Dracula - Bram Stoker - E-Book + Hörbuch

Dracula Hörbuch

Bram Stoker

3,0

Beschreibung

Zwischen Furcht und Verlangen – ein faszinierender Blick in die dunklen Abgründe der Seele Bram Stokers »Dracula« ist weit mehr als eine klassische Gruselgeschichte – es ist ein Roman über Urängste, Begierden und den ewigen Kampf zwischen Vernunft und dunkler Verlockung. Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1897 fasziniert die Geschichte um den geheimnisvollen Grafen, der aus den nebligen Karpaten aufbricht, um in England seine Macht auszudehnen. Stoker erschafft eine düstere Welt voller unterschwelliger Bedrohung – einen Horror, der tief unter die Haut geht: Ein unsichtbarer Feind, der in den Schatten lauert, das Leben seiner Opfer langsam aussaugt und ihre tiefsten Sehnsüchte für seine Zwecke nutzt. Doch was, wenn das Böse nicht nur von außen kommt? Wenn es längst in uns schlummert – verborgen in unseren Ängsten, in unserem Verlangen? Bis heute erschreckend aktuell – ein fesselndes Spiel mit Macht, Verführung und der Frage, wie viel Dunkelheit wir wirklich in uns tragen. »... die Welt scheint voller guter Männer zu sein, auch wenn sich ein Monster darunter befindet.« Mina Harker nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT

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Bram Stoker

Dracula

Bram Stoker

Dracula

ISBN/EAN: 978-3-95870-516-6

2. Auflage

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

Covergestaltung: nexx verlag, 2025

www.nexx-verlag.de

Vorwort des Verlegers

Bram Stoker, geboren am 8. November 1847 in einem kleinen Dorf bei Dublin / Irland, studierte von 1864 bis 1870 am Trinity College in Dublin Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik. Danach wurde er, wie sein Vater, Beamter bei der Dubliner Justizverwaltung, was ihn aber nicht zufriedenstellte. Nebenher arbeitete er deshalb als Journalist und Theaterkritiker. Sein Interesse am Theater führte schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft mit dem Schauspieler Henry Irving.

Verheiratet war Bram Stoker von 1878 bis zu seinem frühen Tod mit Florence Stoker, geb. Balcombe, die aus einem Nachbardorf seiner irischen Heimat stammte und an der auch Oscar Wilde Interesse gehabt haben soll. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, Noel Thornley, der 1879 geboren wurde und dessen Patenonkel Henry Irving war.

Nach Chelsea / London umgezogen, freundete er sich dort mit Mitgliedern der »High Society« (u. a. mit Sir Arthur Conan Doyle und George Bernard Shaw) an, Oscar Wilde und dessen Familie kannte er aus Dublin, ebenso seinen Freund Sir Henry Irving, für den er von 1878 bis 1904 in dessen Londoner Lyceum Theatre arbeitete.

Bram Stoker starb am 20 April 1912 nach mehreren Schlaganfällen und erlebte den großen Erfolg von »Dracula« leider nicht mehr. Nach Bram Stokers Tod verwaltete seine Frau Florence dessen Nachlass und veröffentlichte 1914 eine Sammlung von Bram Stokers Kurzgeschichten – darunter eine Episode, die ihr Mann wegen der Länge des fertigen Dracula-Textes aus dem Buch herausgenommen hatte – unter dem Titel »Draculas Gast«.

Bram Stokers Interesse galt – neben der Politik – der Folklore, Mythologie, modernen Medizin und okkulten Themen, was sich auch in seinen Werken widerspiegelt. So ist »Dracula« bei weitem nicht nur der Horrorroman, zu dem er so gerne gemacht wird. Er behandelt auch Themen wie Sexualität, Angst vor dem Fremden, den Konflikt zwischen alten Traditionen und moderner Gesellschaft – und vor allem die Wichtigkeit von Freundschaft, Anstand und Zusammenhalt.

Im Jahr 1890 traf Bram Stoker den ungarischen Professor Arminius Vámbéry, der ihm von der Legende des rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea erzählte. Aus diesem Charakter entwickelte Stoker die Figur des Vampirs Dracula. Sieben Jahre arbeitete Stoker an diesem Roman, bis er am 18. Mai 1897 schließlich veröffentlicht wurde.

Bram Stokers Werke hatten und haben einen enormen Einfluss auf die heutige Literatur. Seine Verwendung des epistolaren Stils, bei dem die Geschichte durch Briefe, Tagebucheinträge und Zeitungsartikel erzählt wird, hat viele Autoren dazu inspiriert, ähnliche Techniken in ihren Werken zu verwenden. Sie ermöglicht es dem Leser, verschiedene Perspektiven zu erleben und steigert die Spannung.

Zu Ehren des Autors verleiht die US-amerikanische »Horror Writers Association« (HWA) seit 1987 jährlich in verschiedenen Kategorien den »Bram Stoker Award«.

Ihnen nun viel Vergnügen beim Lesen dieses wunderbaren Werkes eines beeindruckenden Autors.

Joachim FeserVerleger

Erstes Kapitel

Jonathan Harkers Tagebuch

(In Stenogramm geschrieben)

Bistritz, 3. Mai – In München am 1. Mai um 20:35 abgefahren und am frühen Morgen des nächsten Tages in Wien angekommen; sollte eigentlich um 6:46 ankommen, der Zug hatte aber eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine herrliche Stadt zu sein, soweit ich es aus dem Waggon und in der kurzen Zeit, die mir zu einem Spaziergang zur Verfügung stand, beurteilen kann. Ich wollte mich nicht allzu weit vom Bahnhof entfernen, da wir so spät angekommen waren und sicherlich so pünktlich wie möglich abfahren würden. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass wir den Westen verlassen und den Osten betreten hatten; die westlichste der prächtigen Brücken über die Donau, die hier eine beträchtliche Breite und Tiefe hat, versetzte einen jedenfalls mitten in die Zeit der türkischen Herrschaft zurück.

Wir fuhren recht pünktlich ab und kamen nach Einbruch der Nacht in Klausenburg an. Ich wohnte im Hotel »Royal«. Zum Abendessen aß ich ein Huhn, das mit rotem Paprika zubereitet war; sehr schmackhaft, aber durstanregend (Anm.: Rezept für Mina besorgen). Ich fragte den Kellner, und er antwortete, man nenne es »Paprika-Hendl« und ich würde es – da es ein Nationalgericht sei – überall in den Karpaten bekommen. Meine Deutschkenntnisse waren mir hier sehr hilfreich, tatsächlich wüsste ich nicht, wie ich ohne sie durchgekommen wäre.

Da ich in London vor der Weiterreise noch etwas Zeit hatte, besuchte ich das Britische Museum und habe mir dort eine Auswahl von Büchern und Karten über Transsylvanien besorgt, in der Annahme, dass mir Vorkenntnisse für den Umgang mit einem Adligen des Landes sicherlich von Nutzen sein würden. Die Gegend, in die ich reisen werde, liegt im äußersten Osten des Landes, da, wo sich drei Staaten – Transsylvanien, Moldawien und die Bukowina – treffen, mitten in den Karpaten, einem der wildesten und am wenigsten bekannten Regionen Europas. Einen Hinweis für die genaue Lage des Schlosses Dracula konnte ich nicht finden, da die Landkarten nicht mit den unseren vergleichbar sind. Aber ich fand heraus, dass Bistritz, die von Graf Dracula benannte Poststation, ein ziemlich bekannter Ort ist. Ich werde einige meiner Notizen hier eintragen; sie sollen mein Gedächtnis auffrischen, wenn ich mit Mina über meine Reisen plaudern werde.

Die Bevölkerung Transsylvaniens setzt sich aus vier verschiedenen Nationalitäten zusammen: die Sachsen im Süden und – vermischt mit ihnen – die Wallachen, Nachkommen der Daker; die Magyaren im Westen und die Szekler im Osten und Norden. Ich gehe zu den Letztgenannten, die behaupten, von Attila und den Hunnen abzustammen. Das mag wohl stimmen, denn als die Magyaren im elften Jahrhundert das Land eroberten, waren die Hunnen dort ansässig. Ich las, dass jeder nur erdenkliche Aberglaube dort unten in dem hufeisenförmigen Gebirgszug der Karpaten zuhause sei, als sei dort das Zentrum aller abergläubischen Vorstellungen. Mein Aufenthalt könnte also interessant werden (Anm.: Ich muss den Grafen dazu befragen).

