Drahtseiltänzer - S. B. Sasori - E-Book

Drahtseiltänzer E-Book

S.B. Sasori

5,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Wenn er mir entgegenlächelt, die Hand nach mir ausstreckt, dann brauche ich keine Sicherung.
Er wird mich auffangen.
Egal, aus welcher Höhe ich falle.«

Ein Tanz auf dem Drahtseil, ein Deal, der zum Verrat zwingt, und eine Nacht am Strand, getaucht in Geborgenheit und Nähe.
Doch die Sonne geht auf und der neue Tag schlingt vertraute Fesseln um Ciros Leben.

Ein toter Bruder, ein missratenes Outing und eine Spontanreise in die Toskana. Noah braucht Abstand. Zu sich und seinen Eltern – nicht zu dem Italiener mit dem verträumten Blick und den braungebrannten Füßen in sandigen Flip-Flops.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DRAHTSEILTÄNZER
Von Tänzern und Helden
Dolce Vita
Mülltonnentränen
Seidenzart
Puzzleteile
Der Traum stillstehender Zeit
Epilog
Weitere Romane von S.B. Sasori

S.B. SASORI

DRAHTSEILTÄNZER

Copyright © 2019 S.B. SASORI

Alle Rechte vorbehalten

Erstausgabe 2015

https://www.swantje-berndt.de

https://sbnachtgeschichten.com

Bildmaterial: Shutterstock.com, ©Anatoly Tiplyasin,

©Kasia, ©Albo

Cover: Swantje Berndt

Lektorat und Korrektorat: Alexandra Balzer

»Wenn er mir entgegen lächelt, die Hand nach mir ausstreckt, dann brauche ich keine Sicherung. Er wird mich auffangen.

Egal, aus welcher Höhe ich falle.«

Von Tänzern und Helden

 

- Ciro -

 

Ich träume von Cassian Tarek. Thronerbe von Salis, Sohn von Mutil und Lera, dazu ausersehen, seinem Haus Ehre und Reichtum zu bringen und nebenbei die Welt vor der Finsternis zu retten.

Mein Held existiert in meinem Kopf. Ebenso wie das weite Land mit grünen Wäldern und tiefen Tälern. Kitsch, der mich am Leben hält. In meiner Fantasie reite ich mit ihm zusammen zwischen mächtigen Bäumen entlang, deren Kronen lediglich einzelne Sonnenspeere auf den Moosboden vordringen lassen. Ich bade mit ihm in Seen, klarer als die Gedanken des weisesten aller Menschen, und nachts liegen wir eng umschlungen unter dem Sternenhimmel.

Dann wache ich auf.

In einem zu kurzen Bett, mit dem Schreibtisch vom Sperrmüll, mit dem Stuhl, dessen Stofflehne längst eingerissen ist. Statt Waldluft zwängt sich der Dieselgestank des Hafens in meine Nase.

Livorno.

Für ein paar Monate? Ein Jahr?

Wann wir abreisen, entscheidet Marco. Noch verdienen wir in Pisa, Lucca und Volterra genug. Geld klimpert dort, wo sich Touristen durch mittelalterliche Gassen schieben. Leider reicht es nie, um fürs Winterquartier eine anständige Bleibe mit trockenen Wänden zu mieten oder neue Klamotten zu kaufen.

Im Schrank liegen Jeans und T-Shirts. Ein paar löchrige Socken, einige außer Form gewaschene Pullover. Alles ist längst von meinem Bruder Marco abgetragen.

Ich besitze wenig, was wirklich schön ist. Es steckt in einem Koffer, der genauso schäbig ist wie der Rest der Wohnung.

Ein Minirock, ein Sommerkleid, Nylonstrümpfe, Pumps, Gymnastikballerinas, hautenge Tops, zwei Push-up-BHs, in die ich Gelkissen stecke, Tücher und dünne Schals und eine blonde Perücke samt Perückenbändern.

Dabei bin ich stolz auf meine Haare.

Voll, braun, lockig. Immer ein paar Strähnen über den Augen. Sie sind das Einzige, was ich an mir mag. Zumindest wenn ich Ciro bin. Der neunzehnjährige Niemand, der nur zehn Meter über dem Boden bewundert wird, sobald er sich in Chiara verwandelt hat und Handküsse in die Menge wirft.

Keiner erkennt mich dort oben.

Bis auf Cassian.

Er ist stark, ungeheuer mutig und sehr groß. Er beschützt jeden, der ihn um Hilfe bittet.

Ich bitte ihn jeden Tag darum.

Ihm ist es gleichgültig, ob ich Ciro oder Chiara bin. Er liebt beide. Den schüchternen jungen Mann und die fröhliche, sexy Frau.

Bin ich Chiara, sehne ich mich nach Cassian, der mich in den Arm nimmt, mir zärtlich seine Zunge in den Mund steckt, mit den Händen unter mein Top wandert und sich nicht an dem Fake stört. Der mich zwischen seine Beine nimmt und mich seinen Schwanz spüren lässt. Dass sich ihm bei dieser Gelegenheit etwas Ähnliches entgegenstreckt, registriert er mit einem Lächeln. Für ihn bin ich mit oder ohne Schwanz, mit oder ohne Titten die perfekte Frau.

Wenn ich es will.

Wenn mir nach Mann ist, reißt er mir den Rock vom Leib, zieht mir den Reif aus den Haaren, schleudert BH und Gelkissen in die Ecke und macht mich wieder zu Ciro.

Er vögelt mich, wie Männer Männer vögeln. Wild und lange genug, bis mir schwindelig wird und ich vor Lust bloß noch wimmern kann.

In meiner Fantasie.

Außerhalb meiner Träume werde ich selten gevögelt.

Zu wenig Gelegenheit, zu viel Risiko.

Mein heimliches Doppelleben ernährt Marco und mich und muss geschützt werden. Deshalb verstecke ich mich unter weiten Hemden und fusseligen Pullis. Je weniger die Leute von mir mitbekommen, umso besser. Dann bemerken sie die Ähnlichkeit zwischen Ciro und Chiara nicht und lassen mich in Ruhe. Sie stellen keine Fragen. Wundern sich nicht, dass Ciro morgens das Haus betritt und Chiara es abends verlässt.

