

schlaf schön. Danke für den Tag. Danke für alles.

Ich liebe dich. Mehr und immer mehr.

Er zögerte. Fügte ich brauche dich und ich vermisse dich so hinzu. Löschte es wieder. Er wollte nicht bedürftig klingen.

Paul las den Text noch einige Male; er war nicht geübt im Schreiben von Kurzmitteilungen und wollte kein Missverständnis riskieren. Schließlich schickte er sie ab, stellte das Telefon aus und fühlte sich gleich wohler. Morgen früh würde sie mit ein paar zärtlichen Sätzen antworten, und der Spuk wäre vorüber.

Es war eine traumlose Nacht. Er schlief gut, länger als gewöhnlich, und als er erwachte, galt sein erster Gedanke Christine. Welch ein Geschenk es war, neben ihr zu wachen, während sie noch schlief. Die Wärme ihres Körpers zu spüren. Die Gleichmäßigkeit ihres Atems.

Wie wenig es zuweilen braucht, das Glück in seinem Versteck zu finden. Wie oft wir daran vorbeigehen.

Er griff neben das Bett und schaltete sein Handy ein. Keine Nachricht. Paul spürte plötzlich dieselbe innere Unruhe, die ihn schon am Abend geplagt hatte. Es war zu früh, sagte er sich. Um diese Zeit duschte sie und machte sich fertig für einen langen Tag im Büro. Normalerweise schrieb sie ihm erst aus dem MTR-Zug auf dem Weg nach Wan Chai.

Er stand auf, band das Moskitonetz zu einem Knoten, ging in die Küche hinunter und setzte Wasser für einen Tee auf. Die Luft war in der Nacht nur wenig abgekühlt, das Thermometer vor dem Fenster zeigte 25 Grad und 88 Prozent Luftfeuchtigkeit an, und es war noch nicht einmal acht Uhr. Paul musste sich beeilen, in Kürze würde die Sonne auf die Dachterrasse scheinen und bald darauf so viel Kraft haben, dass man Schutz vor ihr suchen musste und an Tai Chi nur noch im Schatten zu denken war. Die Übungen dauerten immer genau eine Stunde. Sie halfen ihm, nach schlechten Nächten in den Tag zu finden, gaben ihm, zumindest für ihre Dauer, ein Gefühl von fast heiterer Gelassenheit.

Heute nicht. Seine Ausführungen waren ungenau und seltsam stockend, die Hüfte viel zu steif, die Schultern verspannt. Die »Einzelne Peitsche« und den »Kranich, der seine Flügel ausbreitet« begann er sogar von vorn, aber ein harmonischer Bewegungsablauf wollte nicht gelingen.

Im Laufe des Tages sprachen sie nur kurz miteinander. In Christines Büro war es noch hektischer als sonst, am Abend hatte ihr Sohn hohes Fieber, er brauchte seine Mutter.

Natürlich hatte Paul dafür Verständnis, sie musste sich weder erklären noch entschuldigen.

Am Dienstagmorgen kam eine SMS, in der sie ihm mitteilte, dass sie am kommenden Sonntag nicht nach Lamma kommen könne. Er rief dreimal an. Alle drei Gespräche waren ungewöhnlich kurz. Mal passte es nicht, weil ein aufgebrachter Kunde auf dem Flughafen in Jakarta festsaß, mal weil Cathay Pacific Flüge annullierte oder Christine die Kinderärztin auf der anderen Leitung hatte. Die versprochenen Rückrufe blieben aus.

Ihr Schweigen. Paul versuchte es zu ignorieren. Er putzte das Haus noch gründlicher als sonst. Staubte die Bücher ab. Wischte die Regale und die Fußböden. Versah den alten chinesischen Hochzeitsschrank mit einer neuen Wachspolitur, bis er wieder glänzte. Räumte den Kühlschrank aus und wusch jedes einzelne Fach mit Seifenlauge aus. Immunsystem geschwächt. Achten Sie auf äußerste Reinlichkeit. Im ganzen Haus. Schon ein kleiner Infekt kann lebensbedrohlich sein.

Es gibt Sätze, dachte er, die verfolgen uns ein Leben lang. Justin war bald vier Jahre tot. Trotzdem konnte Paul bis heute nicht einmal die Andeutung von Schmutz im Haus ertragen.

Er machte einen Spaziergang an die Inselspitze nach Pak Kok. Das Mobiltelefon ließ er zu Hause. Er wollte nicht bei jedem Schritt auf ihren Anruf warten.

Er dachte über die vergangenen zwei Tage nach und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was regte ihn so auf? Dass Christine in achtundvierzig Stunden keine Zeit gefunden hatte, mit ihm in Ruhe ein paar Sätze zu wechseln? Ungewöhnlich, aber sie war eine viel beschäftigte Frau. Dass ihre Stimme nicht so zärtlich klang wie sonst? Wer war er? Ein frisch verliebter Teenager? Er wusste doch, unter welchem Druck sie stand. Dass sie am Sonntag nicht zu ihm kommen konnte? Es war nicht das erste Mal, dass ihr etwas dazwischenkam. Ihre Mutter stellte Ansprüche an die Tochter, die ihm zwar fremd waren, die er aber akzeptieren musste. Dass die SMS nicht mit »in Liebe. Für immer und immer« geendet hatte? Nichts davon rechtfertigte seine innere Unruhe. Und trotzdem war sie da.

Je länger er nachdachte, desto mehr verstand er, dass es nicht Christine war, die ihn verunsicherte. Er war es selbst. Warum geriet er wegen solcher Kleinigkeiten so sehr aus der Fassung? Warum wuchsen in ihm so schnell Zweifel und Furcht?