Ich schlief nicht gut, obwohl mein Bett ziemlich bequem war, denn ich hatte alle möglichen seltsamen Träume. Unter meinem Fenster heulte die ganze Nacht ein Hund, was vielleicht ein Grund dafür sein mag. Vielleicht lag es aber auch am Paprika-Hendl, denn ich musste alles Wasser aus meiner Karaffe austrinken und war immer noch durstig. Gegen morgen schlief ich endlich ein und wurde erst durch ein heftiges Klopfen an meiner Tür geweckt, ich muss wohl sehr fest geschlafen haben. Zum Frühstück aß ich wiederum Paprika, einen Brei aus Maismehl, den sie »Mamaliga« nennen, und mit Hackfleisch gefüllte Auberginen, ein ganz ausgezeichnetes Gericht, das sie »Implata« nennen (Anm.: auch hierzu das Rezept besorgen). Ich musste mich beeilen, denn mein Zug fuhr kurz vor acht Uhr – oder besser gesagt, er sollte kurz vor acht Uhr abfahren. Nachdem ich um halb acht Uhr zum Bahnhof geeilt war, musste ich fast eine Stunde im Waggon sitzen, bis wir endlich losfuhren. Mir scheint, je weiter man nach Osten kommt, desto unpünktlicher fahren die Züge. Wie mag es da erst in China sein?

Den ganzen Tag bummelte der Zug durch eine äußerst reizvolle Gegend. Manchmal sahen wir kleine Städte oder Schlösser auf steilen Hügeln, so, wie man sie in alten Chroniken abgebildet sieht. Manchmal fuhren wir an Flüssen und Bächen entlang, die – nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen – wohl häufig über ihre Ufer treten. An jedem Bahnhof befanden sich größere oder kleinere Menschengruppen in allen möglichen Trachten. Einige von ihnen glichen den Bauern, wie ich sie zuhause oder auf meiner Reise durch Deutschland und Frankreich gesehen hatte, mit kurzen Jacken, runden Hüten und selbstgenähten Hosen; andere sahen sehr malerisch aus. Die Frauen machten einen hübschen Eindruck, jedoch nur aus der Entfernung. Sie hatten alle weite, weiße Ärmel und die meisten von ihnen trugen breite Gürtel, von denen Stoffstreifen herunterflatterten, wie bei Ballettkleidern, aber natürlich hatten sie hier ohne Zweifel Unterröcke an. Am seltsamsten waren die Slowaken, die barbarischer aussahen als die andern, mit ihren mächtigen Hüten, weiten, schmutzig-weißen Hosen, weißen Leinenhemden und ungeheuer großen, schweren, fast einen Fuß breiten Ledergürteln, die über und über mit Messingnägeln besetzt waren. Sie trugen hohe Stiefel, in die sie die Hosen gesteckt hatten, hatten langes schwarzes Haar und große schwarze Schnurrbärte. Sie machen einen malerischen, aber keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Auf der Theaterbühne würde man sie als orientalische Räuberbande wahrnehmen. Sie sind aber, wie mir gesagt wurde, völlig harmlos und wenig selbstbewusst.

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als wir in Bistritz, einer alten, sehr interessanten Stadt, ankamen. Es liegt direkt an der Grenze – von hier aus führt der Borgo-Pass in die Bukowina – und hat deshalb eine sehr stürmische Vergangenheit, die deutliche Spuren hinterlassen hat. Vor fünfzig Jahren gab es eine Reihe großer Brände, die fünf Mal große Verwüstungen anrichteten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde Bistritz drei Wochen lang belagert und verlor dabei 13.000 Einwohner. Neben den Opfern der Gefechte kamen viele Menschen durch Hungersnot und Seuchen um.

Graf Dracula hatte mich angewiesen, im Hotel »Goldene Krone« zu übernachten, einem Haus in völlig altmodischem Stil – sehr zu meiner Freude, weil ich so viel wie möglich über das Land kennenlernen wollte. Ich wurde offensichtlich erwartet, denn als ich eintrat, sah ich eine ältere, fröhlich aussehende Frau in der einfachen landesüblichen Bauernbekleidung – weißes Unterkleid mit langer, hinten und vorne herunterhängender Schürze aus buntem Tuch, die etwas zu eng war. Als ich näherkam, verbeugte sie sich und sagte »Der Herr Engländer?« »Ja«, sagte ich, »Jonathan Harker.« Sie lächelte und gab einem älteren Mann in weißen Hemdärmeln, der ihr bis zur Tür gefolgt war, ein Zeichen. Er ging, kam aber sofort mit einem Brief in der Hand zurück:

Mein Freund,

willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Schlafen Sie gut heute Nacht. Morgen um drei Uhr wird die Postkutsche in die Bukowina abfahren, es ist ein Platz für Sie reserviert. Am Borgo-Pass erwartet Sie meine Kutsche und wird Sie zu mir bringen. Ich hoffe, dass Ihre Reise von London hierher eine glückliche war und dass Sie Ihren Aufenthalt in meinem wunderschönen Land genießen werden.

Ihr Freund Dracula

4. Mai – Ich erfuhr, dass der Wirt ebenfalls einen Brief des Grafen erhalten hatte, in dem er ihn anwies, mir den besten Platz in der Postkutsche zu reservieren. Als ich ihn jedoch über weitere Details ausfragen wollte, wurde er sehr zurückhaltend und tat so, als würde er mein Deutsch nicht verstehen. Das konnte nur eine Ausrede sein, denn bisher hatte er es sehr wohl verstanden und alle meine Fragen beantwortet. Er und seine Frau, die alte Dame, die mich empfangen hatte, sahen sich verängstigt an. Als ich ihn fragte, ob er Graf Dracula kenne und mir etwas über dessen Schloss erzählen könne, bekreuzigten sich beide. Er murmelte, dass das Geld in einem Brief geschickt worden wäre, mehr wüssten sie nicht. Es war nur noch wenig Zeit bis zur Abreise, so konnte ich nicht weiter nachfragen. Die Sache war sehr geheimnisvoll und keineswegs angenehm.

Kurz bevor ich ging, kam die alte Dame zu mir aufs Zimmer und fragte ganz hysterisch:

»Müssen Sie da hingehen, junger Herr? Müssen Sie denn wirklich da hingehen?« Sie war so aufgeregt, dass sie das wenige Deutsch, das sie konnte, mit Worten einer anderen Sprache vermischte, die ich überhaupt nicht verstand. Ich konnte sie nur einigermaßen verstehen, indem ich ihr viele Fragen stellte. Als ich ihr dann sagte, dass ich sofort gehen müsse und mich wichtige Geschäfte riefen, fragte sie:

»Wissen Sie, welcher Tag heute ist?« Ich antwortete, es wäre der 4. Mai. Sie schüttelte den Kopf und sagte:

»Oh ja, das weiß ich! Das weiß ich! Aber wissen Sie denn nicht, was für ein Tag heute ist?« Als ich antwortete, dass ich sie nicht verstehe, fuhr sie fort:

»Es ist der Vorabend des Sankt Georg-Tages. Wissen Sie nicht, dass, wenn die Uhr heute Mitternacht schlägt, alle bösen Dinge in der Welt freien Lauf haben? Wissen Sie, wohin Sie gehen und zu wem Sie gehen?« Sie war so verzweifelt, dass ich versuchte, sie zu trösten, aber ohne Erfolg. Schließlich ging sie auf die Knie und flehte mich an, nicht zu gehen, oder meine Abfahrt wenigstens um ein, zwei Tage zu verschieben. Es war natürlich lächerlich, und trotzdem fühlte ich mich unbehaglich. Aber ich hatte einen Auftrag zu erfüllen und nichts durfte mich davon abhalten. Ich half ihr auf und sagte so ernst es mir möglich war, dass ich ihr danke, aber meiner Pflicht nachkommen und jetzt gehen müsse. Da trocknete sie ihre Tränen, nahm den Rosenkranz von ihrem Hals und gab ihn mir. Ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als englischer Christ hatte ich gelernt, solche Dinge mehr oder weniger als götzendienerisch anzusehen. Aber ich brachte es nicht übers Herz, das Geschenk der alten Frau, die es so gut mit mir meinte und sich in einer solchen Erregung befand, zurückzuweisen. Vermutlich sah sie den Zweifel in meinem Gesicht, denn sie legte mir den Rosenkranz um den Hals, sagte dabei: »Um Ihrer Mutter willen« und verließ das Zimmer. Ich schreibe diesen Teil meines Tagebuches, während ich auf die Kutsche warte, die natürlich zu spät kommt. Der Rosenkranz hängt noch um meinen Hals. Ich weiß nicht, ob es an dem Aberglauben der alten Frau, den gespenstigen Traditionen dieser Gegend oder an dem Rosenkranz liegt, aber ich fühle mich nicht mehr so unbekümmert wie sonst. Sollte dieses Buch Mina je vor mir erreichen, möge es ihr meine Abschiedsgrüße überbringen. Da kommt die Kutsche!