Denn sie lässt niemand in Ruhe.

Wo sie auch auftaucht, heften sich Blicke wie Zecken an sie.

Chiara liebt das. Genießt jedes bisschen Bewunderung, das sie bekommt.

Ich beneide sie.

Manchmal möchte ich mich einfach so in die blonde Frau mit dem selbstbewussten Lächeln verwandeln. Aber ihr gehört ausschließlich der Moment auf dem Seil und der Applaus danach.

Ich starre in den Spiegel und versuche, meine zwei Existenzen gleichzeitig zu sehen. Ich finde nur Ciro. Seine großen braunen Augen schauen mich traurig an. Er fürchtet sich vor dem Auftritt heute Abend.

Dabei muss Chiara tanzen. Mit Perücke und Kleid und Seidenschal um den Hals.

Ich gäbe eine Menge dafür, wenn Cassian aus meinen Träumen heraustreten würde, um mich statt aufs Pferd auf sein Mofa zu heben und vor meinem zerfledderten Leben zu retten.

Wie sehr ich mich nach seinem Mut und seiner Kraft sehne!

Vor allem, wenn Marco zu viel getrunken hat und mich mit Schimpfworten bombardiert, die mir den Magen nach links drehen. In solchen Momenten stelle ich mir vor, dass sich Cassian schützend vor mich stellt, meinen Bruder am Kragen packt, ausholt und ihn niederschlägt. Eine Sekunde später schäme ich mich für diese Fantasie.

Marco ist meine Familie. Er tut viel für mich. Er ist mit mir geflohen und hat dadurch alles zurückgelassen, was er kannte.

Wenn er nüchtern ist, kommen wir miteinander klar.

Meistens.

»Ciro, beeile dich!« Marco ruft aus der Küche. »Paolo Costa erwartet Pünktlichkeit.«

Ein reicher Mann, seine Werft, ein Firmenjubiläum, applaudierende Gäste, ein Drahtseil, meine Angst.

»Chiara«, flüstere ich gegen das Glas. »Dein Auftritt.«

 

 

- Noah -

 

»Noah! Dein Bus fährt in drei Minuten!«

Jahaaaa.

»Stulle eingepackt? Schlüssel in der Tasche? Was ist mit der Mathearbeit? Muss ich die noch unterschreiben? Und wann kommst du nach Hause? Nach der Achten? Kannst du auf dem Weg Brot mitbringen? Oder soll ich das wieder alles tun? Paps kommt später. Kegelabend.«

Die Hektik meiner Mutter bringt mich aus dem Takt. Wie jeden Morgen.

Früher war sie ruhiger. Aber da war Nils noch bei uns und wir dachten, das würde ewig so bleiben.

Eine glückliche, entspannte Familie, die keine Katastrophen kannte.

Ich schlage mir mit der Faust auf die Brust. Seltsamerweise hilft das, wenn die Erinnerung an meinen kleinen Bruder mich traurig macht.

»Noah! «

»Himmel noch mal! Bin gleich weg!« Taschenrechner? Hefter? Geo oder nicht Geo? Vertretung. In was? Steht ein Test an? Wenn, habe ich nicht für ihn gelernt. Kein Einzelschicksal und längst kein Drama. Für meine Verhältnisse sind meine Noten okay. Wer will beim Abitur schon eine Eins vorm Komma? Nur Freaks, die ihre Freizeit am Schreibtisch verschwenden. Für ein Maschinenbaustudium an der TU brauche ich bloß eine Zwei davor. Schaffe ich auch nicht. Wozu gibt es Wartesemester? Am liebsten irgendwo im Ausland. Ich will die Welt sehen.

»Noah!«

»Scheiße Mann, ja!« Alles rein in den Rucksack, was passt. Ein Blick in den Spiegel, bevor ich mir die Turnschuhe über die Fersen stülpe.

Mir gefällt, was ich sehe. Braun gebrannte Haut vom Chillen am Wannsee, definierte Schultern, die das knapp sitzende Shirt zu sprengen versuchen. Kurze blonde Haare, stylisch mit Wachs in Form gebracht.

Ich ziehe mein Tanktop hoch und checke meinen Bauch. Mann, ich liebe ihn. In dem Sixpack steckt eine Menge Zeit und Arbeit.

Brust, Arsch, Beine gefallen mir auch.

Bescheidene Demut wird überbewertet.

Das Grinsen im Glas ist arrogant. Na und? Ich kann sein, was ich will. Manchmal auch achtzehn oder neunzehn. Kein Problem, einen Muttizettel zu fälschen, um bei Events bis zum Morgengrauen bleiben zu können. Dauert auch nicht mehr lange bis zur Volljährigkeit. Das neue Schuljahr beginne ich als Erwachsener. Dann kann ich mir die Lügen und gefakten

Erlaubnis- und Entschuldigungszettel sparen.

Dass ich erst siebzehn bin, nimmt mir ohnehin niemand ab. Zu ernst, zu erfahren, zu abgebrüht bei manchen Dingen.

Kummer lässt einen reifen.

Scheiße! Ich schlage mir noch einmal vor die Brust.

Nils, ich vermisse dich. Deinen blonden Strubbelkopf, deine Kulleraugen, wenn du mich angebettelt hast, mit dir Tischfußball zu spielen. Dabei ragte deine Nase gerade mal über die Kante. Keine Ahnung, wie oft ich dich habe gewinnen lassen. Wenn du es mitbekommen hast, bist du stinksauer geworden und deine Kinderspeck-Fäustchen wirbelten in der Luft und versuchten, mich zu treffen. Ich habe mir einen Ast gelacht.

Gott, was warst du süß.

Wärst ein Kerl geworden. So ein richtiger tougher, cooler Kerl mit breitem Grinsen und Überlegenheit in der Miene. Wir wären zusammen losgezogen und ich hätte dir Berlin bei Nacht gezeigt.

Sollte wohl nicht sein.

Möge das Arschloch hinter seinem Lenkrad verrecken.

»Der Bus kommt in drei Minuten!« Die Stimme meiner Mutter schrammt an der Hysteriegrenze. »Denk ja nicht, dass ich dich fahren werde!«

Scheiße! So spät? Ich wische mir über die Augen und schnappe meinen Kram. Wenn ich wie angestochen renne, kann ich es schaffen.