Christine hatte ihn vor kurzem gefragt, ob er auf Lamma im Exil lebe. Das Wort hatte ihn seltsam berührt. Exil. Exilium auf Lateinisch, wenn er sich richtig erinnerte. In der Fremde weilend. Verbannung. Nein, hatte er spontan antworten wollen. Mich hat niemand verbannt. Er war kein Flüchtling und kein Verfolgter. Er konnte nicht in der Fremde weilen, weil das nur Menschen konnten, die eine Heimat hatten. Die besaß Paul nicht. Seine Eltern waren tot. Mit seinem Geburtsland verband ihn nichts. Von Deutschland erinnerte er kaum mehr als die vielen Schiffe im Hamburger Hafen und seltsamerweise das laute, tiefe Tuten des Dampfers, der sie nach Amerika bringen sollte. Seine frühen Kinderjahre in München waren ein Opfer der Zeit geworden, ebenso die Erinnerungen an seine Großeltern.

Er war amerikanischer Staatsbürger. Sein blauer Pass bezeugte das. Ein Reisedokument, nicht mehr. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er mit neunzehn Jahren das Land für immer verlassen. Er hatte nirgendwo auf der Welt Verwandte, die er persönlich kannte.

Wenn ihn früher hin und wieder jemand gefragt hatte, wo seine Heimat sei, war seine Antwort stets: Im Großen und Ganzen auf der Erde. Die meisten hielten es für einen Scherz.

Er lebte seit über dreißig Jahren in Hongkong, aber nicht im Exil. Wenn es überhaupt einen Ort auf der Welt gab, dem er sich vertraut fühlte, war es diese Stadt. Er war ihr dankbar. Sie hatte ihn aufgenommen und nie gezwungen, irgendwo dazuzugehören. Das entsprach ihm.

So habe sie es nicht gemeint, hatte Christine erwidert, als er ihr von den Gedanken erzählte, die ihm durch den Kopf gingen. Sie habe mehr an seinen Rückzug nach Justins Tod gedacht. Hatte er sich damit in ein freiwilliges Exil begeben?

Diese Frage hatte Paul sich noch nie gestellt, eine Antwort blieb er schuldig.

Eine Art Selbstverbannung? Ein Exilant, aus dem Leben geflohen, weil er den Schmerz und die Trauer um den Sohn nicht aushielt? Vielleicht. Wenn dem so war, dann lag es an Christine, dass er den Weg zurück gefunden hatte. Ihre Engelsgeduld in den ersten Monaten. Ihre Kraft, seine Launen zu ertragen. Ihre Fähigkeit, nicht mehr zu verlangen, als er geben konnte.

Sie machte ihn wieder mit dem Leben und der einfachen Wahrheit eines alten chinesischen Sprichwortes vertraut: Ein Mensch allein ist noch kein Mensch.

War es da ein Wunder, dass er manchmal überempfindlich reagierte? Er war bestimmt nicht der erste Exilant, dem die Rückkehr in eine über Nacht verlassene Welt Probleme bereitete. Es stand viel auf dem Spiel. Der kurze Atem des Glücks. Als ob Angst einen Grund bräuchte.

Sein Mobiltelefon zeigte einen verpassten Anruf. Christine. Er rief zurück. Besetzt. Er versuchte es erneut, ohne Erfolg. Auf ihrem Display würde sie sehen, dass er angerufen hatte. Sie wird sich melden, sobald sie Zeit hat.

Er schlich ums Telefon wie früher Justin um eine Tafel Schokolade, von der er die Finger lassen sollte. Er nahm ein Buch und legte es nach wenigen Minuten wieder weg. Er versuchte es mit Musik. Brahms funktionierte nicht, Beethoven auch nicht. Puccini machte die Sehnsucht nur noch größer. Um kurz nach 23 Uhr rief er sie an. Entspannt wollte er klingen. Unaufgeregt, erheitert, beiläufig, alles, nur nicht liebeshungrig.

»Ist etwas passiert?«, war ihre erste Frage.

»Nein. Warum?«

»Du klingst so«, sagte sie.

»Wie klinge ich?«

»Bedrückt.«

Er hasste Telefonieren. Es machte alles nur noch schlimmer. Er hasste es, mit dem kleinen Gerät am Ohr über ernste Dinge zu sprechen, Fragen zu stellen und dann nichts als ein Rauschen zu vernehmen, von dem er nicht wusste, wann es enden würde. Allein auf Antworten warten zu müssen, die für ihn von Bedeutung sein konnten. Er musste sein Gegenüber sehen, sich vergewissern können, ob sich das Gesagte in der Gestik, der Mimik, widerspiegelte, ob es mit dem, was die Augen sprachen, übereinstimmte. Wie viel einfacher war es, am Telefon die Unwahrheit zu sagen. Ein falscher Ton, ein kleines, unbedeutendes Missverständnis genügten, um ihn zu verunsichern, einen Moment des Zweifels entstehen zu lassen, der sich in kürzester Zeit zu einem Streit auswachsen konnte. Für ihn war das Telefon ein Stimmungsverstärker. Es machte die Sicheren sicherer und die Ängstlichen ängstlicher. Er gehörte in diesem Moment zu den Ängstlichen. Wie sollte er ihren harschen Ton deuten, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen? Er hatte keine Ahnung, was er fragen oder sagen sollte. »Ich wollte einfach nur deine Stimme hören«, antwortete er leise.

»Du hast mich geweckt.«

»Das tut mir leid.«

Sie schwiegen.

»Ist irgendetwas mit dir?«, fragte er.

»Was soll sein?«

Am liebsten hätte er wieder aufgelegt. Ihre Sätze, ihre Stimme richteten das Gegenteil von dem an, was er brauchte. Wenn er nicht Acht gab, würde das Gespräch kein gutes Ende nehmen. Die Empfindlichkeit bedürftiger Menschen. Es war nicht ihre Schuld.

