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»Dracula« ist eine mit besonderen Stilmitteln (Tagebuchauszügen, Zeitungsausschnitten, Brieftexten) aufgebaute, mitreißend erzählte Geschichte über bedingungslose Freundschaft, Liebe und den Kampf gegen das Böse, den Jonathan Harker und seine Mitstreiter aufnehmen. Der Stoff des Vamphirroman birgt weit mehr, als manche filmische Adaption daraus gemacht hat und gehört mit vollem Recht zur Weltliteratur.
nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
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Seitenzahl: 780
Bram Stoker
Dracula
Impressum
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2016
ISBN/EAN: 9783958705166
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
www.nexx-verlag.de
Wie diese Blätter entstanden sind, ergibt sich aus deren Lektüre. Alles Überflüssige ist ausgelassen worden, so dass sie, unabhängig von dem Glauben oder Nichtglauben späterer Geschlechter, als einfache historische Tatsachen dastehen.
Sie sind durchaus keine Erzählungen vergangener Dinge, in denen das Gedächtnis sich irren kann, sondern alle Berichte sind sofort niedergeschrieben und spiegeln den Standpunkt und die Auffassung der betreffenden Schreiber treu wider.
Jonathan Harkers Tagebuch
(Stenogramm)
Bistritz, 3. Mai. – München ab am 1. Mai 8:35 abends. Wien am frühen Morgen des nächsten Tages; sollte eigentlich 6:46 ankommen, der Zug hatte aber eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine herrliche Stadt zu sein, soweit ich es aus dem Waggon und in der kurzen Zeit, die mir zu einem Spaziergang zur Verfügung stand, beurteilen konnte. Ich fürchtete nämlich, mich allzu weit vom Bahnhof zu entfernen, da wir so spät angekommen waren und jedenfalls so pünktlich als möglich abfahren würden. Der Eindruck war der, dass man den Okzident verlassen und den Orient betreten hatte; die westlichste der prächtigen Brücken über die Donau, die hier eine beträchtliche Breite und Tiefe aufweist, versetzte einen jedenfalls mitten in die Zeit der Türkenherrschaft.
Wir fuhren rechtzeitig ab und kamen nach Einbruch der Nacht nach Klausenburg. Ich wohnte im Hotel Royal. Zum Diner oder vielmehr Souper aß ich ein Huhn, das mit rotem Pfeffer zubereitet war; sehr schmackhaft, aber dursterregend (Anm. Rezept für Mina verlangen). Auf meine Frage sagte mir der Kellner, man nenne es »Paprikahend’l!« und ich würde es, da es Nationalgericht sei, überall in den Karpaten bekommen. Mein bisschen Deutsch kam mir hier sehr zustatten; ich wüsste nicht, wie ich ohne es durchgekommen wäre.
Da ich in London noch etwas Zeit gehabt hatte, hatte ich das Britische Museum besucht und dort unter den Büchern und Karten über Transsylvanien eine Auswahl getroffen, da ich hoffte, einige Vorkenntnisse würden mir für den Verkehr mit den Edlen des Landes jedenfalls von Nutzen sein. Der Distrikt liegt im äußersten Osten des Landes, da, wo sich die Grenzen dreier Staaten, Transsylvanien, Moldau und Bukowina, treffen, mitten in den Karpaten. Einen genauen Anhalt für die Lage des Schlosses Dracula konnte ich jedoch nicht finden, da die Landkarten jener Zeit mit denen unserer Landesvermessung nicht zu vergleichen sind, aber ich fand, dass Bistritz, die Poststation für Dracula, ein ziemlich bekannter Platz ist. Ich will einige meiner Notizen hier eintragen; sie sollen mir als Anhalt dienen, wenn ich mit Mina über meine Reisen plaudern werde.
Die Bevölkerung Transsylvaniens setzt sich aus vier verschiedenen Nationalitäten zusammen: die Sachsen im Süden und, gemischt mit ihnen, die Wallachen, Nachkommen der Dacier; die Magyaren im Westen und Szekels im Osten und Norden. Ich gehe zu den Letztgenannten, die von Attila und den Hunnen abstammen sollen. Das mag sich wohl so verhalten; denn als die Magyaren im elften Jahrhundert das Land eroberten, fanden sie die Hunnen dort ansässig. Ich las, dass jeder nur erdenkliche Aberglaube dort unten in dem hufeisenförmigen Zug der Karpaten zu Hause sei, als sei dort das Zentrum eines Wirbels abergläubischer Vorstellungen. In dieser Beziehung wird mein Aufenthalt wohl viel des Interessanten bieten (Anm. Ich muss den Grafen darüber befragen).
Ich schlief nicht gut, obgleich mein Bett ziemlich bequem war, denn ich hatte alle möglichen verworrenen Träume. Die ganze Nacht heulte ein Hund unter meinem Fenster, welches zu ihm in irgendeiner Beziehung zu stehen schien; oder der Paprika war schuld, ich hatte alles Wasser in meiner Karaffe ausgetrunken und war doch immer noch durstig. Gegen morgen schlief ich endlich ein und erwachte erst auf heftiges Klopfen an meiner Tür, woraus ich schließe, dass ich sehr fest geschlafen haben muss. Zum Frühstück aß ich wiederum Paprika; eine Suppe von Maismehl, welches sie »Mamalika« nennen, und Eierkuchen mit einem Füllsel von gehacktem Fleisch, die »Impletata« (Anm. Auch hiervon das Rezept verlangen). Ich musste sehr rasch frühstücken, denn mein Zug ging kurz vor 8 Uhr, d. h. er sollte zu dieser Zeit gehen; als ich mich um 7:30 auf der Station einfand, musste ich fast eine Stunde im Wagen sitzen, bis endlich die Abfahrt erfolgte. Mir scheint es, als gingen die Züge umso unpünktlicher, je weiter man nach Osten kommt; wie mag es da erst in China sein?
Den ganzen Tag bummelte der Zug durch eine äußerst reizvolle Gegend. Manchmal sahen wir kleine Schlösser und Türme auf steilen Hügeln, ganz wie man sie in alten Chroniken abgebildet sieht; zuweilen passierten wir Flüsse und Bäche, die, nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen, wohl häufig aus ihren Ufern treten.
Auf jeder Station lungerten größere oder kleinere Gruppen von Eingeborenen in allen möglichen Trachten herum. Einige von ihnen glichen ganz den Bauern, wie ich sie zu Hause oder auf meiner Reise durch Deutschland und Frankreich sah. Kurze Jacken, runde Hüte und Hosen aus hausgewebtem Tuch. Andere sahen wieder sehr malerisch aus. Die Frauen machten einen hübschen Eindruck, jedoch nur in der Entfernung, denn sie waren sehr plump um die Hüften. Sie hatten alle weite Ärmel; die meisten von ihnen trugen breite Gürtel, von denen Streifen herunterflatterten, wie Ballettkleider, nur hatten sie unter diesen ohne Zweifel Unterröcke. Am seltsamsten sahen die Slowaken aus, barbarischer als alle andern, mit ihren mächtigen Cowboyhüten, weiten schmutzig-weißen Pluderhosen und ungeheuren, schweren, fast einen Fuß breiten Ledergürteln, die über und über mit Messingnägeln besetzt waren. Sie trugen hohe Stiefel, in welche sie die Hosen gesteckt hatten, und zeichneten sich durch langes schwarzes Haar und große schwarze Schnurrbärte aus. Sie machen zwar einen malerischen, aber nicht sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Auf den Stationen hockten sie beieinander wie orientalische Räuberbanden, sind aber, wie mir gesagt wurde, äußerst harmlos und selbstzufrieden.
Die Dämmerung war hereingebrochen, als wir in Bistritz, einer alten, interessanten Stadt, ankamen. Sie liegt zweckentsprechend hart an der Grenze – von hier aus führt der Borgo-Pass in die Bukowina – und hatte demgemäß eine sehr stürmische Vergangenheit, von der sie noch heute Spuren trägt. Vor fünfzig Jahren hatten ungeheure Feuersbrünste dort gewütet, fünfmal war sie ein Raub der Flammen geworden. Gleich zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde sie belagert; sie verlor hierbei 13.000 Einwohner, da außer den Gefechten auch noch Hunger und Seuchen viel Opfer forderten.