Der Busfahrer ist ein Sack. Der wartet auch nicht, wenn ich mich winkend vor ihm auf die Straße werfe.

Zwei Ecken um den Block. Knapp realistisch in der kurzen Zeit.

Ich gebe alles, bis die Haltestelle samt Bus vor mir auftaucht. Die Schlange an unmotivierten Gymnasiasten ist lang genug, um einen Gang zurückzuschalten. Keuchend durch die Sitzreihen zu gehen, kommt schlecht. Pünktlich, das heißt, kurz vorm Türenschließen, setze ich den Fuß aufs Trittbrett.

Geschafft.

»Da will noch einer mit.« Ein rosa Mädchenzwerg mit Pausbacken aus der Siebten grinst vor Schadenfreude und stößt ihre Freundin an. »Pech gehabt«, sagt die schulterzuckend.

Was für Larven!

Ich riskiere einen Blick nach hinten, obwohl ich die Schiebetür im Nacken habe.

Ein Typ rennt den Weg entlang, den ich gerade hinter mich gebracht habe. Dunkler Wuschelkopf, ein bisschen schlaksig. Kriegt’s mit den Beinen nicht so hin. Jedenfalls gibt es schnellere. Sein Gesicht leuchtet rot vor Anstrengung.

Armer Kerl. Ist nur fair, wenn ich ihm helfe.

Ich quetsche mich mit dem Oberkörper zwischen die Gummidichtungen der Türflügel und grinse den Fahrer an. »Wir warten.«

Sein Kopf läuft genauso rot an wie der des Jungen, der keuchend näherkommt.

»Rein mit dir«, knurrt der Typ unentspannt, »oder du kannst auf den nächsten Bus warten.«

»Noch ein paar Sekunden.« Der Junge hat es gleich geschafft.

Welche Verwünschungen über die schnauzbärtigen Lippen kommen, ist mir egal. Einquetschen kann er mich nicht und rausschubsen darf er mich nicht.

Die ersten Lacher gehen auf seine Kosten, sein Gesicht platzt jeden Moment vor Wut.

Der Schlaksige springt hinter mir auf die Stufe. »Danke.« Hübsche Rehaugen schauen zwischen Korkenzieherlocken schüchtern zu mir, anschließend zum Fahrer.

Aha. Das Danke galt uns beiden. Dabei habe nur ich es verdient.

Der Mann hinter dem Lenkrad ignoriert uns, auch unsere Busausweise, die wir brav vorzeigen.

Auf dem Weg zu den hinteren Bänken ernte ich coole Sprüche und anerkennende Klopfer auf den Rücken.

Der Lockenkopf folgt mir zögernd, bis ich sein Schnaufen nicht mehr höre. Statt zu den letzten Bänken zu gehen, wie es sich gehört, setzt er sich neben eine Oma und starrt an ihren Dauerwellen vorbei aus dem Fenster.

»Der ist neu.« Jonas grinst zu mir hoch und räumt seine Tasche für mich weg. Ich lasse mich neben ihn fallen und entschließe mich, keine Kopfhörer auszupacken, sondern den Gerüchten über Korkenzieherlöckchen zu lauschen. Gestern hatte ich geschwänzt. Die Spontanfete bei Tanja hatte zu lange gedauert. Offenbar ist mir dadurch etwas Wichtiges entgangen.

»Robin irgendwas, heißt er. Still wie ein Grab. Fiel sogar Frau Waltmann in Englisch nicht auf, und die …«

»… hat’s ja immer mit den Stillen.«

Jonas rümpft die Nase, dass für einen Moment zwei Drittel seiner Sommersprossen verschwinden. »Er ist noch nirgends angedockt. Bis jetzt reißen sich die Leute allerdings auch nicht um ihn.«

»Ist er freakig? Schräg, zu emomäßig oder ein Amok-Kid?« Bei den Stillen ist manchmal Vorsicht geboten.

Jonas zuckt die Schulter. »Keine Ahnung. Ich habe mich nicht mit ihm befasst.«

Ich lasse mich zur Seite kippen, um an den Banklehnen vorbei freie Sicht auf Robin zu haben.

Stöpsel in den Ohren, eine Hand auf seinem Knie, deren dünne Finger schüchtern den Takt schlagen. Die Klamotten sind grottig. Hat seine Mutter sie für ihn ausgesucht? Niemand trägt ein Hemd unter dem Pullover. Die Jeans wirkt zu steif im Stoff, rutscht beim Sitzen hoch genug, um die Fußknöchel zu zeigen – die trotz schönsten Wetters unter dicken Tennis-socken verschwinden.

Ich liebe den Anblick nackter Fußknöchel. Vor allem dann, wenn sie bereits gebräunt sind.

Robins Bonuspunkte schwinden. Obwohl seine Haare ein-iges rausreißen. Was zum Wuscheln.

»Pirsch?«, fragt Jonas vorsichtig. Er hat kein Problem mit mir. Normalerweise. Außer ich klebe auf der Fährte zum nächsten Opfer. Dann hält sich mein bester Freund fern von mir.

Sein O-Ton: Deine vor Geilheit triefenden Blicke und deine ständige Latte zwischen den Beinen sind peinlich. Komm zu mir, wenn dein Schwanz wieder dir gehört.

Ich mag Jonas. Als das mit Nils passierte, war er für mich da. Wenn ich jemanden zum Reden brauchte, kam er vorbei, wenn ich im Trübsal versinken wollte, ließ er mich in Ruhe.

In den Verdacht, ebenfalls schwul zu sein, geriet er deshalb nie. Er steht auf dralle Blondinen und zwischen seinen Beinen zuckt es nicht weniger oft als zwischen meinen.

Moppelmädchen und süße Typen sind zum Glück keine Mangelwaren an unserer Schule.

Die Oma will aussteigen und bittet Robin, aufzustehen. Der tut, was man ihm sagt. Schließlich kann er sie nicht über die Lehne klettern lassen.

»Pirsch!« Die grässlichen Klamotten blende ich aus. Was zählt, ist der Kern und der ist hoffentlich süß.