»Wir haben seit Sonntag kaum ein Wort gewechselt. Heute Morgen bekomme ich eine SMS, in der du einfach so …«

»Paul, du hast keine Vorstellung, was in den vergangenen Tagen bei mir los war. Josh ist krank und ruft mich fünfmal am Tag an. Meine Mutter hat Schmerzen in der Brust und will nicht allein zur Untersuchung ins Krankenhaus. Im Büro ist die Hölle los. Es ist Mai, und ich bin im ersten Halbjahr fast zwanzig Prozent im Minus. Weißt du, was es heißt, wenn wir das nicht aufholen?«

»Christine, ich weiß, ich verstehe nur nicht …«

»Du hast zu viel Zeit, das ist das Problem«, unterbrach sie ihn erneut. »Wenn ich den ganzen Tag mein Haus putzen, kochen und spazieren gehen würde, käme ich auch auf dumme Gedanken.«

Was sollte er darauf antworten?

»Entschuldige«, sagte sie nach einer langen Pause. »Ich habe es nicht so gemeint.«

»Du musst dich nicht entschuldigen.«

»Ich wollte dir nicht wehtun.«

Paul fühlte sich leer, erschöpft, als hätten sie zwei Stunden miteinander gestritten. »Du meinst, mehr ist es nicht?«

»Mehr nicht?« Ihre Stimme wurde wieder schärfer. »Hast du mir nicht zugehört? Das ist ziemlich viel, wenn du mich fragst.«

»Natürlich. Das ist alles viel für dich, aber das habe ich nicht gemeint.«

»Was denn?«

»Ich mache mir Sorgen.«

»Um mich?«

»Ja. Um uns.«

Sie seufzte tief. »Paul, es ist spät. Ich kann morgen nicht ausschlafen. Mein Wecker steht auf sechs Uhr dreißig. Können wir darüber ein anderes Mal reden?«

Jetzt hörte er, wie müde sie klang. »Ja sicher. Aber wann?«

»Bald. Ganz bald.«

»Ich liebe dich. Schlaf gut.«

»Ich dich auch. Gute Nacht.«

»Dir auch. Für immer und …«

Sie hatte aufgelegt.

Ich dich auch. Mehr hatte er nicht hören wollen. Wie ein Kind.

Paul dachte an Justin. Ich liebe dich. Bis zur Sonne und wieder zurück. Jeden Abend hatte er das zu ihm gesagt, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Ich dich auch, hatte eine müde Kinderstimme in der Dunkelheit zurückgeflüstert.

Sie hatte in allem Recht. Er würde morgen nach Hongkong fahren, sie zum Mittagessen einladen und sich bei ihr entschuldigen.

Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.

Er wäre gern mit diesem beruhigenden Gedanken eingeschlafen. Etwas hielt ihn wach. Ein Gefühl, das er sich nicht traute, in Worte zu fassen.

II

Sie hatte kurz gezögert. Im Büro war viel los. Es passte ganz schlecht. Morgen wäre ein günstigerer Tag. Als sie hörte, dass er bereits auf der Fähre war, stimmte sie zu. Paul ging vom Pier direkt in die IFC Mall, kaufte eine kleine Schachtel ihrer Lieblingspralinen und eine langstielige, tiefrote Rose.

Sie trafen sich im World Peace Cafe, einem Restaurant in der Tai Wong Street East in Wan Chai; es lag im Erdgeschoß eines buddhistischen Zentrums, keine fünf Minuten von Christines Büro entfernt. Sie betraten einen hohen Raum, dessen Fenster bis auf den Boden reichten, und der, für Hongkonger Verhältnisse, verschwenderisch viel Platz zwischen den Tischen bot. Auf einer Tafel waren mit Kreide drei vegetarische Gerichte angeschrieben, aus Lautsprechern unter der Decke drang gedämpfter Jazz, in mehreren Regalen ruhten Buddhas in verschiedenen Größen, jeden Tisch schmückten eine kleine Blumendekoration und ein brennendes Teelicht. Es war das Gegenteil von den lauten, überfüllten chinesischen Restaurants, in denen Christine sonst zu Mittag aß.

Paul bemerkte ihre Irritation.

»Gefällt es dir hier nicht?«

»Doch, doch.«

Ihre Stimme verriet ihm, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

»Sollen wir woanders hingehen?«

»Nein, nein.«

Sie bestellten Rote-Beete-Suppe mit Tofu und zwei Auberginenaufläufe, Wasser, Tee und für Paul einen frischen Saft.

»Der Koch lebt auf Lamma«, sagte er, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Er hat mir erzählt, dass die Kellnerinnen, Putzfrauen und Küchenhilfen hier alle ohne Bezahlung arbeiten.«

»Dann müssen sie reiche Männer haben«, entgegnete Christine trocken.

Sie saßen sich schweigend gegenüber, und er spürte wieder diese innere Unruhe in sich aufsteigen. Etwas stimmte nicht mit ihr. Am Telefon hatte sie es überspielen können, aber nicht, wenn er ihr gegenübersaß. Er sah es in ihren Augen. Wie sie seinem Blick auswich, wie sie auf den Tisch starrte oder an ihm vorbei die Wand betrachtete. Er sah es in ihrem Gesicht, die Lippen waren zu schmal, die kleinen Falten um die Mundwinkel zu tief. So sah sie nicht aus, wenn es ihr gut ging.

Er scheute sich zu fragen. Er fürchtete, sie könnte antworten, alles sei in Ordnung. Er wollte nicht belogen werden.

»Christine?« Er hoffte, die Art, wie er ihren Namen aussprach, wäre Frage genug.

Sie sah ihn an, ohne zu antworten.

Das Schweigen wurde ihm von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. »Was ist …«

»Nichts ist«, unterbrach sie ihn und hielt inne. »Oder doch, ganz viel.«

Sie holte Luft und vergrub ihr Gesicht in den Händen: »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.«

Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.