Graf Dracula hatte mir geraten, im Hotel Goldene Krone zu übernachten, einem Haus nach altem Stil – zu meiner Freude, da ich so viel als möglich von dem sehen wollte, was das Land bietet. Ich wurde offenbar erwartet, denn als ich eintrat, traf ich eine ältere, gutmütig aussehende Frau in dem gewöhnlichen landesüblichen Kostüm. Weißes Unterkleid mit langer doppelter, hinten und vorne herunterhängender Schürze aus buntem Tuch, die allerdings zu knapp anlag. Als ich näher trat, machte sie einen Knicks und sagte »Der Herr Engländer?«
»Ja«, sagte ich, »Jonathan Harker.« Sie lächelte und gab einem ältlichen Mann in weißen Hemdärmeln, der ihr bis zur Tür gefolgt war, einen Auftrag. Er ging, kam aber gleich darauf mit einem Briefe in der Hand wieder zurück:
»Mein Freund! Willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Schlafen Sie wohl für heute. Um drei Uhr morgens geht die Postkutsche zur Bukowina, ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgo-Pass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Sie eine gute Reise von London bis hierher hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner herrlichen Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula.«
4. Mai. – Ich brachte in Erfahrung, dass der Wirt einen Brief des Grafen erhalten hatte, der ihn beauftragte, den besten Platz in der Postkutsche zu belegen; als ich ihn über Details ausfragen wollte, wurde er jedoch zurückhaltend und gab vor, mein Deutsch nicht zu verstehen. Das konnte nur eine Ausrede sein, denn bisher hatte er es verstanden; wenigstens schien es so, denn auf alle meine Fragen war mir stets eine genaue Antwort zuteil geworden. Er und seine Frau, die alte Dame, die mich empfangen hatte, sahen sich erschrocken an. Als ich ihn fragte, ob er den Grafen Dracula kenne und mir etwas von dessen Schloss erzählen wolle, bekreuzigten sich beide und brachen einfach das Gespräch ab, indem sie sagten, sie wüssten nichts davon. Das Geld wäre in einem Briefe gesandt worden, das wäre alles. Es war nur mehr wenig Zeit bis zur Abreise, so dass ich nicht mehr fragen konnte; übrigens war die Sache recht geheimnisvoll und wenig erfreulich für mich.
Kurz bevor ich wegging, kam die alte Dame zu mir aufs Zimmer und sagte in hysterischem Ton: »Müssen Sie denn hingehen, junger Herr? Müssen Sie denn wirklich gehen?« Sie war dermaßen erregt, dass sie das wenige Deutsch, das sie konnte, vergessen zu haben schien, denn sie mischte es mit Worten einer anderen Sprache, die ich absolut nicht verstand. Ich konnte ihr nur soweit folgen, um zu erkennen, dass sie Fragen stellte. Als ich ihr aber sagte, dass ich gehen müsse und dass wichtige Geschäfte mich riefen, fragte sie wieder:
»Wissen Sie denn, was heute für ein Tag ist?« Ich antwortete, es wäre der 4. Mai. Sie schüttelte den Kopf und sagte wieder: »Oh ja, ich weiß, ich weiß; aber wissen Sie denn nicht, was für ein Tag heute ist?« Als ich verneinte, fuhr sie fort:
»Es ist St. Georgs-Nacht; wissen Sie nicht, dass, wenn die Uhr heute Mitternacht schlägt, alle bösen Dinge in der Welt freien Lauf haben? Wissen Sie, wohin Sie gehen und zu wem Sie gehen?«
Sie war so verstört, dass ich den Versuch machte sie zu trösten, aber vergebens. Schließlich warf sie sich auf die Knie und flehte mich an, nicht zu gehen, wenigstens meine Abfahrt um einen oder zwei Tage zu verschieben. Es war zu lächerlich, das alles, aber dennoch fühlte ich mich unbehaglich. Auf alle Fälle hatte ich meinem Dienst nachzukommen und nichts durfte mich davon abhalten. Ich hob sie also auf, trocknete ihre Tränen und sie gab mir dann ein Kruzifix, das sie von ihrem Hals genommen. Ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als englischer Christ hatte ich gelernt, solche Dinge als mehr oder minder götzendienerisch anzusehen; ich brachte es aber auch nicht übers Herz, das Geschenk der alten Frau, die es so gut mit mir meinte und sich in einer solchen Erregung befand, zurückzuweisen. Vermutlich sah sie mir diese Zweifel am Gesicht an, denn sie legte mir den Rosenkranz um den Hals und sagte: »Um Ihrer Mutter willen.« Dann ging sie aus dem Zimmer. Ich schreibe diesen Teil meines Tagebuches, während ich auf die Post warte, die sich ohne Zweifel verspätet hat. Der Rosenkranz hing noch um meinen Hals. Ich weiß nicht, ist es der Aberglaube der alten Frau oder die gespenstigen Traditionen der Gegend oder das Kruzifix selbst, aber ich fühlte mich nicht so zuversichtlich als sonst. Wenn dieses Buch Mina vor mir erreichen sollte, so möge es ihr meine Abschiedsgrüße bringen. Da kommt der Wagen!
5. Mai. Das Schloss. – Die graue Morgendämmerung ist vergangen und die Sonne steht schon weit über dem Horizont, der von Bäumen oder Hügeln – ich kann es nicht erkennen, da sich Nahes und Fernes unterschiedslos von ihm abhebt – wie ausgezackt erscheint. Ich bin nicht schläfrig, und da ich doch nicht geweckt werde, so schreibe ich natürlich einstweilen, bis der Schlaf kommt. Es sind so viele seltsame Dinge, die ich da berichten muss, dass es dem, der diese Aufzeichnungen liest, vielleicht vorkommen wird, als hätte ich vor meiner Abreise von Bistritz zu reichlich diniert. Darum führe ich hier mein Diner an. Ich aß einen sog. Räuberbraten – Stücke von Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, gewürzt mit Paprika und an Stäben über dem Feuer gebraten, in der einfachen Weise wie das Londoner »Katzenfutter«. Der Wein war weißer Mediasch, der ein eigentümliches Stechen auf der Zunge erzeugt, das aber nicht unangenehm wirkt. Ich trank davon zwei Gläser, sonst nichts.
Als wir abfuhren, machte die ganze Versammlung vor dem Wirtshaus, die unterdessen beträchtlich angewachsen war, das Zeichen des Kreuzes und streckte dann zwei gespreizte Finger gegen mich aus. Nur mit Schwierigkeiten erfuhr ich von einem meiner Reisegefährten, was das zu bedeuten habe. Erst wollte er nicht mit der Sprache heraus, als ich ihm aber sagte, dass ich Engländer sei, erklärte er mir, das sei ein Zauber oder Schutz gegen den bösen Blick. Das war nicht sehr erfreulich für mich, der ich eben an einen unbekannten Ort zu einem unbekannten Mann fahren wollte; aber alle erschienen so gutherzig, so besorgt und so sympathisch, dass ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren konnte. Ich werde den letzten Ausblick auf den Wirtsgarten und die sich um den Torweg drängende malerische Menge nicht vergessen; wie sie sich bekreuzigten, im Hintergrund das reiche Gezweige der Oleander und Orangenbäume, die in grünen Kübeln in der Mitte des Hofes standen. Dann ließ unser Wagenlenker seine lange Peitsche über die Köpfe der vier kleinen Pferdchen sausen, die davonstürmten; so traten wir unsere Reise an.
Ich verlor in der Schönheit der Gegend, durch die wir fuhren, bald die Gespensterfurcht und die Erinnerung daran. Allerdings, wenn ich die Sprache meiner Reisegenossen, oder vielmehr ihre Sprachen, verstanden hätte, wäre ich die unangenehmen Eindrücke wohl nicht so schnell losgeworden. Vor uns lag ein grünes, sanft ansteigendes Land, voll von Wäldern und Gebüsch, da und dort ein steiler Hügel, gekrönt von einer Baumgruppe oder von Bauernhäusern, die ihre hellen Giebelseiten der Straße zuwandten. Alles in reichster Blüte, Apfel-, Pflaumen-, Kirsch- und Birnbäume, und als wir näher herankamen, sahen wir auch den grünen Rasen unter ihnen gesprenkelt von herabgefallenen Blütenblättern. Durch diese liebliche Hügellandschaft, die man das Mittelland nennt, zog sich die Straße und verlor sich weit in der Ferne im Grünen oder wurde von Fichtenwäldern aufgenommen, deren Spitzen wie dunkelgrüne Zungen da und dort an den Hügeln hinabliefen. Der Weg war holperig, trotzdem flogen wir mit fiebernder Hast darüber hin. Ich konnte mir diese Hast nicht erklären, aber der Fuhrmann war scheinbar darauf erpicht, ohne jeglichen Zeitverlust den Borgo-Prund zu erreichen. Man sagte mir, dass diese Straße im Sommer ausgezeichnet sei, dass man sie aber jetzt noch nicht von den Schäden wiederhergestellt habe, die ihr der Winter zugefügt. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich scheinbar von den übrigen Straßen in den Karpaten, die, einer alten Tradition entsprechend, nicht in allzu großer Ordnung gehalten werden. Von alters her lassen die Hospodare nichts daran ausbessern, um nicht bei den Türken den Glauben zu erwecken, man wolle Truppen gegen sie marschieren lassen, und so den nur unter der Asche glimmenden Funken des Krieges zum Auflodern zu bringen.