Jonas verdreht die Augen. »Viel Glück. Aber ich will mich nicht für dich schämen müssen. Also geh es diesmal diskreter an und leg ihn nicht gleich im Bus flach.«

Er übertreibt maßlos. Bloß, weil ich keine Zeit mehr mit Schwachsinn wie Reflexion oder Zurückhaltung verschwende. Wen ich vögeln will, der erfährt es und spürt es mit etwas Glück auch ziemlich schnell.

Jonas ist neidisch, weil ich sage, was ich denke und vor allem, was ich haben will. Er quält sich mit Metaphern und Balzritualen herum.

Falsch. Auch ich haue nicht jedem alles um die Ohren, was in meinem Hirn spukt.

Da gibt es eine sensible Ausnahme. Meine Eltern haben keinen Schimmer, dass ich schwul bin.

Heute werde ich das ändern.

Guter Entschluss.

Einen ähnlichen traf ich letztes Jahr. Ausgeführt habe ich ihn bisher nicht. Bei diesem Thema bin ich eine feige Sau.

Bis jetzt hat es niemand meinen Eltern gesteckt. Kein Lehrer, keiner meiner Freunde. Bevor das geschieht, sollen sie es von mir persönlich erfahren. Ist nur fair.

Der Crash mit Nils liegt lange genug zurück. Immerhin drei Jahre.

Meine Eltern werden einen neuen Schock verkraften – hoffentlich.

Mir wird heute noch schlecht, wenn ich an Nils und den verdammten Tag denke, als sein Schädel von einer Stoßstange geknackt wurde. Die Ärzte redeten von einer offenen Schädelkallottenfraktur, und dass sie nichts mehr für ihn tun konnten. Er sei wahrscheinlich sofort tot gewesen.

Kann mich an einen Raum mit Kerzen erinnern. Zu friedlich für all die Tränen. Ein ernster Mann stand hinter uns. Ich kannte ihn nicht, wollte, dass er geht.

Nils’ Gesicht sah komisch aus. Fremd und wächsern.

Ich dachte: alles klar, Kumpel. Du kriegst es wenigstens nicht mehr mit. Danach bin ich rausgerannt und habe den Flur vollgekotzt.

Seitdem packe ich alles in mein Leben, was geht. Das bin ich Nils schuldig. Immerhin muss es für zwei reichen.

Flirten geht immer. Vor allem auf meine Weise. Kurz und knackig und dadurch extrem adrenalinlastig. Lässt sich der andere darauf ein? Lacht er mich aus? Droht er mir Schläge an oder zieht er mich ins nächste Klo, um sich von mir vernaschen zu lassen?

Spannend. Ich mag spannend. Und ich mag Sex.

Ich werfe mich in die Brust und beginne die Jagd. Da der Platz neben Robin frei ist, freut er sich vielleicht über Gesellschaft.

Süßer Typ.

Die Locken hängen ihm neckisch in die Stirn.

Ich tippe ihn an der Schulter an, er zuckt wie vom Schlag getroffen zusammen. Wild reißt er sich die Stöpsel aus den Ohren. Sein Handy rutscht ihm aus der Hand, schlittert mir vor die Füße. Auf dem Display leuchtet mir das Bild eines bildhübschen schwarzhaarigen Mädchens entgegen. Ich kenne sie. Verena aus dem Jahrgang unter mir. Heiß begehrt, wild verehrt. Sie lächelt kilometerweit an der Kamera vorbei.

Robin hat sie garantiert heimlich aufgenommen.

Schade, der Typ steht auf Titten.

Ob ich ihn warnen soll, dass seine Aussichten auf Erfolg gegen null streben?

Ich gebe ihm das Handy.

Robins Gesicht flammt feuerrot auf. »Danke«, nuschelt er und steckt es hektisch ein.

»Nicht dafür.« Da für mich nichts bei ihm zu holen ist, trolle ich mich wieder.

Jonas feixt. »Kein Glück?«

»Hetero.«

»Hat er dir das eben gesagt oder woher weißt du das?«

»Ist so. Glaub mir.« Ich werde Robins heimliche Liebe keinesfalls verraten. Mit den Klamotten hat es der Bengel auch so schwer genug.

Aber diese Locken … absolut süß.

 

 

- Ciro -

 

Unter mir gähnt Tiefe. Der Kran schwankt. Ich spüre es bis in den Magen. Der zweite mir gegenüber wird die Bewegung verstärken.

Kräne sind keine Türme. Ihre Eigenschwingung fließt durch das Seil.

Ich werde jeden Windhauch verfluchen.

Die Mobilkräne sind Felsen. Paolo Costas selbstgefälliges Geschäftsmann-Grinsen, als er mir die Umstände meines Auftritts erklärte, stößt mir bitter auf. Selbst ausgezogen auf achtzig Meter Höhe kannst du ihrer Stabilität vertrauen.

Signore Costa ist nie über ein Seil gelaufen. Woher will er wissen, wie es sich anfühlt? Ich bin kein Container, dem ein bisschen Wackeln egal ist.

Hundert Meter auf einem Vierzehn-Millimeter-Drahtseil in dreißig Meter Höhe.

Gott, wie konnte ich mich darauf einlassen?

Ich habe noch nie so weit über dem Boden getanzt.

Zehn Meter. Kein Problem.

Fünfzehn Meter, wenn ich einen mutigen Tag habe und der Wind nur ein laues Lüftchen ist. Danach ist Schluss.

Ich klammere mich an die Metallstreben und sehe nach unten. Alle Gäste blicken zu mir hinauf. In der Mitte steht Paolo Costa. Er bezahlt mich für diesen Leichtsinn. Damit ich zu seinem Firmenjubiläum mein Leben riskiere, blättert er eine satte vierstellige Summe hin.

Mir ist schlecht vor Angst. »Ich will eine Sicherung.« Es ist räudig, ins Seil zu fallen. Weil es wehtut, und weil einem der Schreck bis ins Mark fährt. Aber ohne setze ich keinen Schritt auf das Ding vor mir.

»Denk an die Gage.« Marco hat sich mit dem Arm an die Streben geklammert und befreit mehr oder weniger einhändig die Balancierstange aus dem Riemen.

Costas Leute haben sie beim Spannen für mich dort angebracht, damit ich sie nicht mit hinaufschleppen musste.

Die Miene meines Bruders ist verzerrt. Nach der Kletterei muss ihm sein Knie höllisch wehtun. Dennoch hat er es sich nicht nehmen lassen, mir zu assistieren.