War das der Moment? Paul hatte das Gefühl, sich irgendwo festhalten zu müssen. Ihm war, als hätte jemand eine Weste aus Blei über seinen Körper gestülpt, so schwer fühlte er sich. Hatte sie sich in jemanden verliebt? War ihr Ehemann zurückgekehrt? Oder war sie ohne sein Wissen beim Arzt gewesen und hatte diesen furchtbaren, keinen Trost kennenden Satz gehört: »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen …« Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Ich brauche Zeit«, sagte sie nach einer unendlich langen Pause. »Ich brauche etwas Abstand.«

So klingt der Anfang vom Ende, dachte Paul.

»Was ist zwischen uns passiert?«

»Nichts.«

»Nichts?« Er hatte die Stimme erhoben. Die Gäste an den anderen Tischen drehten sich nach ihnen um.

»Vor vier Wochen haben wir auf meiner Terrasse gesessen und überlegt, ob wir zusammenziehen sollen, und jetzt brauchst du plötzlich Abstand. Warum …« Er wollte aufstehen, zur Fähre, nach Lamma. Einfach weg.

»Bitte geh nicht«, sagte sie leise und griff nach seiner Hand.

Paul zögerte. Er versuchte sich zu beruhigen und schloss die Augen. Er spürte sein Herz rasen.

»Ich liebe dich, Paul.« Ihre Stimme. Weit weg. Verzweifelt. »Es ist nicht, wie du denkst.«

»Was denke ich denn?«

»Dass ich mich in einen anderen Mann verliebt habe.«

Er öffnete die Augen. »Woher weißt du das?«

»Weil das bei Männern immer der erste Gedanke ist.«

Er schwieg einen Moment. »In eine Frau?«

»Nein.«

»Warum sagst du dann, dass du Abstand haben willst? Bin ich dir zu viel?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Ist mein Liebeshunger zu groß?«

»Nein.« Ein Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Warum möchtest du dann mehr Distanz?«

»Deinetwegen.«

»Meinetwegen?« Er sah sie verständnislos an.

»Ich habe einfach Angst, ich könnte dich …« Sie sprach nicht weiter.

»Verletzen?«, beendete er ihren Satz.

»Nein.«

»Verlassen?«

»Nein. Umbringen.«

»Was hast du gesagt?« Er glaubte, sich verhört zu haben.

Sie wiederholte das Wort.

Paul war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Machte sie einen Scherz, wollte sie ihn ärgern, oder quälten sie psychische Probleme, die sie ihm bisher verheimlicht hatte? Hörte sie Stimmen, die ihr Befehle erteilten? Oder meinte sie es nicht wörtlich, sondern fürchtete, er würde, sollte ihr geplantes gemeinsames Leben nicht gut gehen und sie wieder ausziehen, eine Trennung nicht überleben?

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage: Ich habe Angst, dich zu töten.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Die Gefahr besteht. Ich weiß es. Genügt das nicht?«

»Nein. Woher willst du das wissen?«

»Jemand hat es mir gesagt.«

»Wer?«

»Ein Astrologe«, flüsterte sie.

»Ein was?«

»Musst du so brüllen? Ich war bei einem Wahrsager. Einem chinesischen Sterndeuter. Einem Mann, der in die Zukunft sehen kann. Nenn ihn, wie du willst.«

Paul konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Die Angst der vergangenen Tage, seine Verunsicherung, alles nur, weil Christine bei einem Astrologen war. Fast vierzig Jahre lebte er jetzt in Asien, mehr als dreißig davon in Hongkong, er wusste, wie abergläubisch die Menschen hier waren, und Christine war da keine Ausnahme. Sie trug immer etwas Rotes am Körper, den Schlüpfer, die Strümpfe, ein Tuch, notfalls auch einfach nur ein dünnes Bändchen um das Fußgelenk. Sie hatte immer einen kleinen Fisch aus türkisfarbener Jade in ihrer Tasche. In ihrem winzigen Reisebüro stand auf der Kommode ein Altar, vor dem sie jeden Morgen Räucherstäbchen entzündete und ein paar Kekse, eine Apfelsine oder eine Banane als Opfergabe hineinlegte. Sie hatte Paul im Februar, zu Beginn des chinesischen Neujahrs, ihre neue Telefonnummer gegeben und behauptet, das seien ihre Glückszahlen für dieses Jahr, und er hatte sich damals schon gedacht, dass sie vermutlich hin und wieder einen Astrologen konsultierte, aber nicht weiter nachgefragt. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass sie, was ihre Liebe zu ihm anging, um Rat fragen würde.

»Du sagst mir jetzt nicht, dass du mich weniger liebst, weil ich dir Unglück bringe, oder?«

»Ich liebe dich nicht weniger. Es geht nicht um mich, Paul. Es geht um dich.«

»Wie darf ich das verstehen? Bringst du mir Unglück?«

Sie nickte und schwieg.

»Entschuldige, Christine, das ist lächerlich. Wie lange kennen wir uns?«

»Ein Jahr, drei Monate, zwölf Tage und«, sie schaute auf die Uhr, »zweiundzwanzig Stunden.«

Der Kellner brachte Tee, Wasser und die Suppe. Sie ignorierten ihn.

Paul küsste ihre Hand. »Ich habe mich in der Zeit so wohl gefühlt wie schon sehr, sehr lange nicht mehr. Die vergangenen Monate gehören zu der schönsten meines Lebens.«

»Es geht nicht um die Vergangenheit. Es geht um die Zukunft.«

»Und in der wirst du vom Wahnsinn befallen und bringst mich um?« Er hatte nicht so süffisant klingen wollen.