Jenseits der grünen schwellenden Hügel des Mittellandes erheben sich mächtige Waldhänge bis zu den himmelanstrebenden Schroffen der Karpaten. Rechts und links von uns stiegen sie an; die Abendsonne ruhte voll auf ihnen und brachte all die herrlichen Farben dieses entzückenden Landes zur Geltung; tiefes Blau und Purpur in den Schatten, Grün und Braun da, wo Gras und Fels sich trafen; endlose Perspektiven auf gezacktes Gestein und spitze Klippen bis dahin, wo die Schneehäupter majestätisch in die Lüfte ragten. Durch mächtige Risse im Gestein sah man da und dort im Licht der sinkenden Sonne den weißen Gischt fallender Wasser. Einer meiner Gefährten berührte meinen Arm, als wir gerade einen Hügel umfuhren und sich der Ausblick auf einen ungeheuren schneebedeckten Gipfel öffnete, der dann immer uns gerade gegenüber zu liegen schien, als wir die gewundene Straße hinaufklommen:
»Sieh, Herr, Isten Szek!« »Gottes Sitz«, und er bekreuzigte sich andachtsvoll. Während wir den endlosen Weg dahin fuhren und die Sonne immer tiefer und tiefer sank, begannen die Schatten rings um uns herauf zu kriechen. Auf der firnbedeckten Bergspitze lag noch der Widerschein der scheidenden Sonne und sie erglühte in einem feinen, kalten Blassrot. Zuweilen trafen wir Cszeks oder Slowaken in malerischer Kleidung, und ich konnte bemerken, dass der Kropf hier ein sehr verbreitetes Übel ist. Am Wegrand standen viele Kreuze, und wenn wir ein solches passierten, bekreuzigten sich alle meine Wagengenossen. Hier und dort kniete ein Bauer oder eine Bäuerin vor einer Kapelle; sie sahen sich gar nicht nach uns um; so tief waren sie in Andacht und Hingebung versunken, dass sie weder Augen noch Ohren für die sie umgebende Welt hatten. Viel Neues gab es für mich zu sehen, z. B. Heuschober auf Bäumen und zuweilen herrliche Birkengruppen, deren weiße Stämme wie Silber durch das saftige Grün leuchteten. Manchmal begegneten wir einem Leiterwagen – dem landesüblichen Bauerngefährt, das lang und schlangenartig gegliedert, besonders geeignet schien, sich den Wegen anzupassen. Auf ihnen saßen ganze Gruppen heimkehrender Bauern, die Cszeks mit weißen, die Slowaken mit gefärbten Lammpelzen; die letzteren trugen lanzenartige Stäbe, deren Ende in eine Axt auslief. Als der Abend einfiel, wurde es sehr kalt, und die wachsende Dämmerung schien die unbestimmten Umrisse der Eichen, Buchen und Fichten in tiefes Dunkel zu versenken; in den Tälern aber, die tief unter uns sich dahinzogen, hoben sich noch einzelne Föhren scharf von ihrem Hintergründe, altem Schnee, ab. Einige Male, als die Straße in Fichtengehölze eintrat, deren Dunkel sich dicht um uns zu legen schien, erzeugten weißliche Flecke, die zwischen den Bäumen flatterten, in uns eine halb furchtsame, halb feierliche Stimmung. Schon bei Sonnenuntergang waren ununterbrochen seltsam geformte, gespenstische Nebelfetzen durch die Täler der Karpaten hin gefegt, und die daran geknüpften Gedanken und wilden Phantasien spannen sich nun weiter. Die Steigungen waren zum Teil so steil, dass die Pferde trotz der Eile des Postillions nur langsam vorwärts kamen. Ich wollte absteigen und zu Fuß gehen, wie wir es zu Hause tun, aber der Wagenlenker wollte davon nichts hören. »Nein, nein«, sagte er »Sie dürfen hier nicht gehen, die Hunde sind zu böse«, und dann fügte er hinzu: »Sie werden heute noch genug solcher Dinge haben, ehe Sie zu Bett gehen«; es sollte dies wohl eine Art grimmigen Scherzes sein, denn er sah umher, um sich des zustimmenden Lächelns der Übrigen zu versichern. Der einzige kurze Halt, den er einlegte, diente zum Anzünden der Wagenlaternen.
Als es ganz dunkel geworden war, schien sich eine gewisse Erregung der Passagiere zu bemächtigen; einer nach dem andern sprach auf den Fuhrmann ein, gleichsam als wollten sie ihn zu noch größerer Eile anspornen. Er trieb die Pferde unbarmherzig mit der Peitsche an und zwang sie durch wilde Zurufe zu erhöhter Kraftanspannung. Ich konnte in der Dunkelheit einen grauweißen Fleck über uns bemerken, als wenn ein Spalt in den Felswänden wäre. Die Aufregung der Passagiere steigerte sich immer mehr; die gebrechliche Kutsche hüpfte in ihren ledernen Federn und schwankte wie ein Boot auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Der Weg wurde ebener und wir flogen nur so dahin. Dann schienen die Berge näher heranzutreten und förmlich über uns zusammenzurücken; wir traten in den Borgo-Pass. Einzelne der Mitreisenden gaben mir kleine Geschenke, die sie mir mit einem Ernst aufdrängten, der eine Zurückweisung unmöglich machte. Es waren ohne Zweifel seltsame Dinge, aber jedes wurde in der guten Absicht mit einem freundlichen Wort und mit einem Segenswunsch gegeben und mit jenen gefahrbeschwörenden Gesten, die ich schon vor dem Hotel in Bistritz gesehen hatte – dem Bekreuzen und dem Zauber gegen den bösen Blick. In fliegender Eile fuhren wir weiter; der Fuhrmann lehnte sich vor, die Fahrgäste starrten, die Ellbogen auf den Wagenbord gestützt, gespannt hinaus in das nächtige Dunkel. Es war offenkundig, dass etwas sehr Aufregendes geschah oder erwartet wurde; aber obgleich ich jeden meiner Reisegefährten fragte, keiner gab mir nur die kleinste Erklärung. Dieser Zustand der Aufregung hielt einige Zeit an; schließlich konnten wir die östliche Pass-Öffnung erkennen. Dunkle drohende Wolken flogen über unseren Häuptern dahin und in der Luft lag eine schwere, drückende Schwüle. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären und als träten wir nun in die der Gewitter. Ich hielt nun selbst Ausschau nach dem Gefährt, das mich zum Grafen bringen sollte, jeden Augenblick erwartete ich, Wagenlaternen aufblitzen zu sehen, aber alles blieb dunkel. Das einzige Licht verbreiteten unsere Lampen, in deren flackerndem Scheine der Dampf von unseren warmgelaufenen Pferdchen wie eine weiße Wolke aufstieg. Etwas heller lag vor uns der sandige Weg, aber nichts zeigte an, dass sich auf ihm ein Wagen nähere. Die Fahrgäste seufzten erleichtert auf, was mein eigenes Missbehagen Lügen zu strafen schien. Ich dachte schon darüber nach, was nun zu tun wäre, als der Fuhrmann auf die Uhr sehend zu den anderen etwas sagte; so leise und ruhig, dass ich es kaum hören konnte. Ich meinte aber dennoch verstanden zu haben: »Eine Stunde vor der Zeit«; dann wandte er sich zu mir und sprach in einem Deutsch, noch schlechter als meines:
»Kein Wagen ist hier. Der Herr werden demnach gar nicht erwartet. Sie fahren nun am besten mit uns zur Bukowina und kehren dann morgen oder übermorgen zurück; besser noch übermorgen.« Während er sprach, begannen seine Pferdchen zu wiehern und zu schnauben und wild auszuschlagen, so dass der Fuhrmann sie halten musste. Dann fuhr eine Kalesche mit vier Pferden von hinten an uns heran und hielt auf gleicher Höhe an, während die Bauern in lautes Geschrei ausbrachen und sich bekreuzigten. Beim Schein der Laternen konnte ich erkennen, dass die Pferde kohlschwarz und wundervoll gebaut waren. Die Zügel führte ein hochgewachsener Mann mit braunem Vollbart und einem großen schwarzen Hut, der sein Gesicht vor uns verbergen zu sollen schien. Als er sich zu uns wandte, konnte ich ein paar funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen. Er sagte zum Postillion:
»Du bist sehr früh daran, mein Freund.« Der Mann stammelte verlegen:
»Der englische Herr hatte große Eile«, worauf der Fremde erwiderte:
»Weil du ihn, wie ich vermute, zur Bukowina fahren wolltest. Du kannst mich nicht täuschen, mein Bester, ich weiß zu viel und meine Rosse sind zu flink.« Während er das sagte, lächelte er, und der Schein der Laterne fiel auf einen grausam aussehenden Mund mit sehr roten Lippen und scharfen, elfenbeinweißen Zähnen. Einer meiner Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn die Worte aus Bürgers »Lenore« zu:
»Denn die Toten reiten schnell.«
Der seltsame Kutscher hatte offenbar die Worte gehört, denn er sah lächelnd den Sprecher an. Dieser wandte sein Gesicht ab, indem er zwei Finger ausspreizte und das Kreuz schlug.