»Costa verdoppelt, wenn du frei läufst. Du weißt das.«

»Das ist mir scheißegal!« Ich fauche Marco an wie eine wütende Schlange. »Ich habe Angst!«

»Feigling! Wäre mein Knie nicht kaputt, würde ich für Costa hundert Meter hoch tanzen, um uns ein paar sorgenfreie Monate zu ermöglichen.«

Das schlechte Gewissen nagt sich wie eine Ratte in mich hinein.

Ein Sturz vom Seil vor vier Jahren. Kurze Zeit, nachdem er den Gewerbeschein erhalten hatte und wir offiziell, und ohne Angst vor Polizei und Behörden, auftreten durften.

Seitdem humpelt er.

Ist es nasskalt, wie im Winter, stöhnt er nachts vor Schmerzen. Ein bisschen Wohlstand hat er verdient, aber muss ich mein Leben dafür riskieren?

Über mein eigenes Seil tanze ich rückwärts mit geschlossenen Augen. Doch es hängt nie höher als fünfzehn Meter, weil mich sonst die Zuschauer von unten nicht mit bloßem Auge bewundern können. Und das sollen sie, dann zahlen sie mehr.

Marco hält mir die Balancierstange hin. »Du schaffst das, Ciro. Ich weiß es.« Sein gezwungenes Grinsen will ich ihm aus dem Gesicht wischen.

Unter mir wird es unruhig. Die Leute wollen was sehen für ihr Geld.

Selbst mit Sicherung trat mir bei den Trainingsläufen der Schweiß aus den Poren. Dass ich ohne laufen soll, weiß ich erst seit wenigen Stunden.

Ich habe Signor Costa ins Gesicht gelacht, als er mir den Vorschlag unterbreitete. Marco stieß mich unauffällig in die Rippen. Mein Lachen war zu tief. Zu männlich. Ich legte eine Zugabe in einer höheren Tonlage hin. Glaubte nach wie vor an einen makaberen Scherz. Costa meinte es ernst. Der dicke Bund Geldscheine bewies es.

Marcos Augen glänzten. Sein Blick zu mir flehte um eine warme, trockene Wohnung fürs nächste Winterquartier.

Ich weiß auch, dass wir völlig abgebrannt sind und bald auf den durchgesessenen Sitzen unseres schrottreifen Transporters schlafen müssen.

Ich konnte nicht ablehnen. Nicht kurz vor dem Auftritt. Mein Adrenalin war oben, mein zweites Ich längst in Szene gesetzt.

Costa ahnt nichts davon. Auch keiner seiner Geschäftspartner und Freunde, die mit offenen Mündern zu mir emporstarren.

Ich tanze zwischen Himmel und Erde.

Und ich tanze zwischen zwei Leben.

Marco versteht nicht, wie ich bin. Aber er versteht, wie er damit Geld verdienen kann.

Du willst kein Mann sein? Dann sei eine Frau. Auf dem Seil und danach. Sei darin gut genug, um die Kerle sabbern zu lassen.

Ich will ein Mann sein und ich bin auch einer. Nur manchmal schleicht sich Chiara an die Oberfläche und in diesen Momenten bin ich … was?

Ein Seiltänzer. Und ein noch besserer Schauspieler.

Aus den Brüdern Marco und Ciro Frattini wurde das Geschwisterpaar Marco und Chiara Frattini.

Jedes Mal, bevor ich das Seil erklimme, gibt mir mein Bruder einen Handkuss und lächelt in die Zuschauermenge. Nachdem ich es verlassen habe, verneigt er sich vor mir und lässt mich einen Knicks machen. Wie eine Ballerina.

Ich hasse die Lüge. Brauche sie. Eine Seite in mir will den Applaus, die bewundernden Blicke. Sie sehnt sich nach der Illusion, umschmeichelt und beschützt zu werden. Die Sicherheit einer festen Umarmung. Die höfliche Freundlichkeit, die Männer schönen Frauen entgegenbringen.

Kein grobes Packen an den Schultern. Kein Schütteln, keine gebrüllten Beleidigungen. Kein unterdrücktes Schluchzen, keine Magenschmerzen beim Aufwachen.

»Reich mir die Stange.« Ich brauche ihre beruhigende Schwere. Sie muss mich in die Mitte ziehen, mir Gewicht verleihen.

Meine Handflächen sind nass.

»Brav, Ciro.« Marco klingt nervös. »Du schaffst das. Denk an das Ziel. Ein Schritt nach dem anderen. Die Cavaletti sitzen stramm wie eine Eins. Ich habe sie selbst überprüft. Deren Seilspanngerät ist weitaus besser als unseres.« Er reicht mir die einzige Versicherung gegen die Tiefe.

Vor meinem inneren Auge stürzen die Kräne aufeinander zu, weil eine gigantische Maschine den Draht bis zum Zerreißen gespannt hat. Ich schüttele den Albtraum aus dem Kopf und balanciere die Stange in der Hand. Mit der anderen klammere ich mich an die Verstrebung.

Nur einen Schritt.

Der Erste ist der wichtigste.

Der Fuß prüft das Seil. Die heimliche Bewegung in ihm, die kein Zuschauer sieht. Wie weit gibt es nach? Wie stark schlägt es aus? Nimmt es die Aufforderung zum Tanz an?

Es ist deine spröde Geliebte. Leise schwingt die Stimme meines Großvaters in mir. Hofiere sie, lenke sie, aber zwing sie zu nichts. Für mich ist das Seil wie deine halsstarrige Oma. Die hat sich ihr Leben lang zu nichts zwingen lassen. Nicht einmal von ihren Eltern. Sie ist einfach mit mir durchgebrannt, hat ihre goldenen Haare in ein Zopfgummi gesteckt und ist mit Rucksack und einer Handvoll Münzen direkt aus dem Hotelzimmer auf mein Mofa geklettert.

Sein kratziges Lachen, das Leuchten in seinen Augen. Mir ist, als ginge er lässig vor mir entlang, um mir den nächsten Schritt zu zeigen. Wie damals, als ich sechs Jahre alt war und das Seil bloß zwei Handbreit über dem Boden spannte.