5. Mai, das Schloss – Das Grau des Morgens ist vergangen und die Sonne steht schon hoch über dem fernen Horizont. Ich bin nicht müde, und da schreibe ich, bis der Schlaf kommt. Es gibt so viele seltsame Dinge, die ich berichten muss, und damit derjenige, der diese Aufzeichnungen liest, nicht auf den Gedanken kommt, ich hätte in Bistritz etwas zu reichlich gegessen, beschreibe ich hier mein Abendessen: Ich aß einen sogenannten »Räuberbraten« – Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, gewürzt mit Paprika und auf Stäbchen über dem Feuer gebraten, in der einfachen Weise wie das Londoner »Katzenfleisch«. Der Wein war ein »Goldener Mediasch«, der ein eigenartiges Brennen auf der Zunge erzeugt, das aber nicht unangenehm ist. Ich trank nur ein paar Gläser davon, sonst nichts.

Als wir dann abfuhren, bekreuzigte sich die versammelte Menschenmenge vor dem Wirtshaus, die inzwischen beträchtlich angewachsen war, und zeigte mit zwei ausgestreckten Fingern auf mich. Nur mit einiger Mühe bekam ich von einem Mitreisenden heraus, was das zu bedeuten habe. Erst wollte er mir nicht antworten, aber als er erfuhr, dass ich Engländer sei, erklärte er mir schließlich, dass es ein Schutzzauber gegen den bösen Blick sei. Das war nicht sehr erfreulich für mich – der an einen unbekannten Ort zu einem unbekannten Mann fahren sollte. Aber alle erschienen so gutherzig, so besorgt und mitfühlend, dass ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren konnte. Niemals werde ich den letzten Blick auf den Hof des Wirtshauses und die sich um den Torbogen drängende malerische Menschenmenge vergessen; wie sie sich bekreuzigte, im Hintergrund das reiche Blattwerk der Oleander- und Orangenbäume, die in grünen Kübeln in der Mitte des Hofes standen. Dann ließ unser Kutscher seine lange Peitsche über den Köpfen der vier kleinen Pferdchen knallen, die daraufhin davonstürmten. So traten wir unsere Reise an.

Durch die Schönheit der Gegend, durch die wir fuhren, verlor ich die Furcht vor Gespenstern aber bald wieder. Hätte ich allerdings die Sprache meiner Reisegefährten – oder vielmehr ihre Sprachen – verstanden, wäre diese Furcht vermutlich nicht so schnell wieder verflogen. Vor uns lag eine grüne, hüglige Landschaft, voller Wälder und Gebüschen, da und dort eine steile Anhöhe, gekrönt von einer Baumgruppe oder Bauernhäusern, deren helle Giebelwände der Straße zugewandt waren. Alles war voll von Obstblüten: Apfel-, Pflaumen-, Kirsch- und Birnbäume, das grüne Gras war mit herabgefallenen Blütenblättern übersät. Zwischen diesen grünen Hügeln, die man hier das »Mittelland« nennt, verlief die Straße, die sich hinter Kurven oder weit in der Ferne hinter Fichtenwäldern verlor, die wie dunkelgrüne Zungen von den Hügeln herabliefen. Der Weg war holprig, trotzdem flogen wir mit fieberhafter Eile darüber hinweg. Ich konnte mir diese Eile damals nicht erklären, aber der Kutscher war scheinbar darauf erpicht, keine Zeit zu verlieren, um den Borgo-Pass zu erreichen. Man sagte mir, dass diese Straße im Sommer ausgezeichnet sei, sie aber nach den Schäden, die ihr der Winter zugefügt hatte, noch nicht wieder in Ordnung gebracht worden war. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich scheinbar von den übrigen Straßen in den Karpaten, die – einer alten Tradition entsprechend – in keinem allzu guten Zustand gehalten werden. Früher haben die Fürsten sie nicht ausgebessert, um bei den Türken nicht den Anschein zu erwecken, man wolle Truppen gegen sie aufmarschieren lassen, und so das Feuer des Krieges, dessen Asche immer unter der Oberfläche glimmte, wieder anzufachen.

Hinter den grün aufsteigenden Hügeln des Mittellandes erhoben sich mächtige Wälder bis zu den hohen Steilhängen der Karpaten. Sie stiegen rechts und links von uns empor – die Nachmittagssonne fiel auf sie und brachte all die herrlichen Farben dieser wunderschönen Bergkette zum Vorschein: tiefes Blau und Lila im Schatten, Grün und Braun, wo sich Gras und Fels vermischten. Eine endlose Perspektive aus zerklüfteten Felsen und spitzen Klippen, die sich in weiter Ferne – da, wo schneebedeckte Gipfel majestätisch aufragten – verlor. Durch mächtige Felsspalten sah man im Licht der sinkenden Sonne hin und wieder die weiße Gischt von Wasserfällen. Einer meiner Mitfahrer berührte mich am Arm, als wir um einen Hügel herumfuhren und sich der Blick auf einen hohen, schneebedeckten Gipfel öffnete, der direkt vor uns zu liegen schien:

»Sieh, Herr, Isten Széke!« (»Gottes Stuhl«) sagte er, und bekreuzigte sich ehrfürchtig.

Während wir den endlosen Weg dahinfuhren und die Sonne immer tiefer und tiefer sank, begannen die Schatten rings um uns herauf zu kriechen. Auf der schneebedeckten Bergspitze lag noch der Schein der untergehenden Sonne und sie schien in einem zarten, kalten Rosa zu glühen. Zuweilen kamen wir an Tschechen oder Slowaken vorbei, alle in malerischer Kleidung, und ich bemerkte, dass der Kropf hier weit verbreitet ist. Am Straßenrand standen viele Kreuze, und immer, wenn wir an einem vorbeifuhren, bekreuzigten sich alle meine Reisegenossen. Hier und dort kniete ein Bauer oder eine Bäuerin vor einem Schrein, die sich nicht einmal umdrehten, wenn wir vorbeifuhren, so tief waren sie in Andacht und Hingebung versunken. Es gab viel Neues für mich zu sehen: Heuhaufen auf Bäumen, herrliche Gruppen von Birken, deren weiße Stämme wie Silber durch das saftige Grün der Blätter leuchteten. Manchmal begegneten wir einem Leiterwagen – dem landesüblichen Bauernkarren – der besonders geeignet schien, sich den Unebenheiten der Wege anzupassen. Darauf saßen oft ganze Gruppen heimkehrender Bauern, die Tschechen mit weißen, die Slowaken mit gefärbten Lammfellen, wobei die letzteren lange Stäbe trugen, deren Ende eine Axt bildete. Als der Abend hereinbrach, wurde es sehr kalt, und die zunehmende Dämmerung ließ die Umrisse der Eichen, Buchen und Kiefern in den Tälern zu einem dunklen Nebel verschmelzen. Als wir den Pass hinauffuhren, hoben sich hier und da einzelne Tannen vom Hintergrund des Neuschnees ab. Wenn die Straße durch Kiefernwälder führte, die uns in völlige Dunkelheit einschlossen, umfing uns eine unheimliche und feierliche Stimmung. Die Steigungen waren zum Teil so steil, dass die Pferde trotz der Eile des Kutschers nur langsam vorankamen. Ich wollte aussteigen und zu Fuß gehen, wie wir es zuhause tun, aber der Kutscher wollte nichts davon hören. »Nein, nein«, sagte er »Sie dürfen hier nicht zu Fuß gehen, die Hunde hier draußen sind zu scharf«, und dann fügte er hinzu: »Sie werden heute noch genug Dinge erleben, bis Sie zu Bett gehen«. Das sollte wohl ein böser Scherz sein, denn er blickte sich um, um das zustimmende Lachen der Anderen zu erhaschen. Der einzige kurze Halt, den er einlegte, diente dem Anzünden der Wagenlaternen.