»Gib mir das Gepäck des Herrn«, sagte der Kutscher, und mit außerordentlicher Geschwindigkeit wurden meine Koffer abgeladen und auf der Kalesche untergebracht. Ich stieg dann auf der Seite des Postwagens aus, wo die Kalesche stand, wobei mir der fremde Kutscher half, indem er meinen Arm mit stahlhartem Griff umspannte; seine Stärke muss beträchtlich sein. Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Zügel an, die Pferde wendeten und jagten der finsteren Pass-Enge zu. Als ich zurücksah, bemerkte ich noch den Dampf der Pferde, der im Laternenschein emporstieg, und dunkel sich davon abhebend die sich bekreuzenden Gestalten meiner Reisegenossen. Ich hörte noch, wie der Fuhrmann die Peitsche klatschen ließ und den Pferden etwas zurief; dann flogen sie dahin, der Bukowina zu.
Als sie im Dunkel verschwunden waren, überlief mich ein eisiger Schauer, und das Gefühl der Verlassenheit kam über mich.
Der Kutscher legte mir einen Mantel um die Schultern und eine Decke um die Knie und sagte in fließendem Deutsch zu mir:
»Die Nacht ist kalt, und mein Herr, der Graf, hat mir geboten, besonders auf Sie Acht zu geben; hier unter dem Sitz steht eine Flasche Slivovitz (der Pflaumenbranntwein des Landes, auch bekannt als Slibowitz), falls Sie seiner bedürfen sollten.« Ich nahm nichts davon, aber es war mir immerhin eine Beruhigung zu wissen, dass so für mich gesorgt war. Ich hatte ein eigentümliches Gefühl, welches aber nicht als Furcht bezeichnet werden konnte. Wenn allerdings irgendeine Möglichkeit gewesen wäre, hätte ich lieber auf diese nächtliche Fahrt verzichtet. Der Wagen fuhr in scharfem Tempo dahin, dann machten wir eine vollkommene Kehrtwendung und fuhren wieder in entgegengesetzter Richtung. Ich hatte den Eindruck, als seien wir jedoch noch auf der gleichen Straße; ich merkte mir einige besonders auffallende Punkte und sah, dass ich mich nicht täuschte. Ich hätte gerne den Kutscher gefragt, was das zu bedeuten habe, tat es aber nicht, weil ich mir sagte, dass in meiner Situation ein Protest zwecklos gewesen wäre, wenn er wirklich etwas gegen mich im Schilde führte. Neugierig war ich aber, welche Zeit wir hätten; ich zündete ein Streichholz an und sah bei seinem Scheine nach meiner Uhr; es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Es erfasste mich ein jäher Schreck; vermutlich hatte mich der allgemeine Aberglaube bezüglich der Mitternacht und meine jüngsten Erfahrungen etwas nervös gemacht. Ein peinliches Gefühl der Erwartung überkam mich.
Dann begann tief unten in einem Bauernhof an der Straße ein Hund zu heulen, ein langes, todestrauriges Weinen, wie vor Angst. Ein zweiter antwortete, und so pflanzte sich das fort, bis, getragen vom Nachtwind, der nun leise durch den Pass säuselte, ein wildes Heulen vernehmbar war. Es schien aus der ganzen Gegend zu kommen, soweit die Einbildung in den Schauern der Nacht reichte. Bei den ersten Lauten scheuten und schnaubten die Pferde, aber der Kutscher sprach leise auf sie ein und sie wurden wieder ruhiger, wenn sie auch zitterten und schwitzten, wie nach der Flucht vor plötzlicher Gefahr. Nun begann, noch weit entfernt, auf den Bergen zu beiden Seiten der Straße ein lauteres, heller klingendes Geheul – das von Wölfen – welches die Pferde und auch mich in hohem Maße erschreckte. Ich war gesonnen, aus dem Wagen zu springen, während sie wieder schnaubten und wie toll ausschlugen, so dass der Kutscher seine ganze Kraft anwenden musste, um sie zu halten. In wenigen Minuten hatten sich meine Ohren an die Laute gewöhnt, und auch die Pferde waren wenigstens so weit beruhigt, dass der Kutscher absteigen und sich vor sie hinstellen konnte. Er streichelte und liebkoste die Tiere und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es die Pferde-Dresseure machen; das hatte eine gute Wirkung, denn unter seinen Zärtlichkeiten wurden sie wieder fügsamer, obgleich sie immer noch zitterten. Der Kutscher stieg auf seinen Bock und fuhr mit straffen Zügeln in flottem Tempo weiter. Dann bog er plötzlich quer über die Straße scharf auf einen sehr engen Weg nach rechts ab.
Bald waren wir unter Bäumen, deren dicht verschlungenes Geäst förmlich einen Tunnel über uns bildete, bald stiegen schroffe Felsen zu beiden Seiten kühn in die Höhe. Trotzdem wir geschützt waren, konnten wir den stärker werdenden Nachtwind hören; es pfiff und winselte durch die Felsen und klatschend und krachend schlugen die Zweige der Bäume zusammen. Es wurde immer kälter und kälter und bald fiel auch ein leichter Schnee, der uns und unsere Umgebung in einen weißen Überzug hüllte. Der scharfe Wind trug uns aus immer weiterer Ferne das Heulen der Hunde zu. Dagegen klang das Geheul der Wölfe näher und näher, gleichsam als wenn sie uns von allen Seiten umringten. Ich war sehr erschreckt und die Pferde teilten meine Furcht; der Kutscher aber schien nicht im Mindesten beunruhigt. Er wandte den Kopf aufmerksam zur Rechten und zur Linken, aber ich konnte nichts bemerken.
Plötzlich, dicht zur Linken, tauchte eine flackernde blaue Flamme aus dem Dunkel auf. Der Kutscher sah sie zu gleicher Zeit; er hielt die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Finsternis. Ich wusste nicht, was tun, umso mehr als das Geheul der Wölfe immer näher kam; aber während ich noch überlegte, kehrte unversehens der Kutscher zurück, nahm wortlos seinen Sitz wieder ein und weiter ging die Fahrt. Ich muss in Schlaf gesunken und im Traum von diesem Zwischenfall verfolgt worden sein, denn er wiederholte sich unzählige Male. Wenn ich daran denke, ist es mir wie ein grauenhaftes Alpdrücken. Auf einmal erschien eine Flamme so nahe bei uns, dass ich sogar in der Dunkelheit, die uns umgab, die heftige Bewegung des Kutschers erkennen konnte. Er schritt rasch auf die Flamme los – sie muss sehr schwach gewesen sein, denn sie erleuchtete nicht einmal die allernächste Umgebung – und legte einige vom Weg aufgeraffte Steine zu einer besonderen Figur. Einer eigenartigen optischen Erscheinung muss ich hierbei gedenken; als der Kutscher zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie keineswegs, ich sah sie vielmehr gespenstisch weiterflackern. Das entsetzte mich, aber da die Erscheinung nur kurze Zeit anhielt, führte ich sie auf eine Sinnestäuschung infolge des langen Hinausstarrens in die Nacht zurück. Dann verschwanden rasch die blauen Lichter und wir sausten durch die Finsternis dahin, rings um uns das Geheul der Wölfe, die uns in einem weiten Kreise zu verfolgen schienen.