»Wenn du mich nicht ernst nimmst, müssen wir darüber nicht weiter reden.«

»Ich nehme dich ernst.«

»Das tust du nicht.«

»Doch. Ich nehme nur jemanden nicht ernst, der behauptet, er könne die Zukunft vorhersagen.«

»Warum nicht?«

»Weil, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die Sterne Einfluss auf unser Schicksal haben.«

»Aber ich glaube daran.«

Paul atmete tief ein und wieder aus. Er wünschte ihr guten Appetit, aß ein paar Löffel Suppe und überlegte, ob er das Gespräch abbrechen sollte. Er verspürte nicht die geringste Lust, über Aberglauben und Horoskope zu diskutieren. Aber Christine war es offensichtlich wichtig.

»Was genau hat er gesagt?«, erkundigte er sich schließlich. »Wie kommt er darauf, du könntest mich umbringen?«

»Willst du es wirklich wissen?«

»Sonst würde ich nicht fragen.«

Sie legte den Löffel beiseite. »Es ist das Jahr des Schweins. Er hat ausgerechnet, dass ich eine große Überraschung erleben werde. Dass es ein schwieriges Jahr für mich wird. Geschäftlich, aber vor allem privat. Dass meine Mutter krank wird, und dass ich Probleme mit meinem Sohn haben werde.« Sie machte eine Pause und warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu.

»Und?«, fragte Paul.

»Und? Wieso und? Das stimmt alles!«

Er wollte einwenden, dass man kein Wahrsager sein musste, um einer Frau Anfang vierzig zu erklären, dass ihre Mutter, die mindestens Mitte sechzig, wenn nicht älter war, gesundheitliche Probleme haben würde. Und sollte diese Frau auch noch ein Kind haben, was Christine ihm vermutlich vorher gesagt hatte, so war es aller Wahrscheinlichkeit nach in der Pubertät oder kurz davor. Ein Alter, in dem alle Eltern mit ihren Kindern Streit haben.

»Was hat er über deinen Vater gesagt?«

»Dass er tot ist.«

Der Kellner stellte die Auberginenaufläufe auf den Tisch und räumte die halb vollen Suppenteller ab.

Am liebsten hätte er ihr geantwortet, dass auch diese Aussage, gemessen an der niedrigeren Lebenserwartung von Männern dieser Generation, einen nicht geringen Wahrscheinlichkeitswert hatte, zögerte jedoch und entschied sich, lieber zu nicken und zu schweigen.

Christine verstand es als Aufforderung weiterzuerzählen. »Er sagt, dass ein Mann in mein Leben tritt. Dieser Mensch hat für mich eine große Bedeutung und kommt mir immer näher.« Sie machte erneut eine Pause und schaute ihn an. Ihre Stimme war zu einem Flüstern verebbt. Paul musste sich weit über den Tisch beugen, um ihre letzten Worte zu verstehen.

»Das ist nicht gut für ihn. Er wird dieses Jahr nicht überleben.«

Paul schüttelte den Kopf. »Das bedeutet doch nicht, dass du mich tötest.«

»Ich habe nicht gemeint, dass ich dich ermorde. Es ist die Nähe zu mir, die dich umbringen wird.«

»Für wie lange soll das gelten?«

»Im Jahr des Schweins, bis zum chinesischen Neujahr. Also die nächsten neun Monate.«

Paul lehnte sich zurück. Er blickte Christine lange an. Am liebsten hätte er laut losgelacht. Oder ihren Kopf in seine Hände genommen, sie zärtlich auf die Stirn geküsst in der Hoffnung, dem Spuk damit ein Ende zu bereiten. Aber die Art, wie sie ihn anschaute, wie der Blick ihrer dunkelbraunen Augen auf ihm lag, ließ keinen Zweifel zu: Sie meinte es ernst.

»Ich war nicht in einer dieser Buden am Wong-Tai-Sin-Tempel und habe mir für hundert Hongkong-Dollar aus der Hand lesen lassen«, sagte sie, als habe sie die Hoffnung, ihn zu überzeugen, noch nicht aufgegeben. »Ich war bei Wong Kah-Wei. Er ist einer der angesehensten Astrologen in Hongkong. Es gibt reiche Europäer und Amerikaner, die jedes Jahr in die Stadt kommen, nur um ihn zu konsultieren, und dafür ein Vermögen ausgeben. Er war sogar schon einmal in London, um jemanden aus dem Königshaus zu beraten. Ich kann ihn mir nur leisten, weil ich ihn schon so lange kenne und einen besonderen Preis bekomme. Ich habe seine ganze Vorhersage auf Band. Wenn ich will, kann ich sie mir irgendwann anhören und prüfen, ob er Recht hatte.«

»Und wenn nicht? Bekommst du dann dein Geld zurück?«

Es war nicht der richtige Moment für Witze. Sie musterte ihn mit einer Mischung aus Ärger und Enttäuschung.

»Kennst du die Geschichte von Ödipus?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie knapp. Offensichtlich erwartete sie einen weiteren Scherz.

»Eine griechische Sage. Ein Seher verkündet einem König, dass sein Sohn ihn töten und Liebhaber der eigenen Mutter werden würde. Um diesem Schicksal zu entgehen, setzt der König seinen neugeborenen Sohn zum Sterben aus, doch ein Hirte rettet ihn. Ödipus wird von einem kinderlosen Königspaar aufgezogen, das er verlässt, als ein Orakel ihm prophezeit, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Auf der Flucht gerät er in Streit mit einem alten Mann und tötet ihn – es ist sein Vater, der König von Theben. Weil Ödipus die Stadt von einer Sphinx befreit, erhält er die Witwe des Königs zur Frau – es ist seine Mutter. Hätte der König nicht auf den Wahrsager gehört, wäre nichts davon passiert. Die Prophezeiung geht in Erfüllung, weil der König sie ernst nimmt und versucht, sie zu verhindern. Ich schlage vor, wir ignorieren die Voraussage deines Astrologen.«

»Du verstehst nicht, was ich meine«, sagte sie kopfschüttelnd. »Deine Geschichte bestätigt mir nur, dass es für jeden von uns ein Schicksal gibt, dem wir nur sehr bedingt ausweichen können. Daran glaubst du nicht?«

»Nein.«

»Woran glaubst du?«

Er schaute Christine in die Augen. Er wollte ihr spontan etwas entgegnen, etwas Komisches, ein letzter Versuch, der Situation ihren Ernst zu nehmen, aber ihm fiel nichts ein, und je länger er schwieg, desto lauter hallte die Frage durch seinen Kopf. Was sollte er, Paul Leibovitz, Sohn einer deutschen Katholikin und eines amerikanischen Juden, aufgewachsen in München und New York, alleinstehend, keiner Religion zugehörig, im vierundfünfzigsten Jahr seines Lebens, nach Ende zahlreicher Beziehungen von unterschiedlicher Intensität und Dauer, nach dem Scheitern einer Ehe und dem Tod seines Kindes, antworten? Woran glaubte er?