Als es ganz dunkel geworden war, breitete sich eine gewisse Aufregung unter den Passagieren aus. Einer nach dem andern redete auf den Kutscher ein – so, als wollten sie ihn zu noch größerer Eile antreiben. Er trieb die Pferde unbarmherzig mit seiner langen Peitsche und durch wilde Zurufe an. Ich konnte in der Dunkelheit einen grauen Lichtfleck erkennen, als ob ein Spalt in den Felswänden wäre. Die Aufregung der Passagiere steigerte sich immer mehr. Die Kutsche hüpfte in ihren ledernen Federn auf und ab und wurde wie ein Boot auf stürmischer See hin und her geworfen. Ich musste mich festhalten. Der Weg wurde wieder ebener und jetzt flogen wir nur so dahin. Die Berge schienen uns näher zu kommen und stirnrunzelnd auf uns herab zu schauen. Wir fuhren in den Borgo-Pass ein. Einige der Mitreisenden gaben mir kleine Geschenke, die sie mir mit einer Ernsthaftigkeit aufdrängten, die keine Zurückweisung zuließ. Es waren seltsame Dinge, aber jedes wurde in guter Absicht mit einem freundlichen Wort und mit einem Segenswunsch gegeben – und mit jenen beschwörenden Gesten, die ich schon vor dem Hotel in Bistritz gesehen hatte: dem Bekreuzigen und dem Zauber gegen den bösen Blick. In fliegender Eile fuhren wir weiter. Der Fuhrmann lehnte sich vor, die Fahrgäste starrten auf beiden Seiten der Kutsche gespannt hinaus in die Dunkelheit. Es war offensichtlich, dass sie etwas sehr Aufregendes erwarteten. Aber obwohl ich jeden meiner Reisegefährten fragte, gab mir keiner von ihnen auch nur die geringste Erklärung. Dieser Zustand der Aufregung hielt einige Zeit an; schließlich konnten wir sehen, wie sich der Pass auf der östlichen Seite öffnete. Dunkle drohende Wolken flogen über unseren Köpfen dahin und in der Luft lag eine schwere, drückende Schwüle. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei verschiedene Wetter-Atmosphären und wir hätten eine Gewitterzone betreten. Ich hielt nun Ausschau nach dem Wagen, der mich zum Grafen bringen sollte. Jeden Augenblick erwartete ich, Wagenlaternen in der Dunkelheit aufblitzen zu sehen, aber alles blieb dunkel. Das einzige Licht verbreiteten unsere eigenen Lampen, in deren flackerndem Schein der Dampf unserer stark beanspruchten Pferde wie eine weiße Wolke aufstieg. Vor uns erkannten wir nur noch die helle, sandige Straße, aber ein Fahrzeug war weit und breit keines zu sehen. Die Fahrgäste seufzten erleichtert auf, was meine eigene Enttäuschung zu verspotten schien. Ich dachte schon darüber nach, was ich nun tun solle, als der Fuhrmann auf die Uhr sehend zu den anderen etwas sagte, so leise, dass ich es kaum hören konnte. Ich meinte aber verstanden zu haben: »Eine Stunde vor der Zeit«. Dann drehte er sich zu mir um und sagte in einem Deutsch, das noch schlechter war als meines:

»Kein Wagen hier. Der Herr nicht erwartet. Sie fahren bestens mit uns in die Bukowina und morgen zurückkehren, oder besser übermorgen.« Während er redete, begannen seine Pferde zu wiehern und zu schnauben und wild auszuschlagen, so dass der Kutscher Mühe hatte, sie zu bändigen. Plötzlich fuhr eine Kalesche mit vier Pferden von hinten an uns heran und hielt auf gleicher Höhe, wobei die Bauern in lautes Geschrei ausbrachen und sich bekreuzigten. Im Schein unserer Laternen konnte ich erkennen, dass die Pferde kohlrabenschwarz und prächtig gebaut waren. Der Kutscher der Kalesche war ein hochgewachsener Mann mit einem langen, braunen Bart und einem großen schwarzen Hut, der wohl sein Gesicht vor uns verbergen sollte. Als er sich zu uns umdrehte, konnte ich nur ein paar funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen. Er sagte zu unserem Kutscher:

»Du bist heute sehr früh dran, mein Freund.« Der Mann stammelte verlegen:

»Der englische Herr hatte große Eile«, worauf der Fremde erwiderte:

»Und deshalb wolltest Du ihn wohl auch zur Bukowina fahren. Du kannst mich nicht täuschen, mein Bester, ich weiß zu viel und meine Pferde sind schnell.« Während er das sagte, lächelte er, und der Schein der Laternen fiel auf einen grausam aussehenden Mund mit sehr roten Lippen und scharfen, elfenbeinweißen Zähnen. Einer meiner Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn die Worte aus Bürgers »Lenore« zu:

»Denn die Toten reisen schnell.«

Der seltsame Kutscher hatte die Worte offenbar gehört, denn er sah den Sprecher lächelnd an. Dieser drehte sein Gesicht weg, streckte zwei Finger aus und bekreuzigte sich. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, sagte der Kutscher, und mit außerordentlicher Geschwindigkeit wurden meine Koffer abgeladen und in die Kalesche gestellt. Ich stieg auf der Seite aus, wo die Kalesche stand und der fremde Kutscher half mir, indem er meinen Arm mit stahlhartem Griff packte; seine Kraft muss ungeheuerlich sein. Wortlos zog er die Zügel an, die Pferde wendeten und wir jagten in die Dunkelheit des Passes. Als ich zurückblickte, sah ich den Dampf der Pferde im Laternenschein emporsteigen, und sich dunkel davon abhebend die Gestalten meiner Reisegenossen, die sich bekreuzigten. Dann ließ der Kutscher die Peitsche klatschen, rief den Pferden etwas zu und sie waren auf ihrem Weg in die Bukowina. Als sie in der Dunkelheit verschwunden waren, überlief mich ein eiskalter Schauer und ein Gefühl der Einsamkeit überkam mich. Der Kutscher legte mir einen Mantel um die Schultern und eine Decke auf die Knie und sagte in fließendem Deutsch:

»Die Nacht ist kühl, mein Herr und mein Gebieter, der Graf, hat mir befohlen, ganz besonders auf Sie acht zu geben. Unter dem Sitz finden Sie eine Flasche Sliwowitz (der Pflaumenbranntwein des Landes), falls Sie ihn brauchen sollten.« Ich nahm nichts davon, aber es war immerhin beruhigend zu wissen, dass so für mich gesorgt war. Ich fühlte mich seltsam und nicht eben wenig beunruhigt. Hätte ich eine Alternative gehabt, hätte ich sie sicher dieser nächtlichen Fahrt ins Ungewisse vorgezogen. Die Kutsche fuhr in schnellem Tempo geradeaus weiter, dann machten wir eine komplette Kehrtwende und fuhren in entgegengesetzter Richtung weiter. Ich hatte den Eindruck, als würden wir die selbe Straße zurückfahren. Ich merkte mir einige markante Punkte und stellte fest, dass ich mich nicht täuschte. Ich hätte den Kutscher gerne gefragt, was das zu bedeuten habe, tat es aber nicht, weil ich mir dachte, dass ein Protest in meiner Situation sowieso zwecklos gewesen wäre, falls er tatsächlich beabsichtigte, die Fahrt hinaus zu zögern. Ich war neugierig, wieviel Zeit vergangen war, ich zündete ein Streichholz an und schaute auf meine Uhr: es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Das versetzte mir einen Schock, aber vermutlich hatten mich der Aberglaube bezüglich Mitternacht und meine jüngsten Erlebnisse nur etwas nervös gemacht. Ein unangenehmes Gefühl der Spannung überkam mich.

Dann begann weit unten im Tal bei einem Bauernhof an der Straße ein Hund zu heulen – es klang wie ein langes, ängstliches Jammern. Ein zweiter Hund stimmte in das Jammern ein und dann noch einer und noch einer, bis – getragen vom Nachtwind, der nun leise durch den Pass säuselte – ein wildes Heulen begann, das aus dem ganzen Land zu kommen schien. Beim ersten Heulen scheuten die Pferde, aber der Kutscher redete beruhigend auf sie ein und sie wurden wieder ruhiger, zitterten und schwitzten aber, als würden sie vor Angst weglaufen. Dann erklang, weit entfernt, von den Bergen auf beiden Seiten der Straße, ein lauteres und schärfer klingendes Geheul – das von Wölfen – das die Pferde und auch mich in hohem Maße erschreckte. Ich überlegte, aus der Kalesche zu springen und die Pferde schnaubten, bäumten sich auf und rannten dann wie verrückt davon, so dass der Kutscher seine ganze Kraft aufwenden musste, um zu verhindern, dass sie durchgingen. Nach ein paar Minuten hatten sich meine Ohren an das Heulen gewöhnt, und auch die Pferde beruhigten sich soweit, dass der Kutscher absteigen und sich vor sie hinstellen konnte. Er streichelte und tröstete die Tiere und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es Pferdebändiger zu tun pflegen. Und das mit großem Erfolg, denn sie wurden wieder fügsam, obwohl sie immer noch zitterten. Der Kutscher stieg wieder auf seinen Bock, schnalzte mit den Zügeln und wir fuhren mit großem Tempo weiter. Dieses Mal bog er, als wir an der anderen Seite des Passes angekommen waren, plötzlich in einen schmalen Weg nach rechts ab.

Bald waren wir von Bäumen umgeben, deren dicht verschlungenen Äste sich über die Fahrbahn wölbten, so dass wir manchmal wie durch einen Tunnel fuhren. Und wieder beobachteten uns stirnrunzelnd zu beiden Seiten des Weges steil aufragende, schroffe Felsen. Der Wind wurde stärker. Er pfiff und stöhnte durch die Felsen und die Zweige der Bäume schlugen krachend zusammen. Es wurde immer kälter und ein leichter Pulverschnee begann herunter zu rieseln, der unsere Umgebung mit einer weißen Decke überzog. Der scharfe Wind trug uns immer noch das Heulen der Hunde aus weiterer Ferne zu, es wurde aber, je länger wir weiterrasten, immer schwächer. Dagegen kam das Geheul der Wölfe immer näher – so, als würden sie uns von allen Seiten umringen. Ich hatte große Angst und die Pferde teilten diese Angst offensichtlich. Nur der Kutscher schien nicht im Geringsten beunruhigt zu sein. Er drehte seinen Kopf immer aufmerksam nach links und rechts, aber ich konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.