Einmal wieder begab sich der Kutscher weiter von der Straße weg, als er es bisher getan, und während seiner Abwesenheit begannen die Pferde ärger als je zu zittern und zu schnauben und vor Angst zu stöhnen. Ich konnte mir die Ursache nicht erklären, denn das Geheul der Wölfe hatte aufgehört. Da erschien der Mond, der durch die düsteren Wolken dahinjagte, über dem gezackten Kamm eines fichtenbewachsenen Felsbrockens, und bei seinem fahlen Licht erblickte ich um uns einen Ring von Wölfen mit weißen Zähnen, roten heraushängenden Zungen, sehnigen Beinen und zottigem Fell. Ihr grimmiges Schweigen war viel unheimlicher als ihr Geheul. Ich war wie gelähmt vor Schreck. Ein solches Gefühl hat man nur, wenn man sich unvermittelt einer ungeheuren Gefahr gegenübersieht.
Da plötzlich begannen die Wölfe wieder aufzuheulen, als wenn das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie ausübe. Die Pferde schlugen herum, stöhnten und sahen mit ihren rollenden Augen so hilflos um sich, dass es einem ganz wehe tat; aber der lebendige Ring des Verderbens umgab sie unentrinnbar von allen Seiten. Ich rief nach dem Kutscher, denn der einzige Ausweg schien mir, den Ring mit seiner Hilfe zu durchbrechen. Ich schrie und trommelte mit den Fäusten gegen den Wagenschlag, um so die Bestien fernzuhalten und ihm die Möglichkeit zu geben, die Kalesche zu erreichen. Was er tat, weiß ich nicht, aber ich hörte auf einmal den befehlenden Ton seiner Stimme und sah ihn dann auf dem Weg stehen. Er schwenkte seine langen Arme, gleichsam als wolle er ein störendes Hindernis beiseite räumen, und die Wölfe wichen mehr zurück. Dann schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond und wir waren wieder im Finstern.
Als ich das Dunkel mit den Augen zu durchdringen vermochte, kletterte der Kutscher gerade auf den Bock; die Wölfe waren wie weggezaubert. Das alles war so seltsam und ungewöhnlich, dass eine schreckliche Furcht über mich kam; ich wagte nicht zu sprechen oder mich zu regen. Die Zeit schien mir endlos, da wir unsere Fahrt fortsetzten, nun in völligem Dunkel, denn die eilenden Wolken verdeckten den Mond. Meist ging es bergauf, zuweilen kamen kurze scharfe Senkungen. Plötzlich kam es mir zum Bewusstsein, dass der Kutscher den Wagen in den Hof eines großen, ruinenhaften Gebäudes lenkte, aus dessen weiten schwarzen Fenstern nicht ein einziger Lichtstrahl kam und dessen zerbröckelnde Zinnen sich wie eine gezackte Linie von dem nunmehr wieder mondhellen Himmel abhoben.
Jonathan Harkers Tagebuch
(Fortsetzung)
5. Mai. – Ich muss geschlafen haben; denn wenn ich wach gewesen wäre, müsste es mir doch aufgefallen sein, dass wir uns einem so seltsamen Platz näherten. In der Dunkelheit schien der Schlosshof von beträchtlicher Größe; dass mehrere Wege von ihm aus unter mächtige runde Torwege führten, ließ ihn vielleicht noch größer erscheinen, als er wirklich war. Ich habe ihn bis heute noch nicht bei Tage gesehen.
Als der Wagen hielt, stieg der Kutscher ab und reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich musste wiederum die Stärke bewundern, die in dieser Hand lag; sie schien wie eine Stahlzange, die meine Hand leicht zerdrückt hätte, wenn der Besitzer wollte. Dann nahm er meine Koffer heraus und stellte sie neben mich auf den Boden. Ich befand mich vor einem großen, alten Tor, das mit Eisen beschlagen und in einen stark ausladenden Torbogen von massivem Stein eingelassen war. Ich konnte bei dem zweifelhaften Licht erkennen, dass der Stein roh behauen war, dass aber die Bildereien von Zeit und Wetter schon stark gelitten hatten. Als alles ausgeladen war, schwang sich der Kutscher wieder auf den Bock, zog die Zügel an und verschwand dann mit Wagen und Pferden in einem der mächtigen schwarzen Torbogen.
Ich blieb schweigend auf meinem Platz stehen, denn ich wusste nicht, was tun. Von Glocke oder Klopfer keine Spur; durch diese drohenden Mauern und dunklen Fensterhöhlen hätte auch meine Stimme keinen Eingang gefunden. Die Zeit, die ich zum Warten verurteilt war, schien mir endlos und ich merkte, wie Furcht und Zweifel in mir aufstiegen. Wohin war ich geraten und unter was für Leute? Auf welches unheimliche Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? War das ein normaler Fall im Leben eines Anwaltschreibers, der hinausgeschickt wurde, um über den Ankauf eines Londoner Grundbesitzes durch einen Fremden mit diesem zu unterhandeln? Übrigens »Anwaltschreiber« – Mina hört das nicht gerne. Aber Anwalt! – denn eben als ich London verlassen wollte, hatte ich noch in Erfahrung gebracht, dass ich mein Examen bestanden hatte; ich bin also nun wohlbestallter Anwalt. Ich begann meine Augen zu reiben und mich selbst zu kneifen, um zu sehen, ob ich denn wirklich wach wäre. Es schien mir alles wie ein hässlicher Traum und ich erwartete, plötzlich aufzuwachen und zu Hause zu liegen und durch die Fenster in den fahlen Schein des Morgens zu starren, wie es mir manchmal in Zuständen der Überarbeitung passiert war. Aber mein Fleisch empfand den kneifenden Schmerz und meine Augen sahen klar. Ich war also wirklich wach und mitten in den Karpaten. Alles, was mir zu tun übrigblieb, war, mich zu gedulden und den Anbruch des Tages zu erwarten.
Als ich eben zu diesem Entschluss gelangt war, hörte ich einen schweren Schritt innerhalb des Tores und sah durch die Ritzen ein Licht sich nähern. Dann vernahm ich das Rasseln von Ketten und das Dröhnen massiver Türriegel, die zurückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem scheinbar selten benutzten Schlüsselloch, und das große Tor ging auf.
Innerhalb desselben stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und schwarz gekleidet von Kopf bis zu den Füßen; kein heller Fleck war an ihm zu sehen. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe, auf der ohne Zylinder oder Schirm eine Flamme brannte, sie warf lange, zitternde Schatten in der Zugluft des offenen Tores. Der alte Mann lud mich durch eine verbindliche Geste mit der Rechten ein, näher zu treten und sagte in vorzüglichem Englisch, aber mit einem fremdartigen Akzent:
»Willkommen hier in meinem Haus! Treten Sie frei und freiwillig herein!« Er machte keine Bewegung, um mir entgegenzugehen, sondern stand starr wie eine Statue, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwandelt. In dem Augenblick aber, da ich die Schwelle überschritten hatte, trat er rasch auf mich zu, ergriff meine Hand und drückte sie dermaßen, dass ich zusammenzuckte; dabei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die eines Toten als eines Lebenden. Dann sagte er:
»Willkommen in meinem Haus. Kommen Sie frei herein. Gehen Sie gesund wieder und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!« Die Stärke des Handdruckes erinnerte mich dermaßen an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, dass ich einen Moment glaubte, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, seien ein und dieselbe Person; ich fragte also, um sicherzugehen: »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte:
»Ich bin Dracula und begrüße Sie, Herr Harker, in meinem Haus. Kommen Sie herein, Sie bedürfen des Essens und der Ruhe, die Nachtluft ist recht kühl.« Während er so sprach, stellte er die Lampe auf eine kleine Konsole an der Wand und nahm mein Gepäck; er hatte es hereingetragen, noch ehe ich ihn daran hindern konnte. Ich erhob Einspruch, er aber sagte entschieden:
»Bitte, Sie sind mein Gast. Es ist schon spät und meine Dienerschaft ist nicht mehr verfügbar. Lassen Sie also mich für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Er trug tatsächlich meine Koffer durch den Torweg, dann eine steile Wendeltreppe hinauf, schließlich durch einen langen Korridor, auf dessen Steinfliesen unsere Schritte dumpf widerhallten. Am Ende dieses Korridors öffnete er eine schwere Tür, und ich sah auf ein hellerleuchtetes Zimmer, in dem ein gedeckter Tisch zum Abendbrot bereitstand, während in dem mächtigen Kamin ein großes Holzfeuer flammte und knisterte. Der Graf blieb stehen, stellte mein Gepäck nieder und zog die Tür hinter sich zu; dann schritt er durch das Zimmer, öffnete eine zweite Tür, die in ein kleines achteckiges, scheinbar fensterloses Gemach führte, das nur von einer einzelnen Lampe erleuchtet wurde. Jenseits desselben öffnete er eine weitere Tür und bat mich einzutreten. Es bot sich mir ein willkommener Anblick: ein großes, gut erleuchtetes Schlafzimmer, das von einem umfangreichen Kamin, in dem ebenfalls ein Holzfeuer laut prasselnd brannte, angenehm durchwärmt wurde. Der Graf brachte mein Gepäck und sagte, die Tür zuziehend: »Sie werden nach Ihrer Reise sich waschen und Toilette machen wollen. Ich denke, Sie finden alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, dann kommen Sie bitte in das andere Zimmer, wo das Abendbrot Ihrer wartet.«
Das Licht, die Wärme und des Grafen herzlicher Willkommensgruß hatten alle meine Zweifel und Befürchtungen zerstreut. Nachdem ich so wieder meine normale geistige Verfassung erlangt hatte, fühlte ich einen quälenden Hunger. Schnell machte ich mich zurecht und ging in das andere Zimmer.