Paul schwieg.

Christine erwartete eine Antwort.

Justin hatte ihn einmal gefragt, ob er an Gott glaube.

Nein, hatte Paul erklärt, ich glaube an Miss Rumphius. Über das Gesicht seines Sohnes war ein Lächeln geflogen. Die Geschichte von Miss Rumphius war lange Zeit Justins Lieblingsbuch gewesen. Ein kleines Mädchen muss seinem Opa versprechen, etwas zu tun, »um die Welt in einen schöneren Ort zu verwandeln«. Als alte Frau erinnert sie sich an ihr Versprechen, nimmt ihr Erspartes, kauft Blumensamen und verstreut sie. Im Jahr darauf wachsen daraus die ersten Pflanzen, sie verteilen ihre Samen weiter, und schon bald erstrahlt die ganze Umgebung in wunderschöner Blütenpracht.

Du meinst, du glaubst an Menschen, die ihre Versprechen halten?

Ja, hatte Paul seinem Sohn geantwortet. Und an Menschen, die etwas tun, um die Welt in einen schöneren Ort zu verwandeln. Justin hatte verstanden, was er meinte. Christine, fürchtete er, würde glauben, er nehme sie nicht ernst.

»Ich weiß nicht, was du hören möchtest«, antwortete er ausweichend.

»Ich verstehe dich nicht. Was ist an dieser Frage so schwierig?«

»Nichts. Aber über diese Was-ist-der-Sinn-des-Lebens-Fragen denkt man doch eher als Teenager nach, oder?«

»Warum? Es schadet nicht, wenn man sie sich hin und wieder stellt.«

»Also«, Paul atmete tief durch, »ich glaube an die Musik. An ein gutes Essen. An einen schönen Abend mit dir …«

»Ich wollte nicht wissen, was dir Freude bereitet«, unterbrach sie ihn.

»Ist das nicht dasselbe?«

»Nein.« Sie rollte die Augen und blickte auf die Uhr.

Er hatte sie nicht verärgern wollen.

Je länger er versuchte, ihrer Frage auszuweichen, desto mehr irritierte sie ihn. Woran glaubte er? Nicht an einen Gott, wie immer man ihn nennen mochte. An keine Macht, die unser Schicksal lenkt. Nicht an Fügung oder eine Bestimmung. Wenn überhaupt, dann an den Zufall. An die Willkür der Natur. An ihre Ungerechtigkeit. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen.

Wenn Paul ehrlich war, hatte er auf Christines Frage keine Antwort.

»Ich muss darüber in Ruhe nachdenken«, sagte er nach einer langen Pause. »Darf ich versuchen, dir später darauf zu antworten?«

»Wann immer.«

»Und du? Woran glaubst du? Abgesehen von den Sternen.«

»Das weißt du doch. An Feng Shui. An Yin und Yang. An die Kraft der Harmonie. Ich sehe das Leben wie ein riesiges Mobile, an dem viele Gewichte hängen. Sie müssen sich im Gleichgewicht befinden, sonst funktioniert es nicht. Ich glaube an das Schicksal. Ich bin überzeugt, dass es kein Zufall war, dass wir uns begegnet sind. Es war Bestimmung.«

Sie schaute wieder auf die Uhr.

»Ich könnte dir jetzt Geschichten von Freundinnen erzählen, denen ein Astrologe die erstaunlichsten Sachen vorhergesagt hat, die auch eingetroffen sind. Aber ich habe leider nicht die Zeit, den Rest des Nachmittags mit dir über chinesische Astrologie zu diskutieren. Wenn du dich selbst überzeugen willst, ruf Meister Wong an.« Sie holte einen Stift aus der Tasche und schrieb eine Telefonnummer auf die Serviette.

»Du kennst seine Nummer auswendig?«, fragte er und hoffte, Christine würde die Andeutung eines Misstrauens in seiner Stimme überhören.

»Ich konsultiere ihn seit Jahren. Frag ihn, was immer du möchtest. Er weiß nichts über dich. Vielleicht kann er dich überzeugen.«

Sie wollte aufbrechen, Paul hielt sie fest.

»Wenn ich zu ihm gehe, und er sagt mir, dass dies ein gutes Jahr für mich wird, in dem mir keine Gefahren für Leib und Seele drohen, was geschieht dann?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Und wenn doch?«

»Dann müssen wir ihn noch einmal gemeinsam befragen. Nun muss ich aber los.«

Sie stand auf, nahm die Pralinen, die Rose und gab ihm einen Kuss. »Ich ruf dich heute Abend an. Spätestens, wenn Josh im Bett ist. Versprochen.«

Paul blickte ihr nach. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, formte die Lippen zu einem Kuss, lächelte kurz. Sie in den nächsten neun Monaten kaum zu sehen war unvorstellbar. Wegen der Prophezeiung eines chinesischen Astrologen. Weil das Schwein nicht mit dem Drachen konnte. Oder Winterholz sich vom Wasser fernhalten sollte. Das Pferd die Kreise der Ratte stört. Absurd. Wenn ein Besuch bei Wong Kah-Wei die einzige Möglichkeit war, Christine zu beruhigen, dann wollte er sich dem Hokuspokus unterziehen.