Plötzlich sah ich links eine schwach flackernde, blaue Flamme aus dem Dunkel auftauchen. Der Kutscher sah sie im selben Moment – er hielt an, sprang ab und verschwand in der Finsternis. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, zumal das Geheul der Wölfe immer näherkam. Aber während ich noch überlegte, kam der Kutscher plötzlich zurück, nahm wortlos seinen Platz wieder ein und wir setzten unsere Fahrt fort. Dieser Zwischenfall wiederholte sich unzählige Male, so dass mir rückblickend alles wie ein furchtbarer Albtraum vorkam. Einmal erschien eine Flamme so nahe an der Straße, dass ich den Kutscher trotz der Dunkelheit, die uns umgab, beobachten konnte. Er ging schnell auf die blaue Flamme zu – sie muss sehr schwach gewesen sein, denn sie erleuchtete kaum die allernächste Umgebung – sammelte ein paar Steine auf und legte sie zu einer besonderen Figur zusammen. Dabei trat ein seltsamer optischer Effekt aus: als der Kutscher zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie nicht, ich sah sie gespenstisch weiterflackern. Das erschreckte mich, aber da diese Erscheinung nur kurze Zeit dauerte, nahm ich an, dass mich meine Augen getäuscht hatten. Dann waren keine blauen Lichter mehr zu sehen und wir rasten durch die Finsternis, umringt vom Geheul der Wölfe, die uns in einem weiten Kreis zu verfolgen schienen.

Schließlich entfernte sich der Kutscher weiter als bisher und während seiner Abwesenheit begannen die Pferde schlimmer als je zuvor zu zittern und vor Angst zu schnauben. Ich konnte mir das zunächst nicht erklären, denn das Geheul der Wölfe hatte aufgehört. Doch dann erschien der Mond, der durch die düsteren Wolken dahingejagt war, über dem gezackten Kamm eines mit Kiefern bewachsenen Felsens, und bei seinem fahlen Licht sah ich um uns herum einen Ring aus Wölfen mit weißen Zähnen, roten heraushängenden Zungen, sehnigen Gliedmaßen und zottigem Fell. Ihr Schweigen war hundert Mal unheimlicher als ihr Geheul. Ich war wie gelähmt vor Angst.

Plötzlich begannen die Wölfe wieder aufzuheulen, als übe das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie aus. Die Pferde wieherten, sprangen herum, bäumten sich auf und starrten mit vor Angst aufgerissenen Augen hilflos auf den lebendigen Ring des Verderbens, der sie umgab. Ich rief nach dem Kutscher, denn der einzige Ausweg schien mir zu sein, diesen Ring zu durchbrechen. Ich schrie und trommelte mit den Fäusten gegen den Wagenverschlag, in der Hoffnung, die Wölfe auf diese Weise fernzuhalten und ihm die Möglichkeit zu geben, zur Kalesche zu kommen. Was er getan hatte, weiß ich nicht, aber auf einmal hörte ich seine Stimme in gebieterisch befehlendem Ton und als ich in die Richtung schaute, aus der seine Stimme kam, sah ihn auf dem Weg stehen. Er streckte seine langen Arme aus, als wolle er ein Hindernis beiseiteschieben, und die Wölfe wichen zurück. In diesem Moment schob sich eine dunkle Wolke vor den Mond und es war wieder vollkommen dunkel.

Als ich wieder etwas erkennen konnte, kletterte der Kutscher auf den Bock und die Wölfe waren verschwunden. Das alles war so seltsam und unheimlich, dass mich eine schreckliche Angst überkam und ich nicht wagte zu sprechen oder mich auch nur zu bewegen. Die Zeit erschien mir endlos, während wir unsere Fahrt fortsetzten, jetzt in fast völliger Dunkelheit, denn die vorübereilenden Wolken verdeckten den Mond. Wir fuhren meist bergauf, zuweilen durch kurze, steile Senken. Plötzlich bemerkte ich, dass der Kutscher den Wagen in den Hof einer riesigen Burgruine lenkte, aus deren hohen, schwarzen Fenstern kein einziger Lichtstrahl drang und deren zerbrochene Zinnen sich wie eine gezackte Linie von dem jetzt wieder mondbeschienenen Himmel abhoben.

Zweites Kapitel

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

5. Mai – Ich musste zwischenzeitlich geschlafen haben, denn wäre ich wach gewesen wäre, hätte mir doch aufgefallen müssen, dass wir uns einem so seltsamen Ort näherten. Im Dunklen schien der Schlosshof eine beträchtliche Größe zu haben, aber da mehrere Wege durch mächtige Rundbögen von ihm wegführten, erschien er vielleicht auch größer, als er tatsächlich war. Bei Tageslicht habe ich ihn bis heute nicht gesehen.

Als die Kalesche hielt, sprang der Kutscher herunter und streckte mir seine Hand entgegen, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Wieder musste ich diese ungeheure Stärke bewundern. Seine Hand fühlte sich an wie ein Schraubstock – sie hätte meine Hand leicht zerdrücken können, wenn er es gewollt hätte. Dann holte er meine Koffer heraus und stellte sie neben mich auf den Boden. Ich stand vor einem großen, alten Tor, das mit Eisennägeln beschlagen und in einen ausladenden Torbogen aus massivem Stein eingelassen war. Selbst bei dem schwachen Licht konnte ich erkennen, dass der Stein früher schön verziert gewesen sein muss, die Muster aber durch Zeit und Wetter stark abgenutzt waren. Als alles ausgeladen war, schwang sich der Kutscher wieder auf den Kutschbock, schnalzte mit den Zügeln und verschwand mit Wagen und Pferden in einem der dunklen Torbögen.

Ich stand schweigend da, denn ich wusste nicht, was ich tun sollte. Von einer Glocke oder einem Klopfer war nichts zu sehen und es war unwahrscheinlich, dass meine Stimme durch die dicken Mauern oder die Fenster dringen würde. Die Zeit, die ich zum Warten verurteilt war, schien mir endlos und ich merkte, wie Furcht und Zweifel in mir aufstiegen. Wohin war ich geraten und unter was für Leute? Auf welches unheimliche Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? War das ein normaler Fall im Leben eines Anwaltsgehilfen, der hinausgeschickt wurde, um einem Ausländer den Ankauf eines Londoner Grundbesitzes zu erklären? »Anwaltsgehilfe« – das würde Mina nicht gefallen. Ich bin jetzt »Anwalt«! Kurz bevor ich London verließ, hatte ich noch erfahren, dass ich mein Examen bestanden hatte und jetzt ein vollwertiger Anwalt bin! Ich begann, meine Augen zu reiben und mich selbst zu kneifen, um zu sehen, ob ich auch wirklich wach war. Alles kam mir wie ein schrecklicher Alptraum vor, und ich erwartete, plötzlich aufzuwachen und zuhause aus dem Fenster in die Morgendämmerung zu starren, so, wie ich es ab und zu nach einer überarbeiteten Nacht zu tun pflegte. Aber ich spürte das Kneifen meiner Haut deutlich. Ich war also tatsächlich wach – und mitten in den Karpaten. Alles was mir übrigblieb, war, mich zu gedulden und auf den Anbruch des Tages zu warten.

Gerade als ich zu diesem Entschluss gekommen war, hörte ich schwere Schritte hinter dem großen Tor und als ich mich umdrehte bemerkte ich in dem Spalt unter dem Tor, wie sich ein Licht näherte. Dann war das Rasseln von Ketten und danach das Knirschen massiver Türriegel, die zurückgeschoben wurden, zu hören. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem scheinbar selten benutzten Schloss und das große Tor ging auf.

Im Torbogen stand ein hochgewachsener, alter Mann, glattrasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet. In der linken Hand hielt er eine altertümliche, silberne Lampe, die in der Zugluft des offenen Tores flatternd, lange, zitternde Schatten warf. Der alte Mann winkte mich mit einer einladenden Geste herein und sagte in ausgezeichnetem Englisch, aber mit einem seltsamen Akzent:

»Willkommen hier in meinem Haus! Treten Sie aus freiem Willen und ohne Zwang ein!« Er machte keinerlei Anstalten, mir entgegenzugehen, sondern stand starr wie eine Statue da, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwandelt. In dem Augenblick aber, in dem ich die Schwelle überschritten hatte, trat er schnell auf mich zu und ergriff meine Hand mit einer Kraft, die mich zusammenzucken ließ. Und dabei war seine Hand so kalt wie Eis – ehr wie die eines Toten als die eines Lebenden. Wieder sagte er:

»Willkommen in meinem Haus. Treten Sie frei ein, gehen Sie sicher wieder hinaus und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!« Die Stärke des Händedruckes erinnerte mich so sehr an den eisernen Griff des Kutschers vorhin – dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte – dass ich einen Moment glaubte, dass er und der Mann vor mir ein und dieselbe Person seien. Um sicherzugehen fragte ich:

»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte:

»Ich bin Dracula und heiße Sie in meinem Haus herzlich willkommen, Mr. Harker. Kommen Sie herein, die Nachtluft ist recht kühl und Sie müssen etwas essen und sich ausruhen.« Während er sprach, befestigte er die Lampe an einer Wandhalterung und nahm mein Gepäck. Er hatte es hereingetragen, noch ehe ich ihn daran hindern konnte. Ich protestierte, aber er widersprach:

»Nein Sir, Sie sind mein Gast. Es ist schon spät und meine Dienerschaft ist nicht mehr verfügbar. Lassen Sie mich selbst für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Er bestand darauf, meine Koffer den Gang, dann eine große Wendeltreppe hinauf, und durch einen weiteren, langen Korridor – auf dessen Steinfliesen unsere Schritte dumpf widerhallten – zu tragen. Am Ende des Korridors öffnete er eine schwere Tür, und ich sah erfreut in einen hellerleuchteten Raum, in dem ein Tisch zum Abendbrot gedeckt war und in dessen mächtigem Kamin ein großes Holzfeuer brannte.