Auch wenn ich Großmutter geliebt habe, will ich nicht, dass das Seil wie sie ist.

Ihr Schimpfen auf Deutsch, ihre laute Stimme, wenn sie wütend auf ihren Mann oder ihren Sohn war. Zu uns Enkeln war sie nie grantig. Sie hat höchstens warnend den Zeigefinger erhoben. Als kleiner Junge habe ich mit den Fingern in ihren graublonden Haaren gespielt und ihr Zöpfe hineingeflochten.

Sie hatte immer für mich Zeit.

Bis sie krank wurde und einfach starb.

Ich hasse den Tod.

Eine spröde Geliebte … 

Großvaters Stimme wird leiser in meinem Kopf.

Damals ahnte er nicht, dass meine Träume von Cassian handeln. Er würde mich auffangen. Gleichgültig, aus welcher Höhe ich falle.

Aber das Seil ist kein Mann. Es ist kompliziert, launisch.

Eine Frau. Da bin ich mir sicher. Deshalb mag es mich nicht. Es fühlt meine Andersartigkeit.

Von unten dringen Ahs und Ohs zu mir hinauf.

Mein Herz hämmert so stark, ich spüre die Erschütterungen bis ins Seil. Mein Puls schlägt in den Fußsohlen.

Unmöglich? Nicht in dreißig Meter Höhe.

Gott, ich bin tot. Nimm mich auf in deiner Gnade und kümmere dich um Marco.

Angst: die Würze des Seiltanzes.

Panik: sein Verderben.

Ich zwinge die Finger meiner Hand auseinander, nehme die Stange vor mich. Ich verkaufe mein erst neunzehnjähriges Leben für den Spaß eines Schiffbauers.

Seine Werft ist mein Grab.

Großvater, ich folge dir. Nicht nur auf das Seil, auch in den Tod.

Der alte Körper flattert durch die Luft. Menschen schreien auf, bekreuzigen sich. Ein dumpfer Aufprall.

Rücken, dicht aneinander, versperren mir die Sicht. Ich kämpfe mich an den Leibern vorbei. Sie atmen, reden. Großvater liegt inmitten unter ihnen. Ohne Atem, ohne Stimme. Langsam rinnt sein Blut auf den Asphalt.

Keine Geschichten über Nebelwesen, kein Spotten über die Frau des Bäckers, kein Lachen durch Zahnlücken.

Bloß ein einsames Drahtseil. Vom Kirchturm bis zum Giebel des Rathauses gespannt.

Ich blinzele eine Träne weg. Hier oben ist der falsche Ort zum Weinen.

»Ciro?« Marco wedelt mit der Hand. »Lauf!«

Großvaters Tod weht mit einem lauen Frühlingswind davon. Wenn der alte Mann wollte, dass ich niemals das Seil betrete, hätte er es mir nicht schenken dürfen.

Schritt.

Schritt.

Beide Füße auf dem Draht. Es gibt kaum nach, schwankt minimal nach links und rechts.

Schritt.

Schritt.

Die Stange zieht mich in die Mitte. Schenkt mir einen Fetzen Ruhe. Ich klammere mich an ihn. Wie an den Anblick des zweiten Krans. Er ist mein Ziel. Bis dorthin muss ich kommen. Hundert Meter über gaffende Menschen mit Champagnergläsern in den Händen und Fischfett in den Mundwinkeln.

Werden sie schreien, wenn ich falle? Die Frauen sicherlich.

Schritt.

Schritt.

Ich schleife die Sohlen über den Draht. Hinter meinem Nabel kribbelt es unerträglich. Eines der Zentren der Balance. Das andere ruht im Steißbein. Schwere, die mich auf das Seil drückt.

Marcos Gebete werden leise hinter mir.

Wind. Ganz sacht.

Er bauscht das Seidentuch auf, das meinen Kehlkopf versteckt. Hoffentlich weht es mir nicht vor die Augen. Ich habe die Enden zu lang gelassen. Hätte es öfter um meinen Hals schlingen sollen. Für einen Augenblick sehe nur einen grünen Schleier.

Ruhe.

Warten.

Der Wind lässt den Schal los, trägt meinen Wunsch, am Leben zu bleiben, zu dem zweiten Kran.

Das Adrenalin pocht bis unter die Kopfhaut. Dennoch existiert plötzlich ein ruhiger Ort in mir. Dünn wie ein Zwirn, gespannt vom Scheitel bis zur Mitte meiner Sohlen.

Ich kann es schaffen.

Die erste Cavaletti. Rechts und links stabilisieren die Abspannseile den Draht. Mein Fuß streichelt sie, während ich darüber hinwegschreite.

Angelo Frattini hätte sich nun zum ersten Mal hingelegt und mit dem Schwungbein gewackelt. Oder er hätte für die Zuschauer jongliert.

Ich bin nicht Angelo Frattini, der keine Angst kannte und dem Tod entgegensprang, statt ihm auszuweichen. Ich bin lediglich sein feiger Enkel mit einer blonden Perücke auf dem Kopf.

Das Seil ist straff. Die Schwankungen entspringen meinem Tanz und verstärken sich durch die Kräne. In der Mitte werden sie stärker.

Schritt.

Schritt.

Schritt.

Immer weiter. Den Blick nach vorn. Er erfasst das Seil, den Kran, die Tiefe unter mir. Den Himmel, die Krähen, die vom Dach eines der Lagerhäuser aufsteigen. Ihr Schweben bleibt am Rand meines Sichtfeldes.

Die zweite Cavaletti. Dreiviertel der Strecke liegt hinter mir.

Ich will mein Sperrmüllleben behalten. Will mein im Winter frierendes, schäbiges bisschen Glück nicht verlieren. Tote träumen nicht. Ich will träumen.

Von Liebe.

Von Vertrauen.

Von unendlicher Zärtlichkeit.

Das Lachen über meine Naivität kitzelt mir in der Kehle und besiegt für einen Moment die Angst.

Männer wie Cassian sind Helden. Sie ziehen ihre Schwerter nur in Träumen.

Im Leben stürzen sie auf Marktplätzen in den Tod.

Der zweite Kran ragt vor mir auf. Seine bedrohliche Hässlichkeit wandelt sich mit jedem Schritt, bis plötzlich etwas Wundervolles vor mir thront, das mir Sicherheit verspricht.