Das Souper war schon angerichtet. Mein Gastfreund stand an einer Seite des Kamins, an das Steingesims gelehnt, und lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, Platz zu nehmen.
»Ich bitte, setzen Sie sich und essen Sie, wie es Ihnen passt. Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich mich nicht beteilige, denn diniert habe ich schon und zu soupieren bin ich nicht gewöhnt.«
Ich händigte dem Grafen den versiegelten Brief ein, den Herr Hawkins mir für ihn übergeben hatte. Er öffnete ihn und las ihn mit ernster Miene durch; dann gab er mir ihn mit freundlichem Lächeln zurück. Besonders eine Stelle aus dem Brief bereitete mir besondere Freude:
»Ich bedaure sehr, dass ein Anfall von Gicht, mit welcher ich ja schon immer zu schaffen hatte, mir unbedingt verbot, eine größere Reise zu machen und Sie zu besuchen. Aber es macht mir Freude, Ihnen einen Stellvertreter senden zu können, der mein weitgehendstes Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, energisch, talentiert und durchaus zuverlässig. Er ist in meinen Diensten aufgewachsen und sehr diskret. Er steht jederzeit während seines Aufenthaltes zu Ihrer Verfügung und ist ermächtigt, Aufträge jeder Art von Ihnen entgegenzunehmen.«
Der Graf trat selbst an den Tisch heran und hob den Deckel von einer Terrine, in der ein prächtiges gebratenes Huhn lag. Dieses, mit etwas Käse und Salat, sowie eine Flasche alter Tokaier, von dem ich zwei Gläser trank, bildeten mein Abendbrot. Während ich aß, erkundigte sich der Graf über meine Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach alle meine Erlebnisse.
Unterdessen hatte ich die Mahlzeit beendet und auf Wunsch des Hausherrn einen Stuhl ans Feuer gezogen. Ich zündete mir eine Zigarre an, die er mir anbot, indem er sich zugleich entschuldigte, da er selbst Nichtraucher sei. Ich fand nun Gelegenheit, ihn etwas zu beobachten, und ich muss sagen, er besitzt eine sehr ausdrucksvolle Physiognomie.
Sein Gesicht war ziemlich – eigentlich sogar sehr – raubvogelartig; ein schmaler, scharf gebogener Nasenrücken und auffallend geformte Nüstern. Die Stirn war hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, im Übrigen aber voll. Die Augenbrauen waren dicht und wuchsen über die Nase zusammen; sie waren sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, soweit ich ihn unter dem starken Schnurrbart sehen konnte, sah hart und ziemlich grausam aus; die Zähne waren scharf und weiß und ragten über die Lippen vor, deren auffallende Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann in diesen Jahren bekundeten. Die Augen waren farblos, das Kinn breit und fest, die Wangen schmal, aber noch straff. Der allgemeine Eindruck war der einer außerordentlichen Blässe.
Im Schein des Kaminfeuers hatte ich auch seine Hände bemerkt, die auf seinen Knien lagen; ich hielt sie für ziemlich zart und schmal. Nun, da ich sie in der Nähe sah, bemerkte ich, dass sie sehr grob aussahen – breit, mit eckigen Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm Haare auf der Handfläche. Die Nägel waren lang und dünn, zu nadelscharfen Spitzen geschnitten. Als der Graf sich einmal über mich neigte und diese Hände mich berührten, konnte ich mich eines Grauens nicht erwehren. Möglicherweise war auch sein Atem unrein, denn es überkam mich ein Gefühl der Übelkeit, das ich mit aller Willenskraft nicht zu verbergen vermochte. Der Graf bemerkte dies scheinbar und zog sich zurück; mit einem grimmigen Lächeln, das seine Zähne noch mehr hervortreten ließ, nahm er wieder seinen Platz am Kamin ein. Wir schwiegen eine Weile, und als ich gegen das Fenster sah, bemerkte ich die ersten leisen Anzeichen des kommenden Tages. Es lag eine beängstigende Stille über allem; doch als ich schärfer aufhorchte, war es mir, als vernähme ich tief unten in den Tälern das Heulen vieler Wölfe. Mit funkelnden Augen sagte der Graf:
»Hören Sie die Kinder der Nacht? Was für Musik sie machen!« Es mochte ihm in meinem Gesichtsausdruck etwas aufgefallen sein, denn er fügte rasch hinzu:
»Ja, mein Herr, Ihr Stadtbewohner seid eben nicht imstande, einem Jäger nachzufühlen.«
Dann stand er auf und sagte:
»Übrigens werden Sie müde sein. Ihr Bett ist bereit, und morgen können Sie nach Belieben ausschlafen. Ich habe bis Abend auswärts zu tun; schlafen Sie also wohl und träumen Sie gut.« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Zimmer und ich trat in mein Schlafgemach.
Ein Meer gemischter Gefühle umbrandete mich; ich zweifle; ich fürchte; ich denke an seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele gar nicht einzugestehen wage. Gott schütze mich, und sei es auch nur um derer willen, die mir teuer sind.
7. Mai. – Es ist wieder früher Morgen, aber ich habe die letzten vierundzwanzig Stunden wenigstens ausgeruht und mir wohl sein lassen. Ich schlief dann noch bis spät in den Tag hinein und erwachte von selbst. Als ich mich angekleidet hatte, begab ich mich in das Zimmer, wo ich zu Abend gegessen, und fand ein kaltes Frühstück bereit; der Kaffee war in einer Kanne auf dem Kamin heißgestellt. Auf dem Tisch lag ein Kärtchen, auf dem die Worte standen:
»Ich muss leider noch einige Zeit fern bleiben. Warten Sie nicht auf mich. D.«
So setzte ich mich denn hin und ließ mir die Mahlzeit munden. Als ich fertig war, suchte ich nach einer Glocke, um von der Dienerschaft abräumen zu lassen; nirgends konnte ich etwas dergleichen entdecken. Das war allerdings merkwürdig in einem solchen Haus, das nach allem, was mich umgab, den Eindruck des größten Reichtums erweckte. Das Tafelservice ist von Gold und so wunderschön gearbeitet, dass es einen geradezu unermesslichen Wert besitzen muss. Die Portieren, die Bezüge der Stühle und Sofas, die Vorhänge meines Bettes waren aus den kostbarsten Stoffen und müssen schon in der Zeit, wo sie angefertigt wurden, einen immensen Preis gekostet haben. Sie sind Jahrhunderte alt, dabei vorzüglich gehalten. Ich habe solche Dinge ja auch in Hampton Court gesehen, aber da waren sie zerrissen und abgenützt und von den Motten angefressen. In keinem der Zimmer ist ein Spiegel. Nicht einmal ein Toilettenspiegel über meinem Waschtisch, so dass ich meinen kleinen Handspiegel aus dem Koffer nehmen musste, um mich überhaupt rasieren und frisieren zu können. Ich habe bisher weder einen dienstbaren Geist gesehen, noch einen Laut gehört, außer dem Heulen der Wölfe um das Schloss. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, soll ich sie Frühstück oder Diner nennen, denn es war zwischen fünf und sechs Uhr, als ich sie einnahm – sah ich mich nach Lektüre um, denn ich wollte ohne Einverständnis des Grafen doch das Schloss nicht verlassen. Bücher, Zeitungen, sogar Schreibzeug fehlten in diesem Zimmer; ich öffnete deshalb eine Tür und befand mich in einer Art Bibliothek. Die Tür gegenüber der zu meinem Schlafzimmer wollte ich auch öffnen, fand sie aber verschlossen.