Der Graf blieb stehen, stellte mein Gepäck ab, schloss die Tür, durchquerte den Raum und öffnete eine andere Tür, die in einen kleinen, achteckigen Raum führte, in dem nur eine einzelne Lampe leuchtete und der offensichtlich über keinerlei Fenster verfügte. Er durchschritt den Raum und öffnete dort eine weitere Tür und forderte mich mit einer Geste auf, einzutreten. Mir bot sich ein willkommener Anblick: ein großes Schlafzimmer, gut erwärmt und erleuchtet durch ein weiteres Holzfeuer, das ebenfalls frisch aufgestockt worden war. Der Graf brachte mein Gepäck herein, zog sich zurück und sagte, bevor er die Tür schloss:

»Sie werden nach Ihrer Reise Toilette machen wollen. Ich vertraue darauf, dass Sie alles finden werden, wonach Sie verlangen. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in den anderen Raum, wo Ihr Abendbrot zubereitet ist.«

Das Licht, die Wärme und der herzliche Empfang des Grafen hatten alle meine Zweifel und Ängste zerstreut. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, stellte ich fest, dass ich fast verhungert war. Schnell machte ich mich zurecht und ging in das andere Zimmer.

Das Abendessen war bereits angerichtet. Mein Gastgeber, der an einer Seite des Kamins stand und sich an die gemauerte Wand lehnte, machte eine graziöse Handbewegung zum Tisch und sagte:

»Ich bitte Sie, nehmen Sie Platz und essen Sie, was Sie möchten. Sie werden es mir verzeihen, wenn ich mich Ihnen nicht anschließe, aber ich habe bereits gegessen.«

Ich übergab dem Grafen den versiegelten Brief, den mir Mr. Hawkins anvertraut hatte. Er öffnete ihn und las ihn mit ernster Miene. Dann reichte er ihn mir mit einem freundlichen Lächeln zum Lesen. Besonders eine Stelle aus dem Brief bereitete mir besondere Freude:

Ich bedaure sehr, dass mir ein Gichtanfall, an dem ich bereits seit langer Zeit leide, größere Reisen derzeit völlig verbietet. Aber ich bin froh, Ihnen einen Stellvertreter schicken zu können, der mein volles Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, voller Energie, talentiert und absolut zuverlässig. Er ist in meinen Diensten aufgewachsen und sehr diskret. Er steht Ihnen während seines Aufenthaltes jederzeit zur Verfügung und ist ermächtigt, Anweisungen jeder Art von Ihnen entgegen zu nehmen.

Der Graf trat an den Tisch heran und hob den Deckel von einer Terrine, in der ein ausgezeichnet aussehendes Brathähnchen lag. Dieses, etwas Käse, ein Salat und eine Flasche alter Tokaier (von dem ich zwei Gläser trank) waren mein Abendessen. Während ich aß, stellte mir der Graf viel Fragen zu meiner Reise und ich erzählte ihm der Reihe nach alles, was ich erlebt hatte.

Unterdessen hatte ich die Mahlzeit beendet und auf Wunsch des Hausherrn einen Stuhl ans Feuer gezogen. Ich zündete mir die von ihm angebotene Zigarre an, wobei er sich dafür entschuldigte, dass er selbst nicht rauche. Ich hatte nun die Gelegenheit, ihn etwas genauer zu betrachten, und ich muss sagen, dass er ein sehr markantes Erscheinungsbild hat.

Sein Gesicht glich ziemlich – eigentlich sogar sehr – dem eines Adlers, mit einem hohen Nasenrücken und eigenartig gewölbten Nasenlöchern. Die Stirn war hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, ansonsten aber voll. Seine Augenbrauen waren dicht und wuchsen über der Nase beinahe zusammen – sie waren sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, soweit ich ihn unter dem dicken Schnurrbart sehen konnte, sah sehr hart und ziemlich grausam aus. Die Zähne, die außerordentlich scharf und weiß waren, ragten über die Lippen hinaus, deren auffallende Röte bei einem Mann seines Alters eine erstaunliche Vitalität verriet. Im Übrigen waren seine Ohren blass und äußerst spitz, das Kinn war breit und kräftig, die Wangen fest, aber schmal. Der allgemeine Eindruck war der einer außergewöhnlichen Blässe.

Von seinen Händen hatte ich bisher, als sie im Feuerschein auf seinen Knien lagen, nur die Handrücken gesehen und da hatten sie eher weiß und fein gewirkt. Jetzt aber, wo ich sie aus der Nähe sah, bemerkte ich, dass sie sehr grob waren – breit, mit kräftigen Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm in der Mitte der Handflächen Haare. Die Nägel waren lang und dünn, und zu scharfen Spitzen zugeschnitten. Als der Graf sich einmal über mich beugte und seine Hände mich berührten, konnte ich mich eines Schauderns nicht erwehren. Es mag sein, dass sein Atem schlecht war, aber ein schreckliches Gefühl der Übelkeit überkam mich, das ich, so sehr ich es auch versuchte, nicht verbergen konnte. Der Graf, der das offensichtlich bemerkt hatte, zog sich zurück. Mit einem grimmigen Lächeln, das seine Zähne noch mehr hervortreten ließ, nahm er wieder seinen Platz am Kamin ein. Wir schwiegen eine Weile, und als ich zum Fenster sah, bemerkte ich die ersten Anzeichen der heraufkommenden Morgendämmerung. Es lag eine seltsame Stille über allem, doch als ich genauer hinhörte, war es mir, als vernähme ich tief unten im Tal das Heulen vieler Wölfe. Mit leuchtenden Augen sagte der Graf:

»Hören Sie die Kinder der Nacht? Was für eine Musik sie machen!« Als ihm mein Gesichtsausdruck auffiel, fügte er hinzu:

»Ach mein Herr, Ihr Stadtbewohner könnt die Gefühle eines Jägers nicht nachvollziehen.« Dann stand er auf und sagte:

»Sie werden müde sein. Ihr Schlafzimmer ist bereit, und morgen können Sie nach Belieben ausschlafen. Ich werde bis zum Abend weg sein, schlafen Sie gut und träumen Sie schön.« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Zimmer und ich betrat mein Schlafzimmer ...

Ich befinde mich in einem Meer von Gefühlen: ich zweifle, ich fürchte mich, ich denke seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele nicht einzugestehen wage. Gott behüte mich, und sei es auch nur um derer willen, die mir lieb und teuer sind!

7. Mai – Es ist schon wieder früher Morgen, aber ich habe die letzten vierundzwanzig Stunden ausgeruht und es mir gut gehen lassen. Ich schlief bis spät in den Tag hinein und wachte von alleine auf. Als ich mich angekleidet hatte, begab ich mich in das Zimmer, wo ich zu Abend gegessen hatte, und fand ein kaltes Frühstück zubereitet, der Kaffee war in einer Kanne auf dem Kamin heißgestellt. Auf dem Tisch lag eine Karte, auf der geschrieben stand:

Ich muss leider noch eine Weile fernbleiben. Warten Sie nicht auf mich. – D.