Gleich. Unter meinen Füßen nimmt das Seil eine leichte Steigung an. Kein Mensch sieht sie. Aber ich fühle sie.

Schritt.

Schritt.

Schritt.

Die Stange bloß noch in einer Hand, fasse ich mit der anderen um die Stahlverstrebungen.

Geschafft.

Glück, gnadenlose Erleichterung und Zorn auf mich und den Mann, der mich hierzu gebracht hat.

Meine Beine zittern.

Von unten dringt Applaus zu mir hinauf. Ein kleiner Trost.

Wie Marco vorhin klemme ich mich mit der Armbeuge fest und pfriemele meine Balancierhilfe an den Riemen. Costas Werftarbeiter werden sie später mit einem Seil zur Erde gleiten lassen.

Ich nehme mir Zeit für den Abstieg. Genieße das Gefühl, etwas Sicheres in den Händen und unter meinen Füßen zu spüren.

Marco klettert auf selber Höhe mit mir hinab. Er winkt mir von seinem Kran aus zu.

Ich bin zu aufgewühlt, um diese Geste zu erwidern.

Zwei von Costas Leuten helfen mir dabei, von dem gigantischen Schlepper zu steigen.

Fester Boden. Ich habe es geschafft. Will vor Erleichterung und verbissener Panik heulen, doch Chiara weint nie vor Publikum. Sie zeigt ihr charmantestes Lächeln, während Ciro hart an den Tränen schluckt.

Signore Costa löst sich aus der Menge. Grinsend schreitet er mir entgegen. »Signorina Frattini!« Er breitet die Arme aus. Will er mich an sich drücken? Sein Blick gleitet über mich, wird verträumt. Costa sieht, was er sehen soll: lange blonde Haare und eine überschaubare Oberweite.

Keinen Kehlkopf, keinen Schwanz.

Ich berühre das Ding zwischen meinen Beinen kaum. Lediglich zum Pissen, Duschen und zurück in die Hose stecken.

Ich liebe es nur, wenn jemand anderes es für mich streichelt. Was selten passiert. Das letzte Mal in einem Hinterhof in Rom.

Mein Bruder ist der Wächter meiner Moral. Was uns einmal in die Katastrophe geschleudert hat, darf kein zweites Mal geschehen. Ich lebe keuscher als ein Mönch. Schon, um mein Doppelleben geheim zu halten.

Marco ließ mich schwören, dass ich niemandem etwas davon verrate. Wie sollte ich das, was mich ausmacht, vor einem Geliebten verbergen? Also bleibe ich allein und träume von Cassian.

»Sie haben sich übertroffen!« Costas Hände legen sich an meine Wangen. »Ihr Auftritt in Siena während des Palio war nichts dagegen.«

Vergangenen Sommer feierte die Contrada dell’Oca ihren zwanzigsten Sieg in hundertdreizehn Jahren. Kein anderer Stadtteil Sienas hatte beim Palio so oft gewonnen. Das Pferderennen entschied über Stolz und Schmach der siebzehn Bezirke. Marco spuckte Feuer, ich balancierte über die Gassen und schwenkte dabei das Banner. Eine Gans vor grünem Grund.

Der Duft des Weines und der Köstlichkeiten umnebelte mich ebenso wie das ausgelassene Feiern der Menschen unter mir.

Als meine Pflicht erfüllt war, lud Signore Costa Marco und mich an seinen Tisch. Wie bezaubert er von mir und meiner Darbietung wäre. Ob ich Lust hätte, auch für ihn bei Gelegenheit aufzutreten? Im nächsten Jahr stünde ein großes Firmenjubiläum an.

Marco und er wurden sich sofort einig.

Überhaupt war der Palio ein voller Erfolg. Auch für unser Konto. Zusätzlich zur Gage kamen wir mit dem, was uns die Leute zugesteckt haben, auf knappe zweitausend Euro.

Marco drängte mich, meinen Führerschein damit zu bezahlen. An schlimmen Tagen, wenn sein Knie schmerzte, könnte ich übernehmen. Und zwar ohne Angst davor, angehalten zu werden. Das Fahren an sich beherrschte ich bereits mit vierzehn. Ich riss meine Mindeststunden ab und bestand beim ersten Mal. Dafür waren wir danach pleite.

Meine Gedanken versickern im Raunen der Gäste und Klirren der Gläser. Mir wird schwindelig. Deutlich fühle ich kalten Schweiß unter meiner Schminkschicht.

Ich muss hier weg.

Sofort.

Ich stammele eine Entschuldigung, winke Marco zu mir, der mich fassungslos anstarrt.

»Du kannst jetzt nicht gehen«, zischt er mir zu, als er endlich neben mir steht. »Costa will …«

»Bring mich weg oder ich kotze mir vor den Augen sämt-licher Gäste die Seele aus dem Leib.« Ich zittere wie Espenlaub. Kein Kreislauf. Mir wird schwarz vor Augen.

Marco faselt dieselben Entschuldigungen ein zweites Mal und manövriert mich durch die Leute.

Ein Mann mit Sonnenbrille, noch sehr jung, wendet sich zu mir. Seine Mundwinkel zielen auf die Füße.

Anscheinend passt ihm mein abrupter Abgang ebenfalls nicht.

Mir egal. Ich muss weg. Schnell.

»Bringen Sie Signorina Frattini in mein Büro.« Costa taucht neben Marco auf, legt ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. »Dort können Sie sich erholen.« Er lächelt mir an Marco vorbei zu. »Nach einem Glas Wein wird es besser gehen. Außerdem gibt es noch ein paar Dinge zu klären.«

Ich will nichts klären. Mir ist schlecht.

Marco fasst mich unter und ändert die Richtung. Meine geflüsterten Proteste überhört er.

In dem Bürogebäude brennt nur hinter einem Fenster Licht.

Die Stahltreppe schiebt mich Marco mit unerbittlichem Griff hinauf. »Höre dir an, was Costa zu sagen hat«, wispert er. »Nur weil dir nach Drama ist, lasse ich mir kein Geschäft durch die Lappen gehen.«

Sicherheitshalber presse ich mir die Hand vor den Mund. Mein Magen rebelliert.