Er wählte die Nummer. Eine Frauenstimme. Nein, Meister Wong habe keine Zeit. Heute nicht. Morgen nicht. Der nächste freie Termin sei in acht Wochen. Paul verfiel ins Kantonesische, und es begann ein leidenschaftliches Feilschen, an dessen Ende er für das Dreifache des normalen Honorars einen Termin für den frühen Abend bekam.

Auf seinen Reisen in den vergangenen dreißig Jahren hatte auch Paul die Bekanntschaft von Wahrsagern, Astrologen oder Kartenlegern gemacht. Aus Spaß oder Langeweile oder auch aus Neugier, weil ein Bekannter irgendjemanden aufs Dringlichste empfahl. Auf Sumatra hatte eine blinde Geisterseherin ihn davor gewarnt, je wieder mit einem Schiff zu fahren. In Bangkok hatte ein ehemaliger Mönch in seinen Handlinien absolut sichere Zeichen für die bevorstehende prunkvolle Hochzeit mit einer indischen Prinzessin gefunden. Ein Chinese in Kunming prophezeite ihm großen Reichtum im vierzigsten Lebensjahr. Paul hatte sich all die Geschichten amüsiert angehört und ihnen keine weitere Beachtung geschenkt. Zu Recht, wie er fand. Er war kein Millionär geworden, lebte nicht im Adelsstand, liebte Bootsfahrten und hatte bisher jede bei bester Gesundheit überstanden. Natürlich hatte er auch immer wieder Geschichten gehört vom Bekannten eines Bekannten, dem ein Seher, Wahrsager oder Handleser etwas gesagt hatte, das dann angeblich genau so eingetreten war. Jeder kannte solche Geschichten vom Hörensagen. Märchen, dachte Paul. Dumme, alberne Märchen.

Unter Meister Wong stellte er sich einen alten Mann mit weißen Haaren vor, der in einem kleinen Kabuff irgendwo im tiefsten Mongkok oder Ma Tau Wai hauste. Spärliches Licht von einer Glühbirne unter der Decke, ein paar Räucherstäbchen in der Ecke, vielleicht eine Glaskugel auf dem Tisch, Tarotkarten in greifbarer Nähe.

Der Meister empfing seine Besucher im achten Stock des Great Wealth Buildings in der Queens Road Central, eine der teuersten Adressen Hongkongs. Im Vorzimmer saß Frau Yiu, eine elegant gekleidete Dame um die fünfzig. Sie bat Paul, noch einen Moment Platz zu nehmen, und verschwand in einer kleinen Küche, um Tee zuzubereiten. Der Raum war ungewöhnlich groß für ein Sekretariat, in einer Ecke plätscherte ein Brunnen, an der Wand gegenüber schwammen kleine rote Fische in einem imposanten Aquarium, daneben standen mehrere antike chinesische Tonfiguren in einem Regal. Auf Frau Yius Computerbildschirm konnte Paul den Tagesschlussstand der Aktienindexe von Hongkong, Shenzhen und Shanghai erkennen. Vor den grünen Zahlen blinkten Pluszeichen; es musste ein guter Tag an den Börsen gewesen sein.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und vor ihm stand ein kleiner hagerer Mann, der ihn musterte, ohne etwas zu sagen. Sein Gesicht wirkte streng, und Paul beschlich im ersten Moment das Gefühl, vor einem Bankbeamten zu sitzen, den er um einen Kredit bitten musste. Ohne hinreichende Sicherheiten.

»Meister Wong?«

Der Mann nickte und forderte Paul mit einer Handbewegung auf, ihm in sein Büro zu folgen.

Auch auf Meister Wongs flachem Bildschirm sah Paul Aktienkurse aufleuchten. In einer Ecke lehnte neben einem prall gefüllten Bücherregal eine Golfausrüstung, auf dem Schreibtisch lagen Bücher, Papier, Bleistifte, ein Montblanc-Füller und zwei aufgeschlagene Tageszeitungen: Anscheinend hatte der Astrologe die Berichte über die gestrigen Pferderennen in Happy Valley studiert. Paul wollte sich gerade fragen, worauf er sich hier eingelassen hatte, als er die Stimme des Astrologen vernahm. Sie war leise, ein Flüstern fast, und füllte dennoch den Raum bis in den letzten Winkel. Fest und durchdringend, verlieh sie dem Mann eine geradezu unheimliche Autorität, die so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung passte.

Es war keine Stimme, der man gern widersprach.

»Sie kennen sich mit chinesischen Horoskopen aus?« Es klang, als wäre das eine Voraussetzung für die Konsultation.

»Ja.«

»Dann sagen Sie mir, was Sie wissen möchten.«

»Wie die kommenden Monate für mich werden. Ob mir im Jahr des Schweins Gefahren drohen, oder ob es ein gutes Jahr wird.«

»Ich vermute, es geht um eine Investition? Immobilien? Den richtigen Zeitpunkt für eine Geldanlage?«

»Nein«, antwortete Paul irritiert. »Ganz allgemein.«

»Dann brauche ich das Datum Ihrer Geburt. Den Ort. Die genaue Uhrzeit. Kennen Sie die?«

»Selbstverständlich.«

Der Mann schrieb alles auf ein großes Blatt Papier. »Ich schlage vor, dass ich Ihnen einiges über Ihre Vergangenheit erzähle. Sollte sich herausstellen, dass diese Dinge zutreffen, spreche ich über Ihre Zukunft. Täusche ich mich aber, stimmt etwas mit meiner Kalkulation nicht. Dann brechen wir die Sitzung ab. Selbstverständlich müssen Sie in diesem Fall nichts bezahlen. Sind Sie damit einverstanden?«

Paul nickte.