Ich setzte mich also hin und ließ mir die herzhafte Mahlzeit schmecken. Als ich fertig war, suchte ich nach einer Glocke, um von der Dienerschaft abräumen zu lassen, konnte aber keine finden. Das war allerdings merkwürdig in einem solchen Haus, das nach allem, was mich umgab, den Eindruck von größtem Reichtum erweckte. Das Tafelservice ist aus Gold und so schön gearbeitet, dass es einen

immensen Wert haben muss. Die Bezüge der Stühle und Sofas und die Vorhänge meines Bettes bestehen aus kostbaren und wunderschönen Stoffen und müssen schon zur Zeit ihrer Herstellung einen sagenhaften Wert gehabt haben. Sie sind sicherlich Jahrhunderte alt und noch immer in ausgezeichnetem Zustand. Ich habe ähnliche Stoffe auch in Hampton Court gesehen, aber da waren sie abgenutzt, zerrissen und von Motten zerfressen. In keinem der Zimmer gibt es einen Spiegel. Nicht einmal einen Toilettenspiegel, so dass ich meinen kleinen Handspiegel aus dem Koffer holen musste, um mich rasieren und die Haare frisieren zu können. Ich habe bisher weder einen Diener gesehen, noch irgendein Geräusch gehört, außer dem Heulen der Wölfe. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, ob ich sie Frühstück oder Abendessen nennen soll, denn es war zwischen fünf und sechs Uhr – suchte ich nach Etwas zum Lesen, denn ich wollte ohne Einverständnis des Grafen nicht im Schloss herumlaufen. Es gab absolut nichts Lesbares im Zimmer: kein Buch, keine Zeitungen oder gar Schreibmaterial. Schließlich öffnete ich eine andere Tür und fand dahinter eine Art Bibliothek. Die Tür gegenüber war verschlossen.

In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner großen Freude eine ansehnliche Auswahl englischer Bücher, ganze Regale voll, sowie gebundene Jahrgänge von Zeitungen und Zeitschriften. Ein Tisch in der Mitte des Raumes war mit englischen Zeitungen und Zeitschriften übersät, aber keine davon waren neueren Datums. Die Bücher hatten verschiedenartigste Inhalte – Geschichte, Geographie, Politik, Ökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege – alles betrafen England, englisches Leben, englische Sitten und Gebräuche. Es gab sogar Nachschlagewerke wie das »London Dictionary«, das »Red Book« (Anm.: Finanz- und Haushaltsbericht des Vereinigten Königreichs) und das »Blue Book« (Anm.: Sozialprodukt, Einnahmen und Ausgaben des Vereinigten Königreichs) der »Withaker's Almanack« (Anm.: allgemeines Nachschlagewerk zu Politik und Geschichte), die »Army and Navy List« und – mein Herz lachte dabei – die »Law List« (Anm.: Verzeichnis der Gerichte, Rechtsanwälte und Sachverständigen Englands).

Während ich so in den Büchern herumblätterte, öffnete sich plötzlich die Tür und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, ob ich gut geschlafen hätte. Dann fuhr er fort:

»Es freut mich, dass Sie dieses Zimmer gefunden haben, denn ich bin sicher, dass Sie hier viel Interessantes finden werden. Diese Begleiter hier« – er legte eine Hand auf einige der Bücher – »sind mir wirklich gute Freunde geworden. Sie haben mir seit einigen Jahren, seit ich die Idee hatte, nach England zu gehen, viel Freude bereitet. Durch sie habe ich Ihr großartiges England kennengelernt – und es zu kennen, heißt es zu lieben! Ich sehne mich danach, in den belebten Straßen Ihres riesigen London zu flanieren – mitten im Gewühl und der Hektik der Menschheit, teilzunehmen an ihrem Leben, ihren Schicksalen, ihrem Sterben und an all dem, was sie zu dem macht, was sie ist. Aber leider kenne ich Ihre Sprache bisher nur aus Büchern.«

»Aber, Graf«, sagte ich, »Sie kennen und sprechen die englische Sprache recht gründlich!« Er verbeugte sich mit ernster Miene.

»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre schmeichelhafte Anerkennung; aber ich fürchte dennoch, dass ich auf dem Weg, den ich zurücklegen will, erst ein kurzes Stück vorangekommen bin. Ja, ich kenne die Grammatik und die Wörter Ihrer Sprache, aber ich weiß nicht, wie sie gesprochen wird.«

»Tatsächlich«, wiederholte ich, »sprechen Sie sie ausgezeichnet.«

»Nein, nein«, entgegnete er, »Ich weiß wohl, dass mich, wenn ich in Ihrem London leben werde, jeder sofort als Fremden erkennen wird. Das ist mir nicht genug. Hier bin ich ein Adeliger, ein Fürst. Das Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder in einem fremden Land ist man nichts. Niemand kennt einen, und jemanden nicht kennen, heißt sich nicht um ihn kümmern. Ich bin erst zufrieden, wenn ich mich in nichts von den anderen unterscheide und niemand seine Rede unterbricht, wenn er mich sprechen hört und sagt: ›Aha, ein Fremder!‹ Ich bin solange Herr gewesen, dass ich auch dort Herr sein will – oder wenigstens niemand Herr über mich ist. Sie kommen nicht nur als Vertreter meines Freundes Peter Hawkins aus Exeter zu mir, um mir alles über mein neues Anwesen in London zu erzählen. Sie werden, so hoffe ich, eine Zeitlang bei mir bleiben, damit ich durch das Sprechen mit Ihnen den englischen Akzent erlerne; und ich bitte Sie, mir zu sagen, wenn ich auch nur den kleinsten Fehler mache. Es tut mir leid, dass ich heute so lange wegbleiben musste; aber Sie werden es sicher jemandem verzeihen, der so viele wichtige Dinge zu erledigen hat.«

Natürlich versicherte ich ihm, dass ich alles tun werde, was in meinen Kräften stünde, und fragte ihn, ob ich dieses Zimmer jederzeit betreten dürfe, wenn es mir beliebe. »Ja, gewiss«, sagte er und fügte hinzu:

»Sie können überall im Schloss hingehen, wohin Sie wollen – außer dahin, wo die Türen verschlossen sind, wohin Sie aber auch gar nicht gehen wollen. Es gibt Gründe dafür, dass die Dinge so sind, wie sie sind und könnten Sie mit meinen Augen sehen und hätten Sie meine Erfahrungen, würden Sie mich noch besser verstehen.« Ich erwiderte ihm, dass ich mir da sicher sei, und er fuhr fort:

»Wir sind hier in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Unsere Wege sind nicht die Ihrigen und manches mag Ihnen sonderbar erscheinen. Aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, wissen Sie ja bereits, dass sich hier seltsame Dinge ereignen können.«

Dies führte zu einer ausgedehnten Unterhaltung, und da ich bemerkte, dass er gerne plaudert – und sei es nur um des Plauderns willen – stellte ich ihm viele Fragen über Dinge, die ich gesehen oder erfahren hatte. Manchmal lenkte er ab oder unterbrach das Gespräch, indem er vorgab, die Frage nicht zu verstehen, aber im Allgemeinen beantwortete er meine Fragen sehr freimütig. Mit voranschreitender Zeit wurde ich mutiger und fragte ich ihn nach einigen der seltsamen Dinge der vergangenen Nacht, zum Beispiel, warum der Kutscher zu den blauen Flämmchen gegangen sei. Er erklärte mir, dass es allgemeiner Glaube sei, dass in einer bestimmten Nacht des Jahres – tatsächlich die vergangene Nacht – alle bösen Geister unkontrolliert ihr Unwesen treiben können und blaue Flammen einen Ort anzeigen, an dem ein verborgener Schatz liegt.

»Daran, dass solche Schätze in der Gegend, durch die sie fuhren, vergraben wurden«, fuhr er fort, »kann es nicht den geringsten Zweifel geben, denn es ist der Boden, um den jahrhundertelang Walachen, Sachsen und Türken kämpften. Dort gibt es kaum einen Fußbreit Erde, der kein Menschenblut getrunken hat, von Einheimischen und Eindringlingen. Das waren böse Zeiten, als die Österreicher und Ungarn in Scharen herankamen und die Einheimischen sich ihnen entgegenstellten – Männer und Frauen, Alte und Kinder – und ihnen in den Gebirgspässen auflauerten, wo sie durch künstliche Lawinen Verderben über die Feinde brachten. Und wenn die Eindringlinge dennoch triumphierten, fanden sie wenig Brauchbares vor, denn die Besiegten hatten alles, was sie besaßen, der heimischen Erde anvertraut.«

»Aber wie«, fragte ich, »kommt es, dass diese Schätze so lange nicht gehoben wurden, wo es doch sichere Hinweise gibt?« Der Graf lächelte, wobei sich seine Lippen hoben und die langen, scharfen Eckzähne hervortraten. Er antwortete:

»Weil unsere Bauern Feiglinge und Dummköpfe sind. Diese Flammen erscheinen nur in dieser einen Nacht, und in dieser Nacht wird niemand, wenn er es vermeiden kann, das Haus verlassen. Und selbst wenn er es wagte, hinauszugehen und die Stellen zu markieren, wüsste er bei Tageslicht nicht, wo er suchen sollte. Auch Sie, das würde ich beschwören, würden diese Stellen nicht wiederfinden.«

»Da haben Sie recht«, sagte ich. »Ich weiß genauso wenig wie die Toten, wo ich sie suchen sollte.« Wir wechselten das Thema.