In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner größten Freude eine reiche Auswahl englischer Bücher, ganze Schränke voll, und gebundene Jahrgänge von Zeitungen und Zeitschriften. Lose Exemplare lagen auf dem Tisch in der Mitte des Raumes, keines aber war von neuerem Datum. Die Bücher hatten den mannigfaltigsten Inhalt – Geschichte, Geographie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege – alles über England, über englisches Leben, über englische Sitten und Gebräuche. Sogar Nachschlagewerke waren vorhanden, wie das Adressbuch von London, das »Rote« und das »Blaue« Buch, Withakers Almanach, die Armee- und Marine- und – mein Herz lachte dabei – die Juristenrangliste.
Während ich so in den Büchern herumstöberte, öffnete sich plötzlich die Tür und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, wie ich geschlafen hätte. Dann fuhr er fort:
»Es freut mich, dass Sie sich hier hereingefunden haben, denn ich bin sicher, dass Sie viel des Interessanten vorfinden werden. Diese Freunde hier« – er legte die Hand auf eines der Bücher – »sind mir wirklich gute Freunde geworden; sie haben mir schon seit Jahren, lange ehe ich den Entschluss fasste nach England zu gehen, viele, viele frohe Stunden bereitet. Durch sie habe ich Ihr großes, schönes England kennengelernt, und es kennen, heißt es lieben. Ich sehne mich danach, in den dichtbelebten Straßen Ihres ungeheuren London zu promenieren, mitten in dem Getriebe und Gewühle der Menschen, teilzunehmen an ihrem Leben, ihren Schicksalen, ihrem Sterben und an all dem, was eben London zu dem macht, was es ist. Aber leider kenne ich Ihre Sprache nur aus Büchern. Sie, mein Freund, werden natürlich sagen, ich spreche sie.«
»Aber, Graf«, rief ich aus, »Sie kennen und beherrschen das Englische durchaus.« Er verbeugte sich mit ernster Miene.
»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre schmeichelhafte Anerkennung; aber ich fürchte trotzdem, dass ich erst ein kleines Stück auf dem Weg vorgeschritten bin, den ich ganz zurückzulegen gedenke. Es ist ja richtig, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber ich weiß sie doch nicht zu verwenden.«
»Aber«, wiederholte ich, »Sie sprechen ausgezeichnet.«
»Nein, nein«, entgegnete er, »Ich weiß wohl, dass, wenn ich in Ihrem London lebe und spreche, es keinen gibt, der mir nicht sofort den Fremden anmerkt. Das ist mir nicht genug. Hier bin ich ein Adeliger, ein Boyar; das Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder im fremden Land ist man gar nichts, niemand kennt mich, und einen nicht kennen, heißt sich nicht um ihn kümmern. Ich will mich in nichts von den andern unterscheiden und nicht haben, dass jemand stehen bleibt, wenn er mich sieht, oder seine Rede einen Moment unterbricht, wenn er mich sprechen hört, und sagt: Aha, ein Fremder. Ich bin solange Herr gewesen, dass ich auch Herr bleiben will, wenigstens will ich nicht, dass jemand Herr über mich ist. Sie kommen zu mir nicht allein als Geschäftsträger meines Freundes Peter Hawkins in Exeter, um mir zu berichten, dass meine Geschäfte in London so oder so stehen. Sie werden hoffentlich eine Zeitlang hierbleiben, damit ich durch das Sprechen mit Ihnen den englischen Akzent erlerne; und ich bitte Sie, es mir zu sagen, wenn ich einen Fehler mache, und sei es der kleinste. Es tut mir leid, dass ich heute so lange wegbleiben musste; aber Sie werden es mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage, dass eine Menge wichtiger Geschäfte auf mir lastet.«
Ich versicherte ihm, dass ich gerne alles tun werde, was in meinen Kräften stünde, und fragte ihn, ob ich dieses Zimmer jederzeit betreten dürfe, wenn es mir beliebe. »Ja, gewiss«, sagte er und fügte hinzu:
»Sie können im Schloss hingehen, wo Sie wollen, außer dahin, wo die Türen verschlossen sind; dahin werden Sie ja übrigens auch gar nicht wollen. Es hat seine Gründe, dass die Dinge nun einmal so sind; und sähen Sie mit meinen Augen und hätten Sie meine Erfahrungen, so würden Sie mich noch leichter begreifen.« Ich erwiderte ihm, dass das ja ganz selbstverständlich sei, und er fuhr fort:
»Wir sind hier in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Unsere Wege sind nicht die Ihrigen und manches möchte Ihnen sonderbar erscheinen. Nach allem, was Sie gehört haben, wissen Sie ja ohnehin, dass sich hier seltsame Dinge ereignen.«
Dies führte zu einer ausgedehnten Konversation, und da ich bemerkte, dass er gerne plaudere, und sei es nur um des Plauderns willen, so fragte ich ihn vieles über die Dinge, die ich bisher gesehen oder sonst wie erfahren hatte. Zuweilen lenkte er das Gespräch ab oder unterbrach es, angeblich weil er nicht genau verstanden habe, im Allgemeinen aber antwortete er mir offen auf alle gestellten Fragen. Als dann die Zeit vorrückte und ich etwas kühner wurde, fragte ich ihn über einige der kuriosen Dinge der vergangenen Nacht, so u. a., warum der Kutscher den blauen Flämmchen nachgegangen sei. Ob es wirklich wahr wäre, dass diese Flämmchen vergrabene Schätze anzeigten? Er erklärte mir, dass allgemein der Glaube verbreitet sei, dass in einer bestimmten Nacht des Jahres – tatsächlich war es gerade die letzte Nacht, in der alle bösen Geister freie Bahn haben sollten – blaue Flammen sich an den Plätzen zeigen, wo ein verborgener Schatz liege.
»Solche Schätze liegen vergraben«, fuhr er fort, »bezüglich der Gegend, durch die Sie vergangene Nacht kamen, habe ich sogar nicht den geringsten Zweifel; denn es ist der Boden, auf dem Jahrhunderte lang Wallachen, Sachsen und Türken kämpften. Nun, da ist schwerlich auch nur ein Fußbreit Erde, der nicht Menschenblut getrunken hat, von Freund und Feind. Das waren böse Zeiten, als die Horden der Österreicher und Ungarn sengend herankamen und die Eingeborenen sich ihnen entgegenstellten – Männer und Frauen, Greise und Kinder – und ihnen in den Felspässen auflauerten, um durch künstliche Lawinen das Verderben in die Massen der Feinde zu tragen. Wenn dann der Eindringling dennoch Herr wurde, so fand er nichts mehr vor; denn was man besaß, hatte man der heimischen Scholle anvertraut.«
»Aber«, sagte ich, »wie kommt es denn, dass sie so lange nicht gehoben wurden, wenn doch sichere Anzeichen vorhanden sind und man sich nur die kleine Mühe zu machen hätte, den Schätzen nachzugraben?« Der Graf lächelte; dabei zogen sich seine Oberlippen eigentümlich über das Zahnfleisch zurück, dass die langen, scharfen Hundezähne hervortraten. Er antwortete:
»Weil unsere Bauern feige und dumm sind. Diese Flämmchen erscheinen doch nur in einer einzigen Nacht, und in dieser Nacht geht niemand, der nicht muss, aus seinem Haus. Selbst wenn er es wagte, es würde doch zu nichts führen. Und angenommen, er merkt sich die Plätze, wo er Lichter sieht; am nächsten Tag hat er nicht mehr den geringsten Anhaltspunkt, um sein Werk zu beginnen. Ich getraue mir zu schwören, dass auch Sie keinen der Plätze mehr finden würden.«
»Da haben Sie ganz recht«, sagte ich darauf, »nur die Toten könnten uns sagen, wo nach den Schätzen zu graben wäre.« Sogleich schlug er ein anderes Thema an.