Meister Wong begann seine Berechnungen anzustellen, stand auf, holte ein dickes, abgegriffenes Buch aus einem Regal, blätterte darin, zog ein zweites zu Rate, rechnete erneut. Paul hatte das Gefühl, dass Wong sich mit jeder Minute mehr von ihm entfernte. Ihm wurde allmählich unwohl. Er bemühte sich, das Wippen seines linken Fußes zu kontrollieren, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Nach minutenlangem Schweigen legte der Astrologe den Stift zur Seite und schaute ihn an.

»Sie haben als Kind den Wohnort gewechselt.«

Paul nickte. Das tun viele Kinder, dachte er, sagte aber nichts.

»Sogar den Kontinent.«

»Stimmt.«

»Sie haben das Haus in jungen Jahren verlassen.«

«Stimmt ebenfalls.«

»Das Verhältnis zu Ihrer Familie war distanziert.«

»Ja«, antwortete Paul und räusperte sich. Sein Hals war trocken. Er fühlte sich wie ein Angeklagter, der einem Richter Rede und Antwort stehen sollte.

»Ihre Eltern sind beide tot.«

»Richtig.«

»Ihre Mutter starb früh.«

»Auch richtig.«

Meister Wong lächelte kurz. »Sie müssen nicht jede Angabe bestätigen, ich nehme nicht Ihre Personalien auf. Es genügt, wenn Sie mich berichtigen, sobald ich mich irre.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Sie haben zwischen Ihrem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr geheiratet.«

Paul deutete ein Nicken an.

»Es war Ihre erste Ehe.«

»Ja«, sagte Paul wie in Trance.

»Sie sind geschieden. Sie haben ein Kind.«

Paul rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Den Rest wollte er nicht hören.

»Einen Sohn.« Der Mann machte eine lange Pause. Er blätterte in mehreren Büchern, kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, strich es durch, schrieb etwas anderes darunter. Paul konnte die auf dem Kopf stehenden chinesischen Schriftzeichen nicht entziffern.

Er wollte sagen, dass er genug gehört hatte, dass der Meister mit allen Aussagen richtig gelegen habe, dass er jetzt über die Zukunft sprechen könne, dass er den nächsten Satz nicht hören wollte. Es kam kein Wort über seine Lippen.

Der Astrologe hob den Kopf und blickte ihm in die Augen: »Ihr Sohn ist tot.«

Paul saß in einer Garküche am Ende der Stanley Street; es war heiß, sein Hemd klebte auf der Brust, der Schweiß tropfte ihm vom Kinn, rann Nacken und Rücken hinunter, selbst sein Ledergürtel war feucht geworden. Vor ihm standen ein Teller gebratene Nudeln und ein kaltes Bier. Er fühlte sich noch immer wie benommen. Er wollte, er konnte nicht glauben, was er erlebt hatte. Woher wusste der Mann so viel über seine Vergangenheit? Christine? Sie hatte behauptet, dem Astrologen nichts von Paul erzählt zu haben, und er vertraute ihr. Hatte der Meister am Nachmittag aus irgendeinem Grund Nachforschungen über ihn angestellt? Oder es gab einen gemeinsamen Bekannten, von dem Paul nichts wusste? Vielleicht war Meredith, seine geschiedene Frau, einmal bei Wong gewesen und hatte von ihm berichtet? Alles möglich. Nicht sehr wahrscheinlich, zugegeben, aber denkbarer als die Vorstellung, dass die Konstellation der Sterne bei seiner Geburt dem Mann etwas verraten haben könnte. Oder?

Hätte ein Fremder ihm diese Geschichte erzählt, Paul hätte kein Wort geglaubt. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber ihm schwirrten zu viele Gedanken durch den Kopf. Er wollte eine Erklärung. Er wollte eine Antwort und ahnte, dass er keine finden würde. Nicht jetzt. Dass er sich auf die Suche machen musste. Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte er sich tief verstört. Verunsichert. Allein.

Es war dunkel geworden, die Klapptische und Plastikhocker um ihn herum waren fast alle besetzt, mehrere Köche bereiteten in großen Woks Gerichte zu. Der Geruch von gebratenem Fleisch, Knoblauch und Zwiebeln wehte zu ihm herüber. Es zischte und dampfte, hin und wieder schoss eine Stichflamme in der Dunkelheit empor. Am Nebentisch hockten vier Bauarbeiter mit nackten Oberkörpern und musterten ihn. Einer hob sein Glas und prostete ihm zu. Paul bedankte sich mit einem kurzen Lächeln.

Er holte die Kassette mit den Worten des Astrologen aus der Tasche, legte sie auf den Tisch und überlegte, was er damit machen sollte.

Herr Leibovitz, ich warne Sie.

Meister Wong hatte, was die Zukunft betraf, zunächst lange über jene Dinge gesprochen, die seine chinesischen Klienten immer am meisten interessierten: die finanziellen Aussichten in den kommenden Monaten. Pauls monetäre Perspektiven waren nicht rosig, gaben aber auch keinen Anlass zu übermäßiger Sorge, von riskanten Investitionen musste ihm in diesem Jahr jedoch dringend abgeraten werden. Die Worte des Astrologen berührten ihn nicht sonderlich, er hatte sein Geld in sicheren, festverzinslichen Wertpapieren angelegt, die Rendite war nicht üppig, aber er lebte sehr bescheiden und kam damit aus. Das kleine Konto für besondere Ausgaben und Notfälle hatte er in drei Jahren nicht angerührt.

Plötzlich war Wong ins Stocken geraten. Er hatte erneut gerechnet, in zwei Büchern geblättert, die Stirn gerunzelt, als könne er selbst nicht glauben, was er da errechnet hatte. Schließlich lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schaute Paul über seine Brille hinweg an, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg lange.

Herr Leibovitz, ich warne Sie.