»Kommen Sie«, sagte er, »erzählen Sie mir von London und dem Haus, das Sie für mich gekauft haben.« Ich entschuldigte mich für meine Nachlässigkeit und ging in mein Zimmer, um die Unterlagen aus meiner Tasche zu holen. Während ich diese etwas sortierte, hörte ich aus dem Nebenzimmer das Klappern von Porzellan und Silber, und als ich zurückkam, war der Tisch abgeräumt und die Lampe angezündet, denn es war mittlerweile recht dunkel geworden. Auch im Bibliothekzimmer brannten die Lampen und der Graf lag auf dem Sofa und blätterte – ausgerechnet – in einem »English Bradshaw's Guide« (Anm.: Eisenbahnfahrpläne und Reiseführer). Als ich hereinkam, räumte er die Bücher und Zeitungen vom Tisch und wir vertieften uns in die Pläne, Urkunden und Zahlen aller Art. Er interessierte sich für alles und stellte mir unzählige Fragen über das Grundstück und seine Umgebung. Offensichtlich hatte er sorgfältig recherchiert, was er über die Nachbarschaft in Erfahrung bringen konnte, denn er wusste eigentlich mehr als ich. Als ich das erwähnte, sagte er:

»Nun, mein Bester, muss ich das nicht? Dort werde ich alleine sein und mein Freund Harker Jonathan – verzeihen Sie, ich habe nach der Gewohnheit meiner Sprache den Familiennamen vorangesetzt – mein Freund Jonathan Harker wird mir nicht zur Seite stehen um mich zu korrigieren oder mir zu helfen. Er wird im meilenweit entfernten Exeter sein und dort vielleicht mit meinem anderen Freund, Peter Hawkins, an juristischen Dokumenten arbeiten. Ist es nicht so?«

Wir befassten uns eingehend mit dem Kauf des Anwesens in Purfleet. Als ich ihm den Sachverhalt mitgeteilt, seine Unterschrift unter den erforderlichen Papieren erhalten und einen Brief geschrieben hatte, den ich an Mr. Hawkins schicken wollte, begann er mich zu fragen, wie ich auf einen so geeigneten Ort gekommen sei. Ich las ihm die Notizen vor, die ich damals gemacht hatte und die ich hier eintrage:

»In Purfleet, in einer Nebenstraße, fand ich ein Grundstück, wie ich es suchte und ein verwaschenes Schild zeigte an, dass es zum Verkauf stand. Es ist von einer hohen, aus großen Steinen errichteten Mauer alter Bauart umgeben und wurde seit vielen Jahren nicht mehr instandgehalten. Die verschlossenen Tore sind aus schwerem Eichenholz mit allesamt verrosteten Eisenbeschlägen.

Das Anwesen heißt ›Carfax‹ – zweifellos eine Abwandlung von ›Quatre Faces‹, denn das Haus ist viereckig und orientiert sich nach den vier Himmelsrichtungen. Es umfasst insgesamt circa zwanzig Hektar, ist vollständig von oben erwähnter Mauer umgeben und mit vielen Bäumen bestanden, was ihm einen gewissen düsteren Charakter verleiht. Außerdem befindet sich dort ein tiefer, dunkler Teich oder kleiner See, der offenbar von unterirdischen Quellen gespeist wird; das Wasser ist klar und fließt in einem recht großen Bach ab. Das Haus ist sehr groß und weist die Bauarten aller Epochen bis zurück zum Mittelalter auf. Ein Teil ist aus ungeheuer dickem Stein erbaut; die wenigen Fenster sind hoch über dem Boden angebracht und mit starken Eisengittern versehen. Es sieht aus wie ein Verlies und liegt in der Nähe einer alten Kapelle oder Kirche. Ich konnte nicht hinein, da ich keine Schlüssel besaß, aber ich machte mit meiner neuen Kamera von verschiedenen Seiten Aufnahmen. Das Haus besitzt Anbauten und ich kann dessen Grundfläche nur annähernd schätzen. In der Nachbarschaft befinden sich nur wenige Gebäude; eines davon ist sehr groß und wurde erst kürzlich zu einer privaten Irrenanstalt umgebaut. Vom Grundstück aus ist sie aber nicht zu sehen.«

Als ich fertig war, sagte er: »Es freut mich, dass das Haus so groß und alt ist. Ich stamme aus einer alten Familie, und das Wohnen in diesen neumodischen Häusern würde mich umbringen. Ein Haus kann nicht an einem Tag wohnlich eingerichtet werden. Es ist mir auch lieb, dass dort eine alte Kapelle steht. Wir transsilvanischen Adligen können die Vorstellung, dass unsere Gebeine zwischen denen gewöhnlicher Sterblicher ruhen sollen, nicht ertragen. Ich suche weder Fröhlichkeit noch die Wollust warmen Sonnenscheins und glitzernden Wassers, wie es die lebenslustige Jugend tut. Ich bin nicht mehr jung und mein Herz ist durch die ermüdenden Jahre der Trauer um die Toten nicht auf Heiterkeit eingestellt. Auch die Mauern meines Schlosses sind zerbrochen; es gibt viel Schatten und der Wind pfeift kalt durch zerbröckelnde Zinnen und Fenster. Ich liebe das Dunkel und die Schatten und bin gerne mit meinen Gedanken allein.« Seine Worte und sein Blick schienen nicht zusammen zu passen, es lag ein bösartiges, düsteres Lächeln in seinem Gesichtsausdruck.

Schließlich stand er auf, entschuldigte sich unter einem Vorwand und bat mich, während seiner Abwesenheit meine Papiere wieder in Ordnung zu bringen. Als er gegangen war, betrachtete ich einige der Bücher, die herumlagen. Eines war ein Atlas. Die Karte von England war, scheinbar viel benützt, aufgeschlagen. Als ich näher hinsah, fiel mir auf, dass einige Orte mit kleinen Kreisen markiert waren; einer im Osten Londons, offensichtlich da, wo sein neues Anwesen lag, einer bei Exeter und einer bei Whitby an der Küste von Yorkshire.

Es dauerte fast eine Stunde, bis der Graf zurückkam. »Ah«, sagte er, »immer noch über den Büchern? Gut. Aber Sie dürfen nicht nur arbeiten. Kommen Sie, mir wurde mitgeteilt, dass Ihr Abendessen fertig ist.« Er nahm meinen Arm und führte mich ins Nebenzimmer, wo ich ein vorzügliches Abendessen vorfand. Der Graf entschuldigte sich wieder, dass er bereits auswärts gegessen habe. Aber er blieb, wie in der Nacht zuvor, bei mir und plauderte, während ich aß. Nach dem Essen rauchte ich wieder und der Graf blieb bei mir und stellte Fragen zu allen erdenklichen Dingen. So verging Stunde um Stunde. Ich merkte, dass es sehr spät wurde, sagte aber nichts, da ich mich verpflichtet fühlte, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Hinsicht nach zu kommen. Ich war nicht müde, denn der lange Schlaf gestern hatte mich gestärkt. Aber ich kam nicht umhin, das Frösteln zu spüren, das einen bei Anbruch der Morgendämmerung befällt, der ähnlich wie der Gezeitenwechsel des Meeres wirkt. Man sagt, dass Menschen, die dem Tode nah sind, oft bei Einbruch der Morgendämmerung oder beim Wechsel der Gezeiten sterben. Jeder, der diese Änderung der Atmosphäre gespürt hat, wird das sehr gut verstehen. Plötzlich hörten wir einen Hahnenschrei, der unheimlich schrill durch die klare Morgenluft klang. Graf Dracula sprang auf und sagte:

»Da ist es schon wieder Morgen! Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange wach zu halten! Sie müssen Ihre Geschichten über mein liebes neues England weniger interessant gestalten, damit ich nicht vergesse, wie die Zeit vergeht.« Und mit einer höflichen Verbeugung verließ er mich eilig.

Ich ging in mein Zimmer und zog die Vorhänge auf, aber es gab wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Innenhof hinaus und alles, was ich sehen konnte, war das warme Grau des erwachenden Tages. Also zog ich die Vorhänge wieder zu und schrieb meine Erlebnisse nieder.

8. Mai – Als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, dass es zu ausführlich werden könnte, aber jetzt bin ich froh, dass ich von Anfang an keine Details ausließ. Dieser Ort ist so seltsam, dass ich mich unbehaglich fühle. Ich wollte, ich wäre wieder heil draußen oder gar nicht erst hierhergekommen. Es kann sein, dass es an diesem ungewöhnlichen Nachtleben liegt – wenn es nur das wäre! Wenn ich jemanden hätte, mit dem ich reden könnte, ließe es sich ertragen, aber da ist niemand. Ich kann nur mit dem Grafen sprechen, und der … Ich fürchte, ich bin die einzige lebende Seele hier auf dem Schloss. Ich will alles so nüchtern darstellen, wie die Tatsachen es zulassen. Es wird mir helfen, durch zu halten. Meine Fantasie darf mich jetzt nicht überwältigen, sonst bin ich verloren. Ich schildere alles so, wie es ist – oder wie ich glaube, dass es ist.