Ein Empfangsraum, viele Türen. Auf eine davon steuern wir zu. Zwei breite Ledersofas, ein wuchtiger Schreibtisch. Die Weinflasche darauf ist entkorkt, drei Gläser stehen bereit.

Costa hat nie mit einer Absage gerechnet.

Er reicht mir die Hand und führt mich zu einem der Sofas. »Setzen Sie sich. Gleich geht es Ihnen besser.«

Ich schließe die Augen. Was läuft hier? Mir wird ein Glas in die Hand gedrückt. Ich mag keinen Wein. Überhaupt trinke ich selten Alkohol.

»Auf eine gute und weitreichende Zusammenarbeit.« Costa prostet Marco und mir zu. Welche Zusammenarbeit? Er hat mich engagiert, ich bin aufgetreten, er hat gezahlt.

Schluss.

Marco schwenkt das Glas, schnüffelt und schlürft, dass es mir peinlich ist.

Schon aus Trotz stürze ich den Wein hinunter. Ich hause zwischen Sperrmüllmöbeln, lebe von der Hand in den Mund. Wem sollte ich etwas vormachen?

Würzig und schwer. Ich schmecke den Wein gleichzeitig auch in der Nase, was nicht sein kann.

Tiefes Einatmen, leichter Schwindel, noch ein paar Schlucke und das Glas ist leer.

Marco zieht die Brauen zusammen und schüttelt mahnend den Kopf. Er schämt sich. Soll er.

Der Tropfen tut gut nach dem Stress. Auch mein Gehirn schmeckt mit.

»Meine Schöne«, säuselt Costa und füllt mein Glas erneut. Dieses Mal wesentlich voller als vorher. Wenn ich es albern schwingen würde, wie es mein Bruder macht, würde ich alles verschütten.

»Bitte, Signore Costa, meine Schwester verträgt nicht viel.« Marco wird überhört. Von Costa und mir.

Mit jedem Schluck wird mir wärmer und mein Herz schlägt ruhiger.

Unser Gastgeber lässt mich wieder allein. Er nimmt Marco am Arm und führt ihn zum Fenster. Halb abgewandt von mir reden sie leise miteinander.

In meinen Ohren rauscht es. Gleichzeitig fühle ich mich leicht. Das Sofa ist bequem. Ich lehne mich zurück, trinke den letzten Tropfen Wein.

Wie warm mir plötzlich ist. Ob Signore Costa etwas dagegen hat, wenn ich ein wenig döse? Er sieht zu mir, lächelt. Marco nicht. Sein Blick ist ernst, seine Miene verschlossen.

Ich bin müde. Das Glas rutscht mir aus den Fingern. Es klirrt nicht. Der Teppich ist zu dick.

Ich mag Luxus, obwohl ich ihn nie erlebt habe. Gemütliche Betten, gefüllte Kühlschränke, geheizte Badezimmer mit sauberen Handtüchern und ohne Schimmel in den Fliesenfugen.

Warum ist es plötzlich so still?

Ist es nicht. In meinem Kopf rauscht es nach wie vor.

Das Lampenlicht blendet mich, als ich es endlich schaffe, die Augen zu öffnen. Meine Lider sind schwer wie der Rest von mir. Eben war noch alles leicht. Der Wein hat seltsame Nachwirkungen.

Neben mir sitzt Signore Costa. Wo ist Marco?

»Ich habe deinem Bruder ein Geschäft angeboten.«

Warum duzt er mich?

»Nun möchte ich auch dir meine Idee vorschlagen.« Seine Finger fahren durch meine aufgesetzten Haare. »Wir beide wissen, dass dein wirklicher Name Ciro Frattini lautet.«

Mein Schlucken ist unangenehm laut. Costas Lächeln dafür beinahe väterlich.

Ich muss klar im Kopf werden. Warum habe ich bloß so viel Wein getrunken?

»Aber Ciro interessiert mich nicht.« Sein Daumen streichelt über meine Wange. »Ich will Chiara. So wie du.«

Wie rau sich seine Fingerkuppe anfühlt.

»Mein Vorschlag.« Er setzt sich aufrecht hin, faltet die Hände im Schoß. »Sei freitagabends Chiara für mich. Geh mit mir essen, vertreibe mir die Zeit mit deinem Charme und deiner Zuneigung. Ich bin seit fünf Jahren Witwer, arbeite hart und habe die Frauen satt, die es nur auf mein Geld abgesehen haben.«

»Ich bin keine Frau.« Meine Hände finden die blonden Haare, obwohl ich im Moment kaum weiß, wo mein Kopf ist. Ich ziehe sie ab, halte sie Signore Costa hin.

Er hebt den Zeigefinger. »Wie ich sagte, Ciro interessiert mich nicht. Setz die Perücke wieder auf.«

Da ist ein Unterton in seiner Stimme, der mich innerlich strammstehen lässt. Verwirrt gehorche ich.

Costas Lächeln wird liebevoll. »So ist es besser. Ich erwarte auch nicht allzu viel von dir. Keinesfalls etwas, das du mir nicht freiwillig geben willst.«

Will ich ihm überhaupt etwas geben? Die Gedanken verlaufen sich in meinem leeren Kopf. »Ich bin keine Frau«, wiederhole ich das mittlerweile Offensichtliche. Wenn er vorhat, mit mir zu schlafen, muss ihm das klar sein. Er ist nicht der erste Mittfünfziger, dessen Wünsche in diese Richtung gehen.

Über meinen Rücken rinnt ein Schauder. Es hat wehgetan. Das ist alles, was ich noch davon weiß. Diese Erinnerung steckt tiefer in meinem Körper als in meinem Gehirn. Fünf Jahre haben sie nicht auslöschen können. Die wenigen Male danach waren schöner, doch nie so, wie ich mir Liebe vorgestellt habe.

»Du warst bis jetzt ein guter Schauspieler.« Costas Fingerkuppe setzt sich leicht auf meine Nase. »Spiel weiter für mich.«

»Was genau erwarten Sie von mir?« Mit einem wöchentlichen Essen und Small Talk habe ich keinerlei Probleme.

Sein Blick verrät, dass das nicht alles sein wird. »Deine Gesellschaft.« Er neigt den Kopf, betrachtet mich unter halb gesenkten Lidern. »Deine Zuwendung.«