»Bitte«, sagte er, »erzählen Sie mir von London und dem Haus, das Sie für mich ausgesucht haben.« Ich entschuldigte mich einen Augenblick und begab mich in mein Zimmer, um die nötigen Papiere aus meinem Koffer zu holen. Während ich diese etwas in Ordnung brachte, hörte ich aus dem Speisezimmer das Klappern von Porzellan und Silber, und als ich zurückkam, war der Tisch abgeräumt und die Lampe angezündet, es dunkelte schon stark. Auch im Bibliothekzimmer waren die Lampen angezündet und der Graf lag auf dem Sofa, wobei er Bradshaws Kursbuch von England durchblätterte. Als ich hereintrat, räumte er die Bücher und Zeitungen vom Tisch und vertiefte sich dann mit mir in Pläne, Urkunden und Zahlen aller Art. Er interessierte sich für alles und stellte mir Hunderte von Fragen über das Grundstück und seine Umgebung. Er hatte, wie es mir schien, bereits vorher alles sorgfältig studiert, was er über die Nachbarschaft in Erfahrung bringen konnte, denn er wusste eigentlich mehr als ich. Als ich ihm mein Erstaunen darüber zum Ausdruck brachte, sagte er:
»Allerdings, mein Bester, aber musste ich das nicht? Wenn ich dorthin komme, bin ich allein und mein Freund Harker Jonathan – verzeihen Sie, ich habe nach der Gewohnheit meiner Sprache den Familiennamen voran gesetzt – mein Freund Jonathan Harker wird mir nicht zur Seite stehen. Er wird in Exeter sein, viele Meilen von mir, und vielleicht mit meinem anderen Freund, Peter Hawkins, Gerichtsakten studieren. Ist das nicht so?«
Er vertiefte sich in das Problem des Ankaufs der Besitzung in Purfleet. Als ich ihn noch über verschiedene Details unterrichtet und er die notwendigen Papiere unterzeichnet hatte, schrieb er noch einen Brief, um ihn dem bereits fertigen an Herrn Hawkins beizulegen, und fragte mich dann, wie ich eigentlich auf diesen prächtigen Platz aufmerksam geworden wäre. Ich las ihm die Notizen vor, die ich mir seinerzeit in dieser Angelegenheit gemacht hatte und die ich wörtlich hierhersetze:
»In Purfleet, in einer Nebengasse, fand ich ein Grundstück, wie ich es gerade brauchte. Eine verwaschene Tafel zeigte an, dass es zu verkaufen wäre. Es ist umgeben von einer hohen, aus roh behauenen Steinen gefügten Mauer und seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr instand gehalten worden. Die verschlossenen Tore sind von schwerem Eichenholz mit verrosteten Eisenbeschlägen.«
»Das Grundstück heißt Carfax, ohne Zweifel eine Verstümmelung des alten quatre faces, denn das Haus ist würfelförmig, die Seiten nach den vier Himmelsrichtungen orientiert. Das Besitztum ist alles in allem zwanzig Morgen groß, vollkommen umschlossen von der oben erwähnten Steinmauer und mit Bäumen bestanden, was ihm einen gewissen düsteren Charakter verleiht. Außerdem befindet sich dort ein tiefer, dunkler Teich oder kleiner See, der offenbar von unterirdischen Quellen gespeist wird; das Wasser ist klar und fließt in einem hübsch gewundenen Bach ab. Das Haus ist sehr groß und weist alle Bauarten bis zum Mittelalter zurück auf; ein Teil ist von ungeheuer dickem Stein erbaut; die wenigen Fenster sind hoch über dem Boden angebracht und stark vergittert. Es sieht aus wie ein Gefängnis und steht in Zusammenhang mit einer alten Kirche oder Kapelle. Ich konnte nicht ins Innere derselben, da ich keinen Schlüssel besaß, der den Zutritt vom Haus aus ermöglicht hätte; aber ich machte mit meiner Kodak Aufnahmen von allen Seiten. Das Haus ist an die Kirche angebaut, aber in sehr weitläufiger Weise, und ich kann die Größe der Fläche, die es bedeckt, nur annähernd schätzen. In der Nachbarschaft befinden sich nur wenige Gebäude; eines davon ist sehr groß, erst kürzlich gebaut und als Privatirrenanstalt eingerichtet. Vom Grundstücke aus ist es nicht sichtbar.«
Als ich ihm diese Notizen vorgelesen hatte, sagte er:
»Es freut mich, dass es so groß und alt ist. Ich selbst stamme aus alter Familie, und das Wohnen in diesen neumodischen Häusern würde mich einfach umbringen. Ein Haus kann nicht an einem Tag wohnlich eingerichtet werden, und dann, wie viele Tage gehen dahin, bis ein Jahrhundert um ist. Es ist mir auch lieb, eine alte Kapelle dabei zu haben. Wir transsilvanische Edelleute wollen nicht, dass unsere Gebeine zwischen denen gewöhnlicher Sterblicher ruhen sollen. Ich suche nicht Lust und Heiterkeit, nicht warmen Sonnenschein und glitzerndes Wasser, wie es die fröhliche Jugend tut. Ich bin nicht mehr jung und mein Herz ist durch die oft wiederholte Trauer um liebe Tote nicht mehr zum Frohsein gestimmt. Auch die Mauern meines Schlosses sind zerstört; es gibt viele Schatten und der Wind pfeift kalt durch zerbröckelnde Zinnen und Luken. Ich liebe das Dunkel und die Schatten und bin gern allein mit meinen Gedanken.«
Manchmal hatte ich den Eindruck, als entsprächen seine Worte nicht ganz seinen Gedanken, oder aber es lag das halb höhnische, halb schwermütige Lächeln in seinem ganzen Gesichtsausdruck.
Er stand auf und entschuldigte sich für einige Zeit, indem er mich bat, meine Papiere einstweilen wieder in Ordnung zu bringen. Als er gegangen war, betrachtete ich einige der Bücher, die herumlagen. Eines war ein Atlas; die Karte von England, scheinbar viel benützt, lag aufgeschlagen. Als ich näher hinsah, fiel mir auf, dass mehrere Orte mit kleinen Kreisen bezeichnet waren; einer an der Ostseite von London, da, wo sein zukünftiges Besitztum lag, einer bei Exeter und einer bei Whitby an der Küste von Yorkshire.
Es währte fast eine Stunde, bis der Graf zurückkam. »Ah«, sagte er – »immer noch über den Büchern? Gut. Aber Sie dürfen nicht immer arbeiten. Kommen Sie mit; Ihr Abendtisch ist meines Wissens bereit.« Er nahm meinen Arm und führte mich in das nächste Zimmer, wo ich ein vorzügliches Souper angerichtet fand. Der Graf entschuldigte sich wieder, dass er schon auswärts gegessen habe. Er saß da, wie in der Nacht vorher, und plauderte, während ich aß. Nach Tisch rauchte ich, und der Graf blieb bei mir, indem er mich über alle erdenklichen Dinge fragte. Stunde um Stunde verrann. Ich merkte, dass es wirklich sehr spät wurde, sagte aber nichts, da ich mich für verpflichtet hielt, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Weise Rechnung zu tragen. Ich war nicht schläfrig, denn die lange Ruhe von gestern hatte mich gekräftigt, aber ich empfand unwillkürlich den Schauer, der einen bei Anbruch des Morgens befällt. Der Wechsel der Tageszeiten ähnelt in seiner Art den Gezeiten des Meeres. Man sagt, dass todkranke Menschen gewöhnlich bei Einbruch der Dämmerung oder beim Wechsel der Gezeiten sterben. Jeder, der ermüdet war, doch auf irgendeinem Posten auszuharren hatte und selbst den Einfluss dieser Änderung der Atmosphäre empfunden hat, wird das sehr begreiflich finden. Plötzlich ertönte draußen ein Hahnenschrei, der mit unheimlicher Klarheit durch die reine Morgenluft zu uns drang. Graf Dracula sprang auf und sagte:
»Was, schon wieder Morgen? Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange aufzuhalten! Sie müssen Ihre Unterhaltung über mein neues englisches Vaterland weniger anregend gestalten, so dass ich nicht vergesse, wie die Zeit bei uns vergeht.« Dann empfahl er sich mit einer höflichen Verbeugung.
Ich begab mich auf mein Zimmer und zog die Vorhänge zurück, aber da war wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof, über dem das warme Grau des erwachenden Tages lag. So schloss ich das Fenster wieder und schrieb über meine Erlebnisse.
8. Mai. – Ursprünglich, als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, zu weitläufig zu werden; jetzt bin ich aber doch froh, dass ich von Anfang an keine Details ausließ. Es ist so merkwürdig hier, dass ich mich wirklich unbehaglich fühle. Ich wollte, ich wäre wieder heil draußen oder gar nicht hereingekommen. Es mag ja sein, dass mich das ungewöhnliche Nachtleben mitnimmt; aber wenn es nur das allein wäre! Wenn ich nur jemand hätte, mit dem ich mich aussprechen könnte, dann ließe es sich leichter ertragen, aber es ist niemand hier. Da ist nur der Graf und der …; ich fürchte, ich bin die einzige lebende Seele hier auf dem Schloss. Ich will die Sache etwas nüchterner auffassen, als es die Verhältnisse irgend erlauben. Es wird mir helfen, mich aufrecht zu erhalten. Meine Phantasie darf keine Sprünge machen; wenn sie es tut, bin ich verloren. Weiter nun, was ich erlebte oder zu erleben glaubte.